Studentenbeilage "Viadrina 2019/2020" ab 14,10,2019

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SONDERVERÖFFENTLICHUNG 14. OKTOBER 2019 FRA|EIH|BEE|FUE|ERK

VIADRINA

Start ins neue Studienjahr

Linkes Foto: Anna Lalla, die Europäische Kulturgeschichte studiert, befragte den Ex-Halbleiterwerker Frank Golz. Rechts: Die Soziologin Susann Worschech leitet das Seminar „Oder Florida“ zur Transformation in Ostdeutschland. Fotos: Heide Fest

Diskutieren Sie mit!

Öffentliche Debatten zum Jubiläum der Wende Zu zwei öffentlichen Diskussionen rund

um die Themen 30 Jahre Wende, Wiedervereinigung und Wahlergebnisse lädt die Viadrina im nun beginnenden Wintersemester ein. Mit dabei sind prominente Gäste aus Wissenschaft und Politik, die mit Ihnen, liebe Leser, auch über Ihre Erfahrungen diskutieren wollen: Am 22. Oktober, 18 Uhr ist Professor Raj

Kollmorgen, einer der prominentesten Sozialwissenschaftler zu Fragen rund um Wende- und Nachwendeerfahrungen, zu Gast. Unter dem Titel: „Wie ‚anders‘ ist der Osten? Über ostdeutsche Identität(en) und rechte Wahlergebnisse“ diskutiert der Wissenschaftler von der Hochschule Zittau/Görlitz mit der Staatssekretärin im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Juliane Seifert, und dem in Frankfurt (Oder) geborenen ZEIT Online-Autoren Christian Bangel. Interessierte sind herzlich eingeladen in den Logensaal der Viadrina, Logenstraße 11-12. Der Eintritt ist frei. Am 5. November, 18.30 Uhr steht das

Thema „30 Jahre Umbruch in Ostdeutschland“ im Mittelpunkt. Ab 18.30 Uhr versuchen Martin Patzelt (CDU-Abgeordneter im Deutschen Bundestag und ehemaliger Oberbürgermeister von Frankfurt(Oder)), der ehemalige Viadrina-Professor und Wende-Experte Prof. Dr. Detlef Pollack (Universität Münster) und Viadrina-Politikwissenschaftler Prof. Dr. Timm Beichelt eine Bilanz des Mauerfalls und der Wendeereignisse zu ziehen. Auch diese Veranstaltung im Senatssaal im Hauptgebäude der Viadrina, Große Scharrnstraße 59, Raum 109, ist öffentlich.

30 Jahre nach dem Mauer-Fall

Oder Florida

Studierende der Europa-Universität erkunden das Frankfurt der 1990er Jahre. Eine von ihnen entdeckt die Geschichten der Halbleiterwerker. Von Nancy Waldmann

S

ie sei kein „richtiger Ossi“ mehr, aber ihre Familie und die Nachwende-Zeit habe sie geprägt. Anna Lalla ist 1989 in Thüringen geboren. Deswegen berühren sie ostdeutsche Themen und deswegen war ihr Antrieb im vergangenen Sommersemester ein Seminar mit dem Titel „Oder Florida – die unabgeschlossene Transformation in Ostdeutschland“ zu besuchen auch ein emotionaler. „Ich wollte mir das mal aus akademischer Distanz anschauen“, sagt die junge Frau, die im Master Europäische Kulturgeschichte studiert. So wie Anna Lalla ging es vielen Studierenden, die das Seminar der Soziologin Susann Worschech und des Online-Autoren der wochenzeitung „Die Zeit“, Christian Bangel, ansprach. Eine Aufgabe in der ersten Seminarsitzung lautete: Stellen sie sich nach Herkunft auf. Ergebnis: Bis auf zwei kommen alle aus dem Osten. Nicht nur das, von den 20 Teilnehmern wohnen mehr als die Hälfte in Frankfurt – an der Pendler-Uni etwas Besonderes. „Es gibt große Neugier auf die Stadt, auch bei denen, die nicht in Frankfurt wohnen“, sagt Dozentin Susann Worschech.

Erst Lektüre, dann selber forschen Seminare zu DDR-Geschichte gab es schon einige an der Viadrina. Aber eins, das die Transformation untersucht, auch die Nachwende-Erfahrungen der Frankfurter? Nicht nur Lektüre und Referate standen im Plan, sondern auch selber vor Ort forschen und Interviews führen. Den

Ausschlag dafür gab nicht nur das runde Jubiläum des Mauerfalls, sondern die Tatsache, dass es mit Christian Bangels „Oder Florida“ nun einen Roman gibt, der eine Erzählung, Bilder und Prototypen der Transformationszeit liefert und eine Verbindung zur Stadt herstellt. Das Buch weckt bei Studierenden Interesse für die Stadt und ihre jüngste Geschichte und es verknüpft Soziologie mit Literatur. Während im Seminar wissenschaftliche Texte zur Treuhand und Sozialstudien zu Ostdeutschen gewälzt wurden, schlug man zwischendurch Ausschnitte aus „Oder Florida“ auf und überlegte, welcher Romanfigur die historischen Protagonisten im Ostdeutschland der 90er entsprechen könnten. Anna Lalla wohnt in Berlin, allein der Arbeit wegen, sagt sie, und ihre Arbeitsgruppe im Seminar befasste sich mit ökonomischer Transformation. Ihre Kollegin recherchierte zu Schicksalen von Betrieben, die von der Frankfurter Treuhandanstalt verkauft wurden. Bei Lalla sollte es sich um die Biografien der Halbleiterwerker drehen. „Ich will keine großen Thesen aufstellen, sondern erzählerisch herangehen“, sagt sie. Über das Projekt der Bürgerbühne vor zwei Jahren, bei dem ehemalige Halbleiterwerker auf der Bühne standen, fand Lalla zum Thema. Sammelte alte Bilder, Informationen und Zeitungsartikel zum Werk, stellte sie in einer Collage zusammen. Dann postete sie Aufrufe in Frankfurter Facebookgruppen wie „Stadtgeflüster“. „Fünf Leute haben sich gemeldet“, erzählt sie. Einer davon war Frank Golz, mit ihm hat das Treffen gleich geklappt. Der

61-Jährige bestellte sie in eine Bäckerei in der Magistrale, erzählte ihr seinen beruflichen Werdegang, der damit begann, dass ihm das Abitur verwehrt wurde. Durch eine spezielle Ausbildung im Halbleiterwerk und später mit einer Art duales Studium hatte er sich dennoch Mitte der 80er Jahre bis zum Ingenieur hochgearbeitet.

„Es gibt große Neugier auf die Stadt, auch bei denen, die nicht in Frankfurt wohnen.“

Noch vor der Kündigung selbständig Nach Feierabend verdiente er sich Geld mit Malern dazu. Es gab aber – bekanntlich – nicht allzuviel Gelegenheit, um es auszugeben. Noch bevor er 1991 im Halbleiterwerk gekündigt wurde, hatte er bereits einen Plan geschmiedet, investierte in eine teure Ausbildung zum Versicherungsmakler und machte sich selbstständig, mit Erfolg. „War die Wende ein Bruch in Ihrer Biografie?“, wollte Anna Lalla wissen. Golz antwortete: „Bruch schon, weil ich vom Angestellten zum Selbstständigen wurde. Aber das war nicht so gravierend. Ich bin nicht der Typ, der sagt: ‚Ach, warum immer ich?‘. Ich gucke eben nach vorne, suche neue Gegebenheiten, neue Chancen.“ Heute ist Golz Unternehmensberater. Seine Geschichte zu erzählen, war für ihn nichts Besonderes. Andere dürften ihn auch gern einordnen und kategorisieren, meint Golz. „Eine Mikrogeschichte jenseits des Klischees vom Jammerossi“, so beschreibt es Anna Lalla. Golz war erst der Anfang. Sie will noch weitere Halbleiterwerker erzählen lassen und ihre Geschichten festhalten. Auch ganz andere als die Erfolgsstory von Frank Golz.


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