marx21 Magazin Nr. 31 / Preview

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Magdeburg, Halle, Merseburg, Bitterfeld, Wolfen, Leipzig, Dresden und Görlitz bildeten diese Zentren. In vier Städten (Halle, Merseburg, Bitterfeld und Görlitz) hatten überbetriebliche Streikräte und Volkskomitees bereits die Macht übernommen. Hinsichtlich der Streik- und Aufstandsbeteiligung unterschieden sich die alten Hochburgen von KPD oder SPD nicht. Die Bewegung des 17. Juni war nicht nur eine Streikbewegung für wirtschaftliche und soziale Ziele, sie war ein politischer Massenstreik, der sich zu einem regulären Aufstand auswuchs, welcher zur Erstürmung von Gefängnissen, MfS-Einrichtungen, Partei- und FDJ-Gebäuden und Rathäusern führte. Sowohl zeitlich als auch räumlich war der Aufstand breiter als dies vor der Öffnung der DDR-Archive in der wissenschaftlichen Literatur bekannt war: Am 17. Juni selbst streikten knapp 500.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Trotz des noch am selben Tag verhängten Ausnahmezustands und der militärischen Besetzung der Städte und Großbetriebe sowie der Verhaftung von Streikleitungen dehnte sich der Ausstand am 18. Juni weiter aus. Nur unter Androhung von Erschießungen und militärisch durchgesetzter Aussperrungen konnte die Streikbewegung in den Zentren bis zum 19. Juni gebrochen werden, während sie in etlichen Betrieben noch bis zum 22. Juni anhielt. Nach letztem Forschungsstand haben zwischen dem 12. und 22. Juni rund eine Million Menschen in 702 Städten und Gemeinden an Streiks, Demonstrationen oder der Erstürmung von Gebäuden teilgenommen. Sechzig Haftorte wurden gestürmt und 1400 Häftlinge befreit. Allein durch diese Zahlen wird schon deutlich, dass in jeder Gesellschaft, in der die Arbeiterklasse die Mehrheit der Gesellschaft bildet, eine umfassende proletarische Erhebung immer auch den Charakter eines Volksaufstandes besitzt.

Diese veröffentlichten und unbestrittenen Fakten kontrastieren jedoch mit einer lange nur von westdeutschen Konservativen, seit dem 50. Jahrestag 2003 jedoch in der akademischen Zunft weithin gängigen Interpretation des Aufstandes, in der das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse relativiert wird. In den Massenmedien ist diese Praxis ohnehin üblich. Unter dem Eindruck der Größe der Teilnehmerzahlen, der Anzahl der Ortschaften und im Detail bekannt gewordener Beteiligung von nichtproletarischen Schichten hat sich nunmehr auch bei Historikern der Begriff »Volksaufstand« mit der Konnotation eines »nationalen Volksaufstandes« anstelle des jahrzehntelang gepflegten Begriffs »Arbeiteraufstand« durchgesetzt. Die gesellschaftspolitische Implikation dieser Begriffsverschiebung ist leicht durchschaubar und läuft darauf hinaus, die Arbeiterklasse und ihre spezifischen Interessen begrifflich zu tilgen und die Rolle anderer sozialer Schichten aufzuwerten. Damit verbindet sich auch die unschwer erkennbare Absicht, die Ziele und Forderungen des Aufstands in sozialökonomischer Hinsicht im Sinne einer prokapitalistischen Restauration zugunsten des Adenauer-Staates umzudeuten. Die Diskussion über den politischen und sozialen Charakter des 17. Juni ist eng mit der von Baring entwickelten »Stufentheorie« verbunden, welche besagt, dass der in den Betrieben zunächst gut organisierte Streik der Belegschaften gegen die Normenerhöhung und für betriebliche und soziale Ziele später, während der Straßendemonstrationen, der Kontrolle der Streikleitungen entglitt und in einen allgemeinen, unkontrollierten Aufstand für freie Wahlen und Wiedervereinigung überging. Jetzt erst habe sich der Aufstand in einen politischen verwandelt, der sich auch in Randale, Gewalt und Zerstörungen entlud. Die »Stufentheorie« wird in etwas anderer Weise auch von jenen benutzt, die aktuell wieder mit der alten stalinistischen These aufwarten, die berechtigte soziale Unzufriedenheit der Arbeiter sei erst durch die Intervention des Westens, vor allem der Rundfunkanstalt RIAS, in eine gesteuerte politische Konterrevolution umgeschlagen. Beiden Interpretationen ist gemeinsam, dass sie den politischen Aufstand gegen die SED-Diktatur als restaurativ und pro-kapitalistisch identifizieren. Der Versuch, den »Arbeiteraufstand« in einem »allgemeinen Volksaufstand« aufzulösen, wird unter anderem damit begründet, dass sich den demonstrierenden Arbeitern die Angestellten der am Rande des Zuges gelegenen Geschäfte angeschlossen hätten, ebenso Hausfrauen und Jugendliche. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sowohl die Hausfrauen als auch die Jugendlichen vor allem die Angehörige der marschierenden Arbeiter waren. Und

GESCHICHTE

D

er Aufstand des 17. Juni 1953 wurde vor allem durch die Industriearbeiterschaft in den Zentren der alten Arbeiterbewegung Mitteldeutschlands geprägt. Die Großbetriebe waren der Ausgangspunkt, der Motor und das Zentrum der Ereignisse. Im Gegensatz zu den medial vermittelten Bildern, die von den Reichweiten westlicher Kameras beeinflusst waren, ging zwar von Berlin die Initialzündung aus, doch hatte der Aufstand seine Höhepunkte und radikalsten Entwicklungen im mitteldeutschen Industriegebiet sowie in Ostsachsen. Diese Deutung belegen die DDR-Akten, die seit 1990 zugänglich sind. Sie bestätigen und bereichern das Gesamtbild des 17. Juni, das die Journalisten Klaus Harpprecht und Klaus Bölling schon 1954 in »Der Aufstand« sehr anschaulich beschrieben und das der Historiker Arnulf Baring 1957 innerhalb der akademischen Zunft zuerst analysiert hatte.

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