

Typographie für Aktivismus, aber wie und warum?
In ihrem erstmals 1932 veröffentlichten Essay „The Crystal Goblet, or Why Printing Should Be Invisible“ legt Beatrice Warde die Auffassung, dass Typografie, als Überbringer von Gedankengut und Ideen, diese Inhalte möglichst nicht beeinflussen darf, dar und prägt den Begriff der „invisible or transparent typography“, also den der unsichtbaren oder durchsichtigen Typografie, als ihre ideale Form. In dem Text betont sie, guten Typograf*innen wohne eine gewisse Bescheidenheit inne, nämlich die Bereitschaft, Selbstausdruck in ihrem typografischen Werk zu vermeiden, um stattdessen Arbeit in eine gute Lesbarkeit zu stecken, die das Aufnehmen des Inhalts erleichtern und nicht davon ablenken soll.
Um den Begriff Lesbarkeit zu klären, unterscheidet sie in dem im Englischen verfassten Essay zwischen „readability“ und „legibility“, vermeintliche Synonyme, denen sie jedoch unterschiedliche Bedeutungen zuweist und die man, in etwa, mit Lesbarkeit im Kontrast zu Erkennbarkeit übersetzen könnte. Gut erkennbar mag, im optischen Sinne, eine Schrift sein, die groß und serifenlos ist, allerdings unterstützt eine solche Schrift nicht unbedingt einen Lesefluss, durch den man einen etwas längeren Text bewältigen kann, wie es eine akribisch dazu ausgelegte Schrift tun würde. Warde zieht den Vergleich, dass man eine Person, die schreit, zwar besser hören könne, richtig zuhören und somit die übertragenen Inhalte ungetrübt aufnehmen, könne man aber eher einer guten Sprechstimme, die so unscheinbar ist, dass man sich nicht auf sie konzentriert. So soll es sich, laut Warde, auch mit guter Typografie verhalten, sie soll den Inhalt wie ein kristallklares Glas, wie ein „crystal goblet“, übertragen, möglichst transparent sein und sich dabei keinesfalls aufdrängen, denn sie hat die wichtige Aufgabe, menschliches Gedankengut schriftlich zu übermitteln.
Durch Schrift ist es möglich, mit Leuten über weite Entfernungen zu kommunizieren, Gedankengut für die Zukunft festzuhalten und an breite Massen zu verteilen.
Beatrice Warde beschreibt diese Möglichkeiten der Typografie beinahe ehrfürchtig:
Sie ermögliche uns, das, was fast allein für die evolutionäre Entwicklung des Menschen verantwortbar ist, zu empfangen, und zwar die Güter des menschlichen Verstandes. Dieses Inhalts erweist sich, laut Warde, nur die unsichtbare, transparente Typografie würdig. Diese Position vertritt sie nicht nur in Bezug auf die typografische Gestaltung von Büchern, sondern auch auf die von Werbung, obwohl besonders in diesem Bereich der Gebrauch von Display Fonts, dekorativere Schriftarten, die oftmals an Lesbarkeit einbüßen, naheliegend erscheint. Die Existenz dieser Schriftarten zeigt aber nicht unbedingt, wie Typedesigner*innen sich aus reiner Exzentrik und fehlender Rationalität im Gestaltungsprozess verlieren, sondern, dass Typografie eben nicht nur die eine Funktion hat, die Lesbarkeit eines Textes zu erhöhen. In erster Linie macht sie diesen Text überhaupt erst sichtbar. Ob es im Zuge dieses Prozesses angemessen ist, den Inhalt zu beeinflussen oder ihn möglichst neutral zu vermitteln, ist Situations- und Zweck-abhängig.
Typografie wird auf vielfältigste Weise angewandt, nicht nur für Bücher und nicht nur für die nüchterne Übertragung von Informationen unter Menschen. Es gibt neben satirischen Texten, Corporate Types und Postern viele weitere Anwendungsbeispiele, die von einer ausdrucksstarken Typografie profitieren. Auch sind nicht alle geschriebenen Inhalte mit derselben Ehrfurcht zu begegnen wie das Gedankengut, dem wir den Verlauf der menschlichen Evolution hauptsächlich zu verdanken haben, und doch haben viele
von ihnen eine Berechtigung, gedruckt zu werden. Wieso sollte Typografie ihren Inhalt nicht reflektieren oder sogar untermalen? Besonders, wenn Typografen auch Verfasser des Textes sind oder mit dessen Einverständnis ihren typografischen Beitrag zur Betonung einer Botschaft leisten möchten.
Typografie hat das Potenzial, zusätzlich zur Sichtbarmachung, einen Text in seiner Interessantheit und Lebhaftigkeit zu bestärken. Auch das kann das Leseerlebnis positiv beeinflussen, selbst wenn dabei womöglich seine Lesbarkeit vermindert wird. Beatrice Warde selbst beschreibt das Streben nach dem „crystal goblet“, eine Form der Typografie, die nicht kommuniziert, sondern nur wiedergibt, als äußerst mühselig und zeitaufwendig, möglicherweise endlos. Das mag daran liegen, dass eine solche Form der Typografie nicht möglich ist. Eine noch so unscheinbare Schriftart, der man wenig Beachtung schenkt, während man einen Text flüssig und unbeschwert durchliest, wird beeinflussen, wie man seinen Inhalt wahrnimmt. Vielleicht hält man ihn für nicht besonders anspruchsvoll, da einem das Lesen so leicht gefallen ist oder aber man schätzt den besonders verständlichen Schreibstil, ohne überhaupt auf die Idee zu kommen, dass die typografische Gestaltung in beiden Fällen ihren Anteil daran hat.
„Man kann nicht nicht kommunizieren.“, das berühmte (unter anderen) von Paul Watzlawick formulierte erste Axiom der Kommunikation gilt demnach auch für den typografischen Bereich.
Es ist nicht sonderlich überraschend, schließlich ist sie ein fundamentaler Teil der visuellen Kommunikation, aber: Typografie kann nicht nicht kommunizieren. Darum ist es wichtig, sich dessen bewusst zu sein und nach diesem Bewusstsein zu handeln, denn wenn man schon kommunizieren muss, dann lieber richtig. Der Einsatz von Typografie sollte natürlich trotzdem sowohl maßvoll und gut auf die jeweilige Situation abgestimmt sein, das bedeutet allerdings nicht, dass er unsichtbar werden muss. Zudem erreicht man diesen Grad der Angebrachtheit eher, indem man alle Wirkungsweisen der Typografie anerkennt.
Von einer Ausführung zum Thema Sprache und Realität des österreichischen Künstlers Peter Weibel ausgehend, lässt sich hierzu eine interessante Parallele spannen. Der Medien- und Konzeptkünstler hat in sechs gleichartigen Installationen, mithilfe von zu Buchstaben geformten Neonröhren, verschiedene Wörter zum Leuchten gebracht. Das Werk soll zeigen, wie einige Wörter aus unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch, andere bereits enthalten, und deutet an, dass es sich dabei nicht um Zufall handeln muss. So trägt beispielsweise das deutsche Wort Sprache die beiden Wörter Rache und Sache in sich. Die Installation „Sprache“ visualisiert das, indem die Neonröhre in der Form des Wortes Sprache leuchtet, bis in regelmäßigen Abständen die Buchstaben S und P ausfallen, sodass nur noch das Wort Rache aufleuchtet. Oder aber P und R erlöschen und stehen bleibt „Sache“. Unter weiteren Wörtern, die von dem Werk auf diese Weise
miteinander in Verbindung gesetzt werden, sind Patrioten mit Toten und Courage mit Rage. Es lässt offen, ob und wie genau sie sich zueinander verhalten, dass die Wörter allerdings mehr als nur ihre evidente Bedeutung in sich bergen, wird jedoch klar.
Peter Weibel erklärt dieses Phänomen damit, dass sich in der Sprache durch ihren Gebrauch jahrhundertelange Erfahrungen sedimentieren. Unsere Sprache wird in unserer Wirklichkeit gesprochen und dabei von ihr geformt. Durch ihre fortwährende Entwicklung trägt Sprache ein kollektives Modell der Wirklichkeit in sich, das all derer, die sie gebraucht und somit mitgeprägt haben. Die Beziehung von Sprache und Realität ist also nicht nur eine sehr enge, sondern darüber hinaus eine wechselseitige. Denn dieses in der Sprache abgelagerte gemeinschaftliche Weltbild hinterlässt natürlich seine Spuren auf unseren Gedanken, wenn wir diese verbal ausdrücken und beeinflusst dadurch wiederum unser eigenes Weltbild und den Umgang damit.
Wenn also Sprache − als Überbringerin unserer Gedanken − unsere Wirklichkeit sowohl formt als auch enthält, tut Typografie − als (grafische) Überbringerin unserer Sprache − das nicht auch? Sprache ist ein Kanal um Gedanken zu übermitteln und Typografie ist ein Kanal um Sprache zu übermitteln und beide Übertragungsmedien beeinflussen zwangsläufig, wie der zu übermittelnde Inhalt vom Empfänger aufgefasst wird. Also doch! Typografie kommuniziert, Typografie formt die
Realität, das lässt sich schwer ändern, doch sinnvoll nutzen. Nur wie? In den folgenden Kapiteln werden einige Beispiele für einen solchen Einsatz vorgestellt. Sie teilen sich das Überthema „Typographie und Aktivismus“, haben allerdings unterschiedlichste Zielsetzungen und Herangehensweisen an diese. Der Bereich des Aktivismus ist natürlich nicht der einzige, in dem eine sinnvolle Nutzung geschehen kann, aber womöglich der eindrucksvollste, um die Möglichkeiten von kommunikativer und realitätsformender Typographie aufzuzeigen.
Aktivismus leitet sich von dem lateinischen Wort activus ab, das tätig bedeutet und beschreibt Handlungsformen, die gesellschaftlichen Wandel anstreben und bewirken. Oft ist Aktivismus eine Reaktion auf ungerechte bestehende Verhältnisse und kann als Gegenpol zum Attentismus, dem passiven Hinnehmen oder opportunistischem Abwarten gesehen werden.
Von der Tätigkeit der Politiker*innen unterscheidet sich Aktivismus hauptsächlich durch seine Handlungsweisen, wie beispielsweise die Organisation von und Teilhabe an Demonstrationen, Kundgebungen oder Öffentlichkeitsarbeit, die nicht über den formellen politischen Prozess vonstattengehen und zivilen Ungehorsam, bzw. Illegalität nicht ausschließen. Schließen sich Aktivist*innen organisiert zusammen, so können sie ganze soziale Bewegungen bilden.
ACTYPEISM
ACTYPEISM
Typografie ist die visuelle Gestaltung von Druckerzeugnissen oder digitalen Medien nach funktionalen und ästhetischen Kriterien. Die Gestaltung der Feinheiten eines Schriftsatzes nennt sich Mikrotypografie, der Begriff Makrotypografie hingegen bezeichnet die Gesamtgestaltung einer Druck- oder Webseite. In Europa entstand Typografie mit der Erfindung des Buchdrucks in der Frührenaissance, doch die Fähigkeiten und Zuständigkeiten von Typograf*innen haben sich seitdem aufgrund von kulturellen und technologischen Entwicklungen stark verändert. Typografie ist nicht gleich Schrift, man unterscheidet sie beispielsweise von Handschrift und Kalligrafie.
Climate Crisis Font Seite
12 – 19
Eine Schrift, die schmilzt wie unser Polareis.
Die Schrift, um über die Dringlichkeit der Klimakrise zu schreiben.
„Type to Act“ lautet das Motto dieses Projekts, das im Januar 2021 von Helsingin Sanomat, einer der wichtigsten Zeitungen des nordischen Raums, veröffentlicht wurde. Es handelt sich dabei um eine OpenType Variable Font, die den klimabedingten Rückgang des arktischen Meereises seit 1979 visualisiert. Jeder kann sie kostenlos herunterladen und benutzen, erwünschter Weise, um über den Klimawandel und dessen unterschiedliche Auswirkungen zu sprechen. Sie ist in beinahe allen Sprachen anwendbar, die das lateinische Alphabet verwenden und die Entwicklung einer kyrillischen Version ist bereits im Gespräch.
Die Besonderheit der Climate Crisis Font liegt darin, dass ihre unterschiedlichen Schriftstärken jeweils Jahreszahlen von 1979 bis 2050 zugeteilt werden können und auf Daten zum Bestand des Meereises in der Arktis beruhen. Die klobigste Schriftstärke ist die des Jahres 1979, ihre Silhouette ist scharfkantig wie ein Eisblock. In diesem Jahr begann die Beobachtung des Eises mithilfe von Satellitenaufnahmen. Seitdem hat eine deutliche Abnahme des Meereises stattgefunden, die sich besonders in den letzten Jahren noch verstärkt hat.
Auch die Schrift scheint zu schmelzen, die scharfen Kanten versinken, an einigen Stellen werden Buchstaben dünner, während so mancher Querstrich mit den Jahren, bzw. mit Veränderung der Schriftstärke, gänzlich verschwindet. Von 1979 bis 2019 gehen die Schriftstärken auf Daten des NSIDC (National Snow and Ice Data Center) zurück,
während die darauf folgenden, bis 2050 reichenden, auf Vorhersagen des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change der UN) basieren. Die Einarbeitung dieser Daten zeichnet sich bei der Climate Crisis Font durch eine extrem hohe Genauigkeit aus, und so ist sogar ein geringer Zuwachs an Eis um das Jahr 2000 erkennbar. Besonders ab 2010 wird die Verringerung der Schriftstärke drastischer, und die fast ganz verschwundene 2050-Variation lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit, um endlich zu handeln, jetzt ist.
Der Climate Crisis Font gelingt es, den Klimawandel, der ein langwieriger und abstrakter Prozess ist, greifbarer für den menschlichen Verstand zu machen.
Die Erderwärmung und ihre Konsequenzen waren schon lange vor dem Beginn des Projekts im Jahr 2019 bekannt, die Klimakrise ist schon lange „Old News“, wie Daniel Coull, ein beteiligter Typedesigner, es ausdrückt. Die Climate Crisis Font soll genau an diesem Punkt ansetzen, in dem sie eine neue Form, das Thema darzustellen, mit sich bringt. Sie ist ein Werkzeug, um wieder frische Aufmerksamkeit auf die dringliche Situation zu lenken, die so omnipräsent und unangenehm ist, dass man sich absurderweise an sie gewöhnt.
Das Projekt stellt eine Gegenmaßnahme zu typischen Verdrängungsmechanismen gegenüber einer unangenehmen Wahrheit dar. Es will aufrütteln und fordert mit dem Motto „Type to Act“ nicht nur Worte, sondern auch Taten. Dass es sich dabei nicht um einen klassischen Fall von
opportunistischem Greenwashing handelt, lässt sich vermuten, da Helsingin Sanomat laut Coull bereits seit den 1970ern häufig über den Klimawandel berichtet. Außerdem ermutigt die Zeitung im Zuge der freien Zurverfügungstellung, die Font im Sinne des Klima-Aktivismus zu verwenden.

Anwendungsbeispiel der Climate Crisis Font, Poster von Helisingin Sanomat
abc def ghij klm nop

Ich möchte kein
Eisbär sein im warmen Polar

Dann müsste ich immer schrein das
Eis ist nicht mehrda
Vocal Type Foundry Seite 22 – 27
Wie mit Typografie Stimmen verliehen und Geschichten erzählt werden können
Marsha, Tatsuro, Garibaldi, viele Schriftfamilien, die die Vocal Type Foundry hervorgebracht hat, sind nach politischen Figuren oder Gruppierungen benannt, die einen Beitrag zu einer freieren Welt mit mehr Gleichberechtigung geleistet haben. So nimmt Marsha Bezug auf Marsha P. Johnson, eine der wichtigsten Aktivist*innen des Stonewall-Aufstandes 1963, und ist von dem vertikalen Ladenschild des Stonewall Inns inspiriert.
Währenddessen geht Garibaldi namentlich auf die gleichnamigen antifaschistischen Brigaden zurück und ist visuell auf Analysen von typografischen Produkten aus Italien zurückzuführen, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs im Zuge des Widerstands gegen den Faschismus produziert und verteilt wurden. Auf der Website von Vocal Type werden zu jeder Schriftfamilie Zusammenfassungen zu ihren kulturellen und historischen Hintergründen, die auch die Basis der Gestaltung der Typefaces sind, zur Verfügung gestellt. Dadurch trägt jede von ihnen Kultur in sich und ist von der Geschichte, die sie erzählt, untrennbar.
Die Vocal Type Foundry wurde im Jahr 2016 von dem Designer Tré Seals tatsächlich aus Langweile begründet. Aber keineswegs die Art von Langeweile, die einen Dinge tun lässt, weil man nichts Besseres zu tun hat, sondern die, die einen ergreift, wenn einem alles monoton und repetitiv erscheint. Die Art von Langeweile, die einen dazu antreibt, eben das zu ändern. Sie kam in ihm auf, als er nach Inspirationsquellen für sein nächstes Projekt suchte und brachte ihn sogar so weit, seine Berufswahl zu hinterfragen. Als ihm kurz darauf demografische Daten über die Designbranche in den USA unterkamen, begann er zu vermuten, woran das liegen könnte, denn die US-amerikanische DesignWelt ist sehr einseitig geprägt. Eine überragende Mehrheit aller Designer*innen in den USA sind weiß (Stand 2023 > 70 %) und eine etwas weniger überragende Mehrheit von ihnen ist männlich (Stand 2023 > 56 %).
Die Unterrepräsentation ohnehin schon diskriminierter Gruppen ist in vielen Branchen ein Problem, häufiger angesprochen wird das im Falle der Politik oder der Filmbranche, weil in diesen Bereichen Personen besonders im Vordergrund stehen. Im Bereich Design äußert sich dieses Phänomen allerdings auch problematisch, beispielsweise indem es nicht nur dazu führt, dass sich viele Leute davon oft nicht miteinbezogen fühlen können, wie Tré Seals erklärt, sondern auch dadurch, dass Ideen immer mehr oder weniger aus der gleichen Perspektive entstehen. Ein allerletzter Anstoß, der die Gründung von Vocal Type mitverursacht hat, war der 2016 erschienene Artikel „Black Designers: Still Missing in Action“ von Cheryl D. Holmes-Miller, der unter anderem dazu aufruft, dieser Unverhältnismäßigkeit ein Ende zu setzen. Das Problem will der interdisziplinäre Designer an der Wurzel packen, indem er bei der fundamentalsten Disziplin des Designs ansetzt, und zwar der Typografie.
Jedes der Typefaces wirft Licht auf ein Stück Geschichte von einer unterrepräsentierten Gruppe und kann darüber hinaus genutzt werden, um besonders eindrücklich weiterzuerzählen. So kann das Projekt Menschen dazu verhelfen, „vocal“ zu werden, beziehungsweise ihre Stimme zu finden oder zu erheben. Die Vocal Type Foundry ist sowohl ein Instrument zur Bildung und zur Verbreitung von nicht oder unzureichend thematisierter Geschichte, als auch eine wirksame Maßnahme zur Diversifizierung der noch immer übermäßig homogenen Design-Landschaft.
BAYARD
ist ein sans-serif Typeface, das von Protest-Plakaten des historischen Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit inspiriert ist. Diese Demonstration forderte das Ende von rassistischer Diskriminierung in den USA und stellt mit 200 000 Teilnehmer*innen und als Anlass für Kings berühmte Rede „I have a Dream” einen historischen Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung dar. Benannt ist die Schriftfamilie nach Bayard Rustin, dem Bürgerrechtsaktivisten und Hauptorganisator des Marsches auf Washington 1963. Eher im Hintergrund der Bewegung und dennoch als treibende Kraft agierte er mit umfassenden Kenntnissen zum gewaltfreien Widerstand und einem bemerkenswerten Organisationstalent.

Marsch auf Washington für Arbeit und Freiheit, 1963
VTC BAYARD
kleinbuchstaben
a b c d e
f g h i j k
l m n o p q r s t u
v w x y z
satzzeichen
If we desire a society of peace, then we cannot achieve such a society through violence. If we desire a society without discrimination, then we must not discriminate against anyone in the process of building this society. If we desire a society that is democratic, then democracy must become a means as well as an end.
Bayard Rustin
Gr0ssbuchstaben
ABCDE FGHIJK LMNOP QRSTU VWXYZ
zahlen
012 3456 789
ZXX
Seite 30 – 43
Wer das liest ist
Mensch
Zumindest mit einer hohen Wahrscheinlichkeit. ZXX ist nicht nur der Name dieser Typeface, sondern auch ein Code für „kein sprachlicher Inhalt / nicht zutreffend“. Der Name ist treffend, denn in diesem typografischen Projekt wird Lesbarkeit nicht nur eingebüßt, um einem anderen Zweck gerecht zu werden, sie ist sogar der Zweck. Allerdings gilt diese Verschlüsselung nicht menschlichen Lesern, sondern OCR-Programmen und künstlicher Intelligenz.
Im Mai 2012 wurde ZXX von Sang Mun, einem ehemaligen Angestellten der NSA, veröffentlicht, der damit Stellung zu seinen beruflichen Erfahrungen mit dem Einsatz von Überwachungsmaßnahmen nimmt. Im Juni 2013, damals war die Enthüllung des NSA-Skandals durch Edward Snowden eine Aktualität, schreibt er in dem Artikel „Making Democracy Legible: A Defiant Typeface“, neben dem Projekt, über die Problematik, dass die Fähigkeiten der Signal Intelligence, die für die nationale Sicherheit
und Verteidigungszwecke gedacht seien, trotzdessen von der NSA missbraucht worden seien, um eine Massenüberwachung der Zivilgesellschaft einzufädeln. Auch schreibt er, dass er als Designer von jenen Erfahrungen geprägt sei und sich nun Themen wie Zensur, Überwachung und der Möglichkeit einer freien Gesellschaft widme.
Die Typeface umfasst zwei (in diesem Kontext) reguläre Fonts, genannt Sans und Bold, die von OCR-Programmen problemlos gelesen werden können. OCR steht für „optical character recognition“, englisch für optische Zeichenerkennung und ist eine Technologie, die es beispielsweise ermöglicht, gescannten oder fotografierten Text in eine durchsuchbare Datei umzuwandeln. Die vier zusätzlichen Fonts namens Camo, False, Noise und Xed sollen das verhindern, indem sie textliche Inhalte für solche Programme unkenntlich machen, während Menschen sie noch lesen können. Um einen Text auf den ZXX angewendet ist, gezielt auf bestimmte Begriffe zu durchsuchen, müsste ein Mensch ihn also selbst vollständig lesen oder abtippen, bevor er ihn mit technologischer Hilfe durchsucht. Das erschwert diesen Prozess um einiges, besonders, wenn man dieses Szenario auf eine enorme Masse an Daten, die durchsucht werden müssen, anwendet. Die vier Fonts, die zur Verschlüsselung dienen, tun dies alle auf eine andere Weise und sind dabei unterschiedlich effektiv. Die effektivste Kodierung erzielt man durch eine kombinierte Anwendung der Fonts auf einen Text.
CamoCamo entworfen, um
das
Skelett der Schrift mithilfe organischer
Formen zu verschleiern,
Tarnungsmechanismus von Tieren und Pflanzen inspiriert
entworfen,
um das
Skelett der Schrift mithilfe organischer Formen zu verschleiern, Tarnungsmechanismus von Tieren und Pflanzen inspiriert
False False jedes Zeichen zeigt eigentlich zwei, eins gross und eins klein, sie wurden
jedes Zeichen zeigt eigentlich zwei, eins gross und eins klein, sie wurden
kreuzweise vertauscht, also nach dem Schema (a
= z, 0 = 9), um
den Text zu lesen, nur die kleinen Zeichen beachten
kreuzweise
vertauscht, also
nach dem Schema (a = z, 0 = 9), um den Text zu lesen, nur die kleinen Zeichen beachten
Noise Noise
verursacht durch Rauscheffekt Störungen bei der Zeichenerkennung, bei jedem Zeichen wurde der Grad des Rauschens individuell festgelegt, möglichst gering, waehrend sie unerkennbar bleiben
verursacht durch Rauscheffekt Störungen bei der Zeichenerkennung, bei jedem Zeichen wurde der Grad des Rauschens individuell festgelegt, möglichst gering, waehrend sie unerkennbar bleiben
XedXed
obwohl der grösste Störeffekt entsteht (getestet an PDF OCR X) gut lesbar, durch das x werden alle vier Ecken aktiviert und was die Erkennbarkeit für OCR-Programme auf subtile Weise enorm verringert
obwohl der grösste Störeffekt entsteht (getestet an PDF OCR X) gut lesbar, durch das x werden alle vier Ecken aktiviert, was die Erkennbarkeit für OCR-Programme auf subtile Weise enorm verringert
Die effektivste Kodierung erzielt eine kombinierte Anwendung der Fonts auf einen Text.
Sang Mun stellte ZXX in der Hoffnung, dass es sich möglichst viele Leute zunutze machen, kostenlos downloadbar allen zur freien Verfügung. Seine Typeface soll von Whistleblower*innen, Aktivist*innen, gewöhnlichen Internetnutzer*innen, beziehungsweise von allen, die ihre Gedanken und Worte frei und ohne jegliche Kontrolle und Überwachung äußern wollen, genutzt werden können. Schützen soll sie dabei vor autokratischen „Prädatoren“, wie der Designer sie betitelt, die Regierungen oder Konzerne sein können.
Als zureichende Lösung für die Überwachungsproblematik sieht Sang Mun ZXX nicht, sondern eher als praktischen und symbolischen Aufruf zum Handeln, als Instrument einerseits um Fragen zum Schutz von Privatsphäre aufzuwerfen, andererseits um diesbezüglich zu sensibilisieren.
Zudem werden die Rolle von Designer*innen sowie das Potenzial von Typografie betrefflich dieser Thematik hinterfragt.
Allgemeine
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net/publication/326405616_Letters_against_letters_Typogra phy_as_a_means_for_Design_Activism
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Vocal Type Foundry
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Bildquellen
S. 17
Helsingin Sanomat Press Kit
S. 18 – 19
Lautaro, A. (2016, 14. Juni). Unsplash. https://unsplash.com/de/fotos/ SH_oYiwg224
S. 25
Library of Congress (2019, 17. Dezember). Unsplash. https://unsplash.com/de/fotos/WzPxmB_tRlw
Texte und Layout von Maxie Lenz
ACTYPEISM − Wie und warum
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