lie:zeit Ausgabe 19

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Identität und Wirtschaft Von Pio Schurti

: Der Begriff «Identität» bezeichnet im Allgemeinen etwas, was so ist und nicht anders. Identität ist demnach die Eigenart, die beispielsweise unser Land von andern unterscheidet. Ein solch statisches Verständnis von Identität ist paradox, denn eigentlich prägt eine Gesellschaft nicht zuletzt das, was sie tut.

Vor knapp 200 Jahren beschrieb der damalige Landvogt Josef Schuppler die liechtensteinische Eigenart in wenig schmeichelhaften Worten.

in den Jahrzehnten des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht statisch schön geblieben. Der Landschaftswandel ist enorm, die Dorf bilder haben sich drastisch geändert. Die Landschaft, in der wir leben und arbeiten, nimmt immer mehr städtische Züge an, als identitätsstiftend wird aber nach wie vor das unberührte gebirgige Hinterland empfunden.

«An eine Lebensweise gewohnt, bei der das Hirtenleben ihm anlokender als der beschwerlichere Feldbau ist, sucht der Lichtensteiner sein Glük in ziegelloser Freyheit, fröhlichem Müssiggange, und in der Befriedigung aller seiner Leidenschaften, wenn dies gleich dem Nächsten, und dem Staate schädlich ist.» Wegen der Unbedeutendheit des Landes (das in seinem Bezirke nicht einmal ein kleines Städtchen aufweisen könne) der Armut der Einwohner und dem äusserst beschränkten Absatz der Handwerkserzeugnisse liessen sich, so meinte der Landvogt 1815, in Liechtenstein keine Zünfte, also Wirtschaftsverbände, organisieren.

Die Wirtschaft als Identitätsfaktor

Schuppler betonte die Bedeutung des wirtschaftlichen Handelns für die Identität einer Gesellschaft.

2006, im Rahmen der staatlichen Feierlichkeiten zu «200 Jahre Souveränität», wurde die «nationale Identität» Liechtensteins mittels telefonischer Befragung eruiert. Welchen «Identitätsaspekten» die Liechtensteiner die grösste Bedeutung beimessen, erstaunt. Als wichtigster «Identitätsaspekt» wurde Landschaft genannt (88.4 %). Darauf folgten Geschichte (75.2 %) und Finanzplatz (72.7 %). Eine deutlich geringere Bedeutung für das, «was Liechtenstein ausmacht» haben

Der Du-Landtagsabgeordnete Pio Schurti: «Dass in der Umfrage der Finanzplatz und nicht allgemein die Wirtschaft als wichtiger Identitätsaspekt genannt wurde, ist ebenso verwunderlich wie verständlich.»

gemäss dieser Umfrage Brauchtum (66.6 %), Kleinheit (65.8 %), Monarchie (65.4 %) und Dialekt (62.3 %). Quelle: Wilfried Marxer, Jahrbuch des historischen Vereins 2006. Dass in der Umfrage der Finanzplatz und nicht allgemein die Wirtschaft als wichtiger Identitätsaspekt genannt wurde, ist ebenso verwunderlich wie verständlich. Verständlich ist diese Gewichtung des Finanzplatzes, weil den Liechtensteinern offenbar bewusst ist, was für eine zentrale Bedeutung der Finanzdienstleistungssektor in den vergangenen acht Jahrzehnten für den Wohlstand unseres Landes hatte. Verwunderlich ist, dass der Finanzplatz derart hervorgehoben wird und andere Wirtschaftsbereiche überhaupt nicht als identitätsstiftend erwähnt werden. Liechtensteins Wirtschaft zeichnet sich durch eine ausserordentliche Unternehmerdichte aus, Industrie und Gewerbe sind

starke Wirtschaftszweige, in denen bekanntlich viele Leute – in Liechtenstein ansässige wie auch zahlreiche Pendler – ihr Brot verdienen. Mit Blick auf diese Tatsachen ist es unerklärlich, dass die Industrie nicht als identitätsstiftendes Element im Bewusstsein der Leute zu stecken scheint. Namen wie Balzers, Hilti, Hilcona oder Presta sind doch aus Liechtensteins Identität nicht wegzudenken.

Identität als Wirtschaftsfaktor?

Dass mit Abstand die meisten Befragten die Landschaft als «sehr wichtig» für Liechtensteins Identität nannten, muss genauer betrachtet werden. Die Landschaft wird typischerweise als Identitätsmerkmal genannt, wenn man ein eher statisches Verständnis von Identität hat. Landschaft gilt als identitätsstiftend, insofern sie ursprünglich, unberührt bzw. schön ist. Doch unsere Landschaft ist

Dieses Empfinden widerspricht einem anderen erstaunlichen Ergebnis der erwähnten Umfrage: Obwohl Liechtensteins Bevölkerung weltweit einen einzigartig hohen Ausländeranteil aufweist, stehen die Liechtensteiner der Zuwanderung weit weniger skeptisch gegenüber als etwa die Schweizer und die Deutschen. Man ist sich bewusst, dass Liechtensteins Wirtschaft ausländische Arbeitskräfte braucht und sieht die Zuwanderung mehrheitlich positiv. Doch Zuwanderung und eine f lorierende Wirtschaft sind ohne Landschaftswandel nicht zu haben. In unseren Identitätsvorstellungen gibt es Widersprüche, die Fragen aufwerfen. Das wirtschaftliche Handeln prägt unzweifelhaft die Identität einer Gesellschaft. Und wie beeinf lussen Identitätsvorstellungen bzw. unser Selbstverständnis die Wirtschaft unseres Landes? Was für eine Wirtschaft wollen die Liechtensteiner fördern? In welche Richtung soll es mit uns bzw. unserem Land weitergehen? Solche Fragen beantwortet uns heute kein Schuppler mehr. Wir alle sind aufgefordert, zu diskutieren und uns informiert eine Meinung zu bilden.


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