RUHR-FAMILIEN
RUHR-FAMILIEN
— August Thyssen am Eingang seines Schlosses. Im Vergleich zur herrischen
Die Thyssens
Pose des hochaufgeschossenen Alfred Krupp wirkt der kleine Mann harmlos. Der Eindruck täuscht.
Stahlfamilie mit Hang zum Adel Die Thyssens waren späte Zuwanderer aus Eschweiler bei Aachen. Dort war die Familie seit Generationen gutbürgerlich verwurzelt. Erst 1867 kam August Thyssen ins Ruhrgebiet. Sein Vater war technischer Leiter einer Drahtfabrik in Eschweiler gewesen und hatte sich dann mit einem Bankgeschäft selbstständig gemacht. Genau diese Kombination aus technischem und ökonomischem Wissen wählte auch August Thyssen bei seiner Ausbildung, ehe er für kurze Zeit ins väterliche Geschäft einstieg und bald darauf mit 25 Jahren nach Duisburg kam. Dort hatten die wallonischen Industriellen Bicheroux ein Bandeisenwalzwerk gegründet. In diese Familie hatte August Thyssens Schwester Balbina eingeheiratet, und so erhielt der junge August die Chance, mit 8000 Talern vom Vater in das Unternehmen einzusteigen und die kaufmännische Leitung zu übernehmen. Er muss das gut gemacht haben, denn die Firma florierte. Doch Thyssen wollte nach vier Jahren mehr unternehmerische Freiheit. Er investierte sein ansehnlich vermehrtes Firmenkapital und einen gleich hohen Beitrag von seinem Vater in ein eigenes Unternehmen, diesmal in Styrum (heute Mülheim). Am 2. Oktober 1871 begann das Bandeisenwalzwerk „Thyssen & Co.“ mit der Produktion. Das war die Keimzelle des späteren Stahlriesen Thyssen.
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Seit fast zehn Jahren gehören die beiden Familiennamen zusammen wie Castrop und Rauxel: ThyssenKrupp, schriftbildlich so eng beieinander, dass auch nicht das dünnste Blech dazwischenpasst. Als Familie waren die Thyssens, im Vergleich mit den Krupps, an der Ruhr kaum verwurzelt. Ihre aktive Heiratspolitik nach Art der Habsburger zielte nur kurz aufs Mülheimer Bürgertum – und dann auf den europäischen Adel. Das sprichwörtliche Glück der Österreicher hatten sie dabei insgesamt eher nicht.
Als Vater Thyssen gestorben war, trat 1877 August Thyssens jüngerer Bruder Joseph als Mitinhaber ein. Er kümmerte sich vorwiegend um die internen Abläufe, während August Thyssen die Firma nach außen vertrat und bald zügig erweiterte. Die beiden Brüder scheinen ein seltenes Beispiel familiär-unternehmerischer
Eintracht gewesen zu sein. Der Umstand, dass ihre Schreibtische in einem Raum beieinander standen, gilt in der Unternehmenschronik als Beweis für ihre Vertrautheit. Die Zusammenarbeit endete erst 1915, als Joseph Thyssen auf dem Werksgelände verunglückte und an den Verletzungen starb.
— August (links) und Joseph Thyssen arbeiteten brüderlich zusammen.
In die Zeit der brüderlichen Unternehmensleitung fällt die gewaltige Expansion der Firma Thyssen & Co. Unter mehreren Bergwerken, Kalksteinbrüchen und Roheisenproduzenten, die Thyssen zur Versorgung seines Unternehmens kaufte, war die Gewerkschaft „Deutscher Kaiser“ in Hamborn der dickste Fisch. Was Thyssen an der Zeche besonders reizte, waren ihre Gleisanbindungen und ein eigener Rheinhafen. Nach und nach kaufte er das wenig ergiebige Gelände über den Grubenfeldern auf und errichtete dort ein gewaltiges Stahl- und Walzwerk, das bis heute den Kern des Stahlunternehmens ThyssenKrupp bildet.
| Der kleine Stahlbaron Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs Thyssen zu einem führenden Stahlproduzenten und Bergwerksunternehmen heran – im Vergleich zum Nachbarn Krupp ein blitzartiges Wachstum. Der Name Thyssen war binnen 30 Jahren zu einem Synonym für die Schwerindustrie an der Ruhr geworden, nicht aber so berühmt oder berüchtigt wie Krupp. Denn Thyssen lieferte zwar rüstungstauglichen Stahl, produzierte aber selbst keine Waffen. Den Ruhm eines Kanonenkönigs machte der kleine Stahlbaron August Thyssen (er maß 1,56 Meter) seinen Konkurrenten Alfred und Friedrich Alfred Krupp nicht streitig. Weniger Glück als mit der Firmenexpansion hatten die
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