marx21 Ausgabe Nummer 30 / 2013

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So verwundert es kaum mehr, dass die mit ökonomischen Interessen behaftete »Bild« mit ihren vom sozialen Ausschluss bedrohten Lesern ein erfolgreiches Bündnis schmieden und eine Kampagne der pauschalen Denunziation aller ALG-IIBezieher aufziehen konnte. Was der Politik wiederum durchaus gelegen kam, denn so wurde von dem durch das Bundesverfassungsgericht diagnostizierten Hauptproblem – den völlig willkürlich bemessenen Regelsätzen – geschickt abgelenkt. Stattdessen entwickelte sich die

Debatte in die pauschal diskriminierende Richtung mit der Frage, ob der Regelsatz denn überhaupt einen Anteil für Alkohol und Tabak enthalten solle. Folgerichtig strich die Bundesregierung Ende 2010 im Zuge einer Erhöhung des Eckregelsatzes um nur fünf Euro diesen Posten und ersetzte ihn durch einen Anteil für Mineralwasser. Ein entwürdigender Vorgang, der auch innerhalb des sich im derzeitigen Bundestagswahlkampf scheinheilig sozial gebenden rot-grünen Lagers für keinerlei Empörung sorgte: Der Staat unterstellt Menschen im Hartz-IV-Bezug seitdem offiziell nicht nur in bester »Bild«-Manier, sie würden den ganzen Tag faul saufend und rauchend auf dem Sofa sitzen, sondern er schreibt ihnen obendrein vor, was sie konsumieren dürfen und was nicht. Und »Bild« hat einmal mehr erfolgreich Meinung gemacht. Es bedarf sicher keiner allzu großen seherischen Fähigkeiten, um zu erkennen, dass dieses »Dreckblatt, das so widerlich ist, dass man jeden toten Fisch beleidigt, den man darin einwickelt« (Volker Pispers) sich auch weiterhin als Steigbügelhalter politischer Entscheidungen präsentieren wird, welche die wirtschaftlichen Interessen des Springer-Konzerns bedienen. Will heißen: Wenn die große Koalition aus CDU/ CSU, FDP, SPD und Grünen in einer Agenda 2020 bald erneut zum Schlag gegen die Arbeiterklasse ausholen sollte, wird der Widerstand einen langen Atem brauchen, um gegen die immense politische und mediale Macht ankämpfen zu können. ■ ★ ★★ Christian Baron ist freier Journalist und Soziologe. Er lebt in Erfurt und promoviert gegenwärtig an der Universität Trier zum Thema »Der neue Klassismus. Eine kritische Analyse des massenmedialen Sozialstaatsdiskurses in Deutschland«.

DAS BUCH Christian Baron / Britta Steinwachs: Faul, frech, dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILDLeser*innen (Edition Assemblage 2012).

KULTUR

öffentlich finanzierter Daseinsvorsorge galten – etwa Rentner, nicht erwerbstätige Elternteile oder Niedriglöhner, die ihr karges Einkommen mit Hartz IV aufstocken müssen. Die Herstellung von Sozialstaatlichkeit wird auf die eigenverantwortlichen Individuen abgewälzt, während immer mehr Menschen den Rückzug des Staates aus dieser Verantwortung als legitim betrachten. Außerdem ist ein Fall wie der Arno Dübels inmitten eines sozialen Klimas, in dem jeder jeden permanent nach dem Kriterium seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit bewertet, auch eine willkommene Gelegenheit, sich selbst sozial aufzuwerten. Der Aktivierungsdruck wird als naturgegeben akzeptiert, und man selbst entgeht durch die aggressive Abgrenzung zu Aktivierungsverweigerern der Gefahr, klassistisch diskriminiert zu werden. Zusätzlich zum jeder Klassengesellschaft immanenten Klassismus wird diese Diskriminierungsform also paradoxerweise im Alltag vonseiten der Betroffenen selbst seit der Etablierung von Hartz IV verstärkend zur Abgrenzung »nach unten« eingesetzt, um nicht selbst Opfer des klasseninternen Klassismus zu werden. Die von »Bild« verbreitete Diskriminierung Erwerbsloser durch Lohnabhängige anhand des Extremfalls Arno Dübel speist sich damit neben der veränderten Architektur des Sozialstaats vor allem aus der individuellen Angst vor Anerkennungsentzug. Damit die eigene Identität inmitten der omnipräsenten Angst vor dem sogenannten sozialen Abstieg verkraftbar bleibt, müssen die angestauten Frustrationen sich entladen. Erst durch diese Finte wirkt der Klassismus systemstabilisierend, denn er macht sich die wichtigste Quelle des menschlichen Strebens zur Waffe: das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Achtung, nach sozialer Anerkennung und Liebe.

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