MFK - Magazin für Kultur Ausgabe 03/2011 - Lügen

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ding. Es zerrinnt zwischen den Fingern, passt seine Form dem Auge der betrachtenden Person an. Es geht nicht darum, dieses wabernde Etwas festzunageln. Also stelle ich die Frage nach seiner Funktion und lande immer wieder bei einem Begriff: Vertrauen. Wir verlangen nach der Wahrheit und akzeptieren Lüge(n) aus genau denselben Gründen: um uns sicher fühlen zu können.

vergessen es auch noch. Fein dosierte, konstant gehaltene Unwahrheit nährt unsere Apathie. Wir gehen davon aus, dass wir angelogen werden. Die einen wenden sich vollständig ab von der Politik und blenden aus, dass diese sehr wohl etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Die anderen wenden sich jenen zu, die die für sie angenehmsten Lügen erzählen.

I love the way you lie

Bedingungslos ehrlich.

Alles für das Gefühl der Sicherheit. Hier wird es aber gefährlich: denn genau damit rechtfertigt sich die Politik, wenn sie den Wählerinnen und Wählern wichtige Informationen vorenthält. Oder schlicht A sagt, wenn eigentlich B zutrifft. Das hat erschreckend geringe Konsequenzen. Nicht nur rechtlich – auch die Empörung derjenigen, die belogen worden sind, obwohl sie sich doch – sollte man meinen – darauf verlassen können sollten, dass man ehrlich zu ihnen ist, bleibt viel zu oft aus. Wir sind an die Lüge gewöhnt. Wir wollen die Wahrheit meist gar nicht hören. Sogar wenn man ehrlich zu uns ist, bewirkt das nichts: Riesengroß steht auf Zigarettenpackungen, welchen Schaden die Glimmstängel anrichten. Aber glauben wollen wir auch das nicht mehr. Oder vielleicht ist es wie in dieser Geschichte, in der jemand so oft fälschlicherweise vor dem Wolf gewarnt hat, dass am Ende, als der tatsächlich kommt um die Schafe zu reißen, keiner mehr glaubt, dass es nun ernst ist. Obwohl heutzutage alles in irgendeiner Form in einem virtuellen Datenfriedhof archiviert bleibt, leidet das kollektive Gedächtnis an akuter Demenz. Wir lassen uns nicht nur belügen, wir

Wenn die Welt da draußen also ein Pfuhl aus Unehrlichkeit und Hinterhalten ist – muss dann ein Plädoyer für die Ehrlichkeit im Privaten folgen? Die Zweierbeziehung als letzter Hort der Wahrheit? Es darf gelacht werden. Dass dieses Konzept an sich auf wackeligen Beinen steht, wussten die Lassie Singers schon vor zwanzig Jahren („Die Pärchenlüge“) (2). Und auch Samba bringen es sehr deutlich auf den Punkt: „Liebe lügt, macht sie das Maul auf.“ (3) Es geht vielleicht auch gar nicht darum: Wem kann ich glauben? Sondern vielmehr: Was will ich mir vormachen (lassen)? Welche Lügen brauche ich, um mein Vertrauen in meiner Welt stabil halten zu können? Und was bin ich bereit, durch Nicht-Erzählen und Darüber-Hinwegsehen so zurecht zu biegen, dass das Vertrauen in meine(r) Beziehung nicht leidet und es trotzdem noch mit meinem eigenen Anspruch an Ehrlichkeit vereinbar ist? Und kann es Lügen geben, die es einfach wert sind? Es gibt so viele Abstufungen der Wahrheit, dass es schwierig ist festzustellen, wo Lüge beginnt. Die Abwesenheit von Lüge bedeutet noch lange nicht Ehrlichkeit. Lügen ist ein Thema wie eine Discokugel: mit vielen Facetten und wenig Schwarz und Weiß.

1 „The Mercy Seat“ – Nick Cave | 2 „Die Lassie Singers helfen dir“, 1991 | 3 „Liebe lügt“ auf dem Album „Zuckerkick“, 1996 4 Oder das, was wir dafür halten. | 5 „Der Dummschwätzer“/“Liar, Liar“


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