2 minute read

Das Vorurteil

Ich ging voraus, den Fussball unter dem Arm. Es war noch früh. Samstagmorgen. Das halbe Quartier schlief noch, aber unsere beiden Löwen wollten so schnell wie möglich zum Schulhausplatz, Tore schiessen. Ich freute mich. Hinter mir fachsimpelten die beiden, hechelten Spieler durch, spielten Torszenen aus der Erinnerung nach und kickten Steinchen vor sich her. Dann schepperte es. Als ich mich umdrehte, wollte der jüngere Löwe die Bierdose gerade aufheben, die er offenbar in einer Rabatte entdeckt und aufs Trottoire gefreistosst hatte. «Tooor!» Schrie er. «Stoooppp!» Schrie ich. «Nicht anfassen!» Natürlich war meine Reaktion völlig übertrieben. Aber ich dachte an den scharfen Alu-Rand der Trinköffnung und sah schon ein blutendes Fingerchen vor mir. «Das ist Abfall», sagte ich und dachte für einen kurzen Moment, das Thema sei damit abgeschlossen. «Und der gehört in den Abfalleimer» sagten die Löwen im Chor. Touché! Ich gebe zu, ich hätte die Dose liegenlassen. Verklebt vom Bier, bespränkelt mit Zigarettenasche, vermutlich war sie ausgetrunken und dann als Aschenbecher benutzt worden, vielleicht kreuchte auch schon irgendwelches Getier darin herum, es ekelte mich, sie anzufassen. Es war früh am Morgen, ich war im Gipfeli- und Weggli-Modus, nur schon der Biergeruch war zu viel für mich. Aber gut. Wo die Löwen recht hatten, hatten sie recht. «Ganz genau», sagte ich und nahm die Bierdose auf, «ich mach das.» Der nächste Abfalleimer ist ja sicher nicht weit, dachte ich. Und tatsächlich. Weiter vorne sah ich schon einen. Nur noch ein paar Meter, dann würde ich das Ding entsorgen können. Ich war erleichtert. Und in dem Moment bog das Auto in die Strasse ein. Ein blauer Volvo. Ich sehe es noch vor mir. Das Auto kommt näher. Schritt-Tempo. Eher langsamer.

Die Frau am Steuer sieht mich und die Buben, sieht den Ball unter meinem Arm, sieht die Bierdose in meiner Hand, und beim Vorbeifahren schüttelt sie nur so den Kopf. Genau. Schüttelt den Kopf, und jetzt kommt’s: «Tubel!» Sie sagt tatsächlich «Tubel». Und zwar dreimal hintereinander, während sie vorbeifährt. Ich lese es nicht nur von ihren Lippen, ich höre es laut und deutlich durch das halb geöffnete Fenster, «Tubel, Tubel, Tubel!» Und schüttelt den Kopf. Bravo, dachte ich. Super. Die hat sich jetzt ihr Bild von mir gemacht.

Advertisement

Den ganzen Morgen über fühlte ich mich irgendwie unfair behandelt. Klar konnte es mir Schnuppe sein, was irgendwelche im Schneckentempo fahrende, aber zu schnell urteilende Moralapostel von mir dachten. Klar. Aber als ich ein paar Tage später den blauen Volvo vor dem Dorfladen geparkt sah, konnte ich nicht anders. Ich wollte die Sache richtig stellen. Als die Frau mit den Einkäufen aus dem Laden kam, fragte ich ohne zu zögern und sehr direkt, ob sie sich an mich erinnere, sie sei letzthin fluchend an mir vorbeigefahren. Tubel habe sie gesagt. Tubel, Tubel, Tubel. Sofort wurde sie rot. Ja, sagte sie, sie sei sehr aufgebracht gewesen. «Habe ich so laut geflucht? Entschuldigung. Das ist mir peinlich.» Sie sei kurz vorher auf der Hauptstrasse geblitzt worden, das habe ihr den Gong gegeben. «Da fährst du frühmorgens in die Stadt, um noch einen dieser 20% heruntergesetzten Laserdrucker zu ergattern, und auf dem Heimweg blitzt es dir den gesparten Betrag gerade wieder oben drauf.» Ich sah sie an. «Dann haben sie also nicht wegen dem Bier geflucht und den Kopf geschüttelt?» Sie verstand nicht recht. «Bier?» fragte sie, «welches Bier? Ich trinke nur Wein.»