lie:zeit Ausgabe #13

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ters, wo sie angestellt war, bevor sie nach Liechtenstein kam, perfektioniert. Wenn Metzgete war, warteten Willi und Alois immer darauf, dass der Metzger ihnen die Schweinsblase gab. Diese wurde aufgeblasen und war unser Fussball.

«Alles jüdisch verseucht!»

In diesen Wochen und Monaten hallte das Rheintal fast Tag und Nacht von Detonationen. Das Schweizer Militär sprengte mächtige Festungen in die Felsen auf Luziensteig, am Schollberg und in Magletsch. Von der Kaserne St. Luziensteig aus leuchteten Nacht für Nacht riesige Scheinwerfer den Himmel nach feindlichen Flugzeugen ab. Diese Schall- und Lichtkulisse war der Hintergrund für eine Szene, die sich mir in die Erinnerung eingebrannt hat. Die hat sich in unserer Stube folgendermassen abgespielt: Da wir immer zu dritt in den kleinen Schlafzimmern schliefen, wurde jedes Kind, das Masern, Röteln oder Grippe hatte, in der grossen Stube auf das Kanapee gebettet, sozusagen in Quarantäne, um die anderen nicht gleich anzustecken. Im Winter 1939/40 war ich mit Grippe und hohem Fieber in dieser Quarantäne. Unser Vater war Kassier der Sennereigenossenschaft, und jede Woche einmal kamen zwei Männer aus dem Vorstand und der Senn zu ihm, um die Abrechnungen zu kontrollieren und den Bauern das Geld für die Milchlieferungen in gelbe Säckchen zu verpacken. Sie sassen um den Tisch in der Stube und beachteten mich nicht weiter. Nach der Rechnerei gab es Most, Käse und Brot, und es wurde heftig über den Krieg diskutiert. An diesem Abend ging es heiss her und die Auseinandersetzung wurde immer lauter, weil der Senn als überzeugter Nazi den deutschen Einmarsch in Polen verteidigte und Hitler als den grössten Staatsmann bezeichnete. Mein Vater und die beiden anderen Männer widersprachen ihm lautstark, und fast wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Da sprang der Senn zur Türe und war schon fast draussen, als er sich noch ein-

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mal umdrehte, die Finger in das am Türrahmen hängende kleine Weihwasserbecken tauchte, das Weihwasser in der Stube umherspritzte und wutentbrannt schrie: «Alles jüdisch verseucht! Alles jüdisch verseucht!» Wenig später machte das Gerücht von der «Schwarzen Liste» die Runde, auf der, wie es hiess, alle Männer standen, die sofort deportiert würden, wenn Liechtenstein dem Grossdeutschen Reich einverleibt werde. Vater sagte uns, er stünde unter den Ersten. Zwanzig Meter hinter unserem Haus stand direkt am Dorfbach die Hammerschmiede, die unser Urgrossvater vor hundert Jahren gebaut hatte. Von einem mächtigen, sieben Meter hohen Was-

vorräte anlegen, für genügend Wolldecken sorgen, Rucksäcke und Taschen mit allem Lebensnotwendigen packen und man soll sich bereithalten, um in die Berge oder in sichere Verstecke zu fliehen, wenn die Glocken läuten. Mama schüttelte nur besorgt den Kopf und sagte: «Wo sollen wir mit acht Kindern, davon noch zwei ganz kleinen, hingehen, und wo sollen wir Lebensmittel für uns zehn auftreiben, Decken usw. herbekommen?». Mit grosser Ruhe sagte der Vater darauf: «Wir bleiben, wo wir sind. Der Herrgott wird uns schon behüten!»

Die «Anbauschlacht»

Von der Regierung wurde vorgeschrieben, dass alle Einwohner

Hitlerjugend-Sommerlager im Saminatal, Juli 1941

serrad wurden über verschiedene Transmissionen zwei mächtige Hämmer, der Blasbalg für die Esse, die Bohrmaschine, der Schleifstein und die Schmirgelscheibe angetrieben. Wenn unter den Hämmern Wagenachsen geschmiedet wurden, dröhnten die Schläge im ganzen Oberdorf und zitterte der Boden noch hundert Meter neben der Schmiede. .

Evakuationspläne: Flucht in die Berge

An einem Tag im Mai 1945 las uns der Vater nach dem Tischgebet einen Flugzettel mit den Vorschriften für die Kriegsmassnahmen vor. Das waren die Evakuationspläne der Regierung. Darin hiess es, man solle Essens-

einen Acker anpflanzen mussten, um die Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern. Die «Anbauschlacht», wie diese Grossaktion genannt wurde, begann. In der Rheinebene wurde viel bisher braches Land urbar gemacht, auch wenn der Boden sandig und oft auch steinig und wenig ertragreich war. Es war für uns ganz normal, dass wir auf den Feldern, im Weinberg, in Haus und Stall, beim Holzen und im Torkel halfen. Ein jedes konnte dem Alter entsprechend etwas tun und keines von uns fühlte sich jemals überfordert. Wir lernten so, mit den Geräten umzugehen, konnten erfahren, was Obsigend und Ned-

sigend bedeutete und lernten die Natur und ihre Gesetze kennen. Vor allem erfuhren wir, was es hiess, für das Essen zu arbeiten. Der Vater hatte zu allem einen kernigen Spruch auf Lager. Dazu passte: «Wenn im Hierbscht d’Härdöpfl söllen sacka, denn hässts im Summer jäta und hacka!» Diese Lehre war nachhaltig. Noch heute erfasst mich Wut, wenn ich in den Abfallkübeln Brote, Wursträdchen und Obst sehe.

Die «Nazis» unter uns

In einem Nachbarhaus war die Zentrale der Nationaldeutschen Bewegung untergebracht. Die dort wohnende Frau stammte auch aus Deutschland und war eine begeisterte Propagandistin der Volksdeutschen Bewegung. Immer wieder kam sie zu unserer Mama und hielt ihr vor, als gebürtige Deutsche müsse sie doch auch beitreten. Da sie diese Forderungen immer vehementer und aufdringlicher wiederholte, jagte Mama die Frau bei einem weiteren unwillkommenen Besuch aus dem Haus und verbot ihr, dieses jemals wieder zu betreten. Wir haben Mama für diesen energischen Auftritt sehr bewundert. Von diesem Haus aus wurde «Der Umbruch» verteilt und jeden Samstagnachmittag eine grosse Marschübung der Hitlerjugend und der uniformierten Erwachsenen auf der Runkels- und der St. Mamerta-Strasse organisiert. Die Pfadfinder und Rover, die sich als vaterlandstreue Gegenbewegung zu den Hitler-Anhängern zeigten, hatten ihren Treffpunkt immer auf dem Lindenplatz im Oberdorf. Die dort aufgestapelten Baumstämme waren ihr Podium für das Singen von Volksund Pfadfinderliedern. Die patriotischen Heimatlieder, wie «Ist doch kein Land so lieb und hold, wie du o Liechtenstein», «Hohe Alpen meine Wächter» oder «Am jungen schönen Alpenrhein» erlebten eine Blütezeit. Sie sangen damals auch schon unsere Landeshymne mit dem Text «Oben am jungen Rhein» an Stelle des alten Textes «Oben am deutschen Rhein», der schon lange Anlass zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den


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