pogrom 5-2012

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pogrom

268 _ 42. Jahrgang _ E 4,60/Sfr. 9,- _ H 12296

5 | 2011

bedrohte

Völker

Finnland

Streit um Wälder der Sámi Ägypten

Nubier wollen in ihre Gebiete zurückkehren Syrien

Kurden warnen vor Türkei als Vermittler

China-Kulturjahr 2012

Kultur der Tibeter, Uiguren und Mongolen bewahren!


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Projekte der Hoffnung... sind Thema des neuen Bildkalenders „Lebenszeichen 2012“ der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Mit farbenprächtigen, oft exotisch anmutenden Bildern und spannenden Texten auf den Rückseiten der Monatsblätter erzählt er Erfolgsgeschichten von Selbsthilfe-Initiativen in aller Welt. Die Gesichter der Ureinwohner oder Minderheitenangehörigen auf den Fotos leuchten vor Freude, Stolz oder auch Dankbarkeit. Sie haben ihre Projekte mit viel Mut, Kreativität und Beharrlichkeit vorangetrieben und sich so aus eigener Kraft ein bescheidenes Auskommen erarbeitet. Auch die Zukunft ihrer Kinder ist gesichert. Die außergewöhnlichen Bildmotive des Kalenders laden den Betrachter dazu ein, sich intensiver mit der Kultur und Tradition der Cherokee (USA), Maya (Mexiko), Maasai (Kenia), Tuareg (Niger), Dongria Kondh (Indien), Tau Ta´a (Celebes/Indonesien), Roma in Europa oder der Menschen in Ladakh, Sibirien und anderen Ländern zu beschäftigen. Auch „Lebenszeichen“ ist eine Erfolgsgeschichte. Der qualitativ hochwertige Kalender erscheint nun schon zum 20. Mal.

Format 44x32 cm, 13 großformatige Farbbilder, Texte zum Thema mit Fotos auf der Rückseite • € 10,00 zzgl. Versand

JETZT BESTELLEN! Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) Postfach 2024 • D-37010 Göttingen Telefon 0551-49906-26 • Fax 0551-58028 E-Mail c.rach@gfbv.de • www.gfbv.de oder umseitig per Post


31-54

BrennpUnKte

6 eUropa

31 gerda aSMUS

44 KaMal Sido

32 Jan SaiJetS

45 gespräch mit dem

der autonome Kreis der Jamal-nenzen

8 gUS 9 nahoSt

Kurden aus Syrien warnen vor türkei als Vermittler

cree-indianer larry Morrissette

Streit um Wälder der finnischen Sámi

10 indigene VölKer 13 aSien

47 leiF höFler

34 JUliane lUttMann

internationale aufmerksamkeit für die Menschenrechtssituation der Sámi

14 aFriKa 15 MitgeMacht

gfbV-ehrenamtliche berichten

36 JaSna caUSeVic

16 KUnSt & MenSchenrechte

Zwangsräumung in der größten traveller-Siedlung großbritanniens

38 thoMaS hUonKer

Jenische – nur in der Schweiz anerkannt?

43 KaMal Sido

Streit um anerkennung palästinas

17-30 27 daniel Matt

Kein china-Kulturjahr ohne Menschenrechte für Minderheiten

Schriftsteller-Vereinigungen für die Freiheit des Wortes in china

18 helMUt StecKel

28 „Kultur ist nichts

Unverdächtiges“ - interview

tibeter verlieren ihre kulturelle identität

Manche indianischen Völker meiden bewusst den Kontakt zur außenwelt

50 Ulrich deliUS

nubier wollen in ihr gebiet zurückkehren Staudamm lässt Wasser knapp werden

toMaš Kappa Schatzjagd im Sorbenland

17 Ulrich deliUS

48 leiF höFler

Berg KaraBach Zwei junge armenier getötet

52 anne-charlotta dehler

39 ralph th. Kappler /

titeltheMa

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nagelprobe für evo Morales

Foto: Barbara L. Slavin

6-16

54 Weimarer Menschenrechtspreis für mauretanischen anti-Sklaverei-aktivisten „auf keinem auge blind“

nachrUF

12 USa

hoffnung für den grand canyon

56-57

Foto: frankkeillor flickr.com

MagaZin

Foto: Archiv

i n h a lt

56 KaMal Sido

Zum Mord an Maschaal tamo

57 Zum gedenken an den

14 SoMalia

theologen und Menschenrechtler Bischof helmut Frenz

320.000 Flüchtlinge von Januar bis oktober 2011

21 Ulrich deliUS

Schatz der Seidenstrasse wird zerstört

22 hanno Schedler

nurmuhemmet yasin – Zehn Jahre haft für eine Kurzgeschichte

23 Ulrich deliUS

plaKatWettBeWerB der gFBV

55

reZenSionen

58

25 hanno Schedler

christen, Buddhisten, Muslime und Falun gong werden opfer von Verfolgung

Foto: Alberto Lauretti

innere Mongolei im Umbruch

Titelbild: Tibetische Mönche verlieren zunehmend die Hoffnung, ihren Glauben in Tibet je wieder frei praktizieren zu können. Die Tibeter wurden zur Minderheit im eigenen Land gemacht. Ihre Kultur und Sprache werden zurückgedrängt. Im China-Kulturjahr, das von der chinesischen Regierung 2012 in Deutschland koordiniert wird, darf nicht ausgeklammert werden, dass die Kultur der Tibeter, Uiguren und Mongolen unterdrückt und zerstört wird, fordert die GfbV.

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intern

Eine schöne Zeit geht zu Ende - ein Abenteuer beginnt Liebe Leserinnen und Leser, seit langem hatten mein Mann und ich uns auf diesen Schritt vorbereitet, im Spätsommer 2011 war die Zeit für unseren Umzug nach Kalifornien schließlich gekommen. Das hieß für mich vor allem, Abschied zu nehmen. Fast fünf Jahre zuvor war ich eher zufällig nach meinem Studium durch ein Praktikum bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) gelandet. Nach nur einem Jahr als Assistentin wurde mir die Redaktion der GfbVZeitschrift „bedrohte Völker - pogrom“ anvertraut - eine Auszeichnung und Herausforderung zugleich. Mit jedem Heft - ob zu Indien, Amazonien, Bosnien-Herzegowina oder Australien - galt es, sich blitzartig in neue Themen einzulesen. Es mussten Kernfragen erarbeitet, sachkundige Autoren und Fotos gefunden werden. Die Ausgabe zum 40-jährigen Bestehen der GfbV wurde durch ihren (Beinahe-)Buchumfang zur besonders denkwürdigen Nummer. Zwischendurch gab es neben dem Alltag in der Redaktion immer allerhand zu tun: Buchmessen, Kirchentage, Menschenrechtsaktionen etc. Begleitet hat mich dabei immer meine Kamera. Für mich beginnt nun ein abenteuerlicher Lebensabschnitt auf einem anderen Kontinent. Ich danke Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, für Ihre aufmerksame Kritik, Ihren Zuspruch und besonders dafür, dass Sie unserer Zeitschrift die Treue gehalten haben. Ich werde all die lieben Kollegen, Experten, Ehrenamtlichen und Unterstützer in bester Erinnerung behalten und gern an meine spannende Redaktionszeit zurückdenken - und wenn einmal ein Foto oder Bericht aus San Francisco nötig ist, werde ich gern weiterhelfen... Ihre Katja Wolff

Liebe Leserinnen und Leser, das Ausscheiden von Katja Wolff hat bei uns eine große Lücke hinterlassen. Ihre Kündigung kam überraschend schnell. Wir mussten mit der Redaktionsarbeit erst einmal improvisieren. So erhalten Sie erst jetzt die fünfte Ausgabe unseres Magazins „bedrohte Völker - pogrom“ für das Jahr 2011. Wir müssen uns entschuldigen und alles tun, um das Versäumte nachzuholen. Katja Wolff ist nicht so schnell zu ersetzen. Alle Mitarbeiter des Bundesbüros haben sich sehr ungern von ihr getrennt. Für ihre Zukunft in Kalifornien wünschen wir ihr alles Gute. Sie wird weiter an der Zeitschrift und an unserer Gesellschaft für bedrohte Völker Anteil nehmen und so wird die Verbindung nicht ganz abreißen. Nach einer neuen Redakteurin oder Redakteur suchen wir zurzeit. Es wird nicht leicht sein, eine Persönlichkeit zu finden, die unserem breiten Themenspektrum gewachsen ist und der Vielfalt der Kulturen, Sprachen und Verfolgungssituationen gerecht werden kann. Den neuen Redakteur/in werden wir Ihnen dann so bald wie möglich vorstellen. Herzlichen Gruß Ihr Tilman Zülch

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iMpreSSUM

editorial

bedrohte Völker (ehemals pogrom) Nr. 268 • Heft 5/2011 42. Jahrgang • ISSN 0720-5058

Als Menschenrechtsorganisation für verfolgte ethnische und religiöse Minderheiten besitzt die GfbV Beraterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) und mitwirkenden Status beim Europarat; Sektionen/Büros in Göttingen, Berlin, Arbil, Bern, Bozen, London, Luxemburg, New York, Sarajevo/Srebrenica, Wien. bedrohte Völker versteht sich als Forum, in dem Vertreter und Unterstützer bedrohter Völker ihren Standpunkt darstellen können. Namentlich gezeichnete Artikel verantworten die Autoren. Sie geben nicht immer die Auffassung der Redaktion wieder. Redaktionsleitung: Inse Geismar (ig) Redaktion: Yvonne Bangert (bgt), Owen Beith, Hans Bogenreiter, Jasna Causevic (jc), Ulrich Delius (ud), Fadila Memisevic, Theodor Rathgeber, Sarah Reinke (sr), André Rollinger, Hanno Schedler (hs), Dr. Kajo Schukalla (KjS), Dr. Kamal Sido (ks), Franziska Stocker (fs), Irina Wiessner. Mitarbeit an dieser Ausgabe: Maria Jarzombski (mj), Juliane Luttmann (jl), Michka Tadjerpisheh (mt), Dietmar Hasse (dh), Rebecca Bode (rb), Sarah-Maria Humburg (smh). Layout u. Grafik: studio mediamacs Bozen Tel. + 39 0471 978 182 Fax + 39 0471 309 667 Druck: PRIPART Medienproduktion D-37081 Göttingen Tel. +49 551 6337 4020 Fax +49 551 6337 4021 Publikationsbedingungen: Autoren, Übersetzer, Zeichner und Fotografen arbeiten ohne Honorar. Sämtliche Rechte für die Wiedergabe von Textbeiträgen in anderen Medien liegen bei der GfbV. Die Rechte für die mit © gekennzeichneten Beiträge bleiben bei den Urhebern. Der Nachdruck der anderen Beiträge ist bei Nennung der Quelle und Übersendung von zwei Belegexemplaren ausdrücklich gestattet. Die Rechte der Fotos liegen bei den Urhebern; Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung gestattet. Für unaufgefordert eingesandte Texte und Fotos übernehmen wir keine Gewähr. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Redaktionsadresse: Gesellschaft für bedrohte Völker c/o Redaktion „bedrohte Völker - pogrom“ PF 2024, D-37010 Göttingen Tel.: +49 (0) 551 49906 28 Fax: +49 (0) 551 58028 E-Mail: redaktion@gfbv.de homepage: www.gfbv.de Abonnements: info@gfbv.de Bankverbindungen: Sparkasse Göttingen Kto. Nr.: 1917 BLZ: 260 500 01 IBAN: DE65 2605 0001 0000 0019 17 BIC: NOLADE21GOE Einzelpreis: E 4,60 pro Nummer

Liebe Leserinnen und Leser, Peking ist „sterbenslangweilig“, sagte der chinesische Aktionskünstler Ai Weiwei vor kurzem, alle die kreativ seien, würden mundtot gemacht. Der weltbekannte Bildhauer weiß, wovon er spricht. Er selbst ist bei den Behörden in Ungnade gefallen, nachdem er öffentlich Unterdrückung und Willkür kritisiert hatte. Er wurde vom chinesischen Sicherheitsapparat zum Schweigen gebraucht: Fast drei Monate lang verschwand er ohne ein Lebenszeichen im Gefängnis. Nur dank massiver internationaler Proteste wurde Ai Weiwei schließlich nach Zahlung einer Kaution freigelassen. Seit dem Ende der Kulturrevolution vor mehr als 40 Jahren wurden in China noch nie so viele Künstler, Schriftsteller und Dissidenten verhaftet wie heute. Unter den Festgenommenen sind auch viele tibetische und uigurische Autoren sowie mongolische Intellektuelle. Unter den mehr als 4.000 Hingerichteten im Jahr 2011 sind viele Uiguren. Zugleich werden Internetund Pressefreiheit weiter beschränkt. In den Nationalitätengebieten der Tibeter, Uiguren und Mongolen nimmt die Repression stark zu. Ihre traditionelle Kultur und Religion werden immer mehr zerstört. So wurden in Ostturkestan Moscheen willkürlich geschlossen und uigurische Studenten während des Fastenmonats Ramadan im August 2011 von ihren Professoren dazu gezwungen, nicht zu fasten, wie Foto: GfbV-Archiv

Herausgeber: Tilman Zülch (tz) Gesellschaft für bedrohte Völker e.V. (GfbV), Geiststr. 7, D-37073 Göttingen Tel. +49 551 49906-0 Fax +49 551 58028

es ihr muslimischer Glaube vorsieht. Die Altstadt Kashgars, des kulturellen Zentrums der Uiguren, wird von den chinesischen Behörden niedergerissen. Mehr als 44.000 Kulturdenkmäler wurden im Jahr 2011 in China zerstört. In Tibet haben Selbstverbrennungen in erschreckendem Maße zugenommen. Viele buddhistische Mönche wählen diesen furchtbaren öffentlichen Freitod, weil ihnen ihre Lage so hoffnungslos erscheint. Auch Falun Gong wird rücksichtslos zerschlagen. Seit Januar 2011 starben mindestens 57 Anhänger dieser Meditationsbewegung eines gewaltsamen Todes in Polizeistationen, Arbeitslagern und Gefängnissen. Es steht schlecht um die Kultur in der Volksrepublik. Aus Angst um ihren Machterhalt lässt Chinas Kommunistische Partei systematisch öffentliche Kritik von Schriftstellern, Künstlern, Regimegegnern sowie von Tibetern, Uiguren und Mongolen brutal unterdrücken. Chinas Machthaber streben in der Welt nach mehr Anerkennung und Einfluss. Doch im eigenen Land sorgen sie unter Intellektuellen und Künstlern für Grabesstille. Die internationale Gemeinschaft darf nicht wegschauen, wenn Tibets Mönche geknebelt und Jahrtausende alte Kulturschätze der Uiguren willkürlich zerstört werden. Der Ausbau der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit China darf nicht auf Kosten der Menschenrechte gehen! Ihr Ulrich Delius

Leiter des GfbV-Asien- und Afrikareferates

Jahresabonnement: E 25 bedrohte Völker erscheint zweimonatlich jeweils im Januar, März, Mai, Juli, September und November. Das Jahresabonnement umfasst sechs Ausgaben. Doppelnummern sind möglich. Das Abonnement verlängert sich automatisch um ein Jahr, wenn es nicht spätestens sechs Wochen vor Ablauf gekündigt worden ist. Bitte geben Sie uns etwaige Adressänderungen umgehend bekannt. Sie ersparen uns damit Kosten und sich selbst Verzögerungen bei der Zustellung.

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MagaZin

BoSnien-herZegoWina

„Kristallnacht“ in Bosnien: Das islamische Erbe gezielt zerstört

Gewalt zwischen Serben und Albanern reißt nicht ab Im mehrheitlich von Serben bewohnten Nordteil der Stadt Mitrovica im Kosovo ist bei einer Schießerei am 09.11.2011 ein Serbe getötet worden. Zwei Serben wurden verwundet. Serbische Augenzeugen berichteten, Kosovo-Albaner hätten die Opfer angegriffen. Dieser Vorfall zeigt, dass die Spannungen zwischen der serbischen Bevölkerung in der nördlichsten Region des Kosovo um Mitrovica, die sich Serbien zugehörig fühlt, und der albanisch dominierten Regierung seit Juli 2011 dramatisch zugenommen haben. Als Reaktion auf ein Handelsembargo Serbiens für kosovarische Waren verschärfte die Regierung in Prishtina die Zoll- und Grenzkontrollen. Seither nutzen Serben illegale Grenzübergänge. Auf den wichtigsten Verkehrswegen wurden Barrikaden errichtet. Bei deren Beseitigung durch KFOR-Truppen kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen. Die EU befürwortete die Räumung und verurteilte die Gewalt. Gleichzeitig goss EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle jedoch Wasser auf die Mühlen serbischer Nationalisten, indem er erklärte, die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch Serbien sei keine „formale Bedingung“ für die Eingliederung Serbiens in die EU. (mt/jc)

Foto: Archiv

KoSoVo

Serbische Milizen und serbisches Militär haben in Bosnien 1347 Moscheen und islamische religiöse Gebäude zerstört. Bei dieser zweiten „Kristallnacht“ auf europäischem Boden (1992-1995) blieb im serbisch besetzten Teil Bosnien-Herzegowinas („Republika Srpska“) keine einzige Moschee unzerstört. Die Regierungen Europas hüllten sich in Schweigen. Der amerikanische Experte für osmanisches Kultur- und Religionserbe, András Riedlmayer, hat seit 1996 diese systematische Zerstörung in einigen bosnischen Regionen recherchiert. Anfang Dezember 2011 sagte Riedlmayer in dieser Sache im Prozess gegen Serbenführer Radovan Karadzic vor dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag (ICTY) aus. Allein in 23 bosnischen Gemeinden sind dem Bericht des SachAndrás Riedlmayer dokumentierte verständigen zufolge von 281 die systematische Zerstörung Moscheen 266 (95 %) stark des religiösen Erbes Bosniens beschädigt oder völlig zerstört. Auch vor Jahrhunderte alten Moscheen, Medresen und Kirchen - darunter die katholische Pfarrkirche in Kljuc, die Stadtmoschee in Rogatica, die Kozarusa-Moschee in Prijedor, die Aladza-Moschee in Foca und die Moschee von Sultan Mehmed, dem Eroberer, in Kuslat in der Gemeinde Zvornik - machten serbische Truppen nicht halt. Wo in der „Republika Srpska“ früher Moscheen standen, wurden häufig Parkplätze, Flohmärkte oder Müllhalden errichtet. Allein unter den Trümmern der Moschee von Novoseoci bei Sokolac lagen die Gebeine von 40 ermordeten Muslimen. (jc) [Quellen]

http://www.bim.ba/en/299/10/33999/ http://www.sense-agency.com/icty/destroying-cultural-heritage.29.html?news_id=13483&cat_id=1

Foto: Robin Ervolina funkyphotography

e U r o pa

[Quelle]

www.derstandard.at, 09.11.2011 www.pilp.org./areas/poldev/balkanwatch/, 03.10.2011

italien

Roma-Lager angegriffen Der erlogene Vorwurf eines 16-jährigen Mädchens, sie sei von „zwei Zigeunern“ vergewaltigt worden, führte am 11. Dezember 2011 in Turin dazu, dass rund 100 Extremisten ein Roma-Lager mit Knüp6

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Roma in Italien leiden unter rassistischer Diskriminierung

peln und Steinen angriffen, Autos und Hütten anzündeten. Rund 500 Menschen hatten zuvor mit einem friedlichen Fackelzug gegen die Roma protestiert. Der Bruder des Mädchens

versuchte, die randalierende Menge zu beruhigen. Denn die 16-Jährige hatte inzwischen zugegeben, die Geschichte erfunden zu haben, um sich für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit zu rechtfertigen. Erst nachdem klar war, dass der Anlass für den Angriff auf die Roma eine Lüge war, schritt die Polizei ein. Ein 20- und ein 59-Jähriger wurden festgenommen. Die Sektionen der Gesellschaft für bedrohte Völker Schweiz, Südtirol und Deutschland forderten bestürzt, dass der Vorfall unverzüglich, unabhängig und mit besonderem Augenmerk auf die lange Untätigkeit der Polizei untersucht wird. (sr) [Quelle]

http://www.gfbv.it/2c-stampa/2011/111213it.html Wiener Zeitung, 14.12.11


MagaZin

Foto: Europäisches Parlament

BoSnien-herZegoWina

EU-Parlamentarierin Pack in der Kritik Die CDU-Europaabgeordnete und Berichterstatterin im Europäischen Parlament für Bosnien und Herzegowina, Doris Pack, hat sich Anfang Dezember 2011 für die Auflösung des Amtes des Hohen Repräsentanten (Office of the High Representative OHR) in Bosnien ausgesprochen. Das OHR überwacht die Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton. „Solange das OHR existiert, nehmen wir den gewählten Politikern ihre Verant-

EU-Parlamentarierin Doris Pack empfiehlt die Aulösung des Amtes des Hohen Repräsentanten in Bosnien

wortung ab. Sie tun nichts und überlassen alles dem OHR. Ich denke, das sollte aufhören“, sagte Pack. Doch die Mitwirkung Europas an der Wiedervereinigung Bosniens muss dringend

fortgesetzt werden. Denn die Teilung Bosniens wurde nach der Massenvertreibung der muslimischen Bosniaken, der Katholiken und der Roma aus der serbisch besetzten Nordhälfte des Landes gnadenlos durchgesetzt und von den westlichen Großmächten bisher nicht wieder rückgängig gemacht. Die Initiative Packs zementiert de facto diese „ethnischen Säuberungen“ und begünstigt die Aufrechterhaltung der Teilung. (jc) [Quelle]

HINA kroatische Nachrichtenagentur, Mostar, 12.12. 2011

BoSnien-herZegoWina deUtSchland

Kriegsverbrechertribunal zieht Bilanz

Keine neue Bleiberechtsregelung

18 Jahre nach seiner Errichtung und kurz vor Ablauf seines Mandats 2013 hat das UN- Kriegsverbrecher-

[Quellen]

tribunal für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia/ICTY) 161 Personen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord angeklagt. 126 Verfahren sind bereits abgeschlossen. Bis Mitte 2011 wurden mehr als 4.000 Zeugen vom Gericht angehört. So hat das ICTY nicht unwesentlich zu Rechtsreformen in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien und zur Weiterentwicklung des internationalen Strafrechts sowie des humanitären Völkerrechts beigetragen. (mt/jc)

Foto: Daniel Matt/GfbV

www.taz.de, vom 07.12.2011 www.nds-fluerat.org, vom 13.12.2011

GfbV-Menschenrechtsaktion vor dem Niedersächsischen Landtag in Hannover

Foto: keepps - flickr.com

Auf ihrer Konferenz vom 8./9. Dezember 2011 konnten sich die deutschen Innenminister nicht auf eine neue Bleiberechtsregelung für geduldete Flüchtlinge einigen. Jetzt ist der Gesetzgeber gefordert, eine Regelung zu beschließen. Bis dahin bleibt das Problem der Kettenduldungen bestehen. Rund 87.000 geduldete Flüchtlinge gibt es bundesweit, davon allein rund 12.000 in Niedersachsen. 70 Prozent dieser 12.000 Flüchtlinge sind bereits mehr als sechs Jahre in Deutschland. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hatte am 07.12.2011 mit einer Mahnwache vor dem Niedersächsischen Landtag die Entlassung von Innenminister Uwe Schünemann gefordert, der langjährig Geduldete gnadenlos abschieben lässt. „Wer selbst das Kirchenasyl kriminalisiert und Härtefälle nicht verschont, hat in der Regierung eines deutschen Bundeslandes nichts zu suchen“, schrieb GfbV-Generalsekretär Tilman Zülch an alle Landtagsabgeordneten. „Wer so handelt, beschädigt die Rechtskultur und die demokratische Ordnung unseres Landes und verletzt die Menschenwürde.“ Niedersächsische Medien berichteten. (mt/jc)

Relief am Gebäude des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag

[Quelle]

http://www.icty.org/sid/10828

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MagaZin

gUS

KirgiSien

Foto: Archiv

Google bald auf Kirgisisch? Einer Umfrage zufolge nutzen 81 Prozent der 5,5 Millionen Kirgisen nie das Internet. Wer Informationen aus den elektronischen Medien beziehen

Zwei junge Armenier getötet

möchte, muss Russisch können. Nun gibt es eine Initiative, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Google ins Kirgisische zu übersetzen. [www.enetil.kg]. Gerade der Zugang zu kritischen Blogs und unabhängigen Informationen könnte so erweitert werden. (sr) [Quelle]

eurasianet.org

rUSSland

Repatriierung der Tscherkessen aus Syrien gefordert Der Kongress der Tscherkessen aus Karatschaj-Tscherkessien appellierte am 2.12.2011 an den russischen Präsidenten, den 80.000 bis 90.000 Tscherkessen in Syrien die Möglichkeit zur Wiederansiedlung im Nordkaukasus zu geben. Sie gelten als eine der Stützen des Assad-Regimes zu sein. Dagegen verwahren sie sich heute und geben an, dass sie auch im syrischen Militär nur in mittleren Rängen gedient und viele andere 8

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Trotz des Waffenstillstands in der armenisch besiedelten in Aserbeidschan gelegenen Enklave Berg Karabach, der seit 1994 in Kraft ist, kommt es hier immer wieder zu Schießereien. Am 19. und 20. November 2011 wurden Aren Simonjan und Nihran Margarjan getötet. Beide waren erst 19 Jahre alt und dienten in einer armenischen Einheit, die in Berg Karabach stationiert ist. Aserbeidschanische Scharfschützen sollen für den Tod der beiden jungen Männer verantwortlich sein. Es ist noch nicht gelungen, einen Friedensvertrag für die Region zu unterzeichnen. Hoffnungen auf einen Durchbruch bei armenisch-aserbeidschanischen Verhandlungen unter russischer Vermittlung im Juni dieses Jahres wurden bitter enttäuscht. Während Armenien die Regionen Aserbeidschans um Karabach besetzt hält und von dort nur im Tausch gegen Enklave abziehen will, verweigert Aserbeidschan deren Abtretung. (sr) [Quelle]

Institute for war and peace reporting

Berufe ausgeübt hätten. In den von heute noch von Tscherkessen bewohnten Republiken des russischen Nordkaukasus Karatschaj-Tscherkessien und Kabardino-Balkarien ist die Sicherheitslage derweil nach wie vor schlecht. Immer wieder werden Angriffe von Untergrundkämpfern verübt, auf die der Staat mit Gegengewalt reagiert. (sr) [Quelle]

Jamestown Foundation

rUSSland

Tscherkessen ringen um Anerkennung des Genozids Vor den Winterspielen im russischen Sotschi 2014 soll der Völkermord an den Tscherkessen während des Großen Kaukasuskrieges Mitte des 19. Jahrhunderts anerkannt

Foto: Shamel Janakat

Foto: Archiv

Google auf Kirgisisch würde den Zugang zu unabhängigen Informationen erleichtern.

Panzer in Berg Karabach

Berg KaraBach

Tscherkessisches Tanzensemble

werden, fordern viele Nachfahren Überlebender. Sotschi war früher mehrheitlich von Tscherkessen bewohnt, bevor sie 1864 kollektiv von dort verbannt worden waren. Besiegt wurden die Tscherkessen durch die modernen Waffen der Zarenarmee. Rund eine halbe Million Menschen fanden in den fast zwanzigjährigen Kämpfen mit Russland den Tod. (sr) [Quelle]

Jamestown Foundation


MagaZin

nahoSt

Höchste Hinrichtungsrate der Welt

Foto: Archiv

Nach Informationen der iranischen Tageszeitung „Iran Daily“ wurden im Iran am 19. September 2011 22 Men-

Iran vollstreckt weltweit die meisten Todesurteile pro Einwohner

schen wegen Drogenhandels erhängt. Nach Angaben von Amnesty International wurden 2011 bis Mitte Dezember 600 Menschen hingerichtet. Die iranische Regierung gibt die Zahl mit 368 an. Damit hat die Islamische Republik Iran (IRI) die höchste Hinrichtungsrate der Welt pro Einwohner. Oft werden Regimekritiker als Drogenhändler abgestempelt und nach „islamischem Recht“ exekutiert. Der Iran dient als Transitland für geschmuggelte Drogen aus dem benachbarten Afghanistan, das mehr als 90 Prozent des weltweit verfügbaren Opiums produziert. Mord, Ehebruch, Vergewaltigung, bewaffneter Überfall, Drogenhandel und Apostasie (Abfall vom Islam) sind laut iranischer Rechtsprechung mit dem Tod zu bestrafen. (ks) [Quelle]

APA und www.kleinezeitung.at, 19.09.11, Süddeutsche Zeitung, 07.01.2012

türKei

Menschenrechtslage der Kurden verschlechtert sich Die türkische Regierung intensiviert ihre Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung. Kurdische

Politiker der pro-kurdischen Partei BDP im türkischen Parlament sprechen von „generalstabsmäßig“ geplanten Aktionen gegen jeden Kurden, der die „türkisch-islamistische Herrschaft“ der regierenden AKPPartei von Recep Tayyip Erdgogan in Frage stellt. Nach einem Bericht des Menschenrechtsvereins (IHD) wurden in der ersten Hälfte des Jahres 2011 allein in der kurdischen Region 4.015 Personen festgenommen und 16.482 Fälle von Menschenrechtsverletzungen gemeldet. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren 2.430 Festnahmen und 13.219 Fälle von Menschenrechtsverletzungen registriert worden. Diese Bilanz zeigt eine deutliche Zunahme

von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. (ks) [Quelle]

www.milliyet.com.tr, 19.09.2011

Syrien

Assyrer/Aramäer wollen als Minderheit anerkannt werden Seit Mitte März kommt es in Syrien ununterbrochen zu Protesten gegen die Diktatur von Baschar AlAssad. Auch die assyrisch-aramäische Minderheit vertreten durch die Assyrisch Demokratische Organisa-

Foto: Archiv

iran

iraK/KUrdiStan

Konferenz über kurdische Sprache

Kurdische Sprachwissenschaftler trafen sich im nordirakischen Arbil.

Am 18. September kamen kurdische Sprachwissenschaftler aus der Türkei, dem Iran, Syrien und aus der Diaspora in die Hauptstadt des irakischen Bundeslandes Kurdistan, Arbil. Vier Tage wurde über die Situation der kurdischen Sprache debattiert. Es wurde unter anderem beschlossen, dass an den Schulen in Irakisch-Kurdistan sowohl das arabisch-kurdische als auch das lateinisch-kurdische Alphabet gelehrt wird. An der Konferenz nahmen Sprecher der drei kurdischen Hauptdialekte Kurmanci, Sorani und Zaza teil. Das Kurdische ist nur im Irak als Amtssprache anerkannt. In der Türkei, wo die meisten Kurden leben, in Syrien und im Iran sind kurdische Schulen jedoch verboten. (ks) [Quelle]

http://www.rizgari.com/modules.php?name=News&file=article&sid=31516, 19.09.11

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Foto: Gerda Asmus/GfbV

MagaZin

indigene VölKer

perU

Gesetz zur Konsultation indianischer Gemeinschaften

Die Delegation von Minderheiten aus Syrien beim Menschenrechtsbeauftragten Markus Löning (3. v. li.)

tion (ADO) beteiligt sich vermehrt an den friedlichen Protesten. In dem Vielvölkerstaat Syrien machen die Assyrer/Aramäer die größte Gruppe der christlichen Bevölkerung (10 %) Landes aus. Am 24. August initiierte die GfbV ein Treffen von Vertretern

der syrischen Minderheiten mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Markus Löning. Der ADO-Repräsentant bekräftigte die Forderung seines Volkes nach Anerkennung als nationale Minderheit in Syrien. (ks) [Quelle]

www.ankawa.com, 01.09.11

deUtSchland

YEZIDIS - Das Feuer und der Engel Pfau - Bilderausstellung

Foto: Jusuf Klein

Am 23. September wurde in Troisdorf bei Köln eine Bilderausstellung unter dem Titel „YEZIDIS - Das Feuer und der Engel Pfau“ eröffnet. Mit Unterstützung der GfbV begleitete die Fotografin Agata Skowronek die Yeziden im Irak, Syrien, Armenien und in der Türkei mit ihrer Kamera. Agata Skowroneks einfühlsame Bilder geben einen Einblick in die Lebensweise dieser verfolgten kurdischsprachigen religiösen Minderheit. Sie Die Fotografin Agata zeigen den familiären Alltag, die karge Skowronek (li.) bei der Landschaft und die kleinen Freuden. Eröffnung der Die eindringlichen, ruhigen Fotografien Ausstellung aus einer unbekannten Welt sollen mit Unterstützung der GfbV in weiteren deutschen Städten wie Göttingen, Hannover, Celle, Bielefeld und Münster präsentiert werden. (ks) [Quelle]

http://muehlhausetc.de/?p=340

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Der peruanische Kongress hat am 23. August 2011 das Gesetz zur Konsultation indigener Gemeinschaften, das so genannte „Ley del Derecho a la Consulta Previa a los Pueblos Indígenas u Originarios“, einstimmig verabschiedet. Danach müssen indigene Völker vor der Durchführung von legislativen und administrativen Maßnahmen über deren Motive und Konsequenzen aufgeklärt und befragt werden, sofern diese direkte Auswirkungen auf die kollektiven Rechte der indigenen Völker, ihr Leben, ihre kulturelle Identität, ihre Lebensqualität oder Entwicklung haben. Auch bei Plänen und Programmen zur nationalen und regionalen Entwicklung – also auch Bergbau- und Infrastrukturmaßnahmen – müssen die indigenen Gemeinschaften konsultiert werden. Präsident Ollanta Humala unterzeichnete das Gesetz am 6. September in Bagua, wo 2009 bei gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Indianern 33 Menschen getötet wurden. Mit dem Gesetz zur Konsultation wurde Art. 6 der ILO-Konvention 169 über die Rechte der indigenen Völker, die Peru 1994 ratifiziert hat, umgesetzt. (mj) [Quellen]

http://servindi.org/pdf/NL20110907.pdf [Gesetzestext] http://elcomercio.pe http://www.elperuano.com.pe

USa

Update zu Leonard Peltier Kurz nach seinem 67. Geburtstag ist der indianische Bürgerrechtler Leonard Peltier Mitte September 2011 in das Hochsicherheitsgefängnis von Coleman in Florida strafverlegt


MagaZin

worden. Für Familie und Anwälte ist es nun sehr schwer geworden, ihn zu besuchen, denn die große Entfernung verursacht ernorme Reisekosten. Außerdem müssen sich jetzt auch Anwälte in die Besucherliste eintragen. Die Zahl der Besucher ist begrenzt. Peltiers Begnadigung bleibt das vorrangige Ziel seiner Unterstützer. Der 1944 als Vertretung der indianischen Nationen der USA gegründete und in Washington DC angesiedelte National Congress of American Indians sprach will ein Treffen mit Präsident Barack

ihre Kultur und Sprache Berücksichtigung finden. Am 31.08.11 unterzeichneten regionale und lokale Autoritäten eine entsprechende Vereinbarung, die auch eine Vergabe von Stipendien an

[Quelle]

Foto: Felipe Durán

Logo des Leonard-Peltier-Marsches für Menschenrechte 2012

Obama herbeiführen, um eine Begnadigung Peltiers zu erwirken. Derweil hat am 18. Dezember der Leonard Peltier Walk for Human Rights (18. Dezember 2011 bis 18. Mai 2012) von Alcatraz nach Washington DC begonnen, der die Botschaft „Free Peltier“ quer durch die USA tragen soll. (bgt)

Leonard Peltier Defense Offense Committee / LPDOC www.whoisleonardpeltier.info/walk.htm Mapuche-Jugendliche kämpfen für ihre Rechte

chile

Junge Mapuche fordern Interkulturelles Gymnasium

Mapuche-Schüler aus Ercilla vorsieht. Daraufhin beendeten die Jugendlichen ihre Aktion.

30 Mapuche-Schüler besetzten am 19. 08.11 das Verwaltungsgebäude von Ercilla in der Provinz Malleco im Süden Chiles und forderten die Schaffung eines „Liceo Intercultural“ - eines interkulturellen Gymnasiums -, in dem

[Quellen]

http://www.azkintuwe.org/ http://alianzaterritorialmapuche.blogspot.com/

USa

Trauer um Elouise Cobell

chile

Die wehrhafte Mapuche–Gemeinde Temucuicui, Kommune Ercilla, kommt nicht zur Ruhe. Seit sie dort im Sommer 2011 den Kampf um die Rücker„Keine weitere Gewalt gegen langung ihrer ursprünglichen Temucuicui“: Protestaktion in Santiago Gebiete, die heute im Besitz von am Regierungsgebäude La Moneda Privatpersonen und Unterneh(Ende Juli 2011) men sind, begonnen hat, ist die Gemeinde Menschenrechtsverletzungen und Hausdurchsuchungen durch Spezialkräfte der chilenischen Polizei ausgesetzt. Am 8. Dezember 2011 durchsuchten nach Angaben der Mapuche Dutzende Polizeiangehörige die Gemeinde nach Vieh, das angeblich José Galilea Widmer, dem Vater des chilenischen Landwirtschaftsministers, gehört. Dabei kamen ein Helikopter und auch Tränengas zum Einsatz. Am 1. September 2011 wurde der Ort Ignacio Queipul Millana in der Gemeinde Temucuicui mit Tränengas und Schrotkugeln aus einem Polizeihubschrauber beschossen. Solche Aktionen verbreiten unter den Mapuche Angst und Schrecken. (mj/bgt) [Quellen]

http://alianzaterritorialmapuche.blogspot.com/ http://www.mapuexpress.net http://indigenousnews.org/2011/12/12/police-raid-mapuche-community-in-temucuicui-juvenile-arrested/

Foto: Avkin Pivke Mapu

Gewalt gegen Mapuche hält an

Mit dem Kampf von David gegen Goliath hat Jim Yong Kim, Dekan des angesehenen Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, den 15 Jahre währenden Prozess der Blackfeet-Indianerin Elouise Cobell gegen die USA verglichen. Darin konnte sie nachweisen, dass Generationen von Indianern um Pachteinnahmen aus Bergbau- oder Weidelizenzen auf Land betrogen worden waren, das die US-Regierung treuhänderisch für sie verwaltet. Am 9. Dezember 2010 hatte Präsident Barack Obama ein Gesetz über 3,4 Milliarden US-Dollar Entschädigungsleistungen unterzeichnet. Doch lange konnte Elouise Cobell ihren Sieg nicht genießen. Sie starb am 16. Oktober 2011 mit nur 65 Jahren in einem Krankenhaus in Great Falls, Montana, an den Folgen einer Krebserkrankung. (bgt) [Quellen]

The Missoulian, 16. Oktober 2011 USA Today, 17. Oktober 2011 pogrom – bedrohte Völker 258, 2010, S. 42/43

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MagaZin

Foto: Barbara L. Slavin

rUSSland

Ewenken befürchten neues Staudammprojekt von RusHydro Mitte 2010 wurde der Bau des gigantischen Wasserkraftwerks an der unteren Tunguska im Kries Krasnojarsk gestoppt (die GfbV beteiligte sich an der Kampagne). Damals sollten mehrere Dörfer von Ewenken zerstört und die Bewohner umgesiedelt werden. Nun wird gemeldet, dass im selben Kreis am Fluss Jenissej bis 2030 sieben riesige Wasserkraftwerke gebaut werden sollen. Wiederum sind indigene Völker betroffen. Der Strom, den die Kraftwerke erzeugen, soll bis nach China geliefert werden. Das Unternehmen RusHydro ist wieder federführend an dem Projekt beteiligt, gegen das sich in der Region erster Widerstand regt. (sr)

USa

Von Uranabbau bedroht: Weltnaturerbe Grand Canyon

Der Grand Canyon gehört als eines der beeindruckendsten Naturwunder der Erde seit mehr als drei Jahrzehnten zum UNESCOWeltnaturerbe. Doch dieses Paradies, heiliger Ort für die am und im Canyon lebenden Indianer, ist latent durch Uranabbau bedroht. Die Firma Denison Mines Corp. und andere Bergbaufirmen wollen Dutzende neue Uranbergwerke eröffnen. 2009 verhängte US-Innenminister Ken Salazar ein Moratorium gegen den Abbau von Uran in der Grand Canyon Region, das im Frühjahr 2011 bis zum 31. Dezember 2011 verlängert wurde. Am 9. Januar 2012 hat Salazar, das Moratorium auf 20 Jahre erweitert. (Mo-

nika Seiller, Aktionsgruppe Indianer & Menschenrechte e.V.)

[Quelle]

fishkamchatka.ru

SchWeden

Sámi wehren sich gegen Bergbau

Foto: Jens Chr. Strandos

In den Sámi-Dörfern Girjas und Laevas regt sich Widerstand gegen Aktivitäten der Kiruna Iron AG am Fluss Kalix. Das Unternehmen will zwei

Unberührte Landschaft am Fluss Kalix in Schweden

Konzessionen in dem Flusstal erwerben, eine für Ruovdenjunnji/Ekströmsberg und eine für Rakkurijokki. Die Konzessionen würden Untersuchungen des Bodens und letztlich den Bau von Eisenminen ermöglichen. „Diese unbefugten Eingriffe hätten katastrophale Folgen für unsere beiden Dörfer und würden die Rentierzucht auf unseren 12

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Weidegebieten unmöglich machen. Unsere geschützte und bislang unberührte Bergwelt würde dadurch für internationale Ausbeuter geöffnet, deren einziges Interesse es ist, Geld für ihre Aktionäre zu verdienen“, sagt der Vorsitzende des Sámi-Dorfes Girjas, Ingemar Blind. „Wir werden alles tun, um diesen kurzsichtigen Raubbau an der Natur zu verhindern“, kündigt Tor-Erik Huuva, Vorsitzender von Laevas, an. „Wir wissen, dass auch viele andere Gruppen fürchten, die Ausbeutung könnte unsere einzigartige Natur für alle Zukunft verwüsten. Diese Pläne widersprechen eklatant dem international anerkannten Recht der Ureinwohner auf ihre traditionelle Lebensweise. Das ist ein Prinzip, dem sich auch der schwedische Staat verpflichtet hat.“ Die Dörfer werden in ihrer Kampagne vom Samenrat und vom Nationalen Verband der schwedischen Sámi unterstützt. (dh) SchWeden

Widerstand der Sámi gegen norwegischen Energiekonzern Das norwegische Unternehmen „Lappland Kraftverk“ möchte einen der geschützten schwedischen Flüsse

zur Energiegewinnung nutzen. Mit Hilfe eines Tunnels soll Quellwasser des Piteflusses in ein großes norwegisches Wasserkraftwerk umgeleitet werden. Das Wasser des schwedischen Sees Pieskehaure, der zum System des Piteflusses gehört, soll in einem gut 60 Kilometer langen Tunnel zu dem geplanten Kraftwerk in der norwegischen Gemeinde Fauske geleitet werden. „Lappland Kraftverk“ hatte zwar immer versichert, die Sámi-Dörfer in der Region seien mit dem Projekt einverstanden. Doch der Reichsverband der schwedischen Sámi teilte am 15.9.2011 in einer Presseerklärung mit, dass die Dorfbevölkerung weder gefragt wurde noch zugestimmt habe. Auch die Fischer und Kleinunternehmer am Flusslauf sind gegen das Projekt. Sie betonen, dass der Pite als schwedischer Nationalfluss besonders geschützt und Eingriffe in seinen Verlauf schon deshalb illegal seien. Damit ist er zwar einerseits gesetzlich vor der Errichtung von Stauseen und Wasserkraftwerken geschützt. Doch dasselbe schwedische Gesetz lässt in einem anderen Paragraphen Energiegewinnung zu, wenn sie die örtliche Bevölkerung begünstigt. (dh)

Foto: Helena Nyberg

Hoffnung für den Grand Canyon


MagaZin

aSien

ihrem am 26. Oktober veröffentlichten Jahresbericht fest. (hs) [Quelle] Foto: Adurinha - flickr.com

innere Mongolei

Menschenrechtsaktivistin wiederholt misshandelt

Foto: www.dossiertibet.it

Vielen Kindern von Minderheiten in Burma bleibt das Trauma von Flucht und Vertreibung nicht erspart

Von Sicherheitskräften misshandelt zeigt G. Huuchinhuu ihre Verletzungen.

sche Menschenrechtler fordern einen wirksameren Schutz der Land- und Weiderechte sowie eine Einschränkung der Förderung von Rohstoffen in dem Gebiet. Die Mongolen stellen heute nur noch rund 20 Prozent der 24 Millionen Bewohner der rohstoffreichen Autonomen Region. Huuchinhuu war außerdem Redakteurin dreier mongolischer Websites, die von den chinesischen Behörden geschlossen wurden. Seit November 2010 unter Hausarrest, musste sie im Januar 2011 wegen einer Krebserkrankung ins Krankenhaus. Auch nach ihrer Rückkehr darf sie ihre Wohnung nicht verlassen. (hs) [Quelle]

Reporter ohne Grenzen, 03. Oktober 2011

BUrMa

Menschenrechtsverletzungen an Minderheiten nehmen zu Menschenrechtsverletzungen an Minderheiten in Burma haben im

vergangenen Jahr stark zugenommen: Mindestens 112.000 Angehörige ethnischer Minderheiten mussten zwischen August 2010 und Juli 2011 vor der burmesischen Armee aus ihren Dörfern im Osten des Landes flüchten. Jede Woche wurden durchschnittlich zwei Siedlungen von Soldaten zerstört, insgesamt mindestens 105 Dörfer. Die Zahl der Vertriebenen hat sich im Vergleich zum Vorjahr um mehr als 50 Prozent erhöht. Dies stellte ein Bündnis von Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen (Thailand Burma Border Consortium, TBBC), die im Grenzgebiet von Thailand und Burma arbeiten, in

tiBet

Aus Protest gegen die chinesische Besatzungsherrschaft 15 Selbstverbrennungen in Tibet Von März 2011 bis Mitte Januar 2012 haben sich 15 Tibeterinnen und Tibeter aus Protest gegen die chinesische Besatzungsherrschaft selbst angezündet. Nur einige überlebten schwer verletzt. Die meisten Selbstverbrennungen von tibetischen Nonnen und Mönchen haben sich rund um das Kloster Ngbaa ereignet. Das Kloster liegt in der Provinz Sichuan, die zum historischen Tibet gehört und über die Autonome Region Tibet hinausgeht. (hs) [Quelle]

New York Times, 02.12.2011 www.phayul.com

BangladeSch

EU bekräftigt Unterstützung für Frieden in den Chittagong Hill Tracts Die Europäische Union fühle sich dem Frieden und der Stabilität in den Chittagong Hill Tracts (CHT) verpflichtet, schrieb die EU-Außenkommissarin Catherine Ashton an die internationale CHTKommission Ende August 2011. Sie bekräftigte damit die langjährige Forderung nach Umsetzung EU-Außenkomdes Friedensvertrags von 1997. Er soll den Landbemissarin Catherine sitz der indigenen Bevölkerung festschreiben und Ashton fördern, dass die Ureinwohner in die Entwicklung der Bergregion einbezogen werden. Außerdem müssten die durch die hohe Militarisierung begünstigten gewaltsamen Übergriffe bengalischer Siedler auf Ureinwohner untersucht werden. Dazu gehören auch die Brandanschläge vom Februar in Rangamati und vom April in Khagrachari. Bereits im Juli 2011 hatte die EU-Kommission ein Hilfspaket in Höhe von 24 Millionen Euro zur Entwicklung der extrem armen Bergregion bewilligt. (jk)

Foto: Europäisches Parlament

Die unter Hausarrest stehende mongolische Menschenrechtlerin Govruud Huuchinhuu wird laut Informationen von „Reporter ohne Grenzen“ regelmäßig von chinesischen Sicherheitskräften misshandelt. Huuchinhuu hatte in den vergangenen Jahren in vielen Essays die Politik der Pekinger Regierung in der Inneren Mongolei kritisiert. Mongoli-

www.tbbc.org, 26.10.2011

[Quellen]

www.unpo.org/downloads/322.pdf, www.chtcommission.org

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MagaZin

Foto: Archiv

aFriKa

Opfer von Anschlägen werden beigesetzt

indoneSien

Zunahme der Gewalt gegen Christen und Ahmadiyya Am 25. September wurden bei einem Selbstmordanschlag auf eine christliche Kirche in Surakarta in Zentraljava mindestens 27 Menschen verletzt. Bereits am 11. September war es auf der Inselgruppe der Molukken zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen südmolukkischen Christen und Muslimen gekommen, bei denen drei Menschen starben und 60 verletzt wurden. Mitglieder der Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya, die von muslimischen Extremisten als Abweichler betrachtet werden, wurden allein im Jahr 2011 in 50 Fällen Opfer von Angriffen. Für die Ahmadiyya ist nicht Mohammed, sondern der Gründer der Religionsgemeinschaft, Mirza Ghulam Ahmad, der letzte Prophet. (hs) [Quelle]

Spiegel Online, 18. Oktober 2011

Westsahara durchgeführt wurden, brachten keine Fortschritte bei der Lösung des Kolonialkonflikts. Die Lage der 165.000 Sahraui-Flüchtlinge im algerischen Tindouf hat sich seit der Entführung von drei Mitarbeitern von Hilfsorganisationen aus Spanien und Italien durch Kämpfer der Terrorbewegung El Kaida im Maghreb (AQMI) am 22. Oktober 2011 weiter zugespitzt. Es ist zu befürchten, dass viele Helfer die Flüchtlingslager jetzt aus Angst vor weiteren Entführungen meiden. Um nicht weiter zu verelenden, sind die Sahrauis jedoch gerade auf die Unterstützung vieler kleiner humanitärer Organisationen angewiesen. (hs)

Ägypten

Armeegewalt gegen Kopten Ägyptische Soldaten beendeten am 9. Oktober mit äußerster Härte Auseinandersetzungen zwischen für ihre Rechte demonstrierenden christlichen Kopten und angreifenden radikalen Muslimen. 27 Menschen starben, über 270 wurden verletzt. Mindestens 74 Kopten wurden seit der Entmachtung von Staatspräsident Mubarak im Februar bei Überfällen von radikalen Muslimen oder durch Armeegewalt getötet. Bis zu 100.000 Kopten verließen aus Angst vor Verfolgung das Land. Als größte christliche Religionsgemeinschaft im Nahen Osten stellen die Kopten mit bis zu zehn Millionen Angehörigen rund 12,5 Prozent der 79 Millionen Staatsbürger Ägyptens. (hs)

[Quelle]

www.magharebia.com, 25. Oktober 2011

liByen

Berber demonstrieren für Rechte und Teilhabe

[Quelle]

New York Times, 13. Oktober 2011

WeStSahara/MaroKKo

Neue Friedensgespräche mit Sahrauis abgelehnt Marokko hat Ende Oktober neue Friedensgespräche mit der Freiheitsbewegung Polisario abgelehnt. Das

VietnaM

Während 250 Angehörige der christlichen Montagnards in Vietnam wegen ihrer Zugehörigkeit zu Untergrundkirchen inhaftiert sind, einigten sich die Regierungen Vietnams und Deutschlands auf eine „Strategische Partnerschaft“ mit intensiveren Wirtschaftskontakten. Der oft als Schauveranstaltung kritisierte „Rechtsstaatsdialog“ soll fortgesetzt werden. (hs) [Quelle]

FAZ, 12. Oktober 2011

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Foto: eleleku - flickr.com

Strategische Partnerschaft mit Deutschland vereinbart

Die Sahauri in Flüchtlingslagern sind auf die Hilfe vieler kleiner Organisationen angewiesen.

Königreich, das die Westsahara seit 1975 völkerrechtswidrig besetzt hält, wird im Januar 2012 für zwei Jahre als nichtständiges Mitglied in den Weltsicherheitsrat einrücken. Acht Verhandlungsrunden, die seit April 2007 unter UN-Vermittlung zwischen den Regierungen Marokkos und der

Zu Beginn des Nationalen Berberkongresses Ende September 2011 demonstrierten tausende Berber in Tripolis für eine Teilhabe am politischen Gestaltungsprozess und die Aufnahme ihrer Sprache in die Verfassung. Es war bereits das sechste Treffen dieser Art, aber das erste, das in Libyen selbst stattfinden konnte. Während der Gaddafi-Diktatur war es den in Südwest-Libyen siedelnden Berbern untersagt, öffentlich in ihrer Sprache zu reden, zu schreiben und zu publizieren. Sie machen rund zehn Prozent der sechs Millionen Libyer aus und werden auch Amazigh – „freie Menschen“ - genannt. (hs) [Quellen]

Al-Arabya, 28. September 2011 taz, 21. Oktober 2011

SoMalia

320.000 Flüchtlinge von Januar bis Oktober 2011 Dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge zufolge sind von Januar bis Oktober 2011 rund 320.000


Foto: frankkeillor - flickr.com

MagaZin

Hunderttausende flüchteten vor dem Bürgerkrieg aus Somalia

proteSt-aKtion in München

[Quellen]

UNICEF, 12. Oktober 2011 UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, 21. Oktober 2011

leSerBrieF Lieber Herr Zülch, lieber Herr Dr. Sido! Ich möchte Ihnen gerne einmal sagen, wie sehr ich Ihren Einsatz und unermüdliches Engagement für die Menschen in der arabischen Welt schätze. Die Berichte zeigen ein anderes Bild als die Kurznachrichten im Fernsehen. Die Unterstützung und der Schutz der Minderheiten sind ein so großes Problem und ich bin froh, dass es die GfbV gibt. Sie zeigen wenigstens mit dem Finger auf die Dinge, die gerne verschwiegen werden!! Herzliche Grüße, Rottraut Knapp (Stuttgart) per E-Mail im Dezember 2011

Start der GfbV-Kampagne zum China-Kulturjahr 2012 Foto: Daniel Matt/GfbV

Menschen aus Somalia geflohen. Dort herrscht seit 1991 Bürgerkrieg. Die meisten Flüchtlinge retteten sich nach Kenia und Äthiopien, rund 20.000 in den Jemen, in dem ebenfalls gekämpft wird. Nahe der kenianischen Stadt Dadaab befindet sich das größte Flüchtlingslager der Welt mit mehr als 500.000 Insassen. Nach UNICEF-Schätzungen sind in Somalia etwa 2,5 Millionen Menschen von Malaria bedroht, 750.000 könnten an Krankheiten sterben oder verhungern. Damit hat sich die Zahl der akut Gefährdeten seit Juli 2011 fast verdoppelt. (hs)

Am 25.07.2011 saß ich mit dem sehr heiter gestimmten GfbV-Team im Bus auf dem Weg nach München. Dort wollten wir am darauf folgenden Tag mit einer Foto-Protest-Aktion auf dem Marienplatz die GfbV-Menschenrechtskampagne „China-Kulturjahr 2012 – Kulturelle Vielfalt zulassen, statt zerstören!“ starten. Mein Praktikum hatte erst fünf Tage zuvor begonnen und wir waren die ganze Zeit mit Vorbereitungen für München beschäftigt gewesen, hatten Transparente beklebt, Plakate gebastelt und alles organisiert, damit die Aktion reibungslos und erfolgreich ablaufen konnte. Trotzdem war ich am nächsten Morgen sehr gespannt, wie unsere Ideen bei den Passanten ankommen. Wir bauten unseren Infostand auf dem Marienplatz auf und legten dort Hintergrundmaterial über die GfbV und ihre Menschenrechtsarbeit, über die Kampagne und die Situation der Uiguren, Tibeter und Mongolen in China aus. Dann zeigten wir wie jeder bei unserer Aktion mitmachen kann: Wer seine Solidarität mit den verfolgten Journalisten und Künstlern in China zeigen wollte, sollte mit symbolisch zugeklebtem Mund einen Gegenstand fallen und sich dabei fotografieren lassen. Dahinter stand die Idee der regimekritischen Fotoserie des chinesischen Künstlers Ai Weiwei. Er ließ eine Urne aus der Han-Dynastie zu Boden

fallen. Bei uns fielen Blumen, Bälle, Kuscheltiere und zu meiner Freude auch oft meine blaue Plastikgitarre, die durch die Aktion zum ersten Mal eine sinnvolle Anwendung fand. Wir konnten viele Interessierte zum Mitmachen bewegen und es entstanden viele beeindruckende Bilder. Unterstützt wurden wir von einigen in München lebenden Uiguren und Tibetern. Sie hatten zum Teil ihre traditionelle Kleidung angezogen und schufen mit Plakaten und Gesängen eine außergewöhnliche Atmosphäre. Das beeindruckte nicht nur mich sehr, sondern machte auch viele Passanten aufmerksam und veranlasste sie zum Stehenbleiben. Während ich Flugblätter verteilte, mit den anderen Team-Mitgliedern den Infostand betreute oder Neugierigen erzählte, was es mit der FotoProtest-Aktion auf sich hat, filmte Alan Sido, Bonner GfbV-Mitglied, unsere Menschenrechtsaktion und interviewte einige Beteiligte. Daraus sollte ein Kurzfilm entstehen. Auch ich durfte ein paar Sätze vor der Kamera loswerden. Das Kurzvideo ist jetzt bei youtube zu finden. Für mich ist es eine tolle Erinnerung an ein spannendes Praktikum! [Unsere ehrenamtliche]

Luisa Knobloch (22) unterstützte vom 20.07.2011 bis zum 18.09.2011 mit großem Elan das GfbV-Aktionsreferat. Sie widmet sich jetzt wieder ihrem Geographie-Studium.

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KUnSt & MenSchenrechte

„The Small Cage Torture“

Kunlun Zhang - Opfer und Ankläger von Folter in China Diese Serie berichtet davon, wie Künstler weltweit für Menschenrechte eintreten. „Kunst ist eine Tochter der Freiheit“, heißt es bei Schiller. Kunst ist damit autoritären Regimes bzw. Unrechtsstaaten ein Dorn im Auge. Zum einen bieten Kunstformen eine Stärkung der kulturellen Identität bedrohter Völker oder unterdrückter Wertegemeinschaften. Zum anderen kann Kunst, die sich ethischen Fragen widmet, ein effektvolles Mittel der Aufklärung sein. Von SUSann BaUer Und FriedhelM ScharF

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be erfuhr, um so ein Dokument für die Öffentlichkeit zu schaffen. Kärglich nur mit Unterwäsche bekleidet, ist die Figur ein Selbstporträt von schonungsloser Ehrlichkeit in erniedrigender Situation. Muskeln und Knochen treten in der Anspannung hervor. Doch zeigt das Gesicht des Opfers eine ungebrochene Foto: GfbV-Archiv

„Ai Weiwei ist nicht allein“, titelte die TAZ am 06.05.2011. Auch Kunlun Zhang, Professor für Malerei und Bildhauerei sowie praktizierender Anhänger der Meditationsbewegung Falun Gong, wurde in China verhaftet und kam in ein Arbeitslager. Dort wurde er mit Elektroschocks und Schlafentzug gequält und gezwungen, in einer winzigen Zelle zu hocken, während er einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. Umso erstaunlicher ist seine Zuversicht, wenn er heute erklärt: “Unsere Kunst entspringt einem reinen Herzen und reflektiert unsere Erfahrung. Kunst vermag das Denken von Menschen stark zu beeinflussen und ist direkt mit Moral verbunden. Beides bedingt einander.” Kunlun Zhang ist gebürtiger Chinese und seit 1995 kanadischer Staatsbürger. Während eines Besuches in China im November 2000 wurde er zu Arbeitslager verurteilt, weil er Falun Gong praktizierte. Diese Meditationsform wurde von der KP Chinas als „bedrohliche Sekte“ inkriminiert und 1999 verboten. 2001 kam Kunlun Zhang auf Druck von Menschenrechtsorganisationen und der kanadischen Regierung frei. Er kehrte nach Kanada zurück. Dort verklagte er den damaligen Staatspräsidenten Chinas Jiang Zemin mit Hilfe kanadischer Anwälte wegen Folter und Terrorismus. Heute verarbeitet er sein Trauma in Gemälden und Skulpturen. Er verweist damit auch auf weitere Folteropfer in China. Seine lebensgroße Skulptur aus Ton „The Small Cage Torture“ (2004) bezeugt die Haftbedingungen. Er hält für immer fest, was er am eigenen Lei-

„The Small Cage Torture“ von Kunlun Zhang 2004

Würde, fast eine meditative Konzentration, Demut und Geschlossenheit – trotz allen Schmerzes. Der kalkweise Ton, in dem die Spuren der Modellierung stellenweise sichtbar sind, macht die Bearbeitungsvorgänge erkennbar. Dies kontrastiert die naturalistische und detaillierte Darstellungsweise der Physiognomie und des Körperbaus. Original-

handschellen fesseln die Hände und auf der weißen Haut befinden sich blutrot gefärbt Platzwunden und Brandspuren von Zigaretten. Das Einsperren in winzige Zellen ist eine gängige Foltermethode, bei der die Opfer so angekettet werden, dass sie weder aufstehen noch sich hinsetzen können. Die hockende und zusammengezogene Position verursacht nach kurzer Zeit extreme Schmerzen. Die Skulptur von Kunlun Zhang ist auch eine Metapher für die verlorene Freiheit der Falun-Gong-Praktizierenden. Sie werden daran gehindert als Menschen aufzustehen und für ihre Menschenrechte zu demonstrieren oder für ihr Recht auf persönlichen Glauben und Überzeugung, freie Meinungsäußerung und Bewegungsfreiheit. Man beraubt sie ihrer Arbeit, Wohnungen und mitunter ihres Lebens. Nicht erst seit Ai Weiwei erreichen chinesische Künstler eine internationale Öffentlichkeit und sorgen für politische Diskussionen. Derzeit sind Werke von Kunlun Zhang auf der Wanderausstellung „Truth, Compassion, Tolerance“ einer zwölfköpfigen chinesischen Künstlergruppe der Falun-Gong-Bewegung in England zu sehen. Ihre optimistische Überzeugung, dass der Glaube an die Kunst eine Stabilisierung der Gesellschaft ermöglichen könne, gibt Anlass zur Hoffnung. [Zu den autoren]

Die Idee zu unserer Serie „Kunst und Menschenrechte“ stammt von der Ethnologin Susann Bauer und dem Kunsthistoriker Dr. Friedhelm Scharf.


theMa

Kein China-Kulturjahr ohne Menschenrechte für Minderheiten Von Ulrich deliUS

ie deutsche Bundesregierung und die chinesische Regierung haben vereinbart, dass im Jahr 2012 in Deutschland ein ChinaKulturjahr stattfinden soll. Das Kulturjahr wird auf ausdrücklichen Wunsch Chinas organisiert, das sehr darum bemüht ist, sein von Menschenrechtsverletzungen getrübtes Image in Deutschland zu verbessern. Angesichts der Motive der Organisatoren ist nicht davon auszugehen, dass im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten auch über Kulturzerstörung, willkürliche Einschüchterung und Kriminalisierung chinesischer Schriftsteller, Künstler und Intellektueller informiert wird. Das China-Kulturjahr darf keine unkritische Jubelfeier werden! Denn Pekings Nationalitätenpolitik missachtet grundlegende Menschenrechte von Uiguren, Tibetern und Mongolen. Dabei wird die Kultur anderer offiziell anerkannter Nationalitäten, die nicht in strategisch bedeutsamen Regionen angesiedelt sind, in dem Vielvölkerstaat durchaus respektiert und gefördert. Besonders gilt die Provinz Yunnan im Südosten des Landes als Heimat Dutzender kleinerer indigener Gruppen. Zehntausende chinesische Touristen besuchen jedes Jahr die Region, um Eindrücke vom Leben und der Kultur dieser indigenen Völker zu bekommen. Daraus folgt jedoch leider kein größerer Respekt gegenüber der oft andersartigen Kultur dieser Völker. Selbst die eigene Kultur der Han-Chinesen wird dem wirtschaftlichen Fortschritt hemmungslos geopfert. So wird nicht nur die Altstadt der uigurischen Stadt Kashgar von Bulldozern niedergewalzt. Auch in Pekings Altstadt verschwinden die letzten architektonischen Zeugnisse vergangener Zeiten. Der Immobilienspekulation wird kein Einhalt geboten. Wo nur wirtschaftlicher Profit und Rentabilität zählen, mangelt es am Verständnis für andere Kulturen und

Foto: Alan Sido/GfbV

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Der Münchner Bürgermeister Hep Monatzeder (2.v.re.) nimmt den Appell entgegen, im China-Kulturjahr die Lage der Tibeter, Uiguren und Mongolen zum Thema zu machen.

Lebensweisen. So werden Nomaden in der Inneren Mongolei und in Tibet zwangsweise angesiedelt und ihre Kultur und Identität systematisch zerstört. Für hunderttausende mongolische und tibetische Nomaden bedeutet diese Politik das Aus. Tibetische und uigurische Schriftsteller, Künstler, Journalisten und Intellektuelle werden systematisch eingeschüchtert und verfolgt. Viele können nur im Internet publizieren, da Verlage sich weigern, ihre Schriften zu veröffentlichen, oder Zensoren ihre Werke verbieten. Aber auch Bloggern und Internet-Journalisten drohen langjährige Haftstrafen. So wird systematisch die Verbreitung von Forderungen nach mehr kultureller Freiheit und Menschenrechten kriminalisiert. Massiv wird in Ostturkestan und Tibet auch die Glaubensfreiheit eingeschränkt. In Tibet werden buddhistische Klöster immer mehr von Funktionären der Kommunistischen Partei gleichgeschaltet. Wenn Mönche

Widerstand leisten, werden sie verhaftet oder die Klöster von der Polizei gestürmt. Zahlreiche buddhistische Mönche haben bereits den Freitod gewählt, weil sie keine Möglichkeit mehr sehen, frei ihren Glauben zu praktizieren. In Ostturkestan nimmt der Druck auf Imame stetig zu. Die muslimischen Geistlichen werden gezielt indoktriniert und von den Sicherheitsbehörden zur Zusammenarbeit gezwungen. Behörden missachten gezielt religiöse Feste, um Uiguren an ihrer Religionsausübung zu hindern. In Xinjiang (Ostturkestan), Tibet und der Inneren Mongolei eskalieren die Spannungen zwischen den Nationalitäten und der chinesischen Mehrheitsbevölkerung. Peking schürt diese Auseinandersetzungen mit der Förderung des Zuzugs von Han-Chinesen in die vornehmlich von Nationalitäten bewohnten Regionen. Da die chinesische Führung nicht bereit ist, ihre Nationalitätenpolitik zu überdenken und Uiguren, Tibetern und Mongolen tatsächlich kulturelle Autonomie zu gewähren, muss ein China-Kulturjahr auch die kulturelle Unterdrückung in der Volksrepublik aufzeigen. pogrom 268 _ 5/2011

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Foto: eviltomthai - flickr.com

Foto: alexanderwrege - flickr.comx

Tibeter verlieren ihre kulturelle Identität Von helMUt StecKel

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ie chinesische Regierung zerstört als Besatzungsmacht in Tibet seit 60 Jahren zunehmend die kulturelle Identität der Tibeter. In der Zeit nach der Besetzung Tibets durch die chinesische Armee 1951 wurden unzählige Klöster zerstört und ausgeraubt, religiöse Heiligtümer verwüstet, nach China verschleppt und von dort aus auf dem Weltmarkt verkauft. Tibeterinnen und Tibeter wurden gefoltert, geschlagen, vergewaltigt, in „Kampfsitzungen“ denunziert, für Jahrzehnte ins Arbeitslager gesteckt und hinter Schloss und Für den Dalai Lama ist die Unterdrückung seines Volkes kultureller Völkermord.

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Zunehmend strömen auch Chinesen als Touristen oder Sinnsuchende in tibetische Klöster. Doch so wird das Selbstverständnis der Tibeter unmerklich aufgeweicht.

Riegel gesperrt. Die 2011 erfolgten Selbstverbrennungen von Mönchen und Nonnen sind als ein verzweifelter Hilfeschrei an die Weltöffentlichkeit zu verstehen, der Unterdrückung durch die Kommunistische Partei der Volksrepublik China entgegenzutreten und den Tibetern zu helfen. Das Zugehörigkeitsgefühl zum tibetischen Volk ist unter den Mönchen und Nonnen in den Klöstern auch nach 60 Jahren massiver Repression noch vorhanden. Allerdings ist der versteckte Einfluss der chinesischen Touristen, die dem tibetischen Buddhismus als Sinnsuchende, aber auch Interessierte an einer exotischen Religion und Philosophie positiv gegenüberstehen, als loyale Staatsbürger Chinas jedoch die offenen politischen Fragen aus-


theMa

klammern, sehr groß. So sind zum Beispiel in dem Kloster Larung Far in der Autonomen Region Tibet unweit der Grenze zur Provinz Yunnan bereits 30 Prozent der Mönche und Novizen Chinesen. In einigen Jahren wird bei zunehmender Aufnahme von Chinesen in das buddhistische Klosterstudium das Selbstverständnis der Tibeter aufgeweicht sein und damit auch der Widerstand gegen die chinesische Obrigkeit verloren gehen. Die Erinnerung an die unermessliche Zerstörungswut der Kommunistischen Partei in Tibet in den Jahren der Kulturrevolution 1966-1976, die zu einer Vernichtung von über 80 Prozent der buddhisti-schen Stätten führte und somit fast alle Mönche und Nonnen an ihrer Religionsausübung hinderte, ist dann verblasst.

Zerstörung der tibetischen hauptstadt lhasa Die Zerstörung des historischen Kerns von Lhasa ist derart vorangeschritten, dass das unverwechselbare tibetische Gesicht der Stadt verlorengegangen ist. Die Ideologie der kommunistischen Kader missachtete die traditionelle Architektur. Billigbauten mit tibetischen Zierarten ersetzen mittlerweile alte tibetische Gebäude. Durch eine derartige Allerweltsarchitektur mit pseudo-tibetischen Elementen soll Touristen aus dem Ausland und aus China ein fortschrittliches und modernes Tibet gezeigt werden. Lhasa ist eine chinesische Stadt geworden, die den Verlust der kulturellen Identität seiner einheimischen Bevölkerung widerspiegelt.

Verlust der tibetischen Sprache Dass die tibetische Sprache in hohem Maße gefährdet ist, wird an der Analphabetenrate in Tibet deutlich, die gegenwärtig bei nahezu 50 Prozent liegt. Es ist den auf dem Land lebenden Familien nicht möglich, ihre Kinder in die oft weit entfernten Grundschulen zu schicken, zumal die Schulgebühren hoch sind. Die Eltern

können die Mittel dafür nicht aufbringen. Das Niveau der Schulen in Tibet ist überdies niedriger als in China und fast der gesamte Unterricht erfolgt im chinesischen Mandarin. Dort, wo Tibetisch in den Schulen unterrichtet wird, ist dies auch nicht mehr als ein Feigenblatt. Um Tibeter zu loyalen chinesischen Staatsbürgern zu erziehen, wird die Bedeutung des Mandarin betont, das seit 2002 bereits in den ersten Schuljahren unterrichtet wird. Diejenigen, die sich darüber beklagen, dass tibetisch sprechende Schüler nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, treffen Repressionen. Der Vorwurf der Unruhestiftung ist ein probates Mittel, um Tibeter zum Schweigen zu bringen. Dabei sollte ethnischen Minderheiten - China bezeichnet die Tibeter als ethnische Minderheit – Unterricht in ihrer eigenen Sprache oder zumindest zweisprachig angeboten werden. Das betrifft aber nur die Schulen und Erziehungseinrichtungen, in denen tibetische Kinder und Jugendliche mehrheitlich vertreten sind. Allgemein kann gesagt werden, dass der Chinesischunterricht die tibetische Sprache zurückdrängt. Tibetische Familien, die es sich leisten können, schicken ihre Kinder auch bereits im frühen Alter von acht Jahren nach China, um dort eine bessere Ausbildung zu erhalten. Die Folge ist der Verlust der Muttersprache. So ist eine Entfremdung zu den Traditionen der eigenen Kultur unausweichlich. Eindeutig ist der Artikel 4 (3) der UN-Erklärung über die Rechte von Personen, die ethnischen Minderheiten angehören: „Die einzelnen Staaten sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, damit Angehörige von Minderheiten, wo immer es möglich ist, die Gelegenheit erhalten, ihre Muttersprache zu lernen oder in dieser unterrichtet zu werden.“ „Sprachprobleme“ in Tibet lassen sich zurückführen auf die erklärte Absicht der Kommunistischen Partei Chinas, ihr Bildungsmonopol nicht in Frage zu stellen, eine „patriotische Erziehung“ allein auf die von ihr vertretene Ideologie zu verpflichten. Die Prämissen der politischen und ideologischen Arbeit in

den Schulen sind unumstößlich, sie bestimmen einen falschen oder richtigen Unterricht. Im Oktober 2010 protestierten in Osttibet (Tibetisch Amdo / Chinesisch Qinghai) sowie in Kham (Osttibet / Sichuan) mehr als 8.000 Schüler und Studenten gegen die Pläne der chinesischen Regierung, die Hauptunterrichtssprache Tibetisch zugunsten von Chinesisch zu streichen. Internationale Medien berichteten über die Proteste und machten sie so weltweit bekannt. Selbst in Peking demonstrierten über 400 Studenten der Abteilung für tibetische Studien der Minzu Universität (früher die Zentrale Universität für Nationale Minderheiten).

„Kultureller Völkermord“ Der Dalai Lama spricht von einem „kulturellen Völkermord“: Die tibetische Sprache, Religion und Identität befänden sich in einem Auflösungsprozess. Die Wertschätzung der tibetischen Sprache nehme rapide ab. Der Zustrom von chinesischen Siedlern macht die tibetische Landessprache zweitrangig. In den mehrheitlich von Chinesen bewohnten Städten Lhasa, Shigatse und Gyantse ist Tibetisch mittlerweile eine Minderheitensprache. Der Warenstrom aus China überschwemmt überdies den Markt und erfordert im Kauf und Verkauf chinesische Sprachkenntnisse. Tibeter ohne Chinesischkenntnisse können sich im Geschäftssektor nicht mehr behaupten. Die in Peking lebende tibetische Schriftstellerin Tsering Woeser schreibt in einem Blog: „Ob du Tibetisch sprechen kannst, ist eine Nebenfrage geworden, aber ob du Mandarin sprechen kannst, ist für Deinen Lebensunterhalt entscheidend. Die tibetische Schriftsprache hat tatsächlich schon einen sehr kritischen Punkt erreicht.“ Das Erlernen der chinesischen Sprache ist für Tibeter in allen Lebenssituationen in den Städten unabdingbar geworden. Die chinesische Bildungs- und Wirtschaftspolitik drängt sie ins gesellschaftliche Abseits, pogrom 268 _ 5/2011

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Foto: Gerhard Palnstorfer

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das sie nur durch eine absolute Anpassung und vollkommene Assimilierung überwinden können. Der Lebensstandard der tibetischen Bevölkerung ist ausgesprochen niedrig. Die erzwungene Abkehr von der Sprache schafft Entfremdung und Entwurzelung im eigenen Land. Der Verlust der tibetischen Sprache und der tibetischen Kultur ist nur aufzuhalten durch eine Reform des politischen Systems in China und damit auch in Tibet.

chinas zerstörerische Umweltpolitik in tibet Chinas Umweltpolitik in Tibet ist katastrophal. Sie wird bestimmt durch die wirtschaftliche, militärische, finanzielle und politische Macht der Kommunistischen Partei. Die Raubzüge der chinesischen Regierung in der Natur sind der Schlussstein in der Besetzung und Annexion Tibets. Der Ausbeutung der Naturschätze folgt die Zerstörung von 6.000 Klöstern und heiligen Stätten während der Kulturrevolution, die Tötung von 1,2 Millionen Tibetern seit 1950, die mehr als 100.000 Flüchtlinge nach der Flucht 20

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Das Baiju-Kloster in Gyantse in der Autonomen Region Tibet

des Dalai Lama 1959, der bis heute nicht gänzlich versiegende Flüchtlingsstrom, die Missachtung der tibetischen Sprache und Kultur und die Zwangsansiedlung von tibetischen Nomaden. War es in den ersten Jahren der Besetzung noch ein ungebremster Holzeinschlag in den Wäldern Tibets, so sind es heute Bergwerksbetriebe, die ohne Rücksicht auf gesundheitliche Schäden der Bevölkerung Bodenschätze fördern. Das fragile Ökosystem einzelner Regionen ist extrem gefährdet. Grundwasser erweist sich in der Nähe von Bergwerksbetrieben als zunehmend unbrauchbar. Proteste der Bevölkerung werden rücksichtslos von Sicherheitskräften unterbunden. Tibeter werden festgenommen und inhaftiert. Es gibt mindestens 3.000 Minerallager in der Autonomen Region Tibet, die in naher Zukunft mit Hilfe ausländischer Konzerne erschlossen werden sollen. Dabei werden auch Nomaden von ihren Weidegebieten vertrieben, um hydroelektrische Kraftwerke und Bergwerksbetriebe bauen zu können. Auch hier geht die erzwungene Auf-

gabe des Rechts auf die angestammte Heimat einher mit dem Verlust der tibetischen Identität. Allein zwischen 2006 und 2009 wurden 860.000 Nomaden und Bauern in sozialistischen Modelldörfern angesiedelt. In den neuen Siedlungen können sie ihre Viehherden nicht länger aufrechterhalten. Durch die Zwangsumsiedlungen wurden sie zu Lohnarbeitern und Almosen-Empfängern. Tibets große Flüsse kanalisiert China durch massive Dammbauprojekte. Das Wasser Tibets wird Chinas Regionen über ein Netzwerk aus Betonleitungen zugute kommen, die durch unkontrollierte Industrialisierung nur noch verschmutztes Wasser aufweisen. Die Kommunistische Partei Chinas ist nicht bereit, ihre ausbeuterische Umweltnutzung zu überdenken, die bürgerlichen und politischen Rechte der betroffenen Menschen zu achten und ihre Projekte daraufhin abzustimmen. Das Selbstbestimmungsrecht des tibetischen Volkes wird nicht beachtet. Die gefährdete und bereits zerstörte Umwelt, dazu zählen die bedrohten tibetischen Flüsse, die Atomkraftforschung, Endlagerstätten für Atommüll und Raketentests am Kokonorsee im Norden Tibets, die abgeholzten Wälder mit erodierten Böden und der unkontrollierte Abbau der Bodenschätze, sind eine schwere Verletzung der Menschenrechte in Tibet. Sie bedrohen die Existenz des tibetischen Volkes. Das Ökosystem Tibets ist aufgrund der sehr speziellen Umweltbedingungen nicht nur für Tibet selbst, sondern auch für die angrenzenden Länder Indien, China, Bangladesch und Pakistan von großer Bedeutung. Es ist daran zu zweifeln, dass China verantwortungsvoll handelt und dem Umweltschutz erste Priorität einräumt, zumal Tibet im besonderen Maße von der globalen Erwärmung betroffen ist. In China sind die negativen Folgen des gigan-tischen DreiSchluchten-Staudamms im Yangtse unübersehbar. Wasserbauprojekte, die wiederum Menschen zu Hunderttausenden aus ihren Städten und Dörfern vertreiben, werden weiter geplant. Gigantomanie ist ein besonderes Merkmal von Diktaturen.


Foto: Michael J. Moss

Foto: Remko Tanis

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In Kashgar wächst Unmut unter Uiguren

„Sanierung“ mit dem Bulldozer: Der historische Kern von Kashgar wird zerstört.

Schatz der Seidenstrasse wird zerstört Von Ulrich deliUS

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chon Marco Polo schwärmte von der Karawanenstadt Kashgar, als er auf seiner Reise nach China im 13. Jahrhundert in der zentralasiatischen Stadt rastete. Als das „Kairo des Ostens“ bezeichneten viele Reisende bewundernd die uigurische Stadt im äußersten Nordwesten des jetzt von China kontrollierten Ostturkestan. Bis heute ist Kashgar eine Touristenattraktion, denn die Altstadt mit ihren hunderten aus Lehm, Holz und Stein errichteten Bauten gilt als einzigartig in Zentralasien. Architekten, Bewohner und Urlauber sprachen sich dafür aus, das historische Kashgar von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklären zu lassen. Doch Peking versagte der alten Handelsstadt an der Seidenstraße diese Auszeichnung und den daraus folgenden Schutz. Kashgar gilt als Zentrum uigurischer Geschichte und Kultur und ist noch immer die am meisten uigurisch geprägte Stadt in Ostturkestan (offiziell Xinjiang genannt). Dort haben andere alte Metropolen wie Urumtschi und Gulja ihren uigurischen Charakter durch die Ansiedlung zehntausender Han-Chinesen und die damit einhergehende Modernisierung längst verloren. Sie gleichen heute beliebigen chinesischen Großstädten, ein Schicksal, das nun auch Kashgar droht. Seit Februar 2009 lassen Chinas Behörden das alte Kashgar niederrei-

ßen. Nur 15 Prozent des historischen Stadtkerns sollen als eine Art Freilichtmuseum erhalten werden, da man die Zehntausenden Touristen, die jedes Jahr die Stadt besuchen, nicht verlieren möchte. Mehr als 70 Prozent der alten Häuser sind bereits zerstört, darunter auch viele Gebäude, deren Fassaden mit einzigartiger Holzschnitzerei geschmückt waren, Moscheen und historische Kulturstätten. Selbst wenn einige wertvolle alte Häuser erhalten bleiben, so ist der kulturelle Verlust für ganz Zentralasien schon heute unermesslich. Denn besonders sehenswert und außergewöhnlich war das einheitliche Stadtbild, das die Altstadt bot. China rechtfertigt seine Sanierungspolitik mit dem Bulldozer mit unzureichenden Sicherheitsstandards in der Altstadt sowie mit den ärmlichen Lebensbedingungen in den Häusern. Eine absurde Begründung, denn Erdbeben haben gezeigt, dass es in China vor allem lebensgefährlich ist, in Neubauten zu leben, die chronisch Baumängel aufweisen. Wenn ein politischer Wille bestanden hätte, die kulturell wertvollen Zeugnisse Jahrhunderte alter uigurischer Städtebaukunst zu erhalten, wäre auch die Modernisierung vieler Häuser durchaus möglich gewesen. Doch gerade an diesem Willen fehlt es auf Seiten der Behörden. Sie wollen ganz gezielt den Kern uigurischer Kultur treffen. Auch auf Baudenkmä-

ler wird keine Rücksicht genommen Denn Kashgar ist für die Behörden das Zentrum uigurischen Widerstands gegen die chinesische Herrschaft. Durch die gewaltsame Änderung der Siedlungsstruktur wird diese Stadt kontrollierbarer, denn das Gewirr enger Gassen wird verschwinden. War das Stadtzentrum bisher rein uigurisch, werden in den neuen Wohnblocks, die nun auf dem Gelände der ehemaligen Altstadt erbaut werden, außerdem sowohl Han-Chinesen als auch Uiguren angesiedelt. Bei den uigurischen Bewohnern des historischen Kashgar stößt diese Politik auf Wut und Ablehnung. Aus Angst vor Verfolgung protestieren nur wenige Bürger öffentlich, doch hinter vorgehaltener Hand kritisieren sie massiv die gezielte Zerstörung ihrer Altstadt. Chinas Behörden wollen aus Kashgar eine boomende Wirtschaftsmetropole mit Freihandelszonen machen. Doch ausländische Investoren sind zurückhaltend, nicht zuletzt aus Angst vor politisch motivierter Gewalt. So töteten Ende Juli 2011 wütende Uiguren mit Küchenmessern mehr als ein Dutzend Han-Chinesen in Kashgar. China sah in diesen Verzweiflungstaten einen Angriff international agierender Terroristen, nicht auf die Spitze getriebenen Unmut. In Ostturkestan droht mehr Gewalt, so lange kulturell bedeutsame Stätten der Uiguren rücksichtslos zerstört werden. pogrom 268 _ 5/2011

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„…als stünde meine Seele in Flammen“

Nurmuhemmet Yasin – Zehn Jahre Haft für eine Kurzgeschichte Von hanno Schedler

Region Maralbesh verurteilte Yasin er Journalist und Schriftin einer geheimen Verhandlung am steller Nurmuhemmet Yasin 2. Februar 2005 zu zehn Jahren Gewar 30 Jahre alt, als er am 19. November fängnis. Die Begründung: Yasin habe 2004 in der uigurischen Stadt Kashgar in der „Wildtaube“ zu uigurischem verhaftet wurde. Yasin war mit drei GeSeparatismus aufgerufen. Das Urteil dichtbänden (Erste Liebe, Von Herzen wurde in der Berufungsverhandlung schreien, Kommt Kinder) sowie zahlreichen Kurzgeschichten und Essays bekannt und von Kritikern gefeiert worden. Der verheiratete Vater zweier Söhne hatte wenige Tage zuvor in der auf Uigurisch erscheinenden Zeitschrift Kasghar Literatur Journal eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Die Wildtaube“ (auf Uigurisch „Yawa Kepter“) veröffentlicht, die unter Uiguren schnell große Popularität erlangte; unter anderem wurde sie von der uigurischen Abteilung des Senders Radio Free Asia ins Englische übertragen. In der Geschichte wird die Wildtaube, die auf der Suche nach einer neuen Heimat für ihren Schwarm ist, von Menschen gefangen und in einen Käfig gesteckt. Am Ende schluckt die Wildtaube eine vergiftete Erdbeere und stirbt. „Das Gift der Erdbeere strömt Schauspieler des Göttinger „Theaters im OP“ durch meinen Körper“, sagt (ThOP) lesen aus der „Wildtaube“ die namenlose Taube. »Nun kann ich endlich sterben. Es vom Mittleren Volksgericht in Kashist, als stünde meine Seele in Flammen gar bestätigt. Der Chefredakteur des – sie schwebt frei dahin.“ Kashgar Literatur Journals, Korash Die chinesischen Behörden stufHuseyin, wurde ein Jahr nach Yasin ten die Geschichte als Kritik an der festgenommen und zu drei Jahren eigenen Besatzungspolitik ein und Haft verurteilt, weil „Die Wildtaube“ entschieden, Yasin den Prozess zu main seiner Zeitschrift erschienen war. chen. Bei der Festnahme des SchriftNach der Veröffentlichung der Kurzstellers wurde auch sein Computer geschichte wurde die Kontrolle der beschlagnahmt, auf dem sich um die uigurischen Presse und Verlage in 1.600 Gedichte, Kommentare, GeOstturkestan durch die chinesischen schichten und ein unvollendeter RoBehörden so sehr verstärkt, dass vieman befanden. Ein Gericht in der 22

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le Autoren es nicht mehr wagten, ihre Werke zu publizieren. 2005 besuchte der damalige Berichterstatter der Vereinten Nationen für Folter, Manfred Nowak, den inhaftierten Schriftsteller im Gefängnis von Urumtschi. Yasin berichtete, wiederholt gefoltert worden zu sein, woraufhin Nowak sich – leider ohne Erfolg – für die Freilassung des Uiguren einsetzte. Die Volksrepublik China hat im Oktober 1988 die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet. Yasins Familie wurde es bis heute nicht gestattet, ihn zu besuchen. Yasin ist Ehrenpräsident des Uigurischen PEN und Ehrenmitglied des Britischen, Amerikanischen und Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrums. Voraussichtlich wird er am 28. November 2014 aus der Haft entlassen. In der „Wildtaube“ lässt Yasin die Mutter der Taube über die Menschen, die sie gefangen haben, sagen: „Sie wollen uns von unserem Land verjagen, auf dem wir seit tausenden Jahren leben und sie wollen unser Land stehlen. Sie wollen den Charakter unseres Erbes verändern – sie wollen uns unsere Intelligenz nehmen und unsere Verwandtschaft untereinander. Sie wollen uns auch unsere Erinnerung und Identität rauben. Vielleicht schon sehr bald werden sie hier Fabriken und Hochhäuser bauen, und die Abgase der Schlote von Firmen, in denen irgendwelche Produkte hergestellt werden, die wir nicht brauchen, werden unser Land und Wasser vergiften. Die Flüsse, die es dann noch gibt, werden nicht mehr sauber und klar sein wie heute, sondern dicken Ruß von den Fabriken auf ihrer Oberfläche tragen.“ Foto: GfbV-Archiv

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Traditionelle Wirtschaftsweise zerstört

Innere Mongolei im Umbruch Von Ulrich deliUS

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Anlass war der Tod eines mongolischen Nomaden. Er demonstrierte am 10. Mai 2011 gegen den Lärm und die Luftverschmutzung durch Kohletransporter und wurde von einem Lastwagen überrollt. Als noch ein zweiter Mongole bei einem Streit mit chinesischen Minenarbeitern getötet wurde, eskalierten in mehreren Städten die Proteste und die Innere Mongolei erlebte die größten Demonstrationen seit 20 Jahren. Tausende vor allem jüngere Leute forderten Gerechtigkeit und gingen für mehr Schutz der mongolischen Kultur sowie der traditio-

auch gegen die Auslöser der Proteste vor. So wurde der Lastwagenfahrer, der den Demonstranten getötet hatte, im August 2011 zum Tod verurteilt und hingerichtet. Auch einige Bergwerke wurden geschlossen, um die Bevölkerung zu beruhigen.

Vielvölkerregion unter assimilationsdruck Unmut äußern nicht nur Mongolen. In der Inneren Mongolei leben zahlreiche Volksgruppen. Hier wur-

Foto: Herry Lawford

ie Innere Mongolei ist kaum bekannt. Dabei würde ohne ihre Rohstoffe die Welt zum Stillstand kommen. Denn die autonome Region ist der größte Lieferant von „Seltenen Erden“. Das sind 17 Rohstoffe, die zum Bau von Mobiltelefonen, Plasmafernsehern, Energiesparlampen, Automotoren, Windturbinen und Röntgengeräten benötigt werden. Rund 95 Prozent dieser „Seltenen Erden“ werden in China gefördert, zumeist in der Inneren Mongolei. Die Volksrepublik benötigt inzwischen für ihre eigene Industrie rund 60 Prozent der Fördermenge und sieht mit wachsender Sorge, dass aufgrund der großen Nachfrage Chinas Anteil an den weltweiten Reserven von 43 Prozent im Jahr 1996 auf 31 Prozent im Jahr 2009 zurückgegangen ist. Seit 2009 sind die Preise für diese Metalle zum Teil um 270 Prozent gestiegen. Doch den Menschen in der Inneren Mongolei hat dies nicht geholfen. Im Gegenteil: Der Rohstoffboom erhöht den Druck auf Nomaden, sesshaft zu werden, und

Foto: Bert van Dijk

Durch Rohstoffabbau verseuchtes Wasser in der Inneren Mongolei

schürt die Unzufriedenheit unter den in China lebenden Mongolen. Im Mai / Juni 2011 kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen demonstrierenden Mongolen und chinesischen Sicherheitskräften.

nellen Nomadenwirtschaft auf die Straße. Mehr als 40 Mongolen wurden von Sicherheitskräften festgenommen. Auch Intellektuelle, die nicht an den Protesten teilgenommen hatten, gerieten ins Fadenkreuz der Ermittler. China fürchtete eine breite Aufstandsbewegung in der rohstoffreichen Provinz und ging mit Härte

Gigantischer Kohletagebau richtet verheerende Umweltzerstörungen an

den systematisch Han-Chinesen angesiedelt und die Mongolen stellen mit 20 Prozent der 23 Millionen Einwohner längst nicht mehr die größte Bevölkerungsgruppe. Zu den acht stärksten ethnischen Gruppen zählen auch die Ewenken, Hui, Olunchun, pogrom 268 _ 5/2011

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Daur und Mandschuris. Aber auch einige der 20 in China vom Untergang bedrohten Sprachen sind in der Inneren Mongolei noch immer lebendig. Sie werden von weniger als 1000 Menschen beherrscht. Es ist jedoch nur eine Frage der Zeit, wann diese Sprachen verschwinden werden. Zu übermächtig ist die staatliche Förderung zur Standardisierung der Sprache in der Volksrepublik. Im Alltagsleben ist kulturelle Andersartigkeit oft noch immer unerwünscht, auch wenn sie den Tourismus fördert. Die Lust am Exotischen treibt viele Angehörige der Mittelklasse aus den Metropolen Ost-Chinas zum Kurzurlaub in Minderheitenregionen. Die Volksgruppen in der Inneren Mongolei, in der die Assimilation wie in keiner anderen großen Region ethnischer Minderheiten fortgeschritten ist, können von diesem Trend nur schwer profitieren. Die offiziellen Medien sind gleichgeschaltet, an der Macht der Partei und der von ihr genährten Bürokratie darf nicht gerüttelt werden. Doch immer massiver fragen ethnische Mongolen, warum das offizielle China ihnen mit der nomadischen Lebensweise auch ihre Identität genommen hat. Überzeugende Antworten oder Identität stiftende Initiativen hat Peking nicht präsentieren können und so gären Wut, Hoffnungslosigkeit und Protest weiter unter den Mongolen in der Inneren Mongolei.

Künstler dokumentieren verlorene identität Künstler bemühen sich, die untergehende Welt der Nomaden für die Nachwelt zu dokumentieren, üben Kritik und regen zum Nachdenken an. Einige dieser Künstler, wie der 41 Jahre alte Dokumentarfilmer und Fotograf Gu Tao, sind dabei noch nicht einmal ethnische Mongolen. Gu Tao ist zwar in der Inneren Mongolei geboren und sieht sich als Kind der Steppe an, er stammt jedoch aus einer Familie von Mandschuris und Han. Seine Filme widmet er der Dokumentation des Lebensstils und der Kultur der Nomaden. In „Aoluguya, Aoluguya“ ging 24

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Foto: Herry Lawford

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er 2007 der verlorenen Identität und Traditionen der ethnischen Minderheit der Ewenken nach, die vier Jahre zuvor von den chinesischen Behörden fest angesiedelt und gezwungen worden waren, das traditionelle Jagen aufzugeben. Für die Ewenken ist Gu kein Außenseiter, weil er jedes Jahr mehrere Monate mit ihnen lebt und so sehr mit ihrer Kultur vertraut ist. Viele Auszeichnungen auf Filmfestivals erhielt sein 2010 fertig gestellter Film „The Eclipse of the Gods“, in dem er die enge Verbindung der Ureinwohner der Inneren Mongolei mit ihrem Land beschreibt. Auch der auf der Berlinale 2007 mit dem „Goldenen Bären“ ausgezeichnete Film „Tuyas Hochzeit“ dokumentiert die Verdrängung der Nomaden in der Inneren Mongolei durch den Ausbau der Industrieproduktion und Rohstoffgewinnung. Der Film erzählt vom Leben der jungen mongolischen Nomadin Tuya, die sich um ihre Herde von mehr als einhundert Schafen sowie um ihre beiden Kinder und ihren behinderten Ehemann kümmert. Dem aus der chinesischen Provinz Shaanxi stammenden Drehbuchautor Wan Quan’an ist es mit diesem Film gelungen, einen Contra-Punkt zur offiziellen Politik der erzwungenen Ansiedlung der Nomaden zu setzen. Nie zuvor hat ihr Schicksal so viel Interesse gefunden.

eine region im Umbruch Die Innere Mongolei ist im Umbruch. Die traditionelle Nomadenwirtschaft wird immer weiter zurück-

Immer weniger Mongolen leben noch in traditioneller Art und Weise als Nomaden

gedrängt. Die chinesische Regierung warnte erst kürzlich davor, dass rund 90 Prozent des Graslandes in der Volksrepublik unter Versteppung und anderen ökologischen Problemen leide. Aufgrund zunehmender Sandstürme in der Inneren Mongolei verdunkele sich selbst in Peking schon die Sonne. Das Grasland müsse erhalten werden. Deshalb müssten sich die Nomaden fest ansiedeln und ihre Herden aufgeben. Dass nur ihre Herden für die Umweltprobleme verantwortlich gemacht werden, wollen die Nomaden jedoch nicht länger akzeptieren. Sie werfen der staatlichen Landwirtschafts-, Rohstoffund Industriepolitik vor, die Versteppung massiv zu beschleunigen. Ständig wird neues Land für Großfarmen benötigt. Riesige Flächen zerstört auch der Abbau von Rohstoffen im Tagebau. Immer wieder kommt es darüber zum Streit mit Nomaden, die den Behörden vorwerfen, vereinbarte Entschädigungen nicht zu zahlen. Weitere Konflikte sind vorprogrammiert, da die chinesischen Behörden die Landrechte der indigenen Völker in der Inneren Mongolei ignorieren und ihre traditionelle Nomadenwirtschaft weitgehend zerstört haben. Entwurzelt und um ihre Kultur und Identität beraubt, haben die ethnischen Minderheiten in der Inneren Mongolei wenig zu verlieren. Chinas Machthaber werden allerdings kaum nachgeben, da die Rohstoffe aus der Inneren Mongolei für die boomende Wirtschaft der Volksrepublik von existenzieller Bedeutung sind.


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Staatlich gelenkte „Religionsfreiheit“

Christen, Buddhisten, Muslime und Falun Gong werden Opfer von Verfolgung Von hanno Schedler

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unter den Augen zahlreicher Polizisten ein Bischof der „Patriotischen Vereinigung“ geweiht, obwohl der Vatikan dagegen protestiert hatte. Mehrere Bischöfe mussten bei der Ordination anwesend sein. Etwa 20 Millionen Chinesen werden der regimetreuen evangelischen „Drei-Selbst-Kirche“ zugerechnet. Ihre Pfarrer werden vom Staat bezahlt. Der

ser Gemeinschaften vermutet, deren Leiter leicht ins Visier der Staatsmacht geraten: Mit der Begründung, sie seien nicht als „soziale Gemeinschaft“ registriert, werden regelmäßig sogenannte „Hauskirchen“ geschlossen. Die Zahl der Buddhisten in ganz China wird auf mehr als 100 Millionen geschätzt. Die Regierung behält sich vor, Praktiken, die als „aber-

Foto: Torben Prokscha

ie staatliche chinesische Nachrichtenagentur Xinhua berichtete 2009, dass 300 bis 400 Millionen Chinesen sich als einer Religion zugehörig bezeichnen. Die Kommunistische Partei (KP) versucht mit einer gezielt gesteuerten Politik, ihren Einfluss auf die von ihr anerkannten fünf Religionen – den Daoismus, Buddhismus, Islam, Katholizismus und Protestantismus - zu wahren und missachtet damit die in der Verfassung festgeschriebene Religionsfreiheit. Jede Glaubensgemeinschaft wird durch in Peking ansässige Zentralen gelenkt. Zu Zeiten Maos verfemt, erfreut sich die aus China selbst stammende, von Laotse im 6. Jahrhundert vor Christus begründete Religion des Daoismus steigender Beliebtheit. Mindestens 30 Millionen Chinesen gehören ihr an. Tempel werden - auch mit finanzieller Unterstützung der Regierung - wieder aufgebaut. Konferenzen zum Daoismus werden sogar gefördert, sofern die Programme dazu von der Regierung erstellt werden. Ein nicht geringer Teil der Christen Chinas wird jedoch verfolgt. Von den Katholiken dürfen nur diejenigen, die der staatlich zugelassenen Kirche der „Patriotischen Vereinigung“ angehören, ungehindert ihrem Glauben nachgehen, nicht diejenigen, die zur sogenannten Untergrundkirche zählen. Die Untergrundkirche steht dem Vatikan nahe und hat rund sieben Millionen Mitglieder, die regimenahe „Patriotische Vereinigung“ rund sechs Millionen. Priester und Bischöfe der Untergrundkirche müssen mit Verhaftung und Verhören rechnen. Annäherungen zwischen dem Vatikan und Peking werden durch Ereignisse wie die des 16. Oktober 2010 zunichte gemacht: In der Provinz Hebei wurde

Tibetische Mönche in Litang

Protestantismus ist die am schnellsten wachsende Religion in China: Schätzungen zufolge kommen zu den 20 Millionen nochmal bis zu 60 Millionen Angehörige nicht-registrierter protestantischer Gemeinschaften hinzu. Allein in Peking werden 3.000 die-

gläubisch“ oder „feudal“ eingestuft werden, zu verbieten. Dabei kommt den Behörden das chinesische Recht entgegen, das diese Begriffe nicht genau definiert und Interpretationsspielräume offen lässt. Die Angst der chinesischen Regierung vor der Anziehungskraft der tibetischen Ausrichtung des Buddhismus zeigt sich in der regelmäßigen Weigerung von pogrom 268 _ 5/2011

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Umerziehungslager - verschleppt, als sie eine Andacht für Phuntsok halten wollten. Ihr Kloster ist seitdem vom Militär abgeriegelt. Bis Anfang November 2011 zündeten sich elf Mönche und Nonnen aus Protest gegen Pekings Religions- und Besatzungspolitik an. Sieben starben. Auch die dem sunnitischen Islam zugehörigen mehr als neun Millionen Foto: The Epoch Times

Behörden, Han-Chinesen, die für eine längere Zeit in tibetischen Klöstern den Buddhismus studieren wollen, dafür eine Genehmigung zu erteilen. Selbstverbrennungen von tibetischen Mönchen und Nonnen klagen die anhaltende Repression der Staatsmacht gegenüber den in der Autonomen Region Tibet und angrenzenden Regionen lebenden tibetischen Buddhisten

In China verboten und bei Missachtung hart bestraft: Falun-Gong-Mediation im Londoner Exil

an. Ihre religiösen Führer werden von der Regierung ernannt. Sie werden gezwungen, den Dalai Lama als religiösen Führer abzulehnen. Den zweithöchsten religiösen Würdenträger Tibets, den Panchen Lama, ließ Peking 1995 entführen. Mehr als 12.000 Nonnen und Mönche mussten ihre Klöster verlassen, weil sie sich nicht vom Dalai Lama distanzieren wollten. Seit März 2011 ist das Kloster Kirti in der Nähe der Stadt Ngaba (chinesisch: Aba) in der Sichuan-Provinz Fokus des Protests der Tibeter (Das historische Tibet ist etwa zweimal so groß wie die nach der Gründung der Volksrepublik China geschaffene Autonome Region Tibet). Phuntsok, ein 21 Jahre alter tibetischer Mönch, verbrannte sich am 16. März 2011 selbst, uman die brutale Niederschlagung der Proteste von Tibetern 2008 zu erinnern. 300 Mönche von Kirti wurden – vermutlich in 26

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Uiguren in Ostturkestan leiden unter staatlichen Eingriffen: Muslimische Geistliche müssen seit 2001 an sogenannten patriotischen UmerziehungsKampagnen der KP teilnehmen, bei denen sie auf Loyalität gegenüber der Regierung eingeschworen werden. Moscheen und Koran-Schulen werden willkürlich geschlossen, religiöse und kulturell bedeutende Schriften öffentlich verbrannt. Nach Unruhen zwischen Han-Chinesen und Uiguren in der Region im Juli 2009 verschärfte die Regierung Bestimmungen zur Einschränkung religiöser Aktivitäten von Lehrern und Studenten bis hin zur Konfiszierung von Pässen, ohne die Uiguren nicht nach Mekka pilgern konnten. Bärte tragende Männer müssen mit Geldstrafen rechnen und Frauen sind gezwungen, ihre Kopftücher abzunehmen. Minderjährigen ist es nicht erlaubt, an religiösen Feiern teilzunehmen. Die größte unter Verfolgung leidende religiöse Gruppe ist die Meditationsbewegung Falun Gong. Anfang

der 1990-er Jahre von Li Hongzhi gegründet, erlebte sie einen rasanten Zulauf: Innerhalb weniger Jahre wurden 70 Millionen Chinesen Mitglied von Falun Gong. Doch auch die Angst der KP vor einem übermäßigen Einfluss der Bewegung auf das öffentliche Leben wuchs. Am 20. Juli 1999 begannen in der Volksrepublik Massenverhaftungen von Falun-GongAnhängern. Zwei Tage später erklärte der damalige Staatspräsident Jiang Zemin die Meditationsbewegung offiziell für verboten, da sie die „soziale Ordnung gefährde“. Mehr als 150.000 Falun-Gong-Anhänger wurden seither in eines der 340 Arbeits- und Umerziehungslager eingewiesen und bis zu drei Jahre lang festgehalten. Über 3.400 starben in Haft. Viele Anhänger der Meditationsbewegung wurden bereits mehrfach dort eingesperrt, da sie sich weigerten, sich von Falun Gong abzuwenden. Rund die Hälfte aller Lagerinsassen Chinas sind Schätzungen zufolge Falun-Gong-Anhänger. Rechtsanwälte wie Gao Zhisheng, der sich besonders für inhaftierte FalunGong-Anhänger und Christen einsetzte, werden in Geheimgefängnissen festgehalten. Seit seiner Festnahme im April 2010 fehlt von Gao jede Spur. Zuvor war er bereits mehrfach verhaftet und gefoltert worden. Das nach seinem Gründungsdatum am 10.06.1999 benannte Büro 610 ist für die Beobachtung und Bekämpfung von Falun Gong zuständig. In Deutschland arbeitet es laut Jahresbericht 2010 des deutschen Verfassungsschutzes mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MSS) zusammen, das für Spionage in Wirtschaft und Politik zuständig ist. Wie weit der lange Arm Pekings reicht, zeigt der Fall eines 55-jährigen chinesischen Arztes mit deutscher Staatsangehörigkeit. Er hat E-Mails und Adressen der deutschen Gruppe von Falun-Gong-Anhängern und hunderte Seiten von schriftlichen Berichten an das Büros 610 übermittelt. Dafür wurde er am 8. Juni vor dem Oberlandesgericht Celle wegen „geheimdienstlicher Agententätigkeit“ zu einer Geldstrafe von 27.000 Euro und einer Haftstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt.


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Schriftsteller-Vereinigungen für die Freiheit des Wortes in China V o n d a n i e l M at t

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Die Schriftstellerin Xu Pei bei der GfbV auf der Frankfurter Buchmesse2009

sischen PEN (ICPC) und wollten in Hongkong an den Feierlichkeiten anlässlich des zehnten Geburtstages der Organisation teilnehmen. Die rund 270 Mitglieder des ICPC, von denen mehr als die Hälfte weiterhin in der Volksrepublik China lebt, verstehen sich als Schriftsteller, Dichter, Essayisten und InternetAutoren. Viele von ihnen konnten ihre Essays, Gedichte und Bücher bisher nur im Internet verbreiten: Die staatlichen Zensoren untersagen häufig die Publikation in Buchform. Viele Verlage, Zeitschriften und Zeitungen zensieren sich selbst, um nicht von der Staatssicherheit bekämpft zu werden. Das Unabhängige Chinesische PEN-Zentrum setzt sich für die Freiheit des Wortes und inhaftierte Schriftsteller ein. Die Regierung in Peking bekämpft die NGO seit ihrer Gründung im Jahr 2001. Damals hatten in der Volksrepublik verbliebene gemeinsam mit ins Exil gedrängten Autoren den Ableger des internationalen PEN-Zentrums ins Leben gerufen. Die Mitgliedschaft im ICPC ist riskant. Seine Mitglieder werden überwacht und eingeschüchtert. Sie verlieren häufig ihre Arbeitsstelle. Der international bekannteste Repräsentant und Ehrenvorsitzende des ICPC, der Schriftsteller Liu Xiaobo, sitzt bis 2020 im Gefängnis. Er ist seit Dezember 2008 inhaftiert, wurde im Dezember 2010 mit dem FriedensFoto: Eva Lutter/GfbV

ehrere Mitarbeiter der chinesischen Staatssicherheit hinderten Jiao Guobiao im Juli 2011 daran, seine Wohnung in Peking zu verlassen. Jiao, das Flugzeugticket bereits in der Tasche, wollte nach Hongkong reisen. Die chinesische Regierung verfolgte ihn seit langem: 2004 hatte die Regierung dem Journalismus-Professor nach einem kritischen Artikel über das Propagandaministerium die Lehrerlaubnis entzogen. 2010 wurde Jiao an 249 Tagen daran gehindert, seine Wohnung zu verlassen. Wenn er Freunde treffen wollte, musste er die Staatssicherheit um Erlaubnis fragen. Seinen Mitstreitern Zhuang Daohe,

Kampagne des Uyghur PEN für die Freilassung von Nurmuhemmt Yasin

einem Anwalt und Essayist, und dem Dichter und Filmemacher Cui Weiping wurde es ebenfalls verboten, nach Hongkong zu reisen. Alle drei sind Mitglieder des Unabhängigen Chine-

nobelpreis ausgezeichnet, und war von 2003 an vier Jahre Präsident der Vereinigung. Der Unabhängige Chinesische PEN ist nicht die einzige kritische Schriftsteller-Organisation, die sich für die Freiheit des Wortes in China einsetzt. 2006 gründeten Exil-Uiguren in Stockholm das Uigurische PEN-Zentrum. Es teilt die Werte des Unabhängigen Chinesischen PEN, engagiert sich aber nicht nur in China, sondern auch in Zentralasien, wo ebenfalls viele Uiguren leben. Das Auswärtige PEN-Center Tibetischer Autoren, 1999 im indischen Dharamsala gegründet, ist ebenfalls Mitglied der PEN-Gemeinde. pogrom 268 _ 5/2011

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„Kultur ist nichts Unverdächtiges“ Der Sinologe Heiner Roetz, Professor an der Fakultät für Ostasienwissenschaften für Geschichte und Philosophie Chinas an der Ruhr Universität Bochum, spricht über die Instrumentalisierung der Lehre von Konfuzius und die Universalität der Menschenrechte.

heiner roetz: Es gab offenbar zumindest keine weitere Veranstaltung, die eine größere Öffentlichkeit erreicht hätte. Das ist in der Tat verwunderlich, umso mehr als Liu Xiaobo ja nicht nur eine prominente Person der Politik, sondern auch Gegenstand sinologischer Arbeiten ist. Die Sinologie hat für die Autoren, mit denen sie sich beschäftigt, doch auch eine Art Verantwortung. bedrohte Völker: Hat sich die Sinologie in den letzten Jahren verändert, was die Vorsicht gegenüber politischen Äußerungen angeht? heiner roetz: Bochum war schon immer eine gewisse Ausnahme, was das Interesse für die chinesische Dissidentenbewegung betrifft, namentlich dank Helmut Martin und seiner Frau Tienchi Martin-Liao. Ich denke, dass die Bereitschaft in der Sinologie, sich politisch aus dem Fenster zu lehnen, noch nie sehr groß gewesen ist. Und dafür gibt es wieder verschiedene Gründe. Einmal will man sich die Kooperation mit China nicht verderben, wobei ich diese Sorge manchmal für übertrieben halte. bedrohte Völker: Warum? Kann gar nicht so Schlimmes drohen? heiner roetz: Wenn man liest, was manche in China akkreditierte Journalisten sich zu schreiben getrauen, dann sieht man, dass es nicht immer 28

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Sie das denn anders als die meisten ihrer Kollegen?

Foto: Universität Bochum

bedrohte Völker: Herr Roetz, an der Uni Bochum fand, so stand es in der Süddeutschen Zeitung, die einzige von Sinologen organisierte öffentliche Veranstaltung anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises an Liu Xiaobo statt. Hat es sie gewundert, dass es nicht mehr solcher Veranstaltungen gab? Professor Dr. Heiner Roetz

eine genaue Korrelation zwischen dem politischem Verhalten und der Visavergabe gibt. Der Apparat genehmigt sich Spielräume, und manchmal geht es mehr um ein politisches Signal als um die betroffene Person. Norwegischen Sinologen wurde die Einreise verweigert, um das Nobelpreiskomitee zu treffen, andere bekommen wider Erwarten ein Visum. Im Übrigen sind die Auswirkungen auf die sinologische Forschung unterschiedlich. Wenn man z.B. auf Feldforschung in China angewiesen ist, kann einem die Verweigerung eines Visums sicherlich schon sehr schaden. Ich meine aber, dass es nicht immer nur Vorsicht ist, was manche Sinologen politisch abstinent macht. Was vermutlich tiefer sitzt, ist die Überzeugung, dass Wissenschaft und Politik verschiedene Dinge sind. Man äußert sich möglicherweise privat, trennt das aber von der fachlichen Seite wegen des Postulats der Wertfreiheit, das in den Kultur- und Sozialwissenschaften sehr verbreitet ist. Ein dritter Punkt ist die Sicht der fremden Kultur als etwas ganz Anderem, das im Vergleich zu uns ein eigenes Wertesystem repräsentiert. Platt gesagt läuft das darauf hinaus, dass man die Chinesen mit unseren Kriterien in Ruhe lassen soll. bedrohte Völker: Warum sehen

heiner roetz: Ich stehe mit meiner Sicht Chinas sicher nicht allein, und auch die Bochumer Initiativen wurden von vielen Mitgliedern der Fakultät getragen. Auch Sinologen, die eher schweigen, stimmen damit nicht schon mit dem Pekinger Regime überein. Meine persönliche Überzeugung ist jedenfalls, dass es in der internationalen Gemeinschaft eine für alle verbindliche normative Basis geben muss, und dazu gehören auch die Menschenrechte. Gäbe es diese Basis nicht, dann träfe das nicht nur die Chinesen, sondern auch uns selbst. Wenn alles relativ ist und Menschenrechte nicht für Chinesen gelten, für wen gelten sie dann letztlich noch? Ich habe also auch ein persönliches Interesse an diesem Thema. bedrohte Völker: Haben Sie den Eindruck, dass Sinologen privat ganz anders als öffentlich reden? Oder gehört es zu den Grundüberzeugungen der meisten Sinologen, man müsste vor allem verstehen und nicht bewerten? heiner roetz: Die Sinologie ist thematisch ein riesiges und sehr uneinheitliches Feld. Die Arbeitsgebiete der einzelnen Sinologen liegen oft sehr weit auseinander und nicht immer dicht an politischen, normativ-ethischen Fragen. Deshalb fühlt man sich nicht unbedingt zuständig, diese Fragen als Sinologe zu beantworten. Und Werturteilen steht man, wie gesagt, ohnehin mit Skepsis gegenüber. bedrohte Völker: Sie haben im April 2011 in einem Artikel in der FAZ geschrieben, dass die Sinologie Teil des Problems sei und in der Frage der Menschenrechte Stellung


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Kulturelle Vielfalt zulassen Eine Kampagne der Gesellschaft für bedrohte Völker // www.gfbv.de

der Menschenrechte direkt in die Hände arbeitet. Ich habe ein paar Leserbriefe bekommen, überwiegend positiv, allerdings kamen kaum Reaktionen aus der Sinologie. Man kann nicht sagen, dass dort eine große Debatte über die Menschenrechtsfrage stattfindet. Man hätte es natürlich auch nicht ganz leicht, wenn man in den Ring steigen wollte, um den chinesischen Regierungsstandpunkt zu verteidigen. Manche der Argumente aus dieser Richtung klingen eher provokant „inkorrekt“ als überzeugt, wenn etwa Wolfgang Kubin in einer Internetzeitung zur Inhaftierung Ai Weiweis geschrieben hat, was regt Ihr euch denn auf, der Mann ist doch vermutlich nur ein Steuerhinterzieher – als glaubte er selbst, dass es in China eine objektive, nicht politisch gelenkte Justiz gibt.

beziehen müsste. Wie waren die Reaktionen auf Ihren Artikel? heiner roetz: Wenn ich die Sinolo-

bedrohte Völker: Darüber haben Sie sich aufgeregt. heiner roetz: Nein, ich kenne ja diese Positionen. Ich fühle mich eher bestätigt. bedrohte Völker: Und diese grundverschiedenen Positionen gibt es schon lange… heiner roetz: China auf einer anderen normativen Ebene zu verorten als den Westen, hat sicher eine lange Geschichte. Es gibt die Überzeugung, dass wir es mit einer völlig anderen Zivilisation zu tun haben, die auch eine andere Form von Moderne hervorgebracht hat mit einem anderen Modell von Politik und Recht. Das ist der Schwingboden, auf dem sich das alles abspielt. Diese Position ist in Teilen der Sinologie fest sedimentiert, und es verwundert mich nicht, wenn dann an der politischen Oberfläche entsprechende Argumente kommen. Mit dem gleichen Relativismus operiert im Übrigen China.

gie als Teil des Problems bezeichnet habe, dann deshalb, weil das Fach oft ein China-Bild vermittelt hat und weiter vermittelt, das den Gegnern

bedrohte Völker: In diesem Zusammenhang wird ja auch unter anderem von dem berühmtesten Nicht-Sinologen Deutschlands, Helmut Schmidt, immer Konfuzius pogrom 268 _ 5/2011

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heiner roetz: Man kann sozusagen fragen, wessen Held Konfuzius ist. Er ist sicher eine ambivalente Figur, aber man muss ihn gleichwohl nicht den Konservativen und Autoritären überlassen. Es steckt nämlich viel mehr im frühen Konfuzianismus als was historisch dabei herausgekommen und heute dem offiziellen China lieb ist. Ihn zur Galionsfigur dieses Systems zu machen, ist eine Instrumentalisierung, die er nicht verdient hat. Ich versuche in der Tat auf andere Möglichkeiten der Interpretation und der modernen Adaption des Konfuzianismus hinzuweisen. Das haben aber auch viele moderne Konfuzianer getan. bedrohte Völker: Sie haben ja gemeinsam mit zwei Kollegen ein Buch über den Philosophen Mengzi [Menzius] und die Menschenrechtsfrage publiziert. Ist das Ihre Antwort darauf, dass man Philosophen nimmt, um bestimmte politische Systeme zu rechtfertigen? heiner roetz: Ja, man kann die Relativisten auf ihrem eigenen Terrain bekämpfen. Mengzi war der zweite große Konfuzianer der Antike, der in der Debatte um das Verhältnis des Konfuzianismus zu den Menschenrechten und zur Demokratie eine große Rolle spielt. Er hat den Gedanken der Menschenrechte nicht, aber er ist ein konsequenter Kritiker der Gewaltherrschaft, und er hat eine moralische Anthropologie entwickelt, wonach jeder Mensch die Urteilsfähigkeit über richtig und falsch in sich selbst hat und nicht vom Staat drangsaliert werden muss. Das erinnert stark an westliche Naturrechtsvorstellungen. Wir haben einfach mal verfolgt, was 30

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aus dieser Theorie geworden ist. Und man sieht, dass sie immer ein Stachel gegen die Despotie gewesen ist und es noch heute sein kann. Das Buch ist übrigens hauptsächlich von Wolfgang Ommerborn und Gregor Paul verfasst worden, die Mitarbeiter in einem von mir beantragten Forschungsprojekt waren. bedrohte Völker: Die chinesische Regierung versucht, durch Konfuzius-Institute chinesische Sprache und Kultur, aber auch ihre eigene Sichtweise zu vermitteln. Wie schätzen Sie diese Institute ein? heiner roetz: Die Konfuzius-Institute geben sich kein politisches Profil. Sie bieten primär Veranstaltungen zur chinesischen Kultur und Sprache an. Nun ist die chinesische Kultur allerdings gerade eine Ressource, deren sich das politische System Chinas zu seiner Legitimation bedient. Bei der Werbung für die Kultur soll für das Regime also etwas abfallen, sie wird zu einem politisch aufgeladenen Faktor. Das heißt nun nicht, dass jedes einzelne Konfuzius-Institut sich wie ein Propaganda-Instrument Chinas verhielte. Aber die Institution als solche ist in der chinesischen Außenpolitik zweifellos eine strategische Größe, auch durch erhoffte indirekte Wirkungen. bedrohte Völker: Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei hat sich im Oktober getroffen, um zum ersten Mal das Thema „Soft Power“/ „Weiche Macht“ an die oberste Stelle der Tagesordnung zu setzen. Glauben Sie, dass diese Kultur-Offensive Erfolg haben und die öffentliche Meinung in demokratisch verfassten Staaten ändern kann? heiner roetz: Das glaube ich eher nicht. Eher könnte umgekehrt die Politik das Interesse an der chinesischen Kultur in Mitleidenschaft ziehen. Unter der Voraussetzung, dass sich in China kein Trend zu einem politisch liberalen System abzeichnet und sich Liberalisierung immer nur auf die Wirtschaft beschränkt und zu

den rabiatesten Formen von Kapitalismus führt, so lange hat China zwar die Sympathien der westlichen Unternehmerschaft, aber nicht unbedingt die der Öffentlichkeit. bedrohte Völker: Im nächsten Jahr findet das noch von Bundespräsident Köhler initiierte chinesische Kulturjahr in Deutschland statt. Wie, glauben Sie, wird das ablaufen? Und was erhoffen Sie sich? heiner roetz: Ich hoffe, dass es die eine oder andere Alternativveranstaltung geben wird, auf der mal ein bisschen gegen den gewünschten Foto: Archiv

genannt, mit dem dann begründet wird, warum sich Menschenrechte und Rechtsstandards der westlichen Welt in China gar nicht erst durchsetzen könnten. Sie haben ein Buch über Konfuzius geschrieben, in dem Sie versuchen, den Leuten, die Konfuzius für ihre Zwecke auslegen, entgegenzutreten mit einer anderen Interpretation.

Strich gebürstet wird, was „chinesische Kultur“ ist. bedrohte Völker: Was wünschen Sie sich von der Sinologie? heiner roetz: Sie sollte sich fragen, ob sie es wirklich beim Image der „Chinaversteher“ und sogar einer gewissen Regimenähe belassen will. Wir brauchen also mehr Diskussion. Nicht nur über das Verhältnis zu China, sondern auch über das Verhältnis von Wissenschaft und öffentlichem Engagement.

Für „bedrohte Völker - pogrom“ sprach Hanno Schedler mit Prof. Roetz.


Foto: Thomas Nilsen/Barents Observer

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Russlands Republiken (Teil XIV)

600 Kinder der Nenzen verbringen ihre Schulzeit bereits auf einem modernen Internat

Der Autonome Kreis der Jamal-Nenzen

Trotz extremer Wetterbedingungen mit Temperaturen von bis zu minus 50 Grad Celsius sind die indigenen Völker im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen nördlich des Polarkreises hervorragend an ihre raue Umwelt angepasst. Die Erschließung der Erdgasvorkommen auf der Halbinsel bedroht jedoch die nomadische Lebensform dieser Rentierzüchter Von gerda aSMUS

M

it ihren rund 300.000 Rentieren bewältigen die Nenzen von den Winter- zu den Sommerweiden und zurück jährlich eine Strecke von bis zu 800 Kilometern. Damit gehören sie zu den letzten echten Nomaden unserer Erde 1). Ihr Leben dreht sich dabei um ihre Tiere: Das Fleisch ist ihre Nahrungsgrundlage, das Fell wird zu Kleidung und Zelten verarbeitet. Etwa 10.000 der rund 40.000 Nenzen in der Russischen Föderation sind neben den indigenen Chanten, Komi und Selkupen im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen zuhause und stellen insgesamt neun Prozent der Bevölkerung. Mit 62,8 Prozent der 543.000 Einwohner sind Russen in dieser Verwaltungseinheit die Mehrheit, je 5,8 Prozent sind Ukrainer und Tataren, den Rest bilden Menschen aus Zentralasien und anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Genauere Daten darüber liegen nicht vor, da sich die Bevölkerungszusammensetzung in den letzten Jahren mehrfach verändert hat. Von den indigenen Völkern Sibiriens konnten die Nenzen ihre traditionelle Lebensweise und Kultur am erfolgreichsten bewahren. 75 Prozent von ihnen sprechen noch ihre Muttersprache. Doch ihr

kulturelles Erbe ist inzwischen stark gefährdet. Sprache, Bräuche und Traditionen des Nomadenlebens drohen durch die zunehmende Industrialisierung des Gebietes in Vergessenheit zu geraten. Die Nenzen selbst sehen das mit gemischten Gefühlen: Einerseits hoffen sie, dass das Erdgas Wohlstand und ihren Kindern mehr Bildungschancen bringt. Andererseits fürchten sie das Ende ihrer uralten Nomadenkultur. Heute schon verbringen rund 600 Nenzenkinder den größten Teil des Jahres in einem modernen Internat in Salechard, dem Hauptort der Halbinsel. Sie sollen zumindest auf neue Wege vorbereitet sein.

erdgasförderung ohne Beteiligung der nenzen Auf Jamal sind Erdgasvorkommen im Umfang von 16 Billionen Kubikmetern nachgewiesen, weitere 22 Billionen Kubikmeter werden vermutet. (http:// www.gazprom.com/press/news/2011/ july/article115809/) Der Permafrostbo-

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den, dessen obere Schichten im Sommer auftauen, macht den Bau von Straßen und Eisenbahnlinien, von Pipelines und Förderanlagen schwierig und teuer. Für die Gas-Ausbeutung spricht jedoch die Nähe zur Nord Stream Pipeline, die Sibirien mit Westeuropa verbindet. 2012 soll laut Gazprom die Förderung im Bovanenko-Feld beginnen. Schon heute sind 20.000 ausländische Arbeiter hier mit den gigantischen Baumaßnahmen beschäftigt. Die Nord Stream Pipeline (dem Baukonsortium sitzt Altkanzler Gerhard Schröder vor), wird von der EUKommission als Schlüsselprojekt für die zukünftige Energieversorgung angesehen. Neben dem russischen Energieunternehmen Gazprom als Hauptanteilsträger (51 Prozent) sind die deutschen Konzerne E.ON Ruhrgas und BASF/ Wintershall zu jeweils 15,5 Prozent an dem Prestigeprojekt beteiligt. Die Erschließung neuer Erdgasfelder, der Bau von Straßen und Eisenbahngleisen kostete die Nenzen in den vergangenen zehn Jahren bereits etwa sieben Millionen Hektar Weideland. Durch ErdölAbfälle werden die Fischbestände an den Küsten, in vielen Seen und Flüssen geschmälert. Schwere Maschinen zerstören das Land und Tiere verletzen sich an verrottenden Metallteilen. Die russische Regierung bietet den Einheimischen Häuser in Salechard als Kompensation an. Die Forderungen der Nenzen nach einem unabhängigen Ökologie-Monitoring während der Bauarbeiten und der Beteiligung an Entscheidungsprozessen werden jedoch missachtet. Auch die deutschen Unternehmen E.ON und Wintershall, denen die GfbV diese Forderungen übermittelte, gingen nicht darauf ein. Die russische Regierung lockerte im März 2011 zudem noch die Bedingungen zur Ressourcenförderung. Das weltweit einmalige nomadische Leben wird in diesem Spiel um Ressourcen und Geld wohl auf der Strecke bleiben. Die Nenzen schwanken noch zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und pragmatischer Zukunftsplanung für ihre Kinder.

http://www.markuswegmann.com/pages/110205_nomaden.htm

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Foto: Uwe Kunze

Gefahr für Finnlands Rentierzüchter

Bei der Rentierscheidung werden die Tiere ausgewählt, die nicht geschlachtet werden sollen, sondern wieder auf die Weide dürfen

Streit um Wälder der finnischen Sámi Von Jan SaiJetS

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ie Streitigkeiten zwischen der Rentierwirtschaft und der Forstwirtschaft in Finnland begannen in den 1960er Jahren, als die industrielle Forstwirtschaft in Lappland einsetzte. Die Kahlschläge zerstörten wichtige Winterweiden der Rentiere: mit Flechten bewachsene Bäume und von Moosflechten bedeckte Böden. Erst Anfang der 1990er Jahre, als erste bedeutende Forschungsergebnisse zum Thema Landrechte vorlagen, entwickelte sich unter Lapplands Finnen ein Bewusstsein für die Landrechtsforderungen der Sámi. Nachdem zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch Umweltorganisationen die Botschaft der sámischen Rentierzüchter ins allgemeine Bewusstsein brachten, kam es 2002 - 2006 besonders im Bezirk Inari zu einem heftigen Disput um 32

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Wald. Im Herbst 2010 wurden sich Inaris Rentiergenossenschaften und Metsähallitus (die staatliche finnische Forstgesellschaft) darüber einig, dass wichtige Rentierweiden für die folgenden 20 Jahre von den Abholzungen ausgenommen bleiben würden.

hintergrund und Beginn der auseinandersetzungen um Wald Bei der sámischen Rentierzucht weiden die Tiere frei auf Naturweiden. Zusätzliche Fütterung dient meist der Lenkung der Herden im Winter. Die Rentabilität der sámischen Rentierzucht ist also stark abhängig von dem Zustand der Naturweiden. Die Wälder in tiefer liegenden Gebieten sind wichtige Winterweiden. Hochebenen und

Wälder in hoch liegenden Gebieten werden in den anderen Jahreszeiten als Weide genutzt. Die Abholzungen der Wälder konzentrieren sich auf die Winterweidegebiete. Gerade der Winter ist für die Tiere die schwierigste Zeit. Durch Kahlschläge verschwinden die Bäume, an denen die Bartflechte (`luppo`) wächst, die den Rentieren als unentbehrliche Nahrung in den späten Wintermonaten dient, wenn sie durch den verharschten Schnee nicht nach Moosflechten graben können. Die Bartflechte wächst nur an Bäumen, die älter als 150 Jahre sind. In manchen Jahren müssen Rentiere bei harter Schneedecke des Frühjahres mehrere Wochen lang mit Bartflechte auskommen. Deshalb leisteten die Rentierzüchter gegen Abholzungen dieser Wälder Widerstand. Auf ab-


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greenpeace mit dabei Der Widerstand der Rentierzüchter wurde lange Zeit nicht ernst genommen. Die Genossenschaften von Sallivaara und Muotkatunturi aus Inari prozessierten in den 90er Jahren gegen Metsähallitus und verloren den Rechtsstreit, wurden aber von der Menschenrechtskommission der UN unterstützt. Erst als Greenpeace und der Naturschutzbund Finnlands die Forderungen der Rentierzüchter unterstützen und diese in der Öffentlichkeit geschlossen als Genossenschaften oder Rentierhütegemeinschaften auftraten, änderte sich dies. Vier der sechs Züchtergenossenschaften Inaris (Muotkatunturi, Muddusjärvi, Hammastunturi und Vätsäri), auf deren Gebiet Forstwirtschaft betrieben

wird, und die Hütegemeinschaft einer Rentierzuchtgenossenschaft in Nellim (Ivalo) kündigten Widerstand gegen die Abholzung wichtiger Weideflächen an. Lapplands Züchtergenossenschaft führte ihren eigenen Kampf um die verbliebenen Weidegebiete. Diese außergewöhnliche Allianz zwischen den Sámi und den Naturschutzorganisationen bewirkte, dass man in der Öffentlichkeit begann, Forderungen nach dem Schutz der Wälder ernst zu nehmen. Gleichzeitig wurden die Waldschützer aber von Vertretern der Waldwirtschaft und einigen ortsansässigen Nordfinnen heftig bekämpft. Man bezichtigte die Rentierzüchter der Habsucht. Sie seien Spielbälle der Naturschutzorganisationen.

Foto: SamiDuodji - flickr.com

geholzten Flächen geht aufgrund des erhöhten Lichteinfalls das Flechtenwachstum zurück. Die Rentiere zerstreuen sich über auf weite Flächen, was für die Rentierhirten viel zusätzliche Hütearbeit bedeutet. Außerdem werden seit den 90er Jahren viele kleine, 20 ha umfassende Lichtungen mitten in einen zusammenhängenden, alten Wald geschlagen, was die Weidewirtschaft weiter erschwert. Kritik der Rentierzüchter wurde nicht ernst genommen und als Unwissenheit abgetan. Probleme, so hieß es, seien ausschließlich auf zu große Herden zurückzuführen. In Inari gibt es insgesamt 550 000 Hektar Waldflächen, von denen vor den Streitigkeiten zu Beginn des Jahrtausends weniger als 200 000 Hektar unter Schutz standen. Die restlichen Wälder dienten der Forstwirtschaft in unterschiedlicher Intensität. Die hochwertigsten Forstwirtschaftsflächen, ungefähr 250 000 Hektar, sind zugleich die allerbesten Winterweideflächen. Dort wurden jedoch in den frühen 1980er Jahren die besten Moos- und Bartflechtengebiete abgeholzt. Lapplands Rentierzuchtgenossenschaft verlor in den 1990er Jahren die Hälfte ihrer Weidegebiete durch Kahlschläge, gewaltige Stauseen und den Tourismus. Etwa 200 000 Hektar Wald wurden so zerstört.

Rentierfellschuhe der Sámi

Abholzung stattfand, gleich geblieben war. Endlich konnte wissenschaftlich bewiesen werden, was Rentierzüchter bereits seit den 1970er Jahren vorgebracht hatten. In der Öffentlichkeit wurden allmählich die Stimmen leiser, die behaupteten, dass Abholzungen keinerlei Auswirkungen auf Rentierzucht hätten. Im Jahre 2006 stellte Metsähallitus die Abholzungen in den sog. „Greenpeace-Schutzgebieten“ ein, wonach bis 2010 eine Art Waffenstillstand herrschte. Während dieser Zeit drohte Metsähallitus mit Kahlschlägen in den Schutzgebieten, führte sie aber nicht durch. Nach und nach wurden Verträge ausgehandelt. So legten die Rentierzuchtgenossenschaft Lapplands im Herbst 2009 und die Rentierhütegemeinschaft von Nellim im Sommer 2010 ihren Streit mit Metsähallitus bei. Am 10. 12. 2010 wurden auch die Verträge zwischen Metsähallitus und den Rentierzuchtgenossenschaften Inaris veröffentlicht. 90 % der vom Streit betroffenen Wälder sollten für die folgenden 20 Jahre von Abholzungen verschont bleiben.

Bedeutung der rentierzucht für die sámische Kultur In Inari forderten die Rentierzüchter, dass ca. 100 000 Hektar Wald in den so genannten „Greenpeace-Schutzgebieten“ von den Abholzungen ausgenommen werden sollten. Lapplands Züchtergenossenschaft erhoben Forderungen auf ca. 15 000 Hektar Wald in Peurakaira.

Waldfrieden 2010 Nun endlich begann die Finnische Forstliche Versuchsanstalt mit wissenschaftlichen Untersuchungen über die Auswirkungen der Forstwirtschaft auf die Rentierzucht. Demzufolge war in den von Forstwirtschaft betroffenen Genossenschaftsgebieten das Vorkommen der Flechten im Laufe von 30 Jahren um die Hälfte zurückgegangen, während sie in den Fjällgenossenschaften (Fjäll = Berg), wo keine

Neben der Sprache gehört die Rentierzucht zu den tragenden Säulen der sámischen Kultur. Sie bildet weitgehend ihre materielle Grundlage. In den Gebieten Inari, Utsjoki, Enontekiö, dem nördlichen Teil Sodankyläs leben etwa 3.500 Sámi. Ungefähr 1000 von ihnen besitzen Rentiere. Rentierzucht ist ganz offensichtlich die wichtigste Beschäftigungsmöglichkeit der Sámi. Sie bezieht ihren kulturellen Wert aus der Tatsache, dass sie im Laufe der Zeit von einer Generation zur anderen weiter vererbt wurde und ein Arbeitsumfeld schafft, in dem die Sámi unter sich sind. Sie konnten dadurch auch die Sprache erhalten. An der Rentierzucht beteiligen sich Menschen unterschiedlichen Alters vom Kleinkind bis zum Opa. Sprache, Gebräuche und Kenntnisse werden dadurch über die Generationen an die jungen Leute weiter gegeben. pogrom 268 _ 5/2011

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Weidenutzungsrechte sind grundlegend für die Rentierwirtschaft der Sámi

Foto: Carl-Johan Utsi/cjutsiphoto.com

UN-Sonderberichterstatter berichtet vor UN-Menschenrechtsrat

Internationale Aufmerksamkeit für die Menschenrechtssituation der Sámi Einmal im Jahr präsentiert der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte indigener Völker, James Anaya, die Ergebnisse seiner Arbeit vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf. Der diesjährige Bericht enthielt unter anderem eine 22-seitige Anlage zur Situation der Sámi in Norwegen, Schweden und Finnland. Vo n J U l i a n e lU t t Ma n n

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ames Anaya legt in seinem Bericht zur Situation der Sámi (A/ HRC/18/35/Add.2), der bereits im Januar veröffentlicht und schließlich am 20. September 2011 dem Menschenrechtsrat vorgestellt wurde, den Fokus auf das Selbstbestimmungsrecht der Sámi, territoriale Rechte und das Recht auf natürliche Ressourcen, Sprachrevitalisierung sowie Bildung. Der Bericht stützte sich unter anderem auf Informationen, die Anaya im April 2010 auf einer Konferenz im finnischen Rovaniemi von den Samenparlamenten, 34

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Regierungsvertretern der drei Staaten sowie Angehörigen samischer Nichtregierungsorganisationen erhalten hatte.

Vorbildfunktion Mit diplomatischer Rhetorik blickt Anaya auf die Samenpolitik der skandinavischen Staaten: Im Vergleich zu anderen Ländern mit indigener Bevölkerung schneiden Norwegen, Finnland und Schweden trotz einiger interkultureller Konflikte und Land-

rechtsstreitigkeiten gut ab. Theoretisch sind die Berücksichtigung und der Schutz indigener Rechte in Nordeuropa in der Tat vorbildlich. Norwegen hat als einziges europäisches Land die ILO-Konvention 169 zum Schutz der Rechte indigener Völker unterzeichnet, alle drei Staaten haben sich zudem weiteren völkerrechtlichen Instrumenten verpflichtet und seit den 1960er Jahren ist eine Abkehr von der offiziellen Assimilierungspolitik spürbar. Damit das Prinzip der Selbstbestimmung uneingeschränkt


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gegründet – und der Samische Parlamentarische Rat. Doch ihre Möglichkeiten, eigene Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen, sind stark eingeschränkt. Anlass zur Hoffnung bietet daher die Ausarbeitung einer Nordischen Samenkonvention, die James Anaya in seinem Bericht fordert und die den Sámi grundlegende Rechte in den Bereichen Selbstregierung, Sprache und Bildung, territoriale Nutzungsund Eigentumsrechte, Ausbeutung natürlicher Ressourcen und traditionellen Wissens sowie Rentierwirtschaft und Fischfang zugestehen würde.

Foto: UN-Photo Jean-Marc Ferré

ein Schritt zurück...

UN-Sonderberichterstatter James Anaya

funktionieren kann, empfiehlt Anaya in seinem Bericht, die bisherigen Bemühungen auf nationaler sowie auf nordischer Ebene zu intensivieren.

die nordische Samenkonvention Neben den nationalen Samenparlamenten existieren zwar einige grenzübergreifende Institutionen und Kooperationen wie die Nichtregierungsorganisation Samenrat – 1956 als erste pansamische Organisation

Die aktuellen Entwicklungen in Norwegen bestätigen zum einen, wie gut die Selbstorganisation der Sámi funktioniert, zum anderen weisen sie darauf hin, dass der interkulturelle Konflikt zwischen norwegischen und samischen Norwegern nicht gelöst ist und – mit Anayas Worten – noch viel zu tun ist auf dem Weg zur Selbstbestimmung. Vor allem müssen Voraussetzungen für ein gesteigertes Wissen über die Minderheiten und ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, wie verschiedenartig die Bevölkerung Norwegens ist. Die Mehrheitsbevölkerung ist über die samische Minderheit meist sehr wenig informiert. Repräsentationen in Medien, Schulbüchern und durch den Tourismus sind häufig von Stereotypen durchdrungen, in denen sich die samische Bevölkerung nicht wiederfinden kann. Dennoch prägen diese Stereotypen die Haltung der Mehrheitsbevölkerung gegenüber den Sámi. Der Ausdruck „Samenhetze“, der

synonym zu „Rassismus gegenüber der samischen Bevölkerung“ genutzt wird, ist bereits ein geflügeltes Wort. Im Juni diesen Jahres legten vier Angehörige der rechtsgerichteten Fortschrittspartei einen Vorschlag zur Debatte im Storting, dem norwegischen Parlament, vor, der die Haltung einiger Bewohner Nordnorwegens gegenüber den Sámi widerspiegelt und bei norwegischen und samischen Politikern auf vehementen Widerstand stieß. Die vier Abgeordneten forderten den Austritt Norwegens aus der ILO-Konvention Nr. 169, die Auflösung des Samenparlaments, die Aufhebung des Finnmarkgesetzes, das das Eigentum an Land in der Finnmark regelt, und die Abschaffung der offiziellen Zweisprachigkeit in den nordnorwegischen Städten. James Anaya warnte Norwegen in einer Presseerklärung vor den Konsequenzen auf globaler Ebene. Im Dezember wird der Vorschlag im Storting debattiert. Ein positiver Beschluss würde unter dem Label des „Fortschritts“ einen Riesenschritt zurück für die Samenpolitik Norwegens bedeuten.

...oder zwei Schritte vor? Dass es soweit kommt, ist jedoch unwahrscheinlich. 2011 wurden die Verhandlungen über eine Nordische Samenkonvention wieder aufgenommen. Dieses Abkommen würde die rechtliche Grundlage für das Mehr an Selbstbestimmung schaffen, das noch fehlt, und den jeweiligen Staat in die Verantwortung ziehen, diese umzusetzen. Der bisher eher schleppende Prozess soll innerhalb der nächsten fünf Jahre abgeschlossen werden.

[Weitere informationen]

Zu der aktuellen Situation in Finnland siehe den Beitrag von Jan Saijets in dieser Ausgabe. Bericht zur Situation des samischen Volkes in der Region Sápmi in Norwegen, Schweden und Finnland (A/HRC/18/35/Add.2): http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrcouncil/docs/18session/A-HRC-18-35-Add2_en.pdf [informationen zur nordischen Samenkonvention]

Åhrén, Mattias, Scheinin, Martin, Henriksen, John B.: The Nordic Sami Convention. International Human Rights, SelfDetermination and other Central Provisions. Gáldu Čála. Journal of Indigenous Peoples Rights No. 3/2007. http://www.galdu.org/govat/doc/samekoneng_nett.pdf

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Am Vortag der gewaltsamen Teilräumung der Dale Farm

Foto: Beacon Radio - flickr.com

Das Trauma von Dale Farm

Zwangsräumung in der größten Traveller-Siedlung Großbritanniens Von JaSna c aUSe Vic

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as Schicksal von mehr als 80 nicht sesshaften Familien in Großbritannien machte in den Sommermonaten 2011 weit über die Landesgrenzen hinaus Schlagzeilen: 300 bis 400 Angehörige der Irish Traveller, Roma und Gypsies in der Siedlung Dale Farm in Cray´s Hill in der britischen Grafschaft Essex nordöstlich von London wurden mit Zwangsräumung bedroht. Sie rangen mit dem Rat des zuständigen Bezirks Basildon, dem Basildon Council, um ihre Bleibe. Einige von ihnen lebten unbehelligt seit elf Jahren auf dem Gelände. Viele der 110 betroffenen Kinder waren dort aufgewachsen. Bis 2005 nutzten die Fahrenden unbehelligt die gesamte Dale Farm. Der Basildon Council hatte das Gelände auch als Wohngebiet ausgewiesen – bis auf einen kleinen Teil. Dort galt die Erlaubnis aufgrund örtlicher Bebauungsbeschränkungen offiziell 36

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nicht und alle Traveller, die sich dort niedergelassen hatten, sollten die Dale Farm bis zum 31. August 2011 verlassen. Wenn sie nicht freiwillig gingen, würden sie zwangsweise umgesiedelt. Die Betroffenen leisteten der Behörde erbitterten Widerstand, mobilisierten Unterstützer und legten auch rechtlich Widerspruch ein. Falls sie ihre Wohnungen auf der Dale Farm aufgeben müssten, drohte vielen Traveller die Obdachlosigkeit. Eltern befürchteten, dass ihre Kinder ihr vertrautes Schulumfeld verlieren würden. Kranke schwebten in Ängsten, medizinisch nicht mehr ausreichend versorgt zu werden. Großfamilien mutmaßten, sie sollten auseinandergerissen werden. Zudem empfanden es die Traveller als diskriminierend, dass ihnen keine Wohnalternativen angeboten wurden, die ihren kulturellen Bedürfnissen gerecht werden. Die Situation spitzte sich zu, als der Oberste Gerichtshof,

der High Court of England and Wales, Ende August den Eilantrag einiger Bewohnerinnen, die eine Klage gegen die Zwangsräumung einreichen wollten, auf eine gerichtliche Überprüfung ablehnte. Am 5. September bestätigte der Basildon Council, dass den Betroffenen erst der Strom abgestellt und dann mit der Räumung begonnen werde. Einige riefen ein Berufungsgericht an, doch dieses verweigerte am 17. Oktober die Erlaubnis, Rechtsmittel gegen das Urteil des High Court vom 12. Oktober einzulegen. Darin hatte der zuständige Richter die Fortführung der Zwangsräumung von 49 der insgesamt 54 Wohnplätze auf unerlaubtem Gebiet der Dale Farm gestattet. Auch ein Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung der Zwangsräumung wurde abgewiesen. Am frühen Morgen des 20. Oktober rückten Gerichtsvollzieher mit Polizisten auf das Gelände der Dale


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bestanden und sich gleichzeitig so intensiv um eine angemessene Lösung des Konflikts bemüht. Immer wieder hatten sie Verhandlungsbereitschaft signalisiert. Umso größer war die Enttäuschung, als bekannt wurde, dass der Basildon Council eine Reihe von Alternativen zur Zwangsräumung einfach verspielte, darunter das Angebot

ternationale Menschenrechtsstandards missachtet zu haben. Laut Völkerrecht „dürfen Zwangsräumungen nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn sämtliche Alternativen ausgeschöpft sind und eine wirkliche Konsultation mit den betroffenen Gemeinschaften stattgefunden hat. Die Behörden sind verpflichtet, ausreichende FrisFoto: Selena Sheridan

Farm vor. Die Sicherheitskräfte setzten Schlagstöcke und Elektroschocker gegen Unterstützer und Bewohner ein. Mindestens zwei Frauen erlitten Kopfverletzungen, eine von ihnen musste in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Ein Schwerkranker, der eine Maschine zum Atmen braucht, um zu überleben, durchlitt höchste Ängste, weil auf seinem Grundstück der Strom abgeschaltet wurde. Angesichts der Gewalt, mit der die Polizei die Räumung durchsetzen wollte, gaben die Bewohner der Dale Farm am späten Abend auf und verließen gemeinsam mit ihren Unterstützern freiwillig das Gelände. Für viele von ihnen wird die Zwangsräumung ein lebenslanges Trauma bleiben. Durch die Art und Weise, wie sie behandelt wurden, fühlten sich die Traveller pauschal kriminalisiert. Die Betroffenen hatten im Zuge der Auseinandersetzung die Bevölkerung, Institutionen und Einzelpersonen in Großbritannien und weltweit um Solidarität und Unterstützung gebeten. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) und die Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) hatten sich eingeschaltet. Sie appellierten u.a. an den britischen Premierminister David Cameron und den Vorsitzenden des Basildon Council, Tony Ball, die Traveller und Roma nicht zu vertreiben und die Betroffenen anzuhören, und baten die European Union Agency for Fundamental Rights in Wien und das zuständige Ressort der Europäischen Kommission um Hilfe. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung forderte die Behörden dazu auf, für angemessene und der kulturellen Identität der Traveller entsprechende Ersatzunterkünfte zu sorgen. Und die Oscar-Preisträgerin Vanessa Redgrave besuchte zur Unterstützung die Dale Farm. Selten hat eine Zwangsräumung wie die von der Dale Farm in Großbritannien soviel Empörung ausgelöst. Es waren nicht nur besonders viele Menschen von der gewaltsam durchgesetzten Vertreibung betroffen. Die Traveller hatten auch noch nie so hartnäckig auf ihrem Gewohnheitsrecht

Vergeblich protestierten die Bewohner der Dale Farm gegen die Zwangsräumung

der Homes and Community Agency, Land für alternative Siedlungen zur Verfügung zu stellen. Die britischen Behörden müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, durch die Vertreibung der Traveller von der Dale Farm regionale und in-

ten zu wahren, Rechtsmittel zuzulassen, angemessene und den kulturellen Besonderheiten der betroffenen Gemeinschaften Rechnung tragende Ersatzunterkünfte bereit zu stellen sowie Entschädigungen zu leisten. Sie müssen sicherstellen, dass keine Person infolge der Räumung obdachlos oder anderweitig in ihren Menschenrechten verletzt wird“. (ig)

[Mehr dazu]

dalefarm.wordpress.com/ www.amnesty.de/urgent-action/ua-245-2011-1/drohende-zwangsraeumung?destination=node%2F2924%3Fpage %3D1%252526print%253D1%252526print%253D1%252526print%253D1%2526print%3D1

Das fahrende Volk der Traveller Die Traveller sind ein fahrendes Volk mit irischen Wurzeln. Weltweit gibt es bis zu 100.000 von ihnen und zwar fast ausschließlich in Großbritannien, Irland, den USA und Kanada. Ihre Sprache ist gälischen Ursprungs. Die Traveller leiden ähnlich wie Roma und Gypsies unter mangelnder Bildung, Armut und Ausgrenzung. In Großbritannien leben bis zu 40.000 Traveller. Dort sind sie zwar als ethnische Minderheit anerkannt. Doch lokale Behörden müssen ihnen seit einer Gesetzesnovelle 1994 keine Plätze mehr für ihre Wohnwagen zur Verfügung stellen. Die Polizei wurde ermächtigt, Traveller zum Verlassen von nicht autorisiertem Gelände zu zwingen, wenn sie sich dort mit mehr als fünf Fahrzeugen einfinden.

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Bis heute diskriminiert

Jenische – nur in der Schweiz anerkannt?

Foto: Thomas Huonker

Jenische Musiker an der Fekkerchilbi am 1./2. Oktober 2011 in Brienz

Von thoMaS hUonKer

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ie Jenischen sind eine transnationale europäische Minderheit von mehreren hunderttausend Menschen im französischen Elsass, in Deutschland, der Schweiz und Österreich. Ihre eigenständige Sprache, das Jenische, hat Bezüge zum Hebräischen, zum Romanes der Sinti und Roma und zum Rotwelsch, einem Code, in dem sich rechtlich und sozial Ausgegrenzte der frühen Neuzeit im deutschen Sprachgebiet untereinander verständigten. Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert wurde Jenisch als «Gaunersprache» diffamiert. Viele Jenische verbergen ihre Zugehörigkeit, da sie nach wie vor Ausgrenzung fürchten müssen. In den vergangenen Jahrzehnten entstanden in mehreren Ländern jenische Organisationen. Sie fordern die Anerkennung der Jenischen als Volksgruppe sowie als Opfergemeinschaft nazistischer Verfolgung und wehren sich gegen fortbestehende Diskriminierung. Es wird in der Wissenschaft nur selten erwähnt, dass Jenische unter Etikettierungen wie „Asoziale“ und „Zigeunerartige“ die ersten Objekte sogenannter Forschungen Robert Ritters 1) und ähnlicher Rasseforscher waren. Auch die Jenischen haben Zwangssterilisierungen sowie Einweisungen in Konzentrations- und Vernichtungslager zu beklagen. Systematische Archivforschung dazu fehlte bislang. Doch wurden Einzelfälle wie der von Ernst Lossa und anderer Opfer bekannt. Robert Ritter übernahm die Theorie „erblicher Minderwertigkeit“ des jenischen „Menschenschlags“ vom Schweizer Psychiater Josef Jörger. Dieser fand mit seinen ab 1905 veröffentlichten Genealogien über angeblich angeborene „Abirrungen“ in zwei jenischen Familien aus Graubünden 38

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den Beifall führender „Rassenhygieniker“ wie Ernst Rüdin. In der Schweiz stützte sich von 1926 bis 1973 die vom Hitler-freundlichen Offizier Ulrich Wille geführte Stiftung Pro Juventute auf Jörgers ideologischen Ausführungen, ihre Unterabteilung „Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse“ versuchte mittels gezielter Kindswegnahmen, Eheverbote und Zwangssterilisationen, die Volksgruppe der Jenischen zum Verschwinden zu bringen. In einer Publikation rühmte sich die Stiftung: „Pro Juventute entvölkert die Landstrasse“. Die Aktion ging auch nach 1945 weiter. 586 Kinder wurden von ihren Eltern getrennt. So wurde einem Großteil der jenischen Familien in der Schweiz großes Leid zugefügt, das oft über zwei oder drei Generationen nachwirkte. Zusätzlich rissen Bundespolizeibehörden und einige Kantone weitere Kinder von Jenischen sowie von illegal in die Schweiz eingereisten Sinti aus ihren Familien. Erst eine Pressekampagne machte dem ein Ende. Die schweizerischen Organisationen der Jenischen, vor allem die „Radgenossenschaft der Landstraße“, fordern seit 1975 die Anerkennung der Jenischen als ethnische und sprachliche Minderheit, die Bereitstellung von legalen Stand- und Durchgangsplätzen, kulturelle Förderung, Akteneinsicht und wissenschaftliche Aufarbeitung der Verfolgung unter Beteiligung der Jenischen selbst. Diese Anliegen sind nach jahrzehntelanger Hinhaltepolitik in der Schweiz heute teilweise verwirklicht. Es gibt aber

1)

immer noch ganze Kantone und Regionen ohne Stellplätze. Die existierenden sind meistens überfüllt und oft in schlechten Lagen angesiedelt. Akteneinsicht gab es von 1988 an, kritische wissenschaftliche Aufarbeitung wurde ab 1998 mit Forschungsgeldern gefördert. 1999 wurden die „Fahrenden“, jedoch nicht die sesshaften Jenischen, Sinti und Roma, als nichtterritoriale Minderheit anerkannt. 2000 erfolgte die Anerkennung der Jenischen als Sprachminderheit. Kulturelle Fördergelder, soweit sie überhaupt fließen, sind im Vergleich zu Budgets anderer Minderheiten wie etwa der Rätoromanen minimal, obwohl es in der Schweiz rund 35.000 Jenische, einige hundert Sinti und rund 40.000 Roma gibt. Zum Vergleich: Die in Graubünden ansässigen und als vierte Nationalität der Schweiz anerkannten Rätoromanen zählen 40.000 Angehörige. Roma und Sinti wurden, soweit ihre Zugehörigkeit den Behörden ersichtlich war – wozu der Bund ein „Zigeunerregister“ führte –, bis 1972 an den Schweizer Grenzen abgewiesen. Roma wanderten erst in den vergangenen Jahrzehnten als Fremdarbeiter und Flüchtlinge ein. Jenische leben seit jeher in der Schweiz. Die ältesten mittelalterlichen Quellen zu den „Vaganten“, wie sie bis ins 20. Jahrhundert bezeichnet wurden, stammen aus Basel. Ihr jährliches Treffen ist die „Fekkerchilbi“, ursprünglich in Gersau, seit drei Jahren in Brienz gefeiert. Der jenische Nationalsport ist das Steinwurfspiel Bootschen.

Robert Ritter (1901-1951) war ein nationalsozialistischer Rassentheoretiker, der die Rassenhygienische Forschungsstelle leitete. Sein Institut klassifizierte bis 1945 fast 24.000 Menschen als „Voll-Zigeuner“, „Zigeuner-Mischling“ oder „Nicht-Zigeuner“ und spielte so eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, ob die Betroffenen sterilisiert, ins Vernichtungslager deportiert oder verschont wurden.EURATOM beziehungsweise deren EURATOM Supply Agency (Angaben von 2009) sowie das Statistische Amt der EU „Eurostat“.


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Schatzjagd im Sorbenland V o n r a l p h t h . K a p p l e r / t o M a š K a p pa

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or 1.600 Jahren wurde die Lausitz von Sorben kultiviert. Die Lausitz oder Lužica, wie das wasserreiche Land von dessen „First Nation“ zärtlich genannt wird, ist eine der ältesten und an Bodenschätzen wie Gold, Platin, Kupfer und Seltenen Erden reichsten Kulturlandschaften Europas.

worden. Sorben stehen mit dem Rücken zur Wand“, warnte Jan Nuk, der Vorsitzende des sorbischen Nationalverbandes in der Londoner Foreign Press Association. Wenig später öffnete sich das Tor zum Buckingham Palace für die Sorbenvertreter. Sorben brachten 2002 das erste Auslandsgeschenk überhaupt zum

„Ein Jahrtausend schon und länger Dulden wir uns brüderlich, Du, du duldest, daß ich atme, Daß du rasest, dulde ich.“ (Heinrich Heine „An Edom“)

Diese Schätze können sich als Segen für die von der Kohlelobby als strukturschwach stigmatisierte Region erweisen. Aber es fehlt an couragierter Politik. „Ein Viertel unserer Nation ist von der Kohlelobby aus der Heimat gezwungen Foto: Andreas Manthei

„Golden Jubilee“ von Königin Elisabeth II. nach London. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wagten sie damit wieder einen Vorstoß in der britischen Hauptstadt. 1946 hatten sie dort vergeblich um den Anschluss des Sorbenlan-

des an die Tschechoslowakei geworben (1). Doch es gibt auch Zuversicht. Aus der Lausitz kommt Stanislav Tillich, der erste sorbische Ministerpräsident. Musiker der Kultband Silbermond sprechen Sorbisch. Im mit „brillianten Stars“ wie Daniel Brühl oder Robert Stadlober besetzten und den Fox-Studios vertriebenen Fantasy-Abenteuerfilm KRABAT fehlt jedoch der einfache Hinweis, dass der Bestseller KRABAT ursprünglich als Freiheitsepos vom sorbischen Nationaldichter Mircin Nowak-Njechornski geschrieben wurde.

136 ausgelöschte dörfer Werner Domain und seine Frau waren die letzten Bewohner des Dorfes Horno. Das Rentnerpaar hatte In sorbischer Tracht Werbung für erneuerbare Energie: Solarnaja Energia njento - Solar, na klar!


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den mit Angeboten umkränzten Einschüchterungen der Kohlestromer bis zuletzt widerstanden. Sie waren beide über siebzig und pflanzten selbst noch einen Lindenbaum vor das Haus, als sich die Kohlebagger schon in brachialem Lärm und Staubwolken an den Familiensitz herangefressen hatten. Horno war da verlassen und zerstört wie nach einem Krieg. Über 136 Dörfer verschwanden mitten in Deutschland, dem Land der selbsternannten Technologie- und Ökoweltmeister, in Lausitzer Kohlekratern. Damit wurde auch die Auflösung des sorbischen Volkes beschleunigt. Auf dem Internetportal www.verschwundene-orte. de finden sich klangvolle Namen wie Publik, Bukowina, Horno, Barak, Rowno oder Lacoma. Sie schweben noch als Echo über einer in Kohlegruben versunkenen Welt. Horno wurde vom schwedischen Energiekonzern Vattenfall zerstört, obwohl es dort nicht einmal erschließbare Kohle gab. Heute ist vor allem die sorbische Region Schleife bedroht. Die Lausitzer Bergbau AG verkündet euphemistisch, dass sie über 750 Quadratkilometer Land „in Anspruch genommen hätte“. Dabei handelt es sich um die Zerstörung eines Gebietes von der Größe des Stadtstaates Hamburg. Prof. Joachim Katzur, Leiter des Institutes für Bergbaufolgelandschaften, wird in einem ZEIT-Gespräch konkreter: „Eigentlich beeinträchtigt der Lausitzer

Bergbau eine viermal so große Fläche, wenn die Landstriche, in denen der Fluss des Grundwassers gestört ist, dazu gerechnet werden.“

Strukturen zu zementieren“, erwidert die Energieexpertin der Grünen, Astrid Schneider. In Sachsen wurde eine Landtagsanhörung kürzlich zum Offenbarungseid. Der als Sachverständiger geladene Vattenfall-Vorstand Hubertus Altmann gestand dem Parlament, dass die CCS-Technologie erst Mitte des nächsten Jahrzehnts großtechnisch verfügbar sein würde.

Märchen von sauberer Kohle „Wenn wir den globalen Klimaschutz ernst nehmen, müssen wir so schnell wie möglich von der Kohle weg“, fordert Claudia Kempfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Denn gerade Braunkohle ist wegen ihres niedrigen Wirkungsgrads und des bei der Verstromung produzierten Treibhausgases CO2 extrem klimafeindlich. Doch es geht mehr verloren als nur der Kampf ums Klima. Die sich über hunderte Quadratkilometer ins fruchtbare Land fressenden Kohlekrater sind die tiefgreifendste Umwälzung der Erdoberfläche seit der letzten Eiszeit. „Carbon Capture & Storage“ ist ein aufgeblasenes Zauberwort von Vattenfall, RWE und Co. Ziel dieser Versuchstechnik soll die Verringerung von CO2-Emissionen durch unterirdische Lagerung sein. „CCS ist doch eher ein Instrument, Investitionen in regenerative Energien zu blockieren und so oligarchische

Schatzgräber unter panamaischer Flagge In der Sorbenheimat wurden Edelmetalle in mehrstelligem Milliardenwert entdeckt, darunter Gold, Platin, Silber, Zink und auch über 2,7 Millionen Tonnen Kupfer. Schon für eine einzige Tonne Kupfer lassen sich Weltmarktpreise von bis zu 10.000 Euro erzielen. Die KSL Kupferschiefer GmbH bewirbt sich um Schürfrechte in der Lausitz. Bei der KSL dominiert das Matrjoschka-Prinzip. Denn die GmbH ist nur eine Tochter der unter panamaischer Flagge schürfenden Minera S.A.; die wiederum nur eine Tochter der kanadischen Inmet Mining Firma ist. Hier setzt der dynamische NukNachfolger David Statnik den Hebel an: „Wenn Schürfrechte an Konzerne für Kohle, Kupfer, Gold oder Platin vergeben werden, muss man wie im Ruhrgebiet auch in der Lausitz einen Obolus für jede Tonne geförderter Bodenschätze aus Steuereinnahmen entrichten.“ Damit ließen sich Infrastrukturen, sorbische Sprachprojekte und regionale Hochschulen finanzieren, wo mehrsprachige Angestellte Arbeit finden und zukunftsträchtige Branchen entstehen.

Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker kämpfte lange für die Rettung von Horno/Rogow. Leider vergebens - der Ort wurde geräumt und abgebaggert.

Foto: N. Sopacua

nach der diktatur nur gelenkte demokratie

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Über Jahrhunderte wurden Sorben unterdrückt. Ihnen war es sogar verboten, Hunde oder Pferde zu halten. Auf die kurze Blütezeit der Aufklärung folgte wieder brutaler Assimilierungsdruck. Tausende Lausitzer Familien wurden zwangsgermanisiert. Ein frühes Schlüsselereignis datiert auf das


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Der Hoch z bei einer eitsbitter k Hochzeit atholischen in Radib or

Phantasievoller Widers tand gegen den Tagebau in Klitten am 20. Januar 1990

Fotos: J端rgen Matsc

hie

nahm f端r die Tilman Z端lch 90 an einer 19 0. .1 20 GfbV am n Demonstratio in Klitten teil.

Kraftwerk Vets chau, Bezirk Cottbus

LPG-P brigade, Feldbau rf o d Halben 985 z, Nov. 1 Mulkwit

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Lausitzer Bodenschätze selbständiger machen.“ Als Meckel nach dem von Innenminister Schäuble mit heißer Nadel zusammengeflickten Einigungsvertrag gefragt wird, weicht er aus. Der Einigungsvertrag „wäre als Außenminister nicht so seine Baustelle gewesen“. Die auch von den DDR-Bürokraten nicht angetastete Frage, wem der angestammte Grund und Boden im Sorbenland gehört, bleibt das Zünglein an der Waage. Denn weder ist bis heute geklärt, wer die rechtmäßigen Eigner der Lausitz und ihrer Bodenschätze sind, noch wer die Schüfrechte hält .

reden ist gold Marka Macijowa, die Leiterin des Sorbischen Nationalverlages, konzentriert sich auf die Basisarbeit sorbisch-deutscher Sprachpflege. „Die sorbische Sprache wird nur überleben, wenn Eltern sie an Kinder weitergeFoto: HALO ENERGY

Jahr 939. Da hatte Markgraf Gero martialisch Karierre gemacht. Den Aufstieg verdankte er einem blutigen Gastmahl. Mit Hinterlist lud er dreißig Sorbenfürsten zu einem Festessen, um sie zu meucheln. So nahm Gero den dem deutschen Landraub widerstehenden Slawen die Führungsschicht. Doch wie schaut es heute aus? „Auch zwei Jahrzehnte nach der friedlichen Revolution gibt es keine Selbstbestimmungsrechte. Wir Sorben sind weiterhin fremdbestimmt“, klagt Benedikt Dyrlich an. Als Vorsitzender des Sorbischen Künstlerbundes kritisiert er das mangelnde Mitspracherecht der Sorben in ihrer Heimat. Bei der Domowina, dem Dachverband der Sorben, ruht man sich derweil noch auf aus DDR-Zeiten überkommenen Strukturen aus. Markus Meckel kennt sich aus in der Materie. Er nahm als erster frei gewählter und letzter DDR-Außenminister an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit den Siegermächten des Zweiten

Der Autor Ralph Kappler, Jan Nuk und Nadine Alal vor dem Buckingham-Palast 2002 (von links)

Weltkriegs teil. Ironisch bemerkte er kürzlich in Brüssel: „Die Sorben könnten doch besser fahren, wenn sie sich als First Nation samt der 42

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ben. Wenn auch Deutsche das Eigene im Anderen der Sorben respektieren“, mahnt Macijowa. Sorben knüpfen derweil auch Kontakte in Berlin, Prag oder Brüssel. So war Jerzy Buzek Schirmherr der diesjährigen Internationalen Konferenz sorbischer Musik. Buzek organisierte als junger Mann

aus dem Untergrund die SolidarnoszBewegung in Schlesien. Heute ist er amtierender EU-Parlamentspräsident in Brüssel. Es könnte auch aus unerwarteter Richtung Hilfe geben. Denn der aus Rumänien kommende Agrarkommissar Dacian Ciolos baut zurzeit die EU-Landwirtschaft gründlich um. Sie soll dezentraler und grüner werden. Würden diese Reformen auch nur zum Teil umgesetzt, wäre das auch ein nachhaltiges Aufbruchsfanal für die Lausitz. Seit über 16 Jahrhunderten wird in der Lužica (Lausitz) Sorbisch gesprochen und gesungen. Der Kohleraubbau jedoch lässt die Landschaft verschwinden, die das Sorbische bis heute hervorbringen konnte. Beim Empfang im Buckingham Palace überreichten Jan Nuk und der Autor ein blau gebundenes Buch mit dem Titel „Dwe Lubosci Ja Mam - Zwei Lieben trage ich in mir“: Shakespeares Sonette auf Sorbisch. In Anlehnung an Worte des Philosophen Peter Sloterdijk ließe sich ausrufen, Deutsche und Sorben müssen erst einmal die Techniken des gemeinsamen Überlebens einüben. Das Knowhow dafür ist freilich der größte noch ungehobene Schatz. Auch die Lausitz kann zu einem kosmopolitischen CleanTech-Land aufsteigen. Wovon ironischer Weise auch die deutsche Mehrheit profitieren würde. Vater hatte gegen Ende seines Lebens immer öfter sorbische Worte gebraucht. Nach seinem Ableben fand sich auf dem Wohnzimmertisch seiner wie für einen Besuch aufgeräumten Stube ein Quittungszettel. Auf dem Vater nichts weiter notiert hatte als: „Witajci k nam“ und in der Zeile darunter ebenfalls auf Sorbisch: „Glück dem Heimkehrenden“. (1) Anm. der Redaktion: Nach der Massenvertreibung der 3,5 Millionen Deutschen aus dem Sudetenland/Tschechien schreckte man vor der Abtrennung der Lausitz von Deutschland und deren Anschluss an die Tschechoslowakei durch einen Korridor, aus dem man dann die sächsische Bevölkerung auch noch hätte deportieren müssen, zurück.


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Jüdische Siedler bewaffnen sich

Streit um Anerkennung Palästinas Von KaMal Sido

or dem Hintergrund des Streites im September 2011, ob Palästina als eigenständiges UNMitglied und unabhängiger Staat anerkannt werden soll, planten einige jüdische Siedler in den palästinensischen Gebieten, sich noch stärker zu bewaffnen. Die Siedler werden vom rechten Spektrum in Israel unterstützt und wollten „auf jedwede Bewegung der palästinensischen Seite reagieren können“. Mehr als eine halbe Million automatische Gewehre und praktisch unbegrenzt Munition besitzen die Siedler bereits. Einige von ihnen bestätigten, dass seit August Vorbereitungen liefen, Palästinenser anzugreifen. Extremistische Siedler sind bereits für eine Vielzahl von Attacken gegen Palästinenser verantwortlich gemacht worden. Die Angst jüdischer Siedler vor extremistischen Palästinensern ist berechtigt. Eine weitere Bewaffnung könnte die Lage in den von Israel besetzten Gebieten jedoch unnötig verschärfen. Denn wenn die UN offiziell einen unabhängigen palästinensischen Staat anerkennen würden, könnte es zu einem explosiven Szenario kommen: Zehntausende Palästinenser könnten auf die Straße gehen, um ihren Staat zu feiern. Es wäre für die israelische Armee eine enorme Herausforderung, wenn die Demonstranten die jüdischen Siedlungen erreichten. Nach Informationen der israelischen Tageszeitung Haaretz haben israelische Soldaten die Anweisung, palästinensische Demonstranten, die sich den jüdischen Siedlungen zu stark nähern, in die Beine zu schießen. Die israelische Armee verhindert zwar die Bewaffnung der Siedler nicht; sie verurteilt jedoch Pläne, die palästinensische Bevölkerung zu attackieren. Wenn es zu einer direkten Konfrontation zwischen Juden und Palästinensern kommt, wäre das für beide

Völker katastrophal. Deshalb ist die israelische Regierung in Jerusalem gut beraten, eine Politik der Deeskalation zu betreiben. Sie muss auch begreifen, dass ihre Siedlungspolitik den Interessen Israels und des jüdischen Staates

sollte Israel die Lage neu bewerten. Eine konstruktive Politik, die auf die Anerkennung Palästinas in den Grenzen vor dem 4. Juni 1967 gerichtet ist, würde die Stellung Israels in der Region und international stärken. Dadurch Foto: Kamal Sido

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Daoud Nasser (re.) mit Julia Hansmeyer und Sara-Maria Humburg (li.) von der GfbV-Regionalgruppe Paderborn

sowohl in der Region als auch international enorm schadet. Die Spirale der Gewalt zwischen Israelis und Palästinensern muss endlich durchbrochen werden. Hinsichtlich der neuen Entwicklungen des so genannten arabischen Frühlings im Nahen Osten und in Nordafrika

hätten es auch befreundete Staaten einfacher, Israel vor realen Bedrohungen durch den Iran, aber auch durch panarabische und panislamistische Bestrebungen in Schutz zu nehmen. Wir wissen, dass Israel verletzlich bleibt, immer noch umgeben von vielen autoritär regierten und meist hochgerüsteten arabischen und islamischen Staaten mit rund 300 Millionen Einwohnern. Dennoch ist eine neue Sicherheitspolitik unabdingbar.

„Zelt der Völker“ im Westjordanland Der Palästinenser und evangelisch-lutherische Christ Daoud Nasser hat auf einem Weinberg, den seine Familie schon in der dritten Generation bewohnt, das Projekt „Tent of Nations“ (Zelt der Völker) gegründet. In der Nähe von Bethlehem im Westjordanland gelegen, steht das Projekt des Friedensaktivisten im Brennpunkt des israelisch-palästinensischen Konflikts. Unter dem Motto „Wir weigern uns, Feinde zu sein“ stellt das „Zelt der Völker“, Raum für Begegnungen zwischen Christen, Muslimen und Juden auf der einen, Palästinensern und Israelis auf der anderen Seite zur Verfügung. Jedes Jahr besuchen über 5000 Gäste aus aller Welt das Projekt. (Sarah-Maria Humburg)

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Syrisch-kurdische Allianz im deutschen Exil

Kurden aus Syrien warnen vor Türkei als Vermittler Von KaMal Sido

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te Volksgruppe stellen die Kurden mit zwei bis drei Millionen Menschen mindestens zehn bis fünfzehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Um das Assad-Regime in Damaskus endlich zu entmachten, forderten die Konferenzteilnehmer eine weitere Verschärfung der Sanktionen: Alle Erdölimporte aus Syrien in die EU sollten sofort gestoppt werden. Gewarnt wurde deutlich davor, der syrischen Foto: Daniel Matt/GfbV

eutschland und die Staaten der Europäischen Union sollen bei der Erarbeitung einer neuen Verfassung für Syrien Hilfestellung leisten und dafür eine nationale Konferenz in dem Land ausrichten. Diese Hoffnung haben die Repräsentanten der aus elf Parteien und Organisationen bestehenden syrisch-kurdischen Allianz im deutschen Exil. Sie trafen auf Einladung der Gesellschaft für be-

Repräsentanten der syrischkurdischen Allianz im Exil diskutierten bei der GfbV über Zukunftsperspektiven

drohte Völker (GfbV) am 17. September 2011 in Göttingen zusammen und formulierten ihre Erwartungen. In einer einstimmig verabschiedeten Resolution forderten sie, dass eine neue Verfassung Syriens die nationalen Rechte der Kurden sowie die kulturellen Rechte ethnischer und religiöser Minderheiten wie die der Assyrer-Aramäer, Armenier, Alawiten, Drusen, Ismaeliten, Bahá’í und anderer Volksgruppen, darunter Turkmenen und Tscherkessen, garantieren müsse. Außerdem müssten die kurdischen Yeziden als eigenständige Glaubensgemeinschaft anerkannt und die Gleichberechtigung der Frau festgeschrieben werden. Syrien hat etwa 20,4 Millionen Einwohner. Die große Mehrheit sind Araber. Als zweitgröß44

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arabisch-islamistischen Opposition und der Türkei als Vermittler Vertrauen zu schenken, weil sie die Durchsetzung demokratischer Rechte vor allem die der Kurden, gefährden könnten. Die Türkei werde in der Region nur noch als eine „islamisch-sunnitische Schutzmacht“ verstanden. Seit Mitte März geht das syrische Regime mit unverminderter Brutalität gegen friedliche Proteste vor. Nach Auffassung des Präsidenten der GfbV International, Tilman Zülch, der die kurdischen Gäste begrüßte, ist es in den beiden wichtigen Zentren Damaskus und Aleppo kaum zu Massendemonstrationen gekommen, weil sich vor allem die islamisch orientierte Opposition nicht deutlich genug zu der zukünftigen politischen Ordnung nach dem Sturz der Diktatur geäußert hat. Unterstützt von Kurden und anderen Minderheiten

werden von der GfbV seit Beginn der friedlichen Proteste in Syrien verschiedene Aktionen durchgeführt. Mit dem Ziel, den syrischen Botschafter in Berlin auszuweisen und das sogenannte Rückübernahmeabkommen mit Damaskus aufzukündigen, wandte sich die GfbV an die deutsche Bundeskanzlerin in einer Unterschriftenkampagne. Um die deutsche Bundesregierung über die Lage der Kurden und anderer Minderheiten zu informieren, organisierte das Nahostreferat der GfbV bereits am 24. August ein Treffen von Vertretern der Kurden (Muslimen und Yeziden) sowie der christlichen Assyrer-Aramäer mit dem Beauftragten der deutschen Bundesregierung für Menschenrechte und humanitäre Hilfe, Markus Löning. Zu der Delegation der syrischen Volksgruppen gehörten Mizgin Mikari von der syrisch-kurdischen Allianz, in der insgesamt elf Organisationen zusammengeschlossen sind, N. Hanna, Vertreter der christlichen Minderheit der Assyrer-Aramäer und Mitglied der Assyrischen Demokratischen Organisation (ADO), sowie die Yezidin und Kurdin Dilan Isa. Die Syrer forderten den Vertreter der Bundesregierung auf, sich für einen säkularen pluralistischen Staat in Syrien einzusetzen, in dem insbesondere die Religionsfreiheit und der Schutz der Minderheiten garantiert sein sollten. Löning versicherte, die Bundesregierung verfolge die grundsätzliche Linie, Minderheiten zu schützen. Es sei wichtig, die genannten Forderungen vor sich zu haben, um im Falle eines Sturzes des Assad Regimes eine Vorstellung von der zukünftigen Entwicklung zu haben. (ig) [Zum Weiterlesen]

Die Resolution vom 17.09.2011 im Wortlaut auf www.gfbv.de/uploads/download/download/164.pdf


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Von bedrohter Identität und einer ungewissen Zukunft

Gespräch mit dem Cree-Indianer Larry Morrissette Der Dokumentarfilm „Wir werden frei sein“ der deutschen Filmemacher Max Fabian Meis und Ferdinand Carrière zeigt die Arbeit von Sozialinitiativen mit frustrierten indianischen Jugendlichen im kanadischen Winnipeg. Der Cree-Indianer Larry Morrissette (Nikamon Mahihkan, Singender Wolf) will ihnen eine Perspektive geben, indem er ihre kulturelle Identität stärkt. In einem Gespräch mit der bedrohte Völker - pogrom berichtet er von den (umwelt-)politischen Bedrohungen, der rechtlichen Benachteiligung und der Zukunftsperspektive für die kanadischen Ureinwohner (laut Zensus von 2006: 698.025 Angehörige der indianischen First Nations, 398.785 Metis, 50.485 Inuit, 34.500 mit gemischter Herkunft; Anm. d. Red.).

larry Morrissette (l.M.): Die jetzige Generation ist die erste, die ihre Kinder selbst aufziehen kann, denn früher wurden sie zur Assimilierung in Internate gesteckt. Ich spreche nicht von der Zeit von Kolumbus, sondern das ist ganz real und aktuell. In erster Linie sind wir damit beschäftigt, die Scherben der Vergangenheit aufzusammeln. Wir sind nicht nur verarmte Menschen, wir haben auch Rechte, die in der Verfassung und in historischen Dokumenten festgeschrieben sind. Die Idee von Freiheit bedeutet letztlich, unserer Gemeinschaft die nötigen Ressourcen wieder zurückzugeben, damit wir unser Leben selbst in die Hand

nehmen können. Heute erhalten die indigenen Völker teilweise staatliche Unterstützung. Aber wir stehen am Ende eines langen sozialen Krieges. Für wirkliche Veränderungen reichen unsere Kapazitäten oft nicht aus. Deshalb arbeiten wir außerhalb der politischen Richtlinien, um der Bedrohung unserer Sprache, Kultur und unseres Lebensstils entgegenzutreten.

mir eine Zukunft ohne Rassismus und Diskriminierung, in der unsere Leute so aufwachsen, dass ihre Qualitäten und Ansichten möglichst gut gedeihen können. Das klingt nach einer einfachen Formel, aber auf dieses Ziel bewegen wir uns nur sehr langsam zu. Es ist nicht so, dass wir diese Möglichkeit hatten und sie versäumt oder nicht genutzt hätten. Wir brauchen ein Zukunftskonzept, in dem wir unsere eigenen Werte und Überzeugungen wieder finden.

bedrohte Völker: Wie stellen Sie sich das Leben kommender Generationen vor? Glauben Sie an eine bessere Zukunft?

bedrohte Völker: Was bedeutet politische und kulturelle Selbstbestimmung für Sie?

l.M.: Ich hoffe darauf! Ich wünsche Larry Morrissette - hier mit Frau Jennifer und Tochter Sona - tourte für „Wir werden frei sein“ durch Deutschland.

Foto: Leif Höfler

bedrohte Völker: Wie ist die Situation der indigenen Völker Kanadas heute?

l.M.: Es bedeutet, dass unsere Kultur wieder direkt vor unseren Augen sichtbar wird und sich unsere Ideale und Vorstellungen in der Politik und den Institutionen widerspiegeln. Das Bildungswesen wäre dann zum Beispiel auf unsere Sprache und unsere Geschichte gerichtet, statt auf eine verfälschte Wiedergabe durch ein System, das unser Volk spalten will. Selbstbestimmung bedeutet idealerweise auch, eine Nation mit einem fairen Wirtschaftssystem zu begründen. Ich spreche nicht von der Erschließung indigener Volkswirtschaften und Ländereien, sondern lediglich von etwas so Fundamentalen wie einem Stück Brot. Wir wünschen uns nicht mehr als andere: eine verantwortungsvolle Regierung, pogrom 268 _ 5/2011

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bessere Lebensbedingungen und das Beste für unsere Kinder.

terscheiden wir uns von ihr: Wir sind nicht besser als ein Tropfen Wasser oder die Person neben uns; wir lernen voneinander. Die Natur schenkt uns seit Jahrtausenden unser Leben und dieses Verhältnis wollen wir auch so für unsere Kinder erhalten. Das ist nur dann möglich, wenn die Stellung unserer Völker in Verbindung mit unserer Kultur und in Bezug zur Geschichte richtig verstanden wird.

bedrohte Völker: Also im Prinzip grundlegende Menschenrechte. l.M.: Ganz genau! Die Freiheit, über die Straße zu gehen, ohne für unser Aussehen schikaniert zu werden; keine Gefängnisse voll junger Indianer, die eigentlich zur Schule gehen oder an Familie oder Beruf denken sollten. Die Liste kann man fortführen.

Projekten erübrigen. Die Ureinwohner haben sich gegen alle möglichen Projekte zur Wehr gesetzt, aber die Medien berichteten nicht darüber. Es steht nicht in der Zeitung oder es wird etwas anderes oder gegensätzliches berichtet. Ich unterstütze nichts, was mit der Ausbeutung des Bodens und der Umwelt zu tun hat oder Menschen Schaden zufügt. Denn die kurzfristigen Vorteile können nicht aufwiegen, was wir auf längere Zeit verlieren.

bedrohte Völker: Sind die Menschen in den Reservaten darüber informiert, welche Risiken die Lagerung von Atommüll auf ihrem Territorium hätte, für das Kanadas staatliche Nuclear Waste Management Organisation seit 2002 einen Standort sucht?

bedrohte Völker: Es gibt eine starke indianische Opposition gegen die Zerstörung der Umwelt. Das Leben in den Reservaten ist durch den Abbau von Uran und anderen Bodenschätzen unmittelbar gefährdet. Erklären Sie bitte die Beziehung der Ureinwohner zur Natur.

bedrohte Völker: Wie könnten sich Wirtschaft und Politik und die Bedürfnisse der Indigenen aufeinander zu bewegen?

l. M.: Nein, die meisten wissen darüber nicht Bescheid. Unternehmer nutzen es aus, dass Auflagen für mögliche Lagerstätten fehlen; sie versuchen die Bewohner der Re-

Foto: Shawna Nelles

l.M.: Unsere Kultur spiegelt unsere Auffassung von Mutter Erde wieder. Wir sind weder getrennt, noch un-

oben: Powwow der Long Plain First Nation

Foto: A. Davey

links: Auf einem Friedhof der First Nation der Namgis in British Columbia

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servate zu überzeugen, dass sie von einem Endlager profitieren würden. Die lokal Verantwortlichen bemühen sich, den Menschen einen angemessenen Lebensstil zu ermöglichen. Also treffen sie Entscheidungen, die nicht unbedingt im Interesse künftiger Generationen sind. Ich glaube, wenn die Menschen vernünftig über Kahlschlag, Wasserprojekte und Endlager informiert wären, würde sich eine Debatte zu derartigen

l. M.: Alles ist möglich! Aber unser System orientiert sich an der billigsten Produktionsweise und den Verbrauchern. Die Folgen des Abbaus von Bodenschätzen und Rohstoffen für die Lebensbedingungen in den Gemeinden bleiben leider unberücksichtigt. Das geschieht täglich und überall in Kanada. Manche scheinen zu glauben, wir würden die Vorteile dieses Systems schätzen. Aber das stimmt nicht! Es gibt vielleicht eine kleine Minderheit, die in diesem System zurechtkommt. Aber für den Großteil der Indianer gilt, dass sie gerne anders leben würden, die Veränderungen in den Gemeinden, die Sicherung des Lebensunterhalts und der Grundrechte sich aber nicht in ihrem Sinne gestalten. bedrohte Völker: Möchten Sie abschließend noch etwas sagen? l.M.: Meine Haltung zu all diesen Themen und Problemen ist, dass es sich hoffentlich nur um einen kurze Zeitspanne in unserer Geschichte handeln wird. Wir haben Jahrtausende im Einklang mit Mutter Erde gelebt. Ich hoffe, dass sich das Blatt wendet und wir unsere Nationen so wiederaufbauen können, dass wir stolz darauf sind, ohne aus den Augen zu verlieren, wer wir sind. [interview und text]

Leif Höfler


BrennpUnKte

Auch Bäume und Tiere weinen, wenn die Straße durch den TIPNIS-Nationalpark gebaut wird!

Foto: payorivero - flickr.com

Foto: Jaume D‘Urgell

Der Präsident Boliviens, Evo Morales, hat selbst indianische Wurzeln

Nagelprobe für Evo Morales Zwischen sozialer Reformpolitik und Wirtschaftsprojekten der Regierung suchen die indigenen Völker Boliviens ihren Platz im multiethnischen Gesellschaftskonzept Von leiF höFler

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vo Morales ist Boliviens erster Präsident mit indigenen Wurzeln. Er entstammt einer AymaraFamilie und wuchs in den ärmlichen Verhältnissen des bolivianischen Andenhochlands auf. Bei seinem Amtsantritt im Jahr 2005 rief er dazu auf, die „mehr als 500 Jahre der Diskriminierung und des Rassismus zu beenden“. Tatsächlich hat er auch Reformen angestoßen, die vornehmlich der Verbesserung des Lebensstandards der verarmten und benachteiligten indigenen Bevölkerungsmehrheit dienen sollen: Rückgabe von brachliegenden Ländereien an die Indígenas, Verstaatlichung der Öl- und Gasindustrie, deren Einnahmen zur Finanzierung einer „Rente der Würde“ - etwa 20 Euro ab einem Alter von 60 Jahren - genutzt

werden, Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf circa 80 Euro, Kredithilfen für Klein- und Kleinstunternehmer, u. a. Für die meisten Indígenas ist Morales’ Erfolg Symbol der Emanzipation von der Fremdherrschaft. Er ist „einer von ihnen“. Auf internationalem Parkett zeigt er sich gerne in traditioneller Lederjacke und Chompa, dem Pullover der Indianer des Andenhochlands. Die indigene Abstammung ist nicht nur Teil seiner Identität, sondern auch wichtigstes Element seines politischen Profils. Doch viele Indigene vor allem des Amazonas-Tieflands sehen das ganz anders: „Evo Morales interessiert sich für die indigenen Völker nur sehr wenig oder gar nicht“, wird Fernando

Vargas in der Zeitung „El Mundo“ zitiert (GfbV-Blog vom 09.09.2011). Vargas ist Anführer des indigenen Protestmarsches gegen den Bau einer Autobahntrasse durch den TIPNISNationalpark, der im August und September 2011 etwa 1500 Teilnehmer über 600 km von Trinidad nach La Paz führte. In dem Naturschutzgebiet leben ca. 50.000 Angehörige indianischer Völker. Sie lehnen die Straße ab. Am 24.09.2011 eskalierten die Spannungen zwischen Polizei und den Marschierenden. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, Verletzten und Festnahmen. Inzwischen gab Morales dem Druck nach und stoppte den Straßenbau (Zeit online, 25.10.2011). Die indianischen Völker des Tieflandes sehen ihre Befürchtungen, dass Morales ihre Interessen nicht wirklich ernst nimmt, jedoch bestätigt: obwohl er den Straßenbau durch den TIPNIS-Nationalpark gestoppt hat, unterstützt der Präsident jetzt persönlich die heftigen Proteste der Gegenseite, welche die Straße trotz des Baustopps durchsetzen will. Bolivien ist ein tief gespaltener Vielvölkerstaat, der die heterogenen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Interessen zu vereinigen sucht. Morales ist bei vielen pogrom 268 _ 5/2011

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Evo, hör auf das Volk!

Foto: payorivero - flickr.com

Entscheidungen zu Gratwanderungen zwischen den erwähnten Reformen im Interesse der indigenen Bevölkerungsmehrheit und fragwürdigen Infrastrukturprojekten und dem Abbau von Bodenschätzen in geschützten Gebieten gezwungen. Die indigenen

Foto: payorivero - flickr.com

Unterstützung für den Protestmarsch der Indianer

Völker des wirtschaftlich potenteren Tieflandes sind in dieser Hinsicht besonderem Druck ausgesetzt: Als Minderheiten sind sie dort oft Zielscheibe für die Unzufriedenheit derjenigen,

die industriellen Projekten positiv gegenüberstehen, auch wenn sie die Existenz der indigenen Völker bedrohen. Die Interessenkonflikte im östlichen Tiefland gingen 2008 so weit, dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den indigenen Befürwortern der Regierungspartei und den separatistischen Strömungen der europäischen Siedler kam, die im Zuge von Reformpolitik, Autonomiebestrebungen und dem Wunsch nach Dezentralisierung entstanden. Die Regierung steht vor der großen Aufgabe, das Land zu modernisieren und die Armut zu bekämpfen.

Dabei geht es aber nicht nur um bloße Marktwirtschaft. Die kulturelle Vielfalt und die Traditionen der indigenen Völker dürfen nicht verdrängt werden. Viele Indígenas begreifen sich als Teil einer Umwelt, die als funktionierendes Ökosystem ihre natürliche Lebensweise ermöglicht. Deswegen haben der Schutz der Natur und die Bewahrung der Nationalparks Vorrang gegenüber der expansiven, gewinnorientierten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen ihrer „Mutter Erde“. Wenn Morales diese Anliegen nicht berücksichtigt, gefährdet er den sozialen Frieden in Bolivien.

Hüter des Regenwaldes

Manche indianischen Völker meiden bewusst den Kontakt zur Außenwelt Von leiF höFler

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as Amazonasgebiet besitzt die größte Artenvielfalt der Erde. Es ist aber auch eine Region, die seit Jahrtausenden von Menschen bewohnt wird. Sie haben eine Lebensweise entwickelt, die kulturelle und biologische Vielfalt in einem empfindlichen Gleichgewicht harmonisch miteinander verbindet. Einige dieser Völker meiden jeden Kontakt 48

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Es gibt sie! Luftaufnahmen beweisen die Existenz isoliert lebender Völker

Foto: Gleison Miranda/FUNAI

zur Außenwelt. Sie leben vor allem im Grenzgebiet von Brasilien, Peru und Bolivien und im Grenzgebiet von Peru und Ecuador, aber zum Beispiel auch in Paraguay. Allein in Brasilien wird ihre Zahl auf mindestens


Foto: Jonas Weyrosta

BrennpUnKte

José Carlos Meirelles und GfbV-Expertin Eliane Fernandez Ferreira berichten dem Plenum der GfbV-Jahreshauptversammlung 2011 über die Bedrohungen für isoliert lebende Völker

70 geschätzt. Viele der heute isoliert lebenden indianischen Völker hatten einstmals Kontakt zur Außenwelt und brachen diesen aufgrund traumatischer Erlebnisse ab: Wenn sie nicht von Eindringlingen, wie beispielsweise den Kautschukbaronen Anfang des 20. Jahrhunderts, ermordet oder versklavt wurden, sorgten verheerende Epidemien oftmals für das Aussterben ganzer Völker, da ihr Immunsystem gegen Krankheiten wie Erkältung oder Grippe keinerlei Abwehrkräfte besitzt.

Auch heutzutage kommt es immer wieder zu gewaltsamen Konflikten mit Fremden, die ihnen den Kontakt aufzwingen wollen, um an ihr Land und seine Ressourcen zu gelangen. Die in freiwilliger Isolation lebenden Völker sind vor allem Jäger, Fischer und Sammler. Ihre traditionelle Lebensweise erfordert ein großes Territorium unberührter Natur, frei von den Einflüssen „westlicher Zivilisation“. Dass sie keinen Kontakt zu Fremden wünschen, machen sie unmissverständlich deutlich, indem sie sich entweder vor ihnen zurückziehen, ihr Land mit Pfeil und Bogen zu verteidigen versuchen oder auf Wegen

und Pfaden überkreuz gestellte Speere als „Stoppzeichen“ hinterlassen. Allgemein sind die unkontaktierten, in freiwilliger Isolation lebenden Völker Boliviens und Perus mit den gleichen Problemen und Bedrohungen konfrontiert, die auch in den Nachbarländern vorherrschen: staatliche Entwicklungs- und Infrastrukturprojekte (Öl- und Gasabbau, Privatisierung von Wasser und Boden, Wasserkraftprojekte, Straßenbau), unkontrollierte und illegale Aktivitäten (Gold-, Holz und Mineralienabbau, Drogenschmuggel), Besiedelung, Missionierung. Konzerne und Staat bestreiten meist einfach die Existenz der kleinen Völker in den Gebieten, die sie wirtschaftlich nutzen wollen. Der ehemalige Präsident Perus Alan Garcia bezeichnete die „Figur des Dschungel-Ureinwohners“ als List, ersonnen um die Suche nach Öl zu verhindern. Diese Vorgehensweise ist leicht durchschaubar: Wird bereits die Existenz dieser Menschen geleugnet, so scheinen Bemühungen zum Schutz ihres Territoriums oder ethisch-moralische Bedenken überflüssig zu sein. Auch Bolivien hat alle wichtigen internationalen Abkommen zum Schutz indigener Völker unterzeichnet. Doch welchen Nutzen hat dieser Rechtsschutz, wenn er nicht praktiziert wird?

José Carlos Meirelles und sein Kampf für die isolierten Völker in Brasilien Die Behörde für indigene Angelegenheiten des brasilianischen Justizministeriums FUNAI hat seit den 1990iger Jahren ihre Strategie im Umgang mit isolierten Völkern schrittweise geändert und in Folge eine eigene Arbeitsgruppe eingerichtet: Coordenação Geral de Indios Isolados e Recém Contatados (CGII). Hauptaufgaben sind die Lokalisierung isolierter Indianer, die Ausweisung von Schutzgebieten und die Einrichtung von Außenposten zu ihrer Überwachung. Eine aktive

Kontaktaufnahme wird jedoch vermieden. José Carlos Meirelles arbeitete seit 1971 für die FUNAI, bevor er 2009 in Ruhestand ging. Mehr als 20 Jahre war er im Bundesstaat Acre an der Grenze zu Peru aktiv. Vor allem durch illegale Aktivitäten im Grenzgebiet (Holzeinschlag, Drogenschmuggel, Siedlungen) verschlechtert sich die Lage der dort lebenden Gemeinschaften zunehmend; in Peru sind sie auf der ständigen Flucht vor Fremden, die in ihre Gebiete eindringen und entweder Waffen

oder tödliche Krankheiten mitbringen. Meirelles Ziel ist es, gemeinsam mit der FUNAI und nicht-staatlichen Unterstützern die Rahmenbedingungen zu schaffen, damit diese Isolados ihre traditionelle Lebensweise so lange wie möglich selbst bestimmt beibehalten können. Dafür warb er als Gast der Jahresversammlung um Unterstützung bei der GfbV, die für ihn auch Lobbytermine in Berlin, u.a. beim Entwicklungsausschuss organisierte. - (Andreas Schlothauer/bgt)

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Die verelendeten Nubier in Ägypten werden als Bürger zweiter Klasse behandelt

Foto: superblinkymac - flickr.com

Ägypten

Nubier wollen in ihr Gebiet zurückkehren Von Ulrich deliUS

A

ls Ende August 2011 der Amtssitz des Gouverneurs von Assuan in Ägypten in Flammen aufging, war dies deutschen Medien kaum eine Meldung wert. Doch in Ägypten machten die immer massiveren Proteste der Nubier im äußersten Süden des Landes Schlagzeilen. Hatten sie doch ihre Kritik an Zwangsumsiedlungen unter Diktator Hosni Mubarak jahrzehntelang nicht öffentlich äußern können. Nach seinem Sturz am 25. Januar 2011 keimte unter ihnen Hoffnung, dass nun endlich auch ihre Forderungen gehört werden. Die Nubier verlangen, dass sie als eine der ältesten Kulturen und Völker Ägyptens anerkannt werden. Sie seien die direkten Nachkommen der Pharaonen, erklären ihre Repräsentanten 50

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selbstbewusst. Die Nubier empfinden es als bittere Ironie der Geschichte, dass sie heute verelendet sind und als Bürger zweiter Klasse behandelt werden, während andere Ägypter ausländische Urlauber durch die Wirkungsstätten der Pharaonen führen und ihnen die Jahrtausende alte Hochkultur der früheren Herrscher des Nahen Ostens erläutern. Seit Jahren strömen Arbeitssuchende aus den verarmten Provinzen Qena, Sohag und Assiut in Oberägypten verstärkt in die Touristenregion. Die Zugewanderten kontrollieren rund 75 Prozent des Wirtschaftslebens in Assuan. Für die indigenen Nubier bieten sich da nur noch wenig Perspektiven. In der Region Assuan leben rund 1,5 Millionen Nubier, etwa 500.000 haben sich

in den größeren Städten des Landes angesiedelt.

Zwangsumsiedlung für Megaprojekte Nubien sei eine Region des Übergangs von der arabischen Welt nach Schwarzafrika und daher komme der Gegend eine besondere Bedeutung zu, meinen viele Nubier. Doch besonderer Respekt wurde ihnen von der arabischen Welt bislang nicht entgegen gebracht. Vor Mubarak mussten sie sich fürchten, weil er um jeden Preis eine Destabilisierung Süd-Ägyptens durch eine Volksbewegung der Nubier verhindern wollte. Ägyptische Sicherheitskreise aus dem Umfeld Mubaraks woll-


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nubier auch im Sudan unter druck Doch im Sudan ergeht es ihnen nicht viel besser. Dort werden entlang des Nils seit 2005 immer neue Staudämme gebaut. Tausende Nubier wurden für den Merowe-Damm umgesiedelt. Zehntausenden Nubiern droht noch die Vertreibung, da der Sudan die Errichtung von mindestens sieben Staudämmen am Unterlauf des Nil plant und zum Teil schon realisiert. Proteste wurden blutig niedergeschlagen, Kritiker der Mega-Projekte verhaftet. Kulturhistorisch bedeutsame Stätten der Nubier werden geflutet. Archäologen aus aller Welt bemühen sich noch schnell, die von der Zerstörung bedrohten Schätze einer der ältesten Kulturen der Welt zu erfassen.

rückkehr auf altes land Nach der Vertreibung in den 60-er-Jahren wurden immer wieder Forderungen nach einer Rückkehr auf zumindest Teile des alten NubierLandes laut, die nicht geflutet worden waren, sondern zu den begehrten gut bewässerten Feldern entlang des Stau-

verlangte die Erfüllung aller Forderungen, insbesondere die Rückkehr auf das Land der Ahnen; soweit es nicht geflutet wurde.

sees zählten. Zunächst konnten diese Forderungen wegen der Häscher Mubaraks öffentlich nur im Ausland geäußert werden. Im September 2010 überreichten in Italien lebende Nubier Präsident Mubarak eine Petition, in der sie unter anderem die Rückkehr verlangten. Zuvor hatten sie sich schon an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf um Unterstützung für ihren Kampf um Land und Landrechte gewandt. Der prominente Regimekritiker und Friedensnobelpreisträger Mohamed Elbaradei empfahl den Demonstranten, den Streit zu internationalisieren, um die ägyptische Regierung zum Handeln zu zwingen. Nach dem Sturz des Diktators rissen die Proteste der Nubier nicht ab.

Zugeständnisse der regierung

Foto: rytc - flickr.com

ten die Protestbewegung der Nubier in der Öffentlichkeit diskreditieren und streuten das Gerücht, sie seien Separatisten und wollten einen eigenen Staat gründen. Außerdem ließ Mubarak seine Behörden und Sicherheitskräfte gezielt gegen Nubier vorgehen, die keinen ägyptischen Pass besaßen. Dreimal innerhalb von 60 Jahren wurden die in Ägypten lebenden Nubier zwangsumgesiedelt. Mehrere tausend von ihnen mussten Ende des 19.Jahrhunderts ihre Dörfer verlassen, als der Untere Assuan-Staudamm von 1899 bis 1902 errichtet wurde. Als 1933 ein weiterer Damm gebaut wurde, mussten sie wieder ihre Häuser räumen. Mehr als 40 Dörfer verschwanden in 60-er Jahren schließlich in den Fluten des gigantischen Stausees des neuen AssuanDammes. Rund die Hälfte der Nubier siedelte damals in den benachbarten Sudan über.

Im Assuan-Stausee versanken viele Dörfer der Nubier, ihre Bewohner wurden zwangsumgesiedelt.

Mehr als 2000 von ihnen versuchten im August 2011 mit tagelangen Sitzblockaden vor dem Amtsgebäude des Gouverneurs, die Rückgabe ihres Landes durchzusetzen. Der Gouverneur bot ihnen als Entschädigung nur an, in das Wadi-Kurkur-Projekt mit aufgenommen zu werden, das den Bau von acht neuen Dörfern vorsieht. Einige Nubier plädierten für die Annahme des Angebots, doch eine Mehrheit

Da die Proteste im Süden des Landes anhielten, wuchs bei den Behörden in Kairo schließlich die Angst vor einer weiteren Eskalation der Demonstrationen. Schließlich besuchte im September 2011 Ministerpräsident Essam Sharaf die Region und traf mit 15 gemäßigten Repräsentanten der Nubier zusammen. Die Nubier verlangten nicht nur eine Rückgabe ihres Landes, sondern auch einen wirtschaftlichen und steuerlichen Sonderstatus der Region Assuan, damit das lange vernachlässigte Gebiet besser versorgt wird. Prinzipiell versprach der Minister die Erfüllung der Forderungen, äußerte jedoch zu einigen Wünschen Vorbehalte. Sharaf wies den Gouverneur von Assuan an, unter Berücksichtigung der begrenzten finanziellen Mittel alles in seiner Macht Stehende zu tun, um zu einer Stabilisierung des Landes beizutragen. Neben der Rückkehr in ihr altes Gebiet verlangen die Nubier die Umbenennung des Assuan-Stausees in „See Nubiens“. Sehr wichtig ist ihnen auch eine stärkere politische Vertretung im ägyptischen Parlament. Waren sie dort früher mit Abgeordneten aus drei Wahlkreisen vertreten, hat eine Gebietsreform die Zahl ihrer Mandate von drei auf zwei verringert. Nach den Zugeständnissen des Ministerpräsidenten kam Süd-Ägypten zunächst wieder zur Ruhe. Wie lange sie anhält, wird entscheidend davon abhängen, ob es die ägyptische Regierung mit der Erfüllung der Forderungen der Nubier ernst meint.

Die Nubier sehen sich als eines der ältesten Völker der Welt an. Auf rund 5.500 Jahre Geschichte blicken sie zurück. Damals hatte ihr Königreich Kush, das alte Nubien, Weltgeltung. Archäologen entdecken immer neue Ausgrabungsstätten, deren Schätze einen tiefen Einblick in die Jahrtausende alte Hochkultur dieses Volkes vermitteln.

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Foto: Rita Willaert

Traditionelle Gemeinschaften in Kenia und Äthiopien bedroht

Die meisten Turkana leben heute von der Fischerei und dem Feldbau.

Staudamm lässt Wasser knapp werden Ein Staudamm, der mehr als 300 000 Menschen in zwei Ländern bedroht: Die Lage am TurkanaSee im Nordwesten Kenias ist durch die aktuelle Dürreperiode ohnehin schon katastrophal, wird aber durch den Bau des Gilgel Gibe III am Omo-Fluss in Äthiopien noch verschärft. Der Megadamm soll Entwicklung bringen, sagt die äthiopische Regierung. Doch er wird auch verhindern, dass der fruchtbare Schlamm des Omo die Felder düngt. V o n a n n e - c h a r lo t ta d e h l e r

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taudämme gelten als umweltfreundliches Mittel zur Energiegewinnung. Ihre Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen können jedoch gravierend sein, wie der DreiSchluchten-Damm in China zeigt. Dort mussten nicht nur rund zwei Millionen Menschen in ertragsärmere Gegenden umgesiedelt werden. Auch Tausende Tier- und Pflanzenarten drohen jetzt auszusterben. Äthiopiens Regierungschef Meles Zenawi lässt trotzdem den höchsten Staudamm

Foto: sambukot - flickr.com

Weltnaturerbe Turkana-See

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Afrikas bauen, ohne ein unabhängiges Gutachten über seine sozialen und ökologischen Auswirkungen erstellen zu lassen. 1870 Megawatt im Jahr soll Gilgel Gibe III erzeugen und nicht nur Äthiopien mit Strom versorgen, sondern auch Kenia, Dschibuti und Sudan. Den größten Teil der Kosten trägt die staatliche Industrial and Commercial Bank of China (ICBC), nachdem die Europäische Investitionsbank sowie die Afrikanische Entwicklungsbank ausgestiegen sind. Bereits 2006 wurde mit dem Bau des Damms begonnen. Zwei Jahre später erschien dann ein erstes – positives – Gutachten über seinen potenziellen Einfluss auf die Umwelt. Finanziert wurde es von der Ethiopian Electric Power Corporation (EEPCo) sowie dem italienischen Bauunternehmen Salini Costruttori. Die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit des Gutachtens wird stark angezweifelt. Denn Salini erhielt den Auftrag für das 1,7-Milliarden-Eu-

ro-Projekt ohne öffentliche Ausschreibung und Wettbewerb.

Megaprojekt mit drastischen Konsequenzen Zenawi ignoriert sowohl die negativen Folgen seines Entwicklungsprojekts, das angeblich zur Erfüllung der UN-Millenniumsziele beitragen soll, als auch die heftige Kritik von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen, kenianischen Abgeordneten sowie der UNESCO. Gibe III bringt weit reichende Veränderungen für die Anwohner des Omo-Flusses, der durch den Damm aufgestaut werden soll, und für die Menschen am Turkana-See, der sich zum größten Teil in Kenia befindet. Er ist der größte Wüstensee der Welt, gehört seit 1997 zum Weltnaturerbe und wird bis zu 90 Prozent vom Omo gespeist. Wird dieser aufgestaut, würde der Wasserstand des TurkanaSees um bis zu fünf Meter sinken und


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Äthiopien unterdrückt proteste In Äthiopien vermuten viele hinter Protesten gegen den Staudamm Kräfte im Westen, die Entwicklung verhindern wollen. „Die Vorteile für unser Land, die Bevölkerung und unsere Nachbarstaaten überwiegen bei weitem die kleinen Problemchen, die kurzzeitig auftreten werden“, meint der Chef der äthiopischen Umweltbehörde. Dass die „kleinen Problemchen“ auch Menschen in Äthiopien selbst betreffen, bleibt unbeachtet. Denn die vielen Volksgruppen, die am Omo leben wie die Surma oder Mursi, brauchen die jährlichen Überschwemmungen, um auf dem fruchtba-

ren Flussschlamm Hirse und Bananen anzubauen. Gibe III wird verhindern, dass der Omo über seine Ufer tritt. Ganz zu schweigen von den potenziellen Auswirkungen der bereits geplanten Staudämme Gibe IV und V. Widerstand gegen das Projekt wird unterdrückt. So berichtet Survival International von gewalttätigen Übergriffen und Verhaftungen von Betroffenen, die Einspruch gegen den Bau des Damms erhoben. Überdies kam es 2011 wiederholt zu bewaffneten Konflikten an der äthiopisch-kenianischen Grenze. Mehrere Angehörige der Merille, die vor allem im Südwesten Äthiopiens leben, töteten allein im August mehr als 20 Turkana. Im Kampf um immer knapper werdendes Wasser und Weideland wurden außerdem Kühe, Schafe und Ziegen der Turkana gestohlen. Der fortschreitende Klimawandel macht Wasser noch wertvoller, besonders in den trockenen Regionen. Es wird auch in Zukunft großes Konfliktpotenzial bergen.

gibe iii schürt land grabbing Der umstrittene Gibe III soll auch helfen, die ländlichen Gegenden am Omo zu erschließen. Dabei verspreche das so genannte „Land Grabbing“ („Landaneignung“) laut Meles Zenawi eine schnelle Entwicklung. Für die dort lebenden traditionellen Gemeinschaften bedeutet das in erster Linie Zwangsumsiedlungen und Menschenrechtsverletzungen. Über 350 000 Hektar Land hat Äthiopien seit 2008 in Plantagen umgewandelt,

auf denen vor allem Zuckerrohr für Biotreibstoff angebaut wird statt Nahrungsmittel. Zuckerrohr benötigt viel Wasser und soll in Zukunft mithilfe des Staudamms bewässert werden. Einheimische Bauern und Hirten, die sich dazu kritisch äußern, werden unterdrückt, eingeschüchtert und von ihrem Land vertrieben, berichten BBC und das Oakland Institute. Gera-

Foto: Rita Willaert

das Wasser infolge dessen stark alkalisch werden, berichtet die kenianische Tageszeitung „The Nation“. Die Folgen wären dramatisch: Fische und Pflanzen im See würden sterben, Fischer ihre Existenzgrundlage verlieren und an den ausgetrockneten Ufern ließe sich weder Ackerbau betreiben, noch könnte dort Vieh weiden. Davon betroffen sind besonders die mindestens 250.000 Turkana in den Wüsten- und Halbwüstengebieten Kenias westlich des Turkana-Sees. Ursprünglich waren sie Nomaden, die von Viehhaltung lebten. Doch die durch den Klimawandel bedingten zunehmenden Dürreperioden zwangen sie dazu, auf andere Nahrungsmittelquellen zurückzugreifen. So sind die meisten Turkana heute auf die Fischerei und den Anbau von Hirse und Kürbis angewiesen. Der Turkana-See und sein Wasser sind ihre Existenzgrundlage. Joshua Angelei von der kenianischen Organisation “Friends of Lake Turkana” (FoLT), die sich für die Erhaltung des Sees und der Region einsetzt, beschreibt die Lage wie folgt: „Hobbes said life is ‘short and brutish’, and this is the truth in the weary eyes of all members of the Turkana community in spite of the giant strides that the world has made since that statement was made in 1640.” Er weiß, wie wichtig das Wasser für die traditionellen Gemeinschaften, für Tiere und Umwelt ist. Deshalb setzen er und FoLT sich für eine nachhaltige Entwicklung und gegen den GibeIII-Staudamm ein.

Anrainer des Omo-Flusses

de vor dem Hintergrund der aktuellen Dürrekatastrophe am gesamten Horn von Afrika sind diese Entwicklungen erschreckend. Gibe III zeigt den schmalen Grat zwischen nachhaltiger Entwicklung wie der Stromversorgung eines ganzen Landes und der Schädigung von Mensch und Umwelt durch eben dieses Projekt. Hier gilt es abzuwägen und beide Seiten im Blick zu haben, um ihnen möglichst gerecht zu werden.

Friends of Lake Turkana (FoLT) ist eine unabhängige Nichtregierungsorganisation in Turkana, Kenia. 2008 gegründet, setzt sie sich für den Schutz des Turkana-Sees und seiner Umgebung sowie für die Rechte der dort lebenden traditionellen Gemeinschaften ein. Die Mitglieder von FoLT sind meist direkt von Gibe III betroffen und vom Turkana-See abhängig. FoLT sammelt Unterschriften für eine Petition gegen den Weiterbau des Staudamms. Projektkoordinatorin ist Frau Ikal Angelei. Kontakt: ikalangelei@gmail.com, info@friendsoflaketurkana.org Website: http://www.friendsoflaketurkana.org/ petition: http://www.stopgibe3.org/index.php

Beteiligen Sie sich an unserer E-Mail-Kampagne zum Schutz der Turkana: www.gfbv.de/emailprot.php?id=307&stayInsideTree=1

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Weimarer Menschenrechtspreis für mauretanischen Anti-Sklaverei-Aktivisten

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Foto: Hanno Schedler/GfbV

preises sagte Ulrich Delius, Leiter der er afro-mauretanische Anso verinnerlicht, dass ihre „Herren“ Afrika- und Asienabteilung der GfbV: ti-Sklaverei-Aktivist Biram gar keine Ketten brauchen, um die „Als ich vor 30 Jahren in der BotDah Abeid wurde am 10. Dezember Menschen an der Flucht zu hindern. schaft Mauretaniens in Bonn 20.000 2011, dem Tag der Menschenrechte, Dass wir heute eine andere SituaUnterschriften von Unterstützern der mit dem Menschenrechtspreis der tion in Mauretanien haben und dass Gesellschaft für bedrohte Völker geStadt Weimar geehrt. Die bosnische Sklavenhalter immer mehr in die Enge gen Sklaverei in Mauretanien übergab, Sektion der Gesellschaft für bedrohte getrieben werden, haben wir vor allem war ich überzeugt, dass wir unmittelVölker (GfbV) hatte den 46-Jährigen dem Mann zu verdanken, der heute bar vor einem Durchbruch standen. für diese Auszeichnung nominiert. mit dem Weimarer MenschenrechtsIch war schockiert, dass es im 20. JahrZur Jury gehörten neben dem stellv. preis ausgezeichnet wird. Denn der Oberbürgermeister von WeiMenschenrechtler Biram Dah mar je ein Repräsentant des Abeid ging neue Wege zur BeKulturausschusses, der im freiung der Sklaven. Er wartete Stadtrat vertretenen Parteinicht mehr darauf, dass Sklaen und mehrerer Menschenven selbst ihre „Herren“ bei rechtsorganisationen. Für die der Polizei anzeigten. Seine GfbV sitzt dort seit Ausrufung Menschenrechtsorganisation des Preises Tilman Zülch. prangert jeden Fall öffentlich Biram Dah Abeid ist Voran, sobald er bekannt wird. sitzender der „Initiative für die In Mauretanien gibt es Wiederbelebung der Abschafzwar inzwischen Parlamentsfung (IRA)“. Diese Menschenwahlen, doch ein Rechtsstaat rechtsorganisation setzt sich ist das Land noch lange nicht. Der Preisträger Biram Dah Abeid (li.) und sein Laudator, für die Freilassung jedes einzelDas hat auch Biram erfahren, der GfbV-Afrikareferent Ulrich Delius. nen Sklaven ein, sobald sie von der in diesem Jahr eine mehrDah Abeid entging am 4.1.2012 in Nouakchott seinem Schicksal erfährt. Unmonatige Haftstrafe wegen nur knapp einem Mordanschlag. beirrt von Diffamierungen in eines friedlichen Protests verhundert noch immer möglich war, unstaatlich kontrollierten Medien schafft büßen musste, bis es uns schließlich gestraft Sklaven zu halten. Nur wenige sie mit gewaltlosen Besetzungen und gelang, so massiven Druck aus dem Monate zuvor war die Sklaverei offimit Protesten vor StaatsanwaltschafAusland aufzubauen, dass er vorzeitig ziell in dem nordwestafrikanischen ten und Polizei-Dienststellen so lange aus der Haft entlassen wurde. Staat abgeschafft worden. Angesichts Öffentlichkeit, bis die Behörden zusiBirams Methode ist sehr riskant, der Proteste in Europa war es für mich chern, Ermittlungen gegen mutmaßliaber auch erfolgreich. Immer wieder keine Frage, dass schon bald alle Sklache Sklavenhalter einzuleiten. kommen schwerbewaffnete Schlägerven frei sein würden. Doch ich sollte Mit seinem furchtlosen Einsatz hat trupps der Sklavenhalter und greifen mich irren. Biram Dah Abeid viel erreicht. Mehdie Demonstranten an. Regelmäßig Auch 30 Jahre nach dieser Begegrere tausend Sklaven wurden 2011 rückt dann die Polizei an und verhaftet nung in Bonn gibt es noch immer freigelassen, weil ihre „Besitzer“ nicht die zusammengeschlagenen MenschenSklaven in Mauretanien, obwohl Sklaöffentlich an den Pranger gestellt werrechtler, statt gegen die Schlägerbanden verei kein Kavaliersdelikt ist, sondern den wollten. Erstmals wurde auch ein vorzugehen. Auch Biram ist so schon ein Verbrechen gegen die MenschSklavenhalter von einem mauretanimehrfach schwer verletzt worden. Seilichkeit. Rund 500.000 schwarzafrischen Gericht verurteilt. Zuvor war es nen Kampf für ein Ende der Sklaverei kanische Haratin werden noch immer den „Herren“ dank Beziehungen, Korhat er jedoch nicht aufgegeben. In seiner als Sklaven gehalten. Die Sklaverei ist ruption oder politischem Druck imGeradlinigkeit und Entschlossenheit ist erblich, wer als Sklave geboren wird, mer gelungen, einer Strafverfolgung er zum Idol vieler junger Menschen in hat nur wenige Chancen, irgendwann zu entgehen. Mauretanien geworden, die der älteren einmal als freier Mensch zu leben. Die In seiner Laudatio auf den PreisGeneration Vetternwirtschaft und Kormeisten Haratin haben die Sklaverei träger des Weimarer Menschenrechtsruption vorwerfen“. 54

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Plakatwettbewerb der GfbV „Auf keinem Auge blind“

SPEnDEnkonto Sparkasse Göttingen konto: 1909 BLZ: 260 500 01 Info: www.gfbv.de

Die GfbV dankt Christoph Büch und der Firma Pitsch für die Ausrichtung dieses internationalen Plakatwettbewerbs sowie allen Teilnehmenden für die Vielzahl der eingereichten und äußerst phantasievollen Beiträge, die hier nach und nach veröffentlicht werden.


nachrUF

Trauer um syrisch-kurdischen Menschenrechtler

Zum Mord an Maschaal Tamo Ein Nachruf

Foto: privat

Wenige Wochen nach seiner Freilassung aus politischer Haft wurde Maschaal Tamo ermordet.

Von KaMal Sido

D

ie Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat einen Freund verloren: den syrisch-kurdischen Menschenrechtler Maschaal Tamo. Er wurde am 7. Oktober 2011 von maskierten Unbekannten in Kamischli im äußersten Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei erschossen. Die Nachricht traf uns wie ein Schlag, hatten wir uns doch wenige Wochen zuvor noch darüber gefreut, dass er endlich freigelassen worden war. Fast drei Jahre lang war er als politischer Gefangener inhaftiert. Uns hatte er zuvor und in den wenigen Wochen des Umbruchs in seinem Land, die er noch erleben durfte, zuverlässig über die Lage der Kurden berichtet. Als ich ihn vor fast fünf Jahren fragte, ob wir seinen Namen in unseren Veröffentlichungen nicht lieber verschweigen sollten, lehnte Tamo ganz entschieden ab: „Anonymes Auftreten vermittelt schnell den Eindruck, dass man nicht glaubwürdig ist. Man muss für die Dinge, an die man glaubt, auch gerade stehen können.“ Tamo hatte immer wertvolle Informationen für unsere Menschenrechtsorganisation, brachte während unserer regelmäßigen Telefonate Dinge schnell auf den Punkt. Im August 2008 wurde Tamo vom syrischen Geheimdienst verschleppt. Erst nach der Intervention demokratischer Staaten, wurde bekannt gegeben, wo er festgehalten wurde. Kurz darauf wurde der Kurde wegen „Schwächung des Geistes der Nation“ zu dreieinhalb

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Jahren Haft verurteilt. Tamo war Gründer und Sprecher der kurdischen Zukunftspartei und ein scharfer Kritiker des Regimes von Bashar al-Assad. Erst Anfang Juni, als die Welle der Proteste im arabisch dominierten Raum 2011 auch Syrien erfasste, wurde er freigelassen. Tamo glaubte felsenfest an die Ideale einer friedlichen Revolution, die ein demokratisches, ziviles und pluralistisches Syrien schaffen sollte. In diesem Syrien hätte auch sein Volk, die Kurden, hätten aber auch alle Syrer gleichberechtigt und in Würde leben können. Uns bleibt nur noch zu hoffen, dass die syrische, arabische Opposition Tamos Erwartungen gerecht wird. Er wurde nur 53 Jahre alt. Nahezu alle kurdischen Organisationen vermuten, dass die Mörder Tamos den syrischen Geheimdiensten oder einem regimetreuen Schlägertrupp angehörten. Einige wenige zeigen mit dem Finger auf die benachbarte Türkei. Denn ihr Interesse an einer Schwächung der kurdischen Nationalbewegung in Syrien und anderswo ist bekannt. Auch die syrischen Machthaber behaupten, der türkische Geheimdienst habe Tamo ermorden lassen, weil der türkische Staat für Syrien und Kurden nicht viel übrig hat. Die Verantwortung für die feige Tat muss jedoch das Regime in Damaskus tragen. Es hat Syrien nicht nur kurz vor einen Bürgerkrieg gebracht. Es könnte, wenn es wollte, auch alle seine Bürger schützen.


nachrUF

Zum Gedenken an den Theologen und Menschenrechtler Bischof Helmut Frenz ie Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) trauert um den Theologen und Menschenrechtler Altbischof Helmut Frenz, der am 13. September 2011 in Hamburg im Alter von 78 Jahren gestorben ist. Jahrzehntelang hat er als Beiratsmitglied unserer Menschenrechtsorganisation unsere Initiativen für ethnische und religiöse Minderheiten unterstützt, war ein wichtiger Motor und Ratgeber, nicht zuletzt für die Belange indianischer Völker Südamerikas. Als in Chile 1973 die Militärdiktatur errichtet und Tausende von chilenischen Demokraten ermordet wurden, unter ihnen viele Mapuche-Indianer, hat der Bischof der Evangelischen Kirche Chiles zunächst im Land, dann als vom Regime Vertriebener im deutschen Exil, unermüdlich und konsequent all seine Kraft in den Dienst der Flüchtlinge und Verfolgten gestellt – sei es in Chile, sei es bei uns. Der Sonderausgabe unseres Magazins „pogrom“ zur damals schrecklichen Situation des Mapuche-Volkes (1973) stellte er folgende Worte voran: „Heute leben einige Hundert Mapuche in Gefängnissen. Einige Tausend sind aus Rachsucht und Habgier von den Großgrundbesitzern ermordet worden. Die Ländereien, die ihnen im Zuge der Landreform übereignet wurden, sind ihnen wieder abgejagt worden. Ich habe einen katholischen Priester gesprochen, der mir berichtet hat von den vielen Leichen, die in den Tagen nach dem Putsch den Cautin-Fluß hinunterschwammen – fast alles Mapuche.“ Durch Helmut Frenz entstand auch unser Kontakt zu dem Mapuche-Bürgerrechtler Vicente Mariqueo. Als Mitglied einer panindianischen Delegation, für die die GfbV 1977 in Westdeutschland rund 65 Veranstaltungen mit insgesamt etwa 30.000 Teilnehmern orga-

Altbischof Helmut Frenz war jahrzeh-ntelang Mitglied desGfbV-Beirates.

nisierte – informierte er gemeinsam mit den anderen indianischen Repräsentanten aus Nord-, Süd- und Mittelamerika aus erster Hand über die Lage seiner Landsleute. Vicente lebte damals als politischer Flüchtling in Bristol und ist inzwischen in seine Heimatstadt Temuco zurückgekehrt. Zum Tod seines verehrten Freundes schrieb er uns: „Mein lieber Bruder, Bischof Helmut Frenz, ist verstorben. Er war als Seelsorger und Stütze für alle Verfolgten während der Diktatur in Chile tätig. Ende der 70er Jahre konnte ich dank Tilman Zülch Helmut Frenz in Bonn besuchen. Dieses Zusammentreffen mit Helmut, der damals auch Generalsekretär von Amnesty International Deutschland war, bedeutete eine große Ehre für mich.“ (bgt)

Foto: Thomas Schröcke

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reZenSionen

Anna Politkowskaja

die Freiheit deS WorteS

die aSiatiSche reVolUtion

lEtZtE bEriChtE aus EinEm gEfährdEtEn land DuMont Buchverlag, Köln 2011, 318 Seiten ISBN 978-3-8321-9642-4 Preis: 22,99 Euro

WiE dEr „nEuE OstEn“ diE WElt vErändErt Edition Körber Stiftung, Hamburg 2011 ISBN 978-3-89684-085-1 280 Seiten Preis: 16 Euro

Am 7. 10. 2006 wurde Anna Politkowskaja ermordet. Zu ihrem fünften Todestag erschienen die letzten Texte der Journalistin auf Deutsch. Sie offenbaren ein menschenverachtendes Regime geprägt von Willkür und Gewalt, das „System Putin“, der 2012 wieder Präsident werden will. Die Berichte Politkowskajas sind unbedingt lesenswert und auch für „Russlandkenner“ erschütternd. (sr)

Ai Weiwei Macht euch keine Illusionen über mich. Der verbotene Blog Galiani Verlag, Berlin 2011 ISBN: 978-3-86971-049-5 478 Seiten Preis: 19,99 Euro

Künstler, Architekt, Regimekritiker: Ai Weiwei ist seit seiner 81-tägigen Haft 2011 Chinas bekanntester Dissident. Dieser Band umfasst einen Teil der Einträge des Blogs, auf dem Ai von 2006 bis Mai 2009 täglich die Lage von Kunst und Politik in China kommentierte und so einen tiefen Einblick in das Leben eines furchtlosen Menschen gab. „Ich werde nicht kooperieren. Wenn ihr unbedingt kommen müsst, bringt eure Folterwerkzeuge mit“, endet sein Blog. (hs)

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Andreas Lorenz

Lorenz, langjähriger Spiegel-Korrespondent in China, beschreibt die rasante wirtschaftliche Entwicklung in Ostasien und ihre Schattenseiten wie die Zerstörung der Umwelt und wachsende soziale Ungleichheit. Er fordert die Staaten Europas auf, vor allem gegenüber der Volksrepublik China geschlossener als bisher aufzutreten und die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern. (rb)

Liao Yiwu

Für ein lied Und hUndert lieder Ein ZEugEnbEriCht aus ChinEsisChEn gEfängnissEn S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011 ISBN: 978-3-10-044813-2 544 Seiten Preis: 24,95 Euro Für sein aufrüttelndes Buch über vier Jahre in chinesischen Gefängnissen erhielt der Schriftsteller Liao Yiwu 2011 den GeschwisterScholl-Preis. 1990 wurde er für sein Gedicht „Massaker“ über das Blutbad auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 inhaftiert. 1994 in die Freiheit entlassen, beschrieb er die furchtbaren Zustände in den Haftanstalten. Sein Manuskript wurde 1995 konfisziert. So musste er das Buch noch einmal schreiben. (hs)


„Die Arbeit der Gesellschaft ist für mich in dieser Zeit des wachsenden Egoismus als Folge von Angst unter den Völkern wirkliche Liebesund damit Zukunftsarbeit. Wie Angst zu bekämpfen ist, können uns gerade die kleinen, ausgegrenzten, bedrohten Völker lehren.“ Bärbel Bohley Bürgerrechtlerin (1945-2010) München Paris (F) Hamburg Bovenden Isleworth (GB) London (GB) Wichita/Kansas (USA) Tating, Eiderstedt New York (USA) Überlingen, Bodensee

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