

Nr. 260 (3/2023)
Schwangerschaft und Geburt
auĂerdem: Leben mit persönlicher Assistenzâą Soziale Psychiatrie in der ElfenbeinkĂŒsteâą Rauchfreies Neuseeland
â vertiefte Einblicke in ein Schwerpunktthema
â Spannendes aus allen Bereichen des Gesundheitswesens
â Praxis- und Fachwissen fĂŒr alle Interessierten
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Nr. 259 (2/2023)
NĂ€he und Distanz
auĂerdem: Triage-
Konzept: Koalition hat versagt âą Studienprojekt zur Kunsttherapie âą Therapeutischer Einsatz von Psychedelika
Nr. 258 (1/2023)
Sucht | Cannabis
auĂerdem: Armut und Demenz â was wissen wir? âą Erinnerung an Viktor E. Frankl âą MissstĂ€nde, Probleme und Gewalterfahrungen. Berichte aus Pflegeheimen
Nr. 257 (4/2022)
Sterben, Tod, Trauer
auĂerdem: Diskussion um Achtsamkeit âą Zwei Jahre mit COVID-19 âą Krankenpflege im SĂŒdsudan âą Kommentar zur Pflegekammer
Nr. 256 (3/2022)
Ausbildung & Studium
auĂerdem: Altenpflege in Schieflage âą Eigentumsstrukturen im ambulanten Bereich âą KomplementĂ€re Methoden bei Krebserkrankungen
Bezugsbedingungen fĂŒr unsere Abos: Dr. med. Mabuse erscheint viermal im Jahr (47 Euro/Jahr). Die Jahres- und SchĂŒler:innen-/Student:innen-Abos (29 Euro) verlĂ€ngern sich um ein Jahr, falls sie nicht spĂ€testens sechs Wochen nach Erhalt der vierten Ausgabe im Rechnungszeitraum gekĂŒndigt werden. Geschenkabos (39 Euro) laufen automatisch aus FĂŒr das SchĂŒler:innen-/Student:innen-Abo ist bei Abschluss des Abos ein entsprechender Nachweis vorzulegen. FĂŒr den Versand ins Ausland fallen Portokosten in Höhe von 6 Euro pro Jahr an.
die Frage nach dem Sinn in unserem Leben ist auch eine Frage nach Bedeutung: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist unser Daseinszweck? Wir ordnen uns und unser Leben damit in einen gröĂeren Kontext ein und begeben uns auf die Suche nach unserem Platz. Diesen können wir nicht alleine finden, sondern nur im Austausch und der Begegnung mit anderen. DafĂŒr benötigen wir die FĂ€higkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Gedanken und Motive unseres GegenĂŒbers zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Grundlage dafĂŒr ist unsere Selbstwahrnehmung, sie macht uns zu empathischen Wesen.
Von der Suche nach Sinnstiftendem und gelingender empathischer Begegnung berichten die Autor:innen im Schwerpunkt dieser Ausgabe. Sie erzĂ€hlen vom Sinn ihrer beruflichen TĂ€tigkeit und ihrem ehrenamtlichen Engagement im Gesundheitswesen. Wie sich Angehörigenpflege bereichernd gestalten lĂ€sst, welche Bedeutung dem souverĂ€nen Umgang mit Emotionen und pseudoempathischen Reaktionen im Pflegealltag zukommen, erfahren Sie ebenfalls in SchwerpunktbeitrĂ€gen. Zwei Essays zum Sinn im Unsinn und zur Frage, weshalb KohĂ€renz motivierend wirkt und wie sie durch Kooperation entstehen kann, nĂ€hern sich dem Thema philosophisch. DarĂŒber hinaus werden die Fragen beantwortet, wie MitgefĂŒhl beim Thema Sterben und Tod gelingt und wie SelbstmitgefĂŒhl und Achtsamkeitstraining zu mehr Resilienz verhelfen können.
Auch auĂerhalb des Schwerpunkts finden sich wieder viele spannende und vielseitige BeitrĂ€ge. Kommentare befassen sich mit dem Scheitern des Gesetzentwurfs zum assistierten Suizid sowie dem geplanten Pandemievertrag. Ein Tagungsbericht beleuchtet die âGesundheitskompetenz in Krisenzeitenâ. Auch die Besprechung des Praxisratgebers âPsychopharmaka reduzieren und absetzenâ und die Vorstellung von Katja Baumgartens neuem Film âGretas Geburtâ greifen Kontroversen auf. Neben Berichten ĂŒber die Entwicklung der Bayerischen Autismus-Strategie und der Palliativmedizin in Deutschland, zeigt eine Literaturanalyse, wie das Tageshospiz in Zukunft weiter gestĂ€rkt werden kann. Michael Wunder berichtet von der Lage sozial ausgegrenzter Menschen in RumĂ€nien und Hartmut Berger gibt aktuelle Einblicke in die Situation der neuen Klinik im ukrainischen IwanoFrankiwsk. Am Beispiel des arzneimittelbezogenen Entlassmanagements erlĂ€utert Udo Puteanus Verbesserungsmöglichkeiten der kommunalen Gesundheitsversorgung. Heiter geht es zu in den BeitrĂ€gen von Alfred Kirchmayr, Hans Gunia und Egbert Griebeling, die Alfred Adlers Individualpsychologie sowie das heilsame Potenzial von Tangotanzen und Lachyoga vorstellen.
Wir wĂŒnschen Ihnen einen inspirierenden Herbst, herzliche GrĂŒĂe aus der Redaktion!
18.â22.
Alle Mabuse-Leser:innen, Autor:innen undFreund:innen sind herzlich eingeladen, uns in Halle 3.1, H61 zu besuchen!
auf der Frankfurter
13 Der Mabuse-Verlag erhÀlt den Deutschen Verlagspreis 2023
14 Zu komplex fĂŒr ein Gesetz?
Zum Scheitern der gesetzlichen Regelung des assistierten Suizids
Heiner Melching
18 Gesundheitskompetenz in Krisenzeiten
Bericht von der Gemeinsamen Jahrestagung der DGSMP, des DNGK und des NAP| Eva Maria Bitzer, Gwendolyn Schmitt, Andreas Seidler, Ulla Walter
57 Prinzip Ermutigung und soziales Engagement
Alfred Adlers Individualpsychologie
Alfred Kirchmayr
61 40 Jahre Palliativmedizin in Deutschland
Eine Erfolgsgeschichte
Barbara Damm, Julia Strupp, Raymond Voltz
66 Kein Feelgood-Movie
Katja Baumgartens Film Gretas
Geburt | Gerit Sonntag
Kunst und Kultur:
68 Tango in der Psychotherapie?
SelbstverstÀndlich! | Hans Gunia
73 Endlich absetzen!
Bemerkungen zum Buch
âPsychopharmaka reduzieren und absetzenâ| Peter Lehmann
Gesundheit global:
77 Never Ending Story?
Zur Situation sozial ausgegrenzter Menschen in RumÀnien
Michael Wunder
81 Formulare schaffen kein Recht
Partizipation wĂ€re auch fĂŒr ein internationales Pandemieabkommen ein wichtiger Baustein
Oliver Tolmein
83 Auf kommunalem Weg die Versorgung verbessern
Das arzneimittelbezogene Entlassmanagement als Beispiel
Udo Puteanus
86 Opfer des Krieges versorgen
Eine erste Bilanz der neuen Klinik in Iwano-Frankiwsk| Hartmut Berger
Foto:
Die
22 Mit der Arbeit Gutes tun Menschen aus dem Gesundheitsund Sozialwesen berichten ĂŒber den Sinn ihrer Arbeit
27 StabilitĂ€t bei âjedem Wetterâ
Zum Sinn von SelbstmitgefĂŒhl
Andreas Knuf
30 Helfen ohne Empathie?
Die TĂŒcken pseudo-empathischer Reaktionen | Ludwig Thiry
33 Akzeptanz herstellen
Zum Sinn von MitgefĂŒhl in existenziellen Krisen| Marion Schenk
36 Im Leid verbunden Sinnhaftigkeit in der Angehörigenpflege| Nicole Lindner
39 Vom Sinn im Unsinn
Zur EinĂŒbung einer liebenden Aufmerksamkeit
Thomas Holtbernd
43 âDie Sinnfrage stellt sich bei der Arbeit jedenfalls nicht ...â Freiwilliges Engagement in Hospizdiensten| Stefan Hof
46 Auf der Suche nach dem motivierenden Sinn Folgen unsere AktivitĂ€ten einer ĂŒbergeordneten KohĂ€renzmotivation?
Theodor Dierk Petzold
49 FĂŒhlen oder funktionieren?
Oder: Wie Empathie (nicht mehr) mĂŒde macht| Ursula Immenschuh
52 Achtsamkeit und Resilienz Erfahrungsbericht aus dem Training mit pÀdagogischen FachkrÀften
Christiane Kreis, Winfried KĂŒmmel
55 Sinn und Empathie BĂŒcher zum Weiterlesen
Eine Wissensgeschichte der modernen Medizin, 1900â1960
Diabetes mellitus gilt seit vielen Jahren als eine der hĂ€ufigsten Volkskrankheiten in der westlichen Welt. SchĂ€tzungen zufolge sind allein in Deutschland 6,7 Millionen Menschen davon betroffen. Den Schrecken anderer Krankheiten hat Diabetes, insbesondere Typ II, lĂ€ngst verloren â ist doch gemeinhin bekannt, dass durch eine gewisse Disziplin in der ErnĂ€hrung und der Therapie ein ânormalesâ Leben möglich ist. Smarte Medizintechnik macht die Kontrolle der Krankheit zunehmend einfacher.
Oliver Falk tritt mit seiner wissenschaftshistorisch angelegten Dissertation an, einige gĂ€ngige Annahmen der bisherigen Diabetesgeschichtsschreibung zu hinterfragen und damit auch fĂŒr die allgemeine Medizingeschichte neue Perspektivierungen vorzunehmen. DafĂŒr begibt er sich auf die Suche nach den UrsprĂŒngen des Umgangs mit dieser Krankheit und konzentriert sich dabei auf das âSpannungsverhĂ€ltnis zwischen therapeutischer ErmĂ€chtigung und Ă€rztlicher Kontrolleâ (S. 14).
Nach der Einleitung und der Vorstellung des methodischen und theoretischen Ansatzes zeichnet Falk zunĂ€chst die Entwicklung von Diabetes als Krankheitskonzept nach. Anfangs als seltene Stoffwechselerkrankung wahrgenommen, entwickelte sie sich ab der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts zur viel beschworenen Volkskrankheit. UrsĂ€chlich hierfĂŒr ist der sog. epidemiologische Ăbergang, womit in der Forschung das Ablösen von Infektionskrankheiten durch Zivilisationskrankheiten als hĂ€ufigste MorbiditĂ€ts- und MortalitĂ€tsfaktoren beschrieben wird. Im nĂ€chsten Kapitel werden die verĂ€nderten Problemlagen im Umgang mit Diabetes durch die EinfĂŒhrung der Insulintherapie nĂ€her beschrieben. In den beiden anschlieĂenden Teilen fragt Falk dann nach der therapeutischen Praxis und deren tatsĂ€chlicher Umsetzung, also dem âtherapeutischen Alltagâ.
Der aktive und eigenverantwortliche Patient ist â so die Meinung der bisherigen medizinhistorischen Forschungen â eine Figur, die verstĂ€rkt erst ab den 1970er-Jahren in Erscheinung tritt. Falk hinterfragt
dieses gĂ€ngige Narrativ und kann anhand der Analyse einer Vielzahl von publizierten fachmedizinischen BeitrĂ€gen aufzeigen, dass bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fĂŒhrende Diabetes-Experten einen mĂŒndigen, eigenverantwortlich und selbsthandelnden Patienten fĂŒr wĂŒnschenswert hielten und fĂŒr gute Therapieerfolge auch einforderten. Mit dieser zentralen Erkenntnis wird gleich ein weiteres gĂ€ngiges Narrativ in Frage gestellt: Im Falle von Diabetes kommt es nicht zu einer klassischen SelbstermĂ€chtigung, wie sie fĂŒr die 1970er-Jahre vielfach beschrieben wurde, sondern diese wurde gezielt von der Ărzteschaft forciert. Nichtsdestotrotz sollte die Kontrolle und damit die Deutungshoheit ĂŒber die Krankheit bei den Ărztinnen und Ărzten bleiben. AuĂerdem zeigt sich, dass der Durchbruch des Insulins als Wirkstoff zwar ein wichtiger Faktor innerhalb dieser Entwicklung war, die VerĂ€nderungsprozesse hin zu einem aktiven Patienten jedoch bereits vorher begannen und damit âbekannte Muster hygienischer Selbstregulierungsideen des 18. und 19. Jahrhundertsâ (S. 272) lediglich reaktiviert wurden.
Diese Erkenntnisse greift Falk auf, um die bisherigen Formen der Patientengeschichtsschreibung zu hinterfragen. Er wendet sich von der Patientengeschichte als einer âGeschichte von untenâ ab und konstruiert den Patienten als eine âWissensquelleâ. Demnach fĂŒhrt das Krankheitshandeln des Patienten zu Erkenntnisgewinnen, die wiederum von der Medizin fruchtbringend in neuen Therapiekonzepten umgesetzt werden können.
Insgesamt betrachtet ist Oliver Falks Studie nicht nur glĂ€nzend geschrieben, sondern auch inhaltlich und methodisch fĂŒr die neuere Medizingeschichte ein groĂer Gewinn, da sie eindrĂŒcklich aufzeigt, welche neuen Erkenntnisse die Verbindung von verschiedenen Forschungsrichtungen und Denktraditionen hervorzubringen vermag.
Pierre PfĂŒtsch, StuttgartAnnĂ€herungen an ein GrundphĂ€nomen menschlicher Existenz
Vertrauen, ein existenzielles menschliches GrundbedĂŒrfnis, prĂ€gt das Miteinander und so auch die Beziehung zwischen Patient:innen, Ărzt:innen, Pflegenden und weiteren Gesundheitsberufen. Der Medizinethiker Giovanni Maio versammelt in diesem Band 13 BeitrĂ€ge aus zumeist nichtmedizinischen Disziplinen âvorallem der Philosophie, aber auch der Psychologie, Soziologie, PĂ€dagogik und Rechtswissenschaft â, um das PhĂ€nomen Vertrauen in seiner Vielschichtigkeit zu beleuchten.
Die Quintessenz der interdisziplinĂ€ren Betrachtungen: Vertrauen ist unverfĂŒgbar. Man kann es nicht âmachenâ, aber man kann fĂŒr sein Entstehen auf zwei Ebenen förderliche Bedingungen schaffen: der gesellschaftlich/strukturellen und der individuellen. Neben gesellschaftlichen Bedingungen fĂŒr eine Vertrauensentwicklung von Geburt an (denn hier wird das Potenzial eines Menschen fĂŒr die Entwicklung von Vertrauen ĂŒberhaupt angelegt), gilt es, im Gesundheitssystem vertrauensförderliche Strukturen zu schaffen. Dazu gehört, in der beruflichen Rolle so handeln zu können, dass das Wohl der Patient:innen immer und ohne Kompromisse an erster Stelle steht. â[A]llein schon die Relativierung des Wohls des Patienten und der Abgleich mit dem finanziellen Wohl des Klinikums [wĂ€re] schon ein Verrat an den Interessen des Patientenâ (S.123), so Maio. Denn Vertrauen in der Patient-Arzt-Beziehung hat durch die hohe Verletzlichkeit der Patient:innen âmit der Gewissheit der restlosen Unkorrumpierbarkeit des anderen zu tunâ (S.118, Maio). Aufgrund des Systemdrucks ist es stete Herausforderung fĂŒr die im Gesundheitswesen TĂ€tigen, sich dieses Vertrauens von Seiten der Patient:innen als wĂŒrdig zu erweisen. Hier braucht es auf individueller Ebene mehr denn je persönliche Reife und die Bereitschaft, Vertrauen zu schenken und anzunehmen.
Dieser Sammelband ist kein Praxisbuch. Er hĂ€tte gewonnen durch ein Kapitel ĂŒber den Entstehungskontext (6. Freiburger Symposium zu Grundfragen des Menschseins in der Medizin 2022), einen
roten Faden durch die BeitrĂ€ge sowie ein abschlieĂendes, die Erkenntnisse zusammenfĂŒhrendes Kapitel. Durch den breiten Ansatz entsteht ein komplexes Bild des PhĂ€nomens Vertrauen, ein vertieftes VerstĂ€ndnis seiner Bedeutung fĂŒr menschliche Beziehungen im Allgemeinen sowie die Beziehungen zwischen Patient:innen und Ărzt:innen im Besonderen. Die LektĂŒre erfordert, trotz guter Lesbarkeit, Bereitschaft zu tieferer Auseinandersetzung mit nichtmedizinischen Denktraditionen. Es ist ein Appell, sich trotz oder gerade wegen der sich aufdrĂ€ngenden Krisen im Gesundheitswesen diesem existenziellen Thema zu widmen. Denn ohne vertrauensvolle Basis, auf individueller wie struktureller Ebene, drohen die restlichen BemĂŒhungen ins Leere zu laufen.
Vera Kalitzkus, Ethnologin und wiss. Mitarbeiterin am Inst. f. Allgemeinmedizin am UniversitĂ€tsklinikum DĂŒsseldorf
eine wertefundierte Neuausrichtung die Gemeinwohlidee in der Praxis nachhaltig zu verankern. Die âGemeinwohlmatrixâ beinhaltet die Ausrichtung der Unternehmenspraxis an folgenden Werten: MenschenwĂŒrde, SolidaritĂ€t / Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und Transparenz / Mitentscheidung. Die Umsetzung die ser Werte wird von der Ebene der Lieferanten ĂŒber die Mitarbeiter bis hin zum gesellschaftlichen Umfeld konkretisiert; ihre Einhaltung muss durch ein externes Begutachtungsverfahren nachgewiesen werden. Die auf diese Weise ermittelten âGemeinwohlbilanzenâ beziehen sich auf sehr unterschiedliche Institutionen, etwa Bildungseinrichtungen, Kommunen oder Einzelunternehmen bzw. Genossenschaften im Bereich der Landwirtschaft, des Handels sowie der Gesundheit.
Das Gesundheitswesen, u.a. Arztpraxen, Krankenkassen und Apotheken, ist in den letzten Jahren zunehmend in den Blick der Gemeinwohldebatte geraten, die vor allem in dem Gemeinwohlökonomie-Arbeitskreis âGesundheitâ intensiv gefĂŒhrt wird. Ăber die vorliegenden Erfahrungen, die an die Tradition der medizinkritischen Diskussionen der 1970er-Jahre anknĂŒpfen, berichtet dieses Buch.
Thomas Rosenthal & Bernd Fittkau (Hg.)Eine zukunftsweisende Perspektive
Neben dem Mainstream eines neoklassisch orientierten marktliberalen Ăkonomiediskurses haben sich in den letzten Jahren einige Alternativen entwickelt, die auch fĂŒr das Gesundheitswesen interessant sind. Sie tragen sehr unterschiedliche Namen und firmieren unter Begriffen wie âFundamentalökonomieâ, âDonut-Ăkonomieâ, âalltĂ€glicher Kommunismusâ und âsolidarischer Care-Ăkonomieâ. Die âGemeinwohlökonomieâ wĂŒrde ich in diese Debatten einordnen. Sie vertritt dabei keine grundlegend systemkritische Variante, sondern versucht ĂŒber
Am Beginn stehen GrundlagenbeitrĂ€ge von Helmut JanĂen-Orth und Ellis Huber, in denen in die Gemeinwohlökonomie eingefĂŒhrt wird. Dabei wird auch das Proprium einer âgesunden Marktwirtschaftâ, nĂ€mlich nicht der finanzielle Gewinn, sondern die soziale Verantwortung des Medizin- und Gesundheitssystems, in den Vordergrund gerĂŒckt. Anhand der Grundlagen der von Christian Felber entwickelten Alternative zur Mainstream-Ăkonomie wird deutlich, dass unser Gesundheitswesen traditionell nicht individualistisch ausgerichtet ist, sondern â der Begriff mag altertĂŒmlich und auch âmissbrauchtâ vorkommen â bereits immer schon an der Volksgesundheit orientiert war.
Diese grundlegenden Hinweise werden durch die folgenden EinzelbeitrĂ€ge von Bernd Fittkau, Joachim Galuska, Peggy Heer und Thomas Rosenthal sowie Christine Klar, Nikolaus Mezger und Marlene Thöne weiter vertieft. Das Spektrum reicht von der Betonung einer neuen Werteperspektive fĂŒr die Gesundheitsberufe ĂŒber Buurtzorg, einem aus den Niederlanden stammenden Reformansatz fĂŒr das ambulante Pflegesystem, bis hin zur ökologischen Nachhaltigkeit in Arztpraxen. Denn
es darf nicht verkannt werden, dass â neben der Industrie, dem Verkehr und den privaten Haushalten, auch der Gesundheitssektor signifikant an der Erhöhung der Emissionen beteiligt ist. Der Hinweis auf die jĂ€hrlich anfallenden etwa 250 000 Tonnen teils giftiger und gefĂ€hrlicher AbfĂ€lle aus dem Gesundheitssektor ist an dieser Stelle nur beispielhaft gedacht.
FĂŒr die Leserschaft von besonderem Interesse dĂŒrften die sogenannte âPraxisberichteâ sein, die sich auch auf Genossenschaftsprojekte beziehen. Den Beginn machen Maximilian Begovic und Christine Winkelmair, die ĂŒber die BKK Pro Vita informieren, die u.a. Veranstaltungen zur Nachhaltigkeit von Arzneimittelprodukten durchfĂŒhrt. Interessant sind auch die AusfĂŒhrungen zur Gemeinwohlbilanzierung der Apotheken von Annegret und Albrecht Binder sowie Anja Thijsen. Hier wird erkennbar, dass durch Gemeinwohlorientierung in den Betrieben eine andere Kultur entstehen kann. Eine Bestandsaufnahme zur Gemeinwohlökonomie in einer Arztpraxis wird von Andreas Neubauer vorgestellt. Dabei wird in mehreren âBerĂŒhrungspunktenâ (von Lieferanten bis zum gesellschaftlichen Umfeld) ausgefĂŒhrt, worin der Mehrwert einer Gemeinwohlpraxis liegt. Er liegt in der ethischen Verantwortung (gegenĂŒber Mitarbeitern und Kunden), der nachhaltigen Mittelverwendung, der Gestaltung von VertrĂ€gen und Verdienstmöglichkeiten bei der Mitarbeiterschaft sowie in den BeitrĂ€gen zum Gemeinwesen insgesamt. Man sieht, dass Ă€rztliches Handeln nicht als profitables GeschĂ€ftsmodell verengt werden muss, sondern sich als ein Feld etablieren kann, welches seiner sozialen Verantwortung gerecht wird. Dieser Befund wird auch durch einen Bericht aus einer Zahnarztpraxis vertieft, der von Matthias Eigenbrodt verfasst wurde. Er berichtet ĂŒber die erste Zahnarztpraxis, die in Deutschland nach den Prinzipien der Gemeinwohlökonomie arbeitet. Wer weiĂ, wie undurchschaubar sich mittlerweile fĂŒr Patienten die Zuzahlungspraxis im Medizinsystem, auch bei den ZahnĂ€rzten, gestaltet, der wird die AusfĂŒhrungen zu einer âehrlichen Preispolitikâ mit groĂer Aufmerksamt lesen.
Das Buch schlieĂt ab mit drei Praxisberichten aus Genossenschaftsmodellen. Hier geht es nicht nur um neue Varianten der Vertretung wirtschaftlicher und berufspolitischer Interessen einzelner Pro-
fessionen. Man fragt sich auch, ob diese RechtsformĂ€nderungen (und die mit ihnen verbundene Praxis) eine positive Auswirkung auf die Sicherung der Versorgungslage insgesamt haben, u.a. auch im lĂ€ndlichen Bereich. Ebenfalls stellt sich die Herausforderung, ob ein bundesweit bekannt gewordenes Modell, wie die Seniorengenossenschaft in Riedlingen, nicht auch stĂ€rker flĂ€chendeckend verankert werden könnte. Aber das sind Fragen, die durch vertiefende weitere Studien geklĂ€rt werden mĂŒssen.
Der Publikation ist eine weite Verbreitung zu wĂŒnschen. Das Themenfeld wird aus verschiedenen Perspektiven differenziert beleuchtet. Damit wird ein AnstoĂ dazu gegeben, dass das Thema der Gemeinwohlökonomie breiter diskutiert, im Gesundheitswesen stĂ€rker rezipiert und eine Reformdiskussion munitioniert wird. Das ist ein wesentlicher Verdienst dieser Publikation. Allerdings können Erfahrungsberichte der Protagonist:innen der ersten Stunde nur der Auftakt sein. Im Rahmen der Förderprojekte des Gemeinsamen Bundesausschusses und des damit verbundenen âInnovationsfondsâ muss es darum gehen, auch gemeinwohlorientierte Projekte zu analysieren. In jedem Fall sind mit dieser wichtigen Publikation sowohl die theoretisch-wissenschaftliche Debatte (um Alternativen zur Mainstream-Ăkonomie) wie die Diskussion im Hinblick auf Chancen und Grenzen der engagierten Praxisprojekte eröffnet.
Univ.-Prof. Dr. Hermann Brandenburg, Vincenz Pallotti University Vallendar
Maria Rave-SchwankIn Nazi-Deutschland wurden 270 000 seelisch kranke Menschen unter Beteiligung ihrer Ărzt:innen ermordet. UnzĂ€hlige starben durch Nahrungsreduktion und VernachlĂ€ssigung in weit von ihrem Heimatort abgelegenen Anstalten. Es klingt zynisch: dort sollten sie geheilt werden. Heilung sollten auch die erfahren, die die fast nĂ€chsten 40 Jahre im unheilvollen Milieu psychiatrischer Anstalten ausharren mussten. In Italien erzwangen Gesetze die SchlieĂung dieser StĂ€tten von Zwang und Gewalt. In der Schweiz arbeitete man mit alternativen Behandlungsangeboten. In GroĂbritannien fĂŒhrten umfangreiche sozialpsychiatrische Forschungen ĂŒber erfolgreiche Rehabilition psychisch Kranker zum Aufbau ambulanter Dienste, zur Integration in AllgemeinkrankenhĂ€user und zur SchlieĂung der traditionellen âIrrenhĂ€userâ. Die Aufnahme der Psychiatrie in den steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitsdienst NHS âschenkteâ öffentliche Aufmerksamkeit und erleichterte Reformen. Diese Transformationen der europĂ€ischen Nachbarn hinterlieĂen tiefe EindrĂŒcke bei den Leitungen und der Mitarbeiterschaft deutscher Psychiatrien. Mehrheitlich entschied sich die hiesige psychiatrische Nachkriegsgeneration fĂŒr einen zugewandten, respektierenden, demokratischen Umgang mit seelisch leidenden Menschen. Kommunale Strukturen blieben lĂŒckenhaft. Rehabilition scheiterte oft an finanzieller Fragmentierung. Der Aufruf zur kompletten Auflösung der GroĂkrankenhĂ€user in Deutschland verhallte.
Die Psychiaterin und Psychotherapeutin Maria Rave-Schwank schildert in ihren âErinnerungen 1960â2020â diesen Aufbruch in der deutschen Psychiatrie. Als erste weibliche Leiterin eines Landeskrankenhauses ging sie notwendige StrukturverĂ€nderungen auf diesem Sammelplatz der unterschiedlichsten Patienten- und Behindertengruppen an. Mit einer Haltung aus Freude, Hoffnung, WertschĂ€tzung, aber auch Pragmatismus agierte sie gegenĂŒber Patienten, Angehörigen, Mitarbeitenden, Vertretern der Ăffentlichkeit und Freunden in den VerbĂ€nden. Es galt, sie alle auf
den steinigen Weg der Reform mitzunehmen. GestĂ€rkt durch eine hohe fachliche Bildung, durch mehrjĂ€hrige TĂ€tigkeiten in einer Tagesklinik, aber auch in einer TrĂ€gerverwaltung, nutzte sie praktische Herangehensweisen. Bei der Mitarbeit an der universitĂ€r orientierten PsychiatrieEnquĂȘte ĂŒberzeugte sie die Mitstreitenden, dass die Weiterbildung zur Fachkrankenpflege die wichtigste Voraussetzung fĂŒr das Gelingen von VerĂ€nderungen im psychiatrischen Alltagsgeschehen sei. Von Douglas Bennett vom Maudsley Hospital in London, dem bedeutenden englischen Sozialpsychiater, hat Maria Rave-Schwank in ihrer Reformarbeit das Credo ĂŒbernommen:
Alle Patienten, ganz gleichgĂŒltig, wie âchronischâ sie sind, sind in dem Sinne rehabilitierbar, wie sie in einem möglichst normalen Bezugssystem den besten Gebrauch von den ihnen verbliebenen FĂ€higkeiten machen können.
Holger Heupel, London
Andreas KruseSinnerfĂŒlltes Alter
Welche Botschaften verbergen sich in den Werken von Johann Sebastian Bach oder Rainer Maria Rilke? Diesen Fragen geht der emeritierte Heidelberger Hochschullehrer und Altersforscher Andreas Kruse (geb. 1955) nach. Bei Bach entdeckt er in der Kunst der Fuge die Stufen vom Weltlichen zum Göttlichen oder vom Leben zum Tode eines Menschen. Bei Rilke fasziniert ihn in einem Gedicht von 1905 das Bild des sinnerfĂŒllten Lebens: âIch lebe mein Leben in wachsenden Ringen / die sich ĂŒber die Dinge ziehn / Ich
werdeden letzten vielleicht nicht vollbringen / aber versuchen will ich ihn.â
Als Psychologe hat sich Kruse in seinen Veröffentlichungen immer wieder mit dem Wachsen und Reifen eines Menschen im zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext beschĂ€ftigt. Wie werden Erlebnisse und Erfahrungen im Lebenslauf eines Menschen als biografische BezĂŒge sichtbar? Welche Ă€uĂeren Ereignisse bestimmen als EnttĂ€uschungen oder RĂŒckschlĂ€ge die Entwicklung einer Persönlichkeit? Er kommt zu dem Schluss: Die Reflexion ĂŒber die persönliche Biografie macht es möglich, âzu einer umfassenden und differenzierteren Deutung aktueller Erfahrungen und Erlebnisse und damit auch zu tieferen Erkenntnissen ĂŒber das Leben als Ganzes wie auch ĂŒber einzelne Lebensbereiche zu gelangen.â
Zur SinnerfĂŒllung im Leben gehören die Ăbernahme von Selbstverantwortung und die SolidaritĂ€t als âfreundschaftliche Hinwendung zum Menschenâ. Gerade Ă€ltere Menschen engagieren sich in groĂer Zahl im Ehrenamt und ĂŒbernehmen die Sorge fĂŒr Andere.
Gesundheit fördert das Wachstum. Kruse verweist auf verschiedene Modelle, in denen es um die Entstehung und Erhaltung von Gesundheit geht. Sie können auch als Anregung fĂŒr einen aktiven BewĂ€ltigungsprozess verstanden werden, um erfahrene Verletzlichkeit zu verarbeiten. Als Beispiel stellt Kruse das Konzept der Salutogenese des israelischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky vor, der âGesundheit als geschaffene oder wiederhergestellte Ordnung innerhalb des Organismusâ deutet. Nicht âWas macht mich krank?â sondern âWas hĂ€lt mich gesund?â gilt hier als grundlegende Orientierung.
Zum gesundheitsfördernden Wachstum gehört es, Lebensbindungen zu erkennen und âJaâ zum Leben zu sagen: jede âsubjektiv erlebte Möglichkeit zur Selbst- und Weltgestaltungâ wahrnehmen; eine âwahrhaftig gefĂŒhrte Kommunikationâ pflegen; sich fĂŒr KreativitĂ€t und SpiritualitĂ€t als Erlebnishorizont nach innen und auĂen freimachen. Ăltere Menschen sind aber auch darauf angewiesen, dass Gesellschaft, Politik und Kultur sozial gerechte und teilhabeförderliche Lebensbedingungen ermöglichen, Ungleichheit abbauen sowie Teilhabe und Zugehörigkeit fördern. Soziale Benachteiligung beeintrĂ€chtigt die seelisch-geistige Reifung, DiversitĂ€t öffnet
RĂ€ume fĂŒr Unterschiede und Gemeinsamkeiten.
Zum letzten Ring im Leben können körperlich-geistige EinschrĂ€nkungen, chronische Krankheiten und PflegebedĂŒrftigkeit gehören. Kruse macht sich Gedanken ĂŒber eine sorge- und pflegefreundliche Kultur. Er thematisiert wechselseitige AbhĂ€ngigkeiten im Pflegeprozess, die ein Aushandeln zwischen den Akteuren notwendig machen und die sogar den weiteren Verlauf eines Lebens beeinflussen können. Im schlimmsten Fall kann der Verlust derSelbststĂ€ndigkeit, das andauernde Angewiesen-Sein auf Hilfe oder Pflege zu einem Suizidverlangen fĂŒhren. Im besten Fall wird ein Mensch bis zuletzt liebevoll und empathisch begleitet.
Der schmale Band, den Kruse als eher essayistische Publikation bezeichnet, kann mit seinen neun Kapiteln als âeher persönliches ResĂŒmee ĂŒber wissenschaftliche Befunde zum hohen Alterâ gelesen werden. Aber auch als sein PlĂ€doyer, neben einer âvorwiegend oder ausschlieĂlich körperlich orientierten Betrachtungâ auch die seelisch-geistigen KrĂ€fte in den Blick zu nehmen, durch die ein sinnerfĂŒlltes Leben gelingen kann. Auf jeden Fall regt die Bildsprache Rilkes an, ĂŒber wachsende Ringe und den letzten nachzudenken, den es zu wagen gilt.
Karl Stanjek M.A., Seniorenbeirat Kiel
Silvia Habekost/Dana LĂŒtzkendorf/ Sabine Plischek-Jandke/ Marie-Luise Sklenar (Hg.)Geschichte wird gemacht: Die Berliner Krankenhausbewegung
Die Berliner Krankenhausbewegung hat ein auĂergewöhnliches Lehrbuch geschrieben, das in der Reihe WIDERSTĂNDIG des VSA:Verlages in Hamburg erschienen ist. Es zeigt nicht nur auf, dass Widerstand gegen das krankmachende Gesundheitssystem nur gemeinsam und solidarisch Erfolg bringt, man lernt daraus auch, dass und auf welchem Wege kollektive und solidarische Strategien erarbeitet werden können. âGebraucht und beklatscht â aber bestimmt nicht weiter so!â ist der Titel, der zugleich als Programm das gesamte Buch durchzieht. Applaudieren vom Balkon, das reicht den BeschĂ€ftigten in Altenheimen und KrankenhĂ€usern schon lange nicht mehr. Sie wollen gerechtere Löhne, mehr Personal und bessere Arbeits- und Tarifbedingungen, um sich und vor allem die ihnen Anvertrauten und die Patient:innen und Bewohner:innen gut versorgen zu können. DafĂŒr kĂ€mpfen sie gemeinsam. Sie lassen sich nicht gegeneinander und auch nicht gegen die Patient:innen ausspielen. Denn fast alle brauchen irgendwann Pflege oder medizinische Versorgung. Den Slogan âMehrvon uns ist besser fĂŒr alleâ hatten sie schon lange entwickelt. Er ist so einfach wie einleuchtend und hat ihnen viel Sympathie eingebracht. Die Kampagne âZusammenstehenâ wurde schon im Jahr 2015 gegrĂŒndet, um einer weiteren Aufspaltung der BeschĂ€ftigtengruppen bei den Vivantes-HĂ€usern entgegenzuwirken. Es waren viele verschiedene Ursprungsbewegungen, die schlieĂlich zur groĂen Krankenhausbewegung gefĂŒhrt haben âund ein weiter Weg, der schlieĂlich zum (Teil-)Sieg der Bewegung fĂŒhrte.
In dem Band schreiben die BeschĂ€ftigten aller Ebenen ĂŒber die ZustĂ€nde in ihren Einrichtungen. Es ist daher kein Buch ĂŒber sie, sondern von ihnen, das ist das Besondere. Etliche Erfahrungsberichte sind aus Reden bei Demonstrationen und Kampagnen entstanden. Die Beteiligten sind
sicher: âWir sind die Expert*innen unserer eigenen Arbeitsbedingungen!â
Das ĂŒbersichtlich in fĂŒnf Kapitel gegliederte Buch beschreibt die ZustĂ€nde und HintergrĂŒnde, die den âPflegenotstandâ verursachten, aber auch, warum die Aktivist:innen handeln mĂŒssen. Die Bilder der Aktionen und Personen unterstreichen den Power der Gesundheitsbewegung. Im ersten Teil beschreibt die Tochter einer Patientin, wieso es so nicht weitergehen kann und wer Verantwortung fĂŒr dieses System trĂ€gt. Es folgt die Beschreibung einer Auszubildenden, der es erst durch den kollektiven Widerstand möglich wurde, bei ihrer Arbeit zu bleiben. Der zweite Teil erzĂ€hlt die Vorgeschichte der Berliner Krankenhausbewegung.
Geschrieben haben zudem Krankenpfleger:innen, Therapeut:innen, Hebammen, Ausbilder:innen, BetriebsrĂ€t:innen, Gewerkschaftsaktive und -sekretĂ€r:innen, KĂŒchenarbeiter:innen, Handwerker:innen. Nicht alle Texte wurden von Einzelnen verfasst, einige entstanden im Team, fĂŒr andere wurden die GesprĂ€che von Krankenhaus-Kolleg:innen aufgezeichnet. Das gilt auch fĂŒr den dritten Teil, in dem die Arbeitenden berichten, wie sie in die Bewegung gekommen sind. Der vierte Teil erzĂ€hlt, wie es zu den Erfolgen kam und von den basisnahen Verhandlungen, mit denen sich die Unternehmerseite arrangieren musste, sowie die Erlebnisse des Streiks selbst. Der letzte Teil âDer Kampf geht weiter!â zieht ein Fazit: Viele sind durch den Streik erst aktiv geworden, haben gemerkt, dass man kollektiv viel erreichen kann.
Nach 30 Tagen Streik an der CharitĂ©, 35 Tagen bei Vivantes und 43 bei den Vivantes-Töchtern konnten sie den Sieg feiern. Sie hoffen, dass âviele andere Kolleg*innen sich trauen, [auch] in diesen Kampf zu gehenâ. Auch deshalb haben sie das Buch geschrieben.
Gisela Notz, Sozialwissenschaftlerin und Historikerin, Berlin Sylvia WagnerMissbrauch, Tabletten, Menschenversuche: Heimkinder im Labor der Pharmaindustrie
Vor drei Jahren erschien im MabuseVerlag das Fachbuch âArzneimittelversuche an Heimkindern zwischen 1949 und 1975â der Apothekerin Sylvia Wagner. Grundlage war eine Dissertation am Institut fĂŒr Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der UniversitĂ€t DĂŒsseldorf, die vor allem durch den Medizinhistoriker Heiner Fangerau betreut wurde.
Genau um den Stoff, den Wagners Doktorarbeit damals aufgriff, geht es nun in ganz anderer Form, nĂ€mlich in einem âfaktenbasierten Romanâ derselben Autorin. Gemeint sind die HintergrĂŒnde der Arzneimittelversuche, jener Schicksale, die einzelne Heimkinder als Opfer vieler und extrem dubioser Praktiken jahrelang erlitten hatten.
Wieweit Wagner selbst betroffen war, kann sie nicht zuverlĂ€ssig sagen; das ist fĂŒr das Buch auch nicht das Entscheidende. Gesichert ist, dass sie in einem SĂ€uglings- und in einem Kinderheim aufwuchs. Im Kern geht es ihr, die sich Hannah nennt, darum, als Mitlebende und Mitleidende festzuhalten und zu erzĂ€hlen, mit unzĂ€hligen Beobachtungen und in Dialogen, was damals (und sogar bis heute) um sie herum geschah.
Wagners Schilderungen changieren zwischen ihren Erinnerungen, die nach so langer Zeit nicht mehr frisch, aber doch sehr belastend sein können, und viel spÀteren, meist kurzen Treffen mit ihrer Mutter und deren Mutter. Pflegeeltern kommen auch vor. Trotz dieser schwierigen UmstÀnde schaffte Wagner das Abitur, studierte danach Pharmazie und wurde promoviert.
Von zentralem Rang ist fĂŒr sie das, was mit den Heimleitungen (oft in kirchlicher TrĂ€gerschaft) zusammenhĂ€ngt, mit der Gewalt etwa durch Nonnen, die schon wegen nichtiger GrĂŒnde aus eigener Machtvollkommenheit harte Strafen verhĂ€ngten. Fromme Lieder durften dabei nicht fehlen. Bei den Arzneien, die viele Kinder nehmen mussten, gab es massiven und systematischen Missbrauch, gefördert durch Ărzte, durch Ămter und die Pharmaindustrie. Beteiligt waren auch Mediziner, die wĂ€hrend der NS-Zeit bei Fleckfieberversuchen in KZs mitgewirkt hatten.
Akten belegen fĂŒr Heime nach 1949 bis heute stapelweise die routinierten Verordnungen, die âKrankenâgeschichten, den Schriftwechsel mit Behörden. Was die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte dazu sagten, war ohne Bedeutung. Was erfuhren sie wahrheitsgemĂ€Ă, wieweit willigten sie ein â oder auch nicht?
Dazu eine Passage aus dem Buch zu oft stark sedierenden Mitteln: âDie meisten Kinder und Jugendlichen hatten reichlich Neuroleptika bekommen. Vor allem die unruhigen. Die Eintragungen dazu wirkenfĂŒr Laien eher belanglos, hatten aber oft auch wegen dieser wilden Mixtur, einer perversen Perfektion, schĂ€dliche Folgen: ,ErhĂ€lt dreimal tĂ€glich 50 mg Chlorprothixen, tĂ€glich dreimal vier Tropfen Benperidol; dreimal fĂŒnf Tropfen Promethazin; Pipamperon und Diazepam werden abgesetzt; die Dosis von Haloperidol wird erhöhtââ â letzteres als Mittel gegen schizophrene Syndrome.
FĂŒr Wagner wurde es Ă€uĂerst wichtig, wiederholt mit anderen Heimkindern zusammenzukommen. Doch seriöse AufklĂ€rung und finanzielle Hilfe lagen (und liegen bis heute) weit entfernt. Wenigstens schlieĂen sich Kontakte mit Medien an, die sich dank Wagners eindringlicher Schilderungen fĂŒr das in Heimen Geschehene interessieren. Heime â an sich ein positiv gedachter Begriff. Doch nicht selten ist er mit Gewalt und Herrschsucht verbunden, mit schlimmen Verletzungen und lebenslangen Traumata, weit weg von heimelig und Heimat.
Hier der Schlusssatz der Arbeit: âEs war nicht leicht gewesen. Es hat an mir gezehrt. Aber die Sache hat mich nicht aufgefressen. Im Gegenteil â ich habe zurĂŒckgebissen. Und es war gut.â
Gut ist es auch, dieses sehr wichtige und eindringliche Buch aufmerksam zu lesen und anderen davon zu erzĂ€hlen âund daraus zu lernen, damit dergleichen nie mehr wiederkehrt.
Nr. 260 (3/2023)
Schwangerschaft und Geburt
auĂerdem: Leben mit persönlicher Assistenzâą Soziale Psychiatrie in der ElfenbeinkĂŒsteâą Rauchfreies Neuseeland
â vertiefte Einblicke in ein Schwerpunktthema
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Nr. 259 (2/2023)
NĂ€he und Distanz
auĂerdem: Triage-
Konzept: Koalition hat versagt âą Studienprojekt zur Kunsttherapie âą Therapeutischer Einsatz von Psychedelika
Nr. 258 (1/2023)
Sucht | Cannabis
auĂerdem: Armut und Demenz â was wissen wir? âą Erinnerung an Viktor E. Frankl âą MissstĂ€nde, Probleme und Gewalterfahrungen. Berichte aus Pflegeheimen
Nr. 257 (4/2022)
Sterben, Tod, Trauer
auĂerdem: Diskussion um Achtsamkeit âą Zwei Jahre mit COVID-19 âą Krankenpflege im SĂŒdsudan âą Kommentar zur Pflegekammer
Nr. 256 (3/2022)
Ausbildung & Studium
auĂerdem: Altenpflege in Schieflage âą Eigentumsstrukturen im ambulanten Bereich âą KomplementĂ€re Methoden bei Krebserkrankungen
Bezugsbedingungen fĂŒr unsere Abos: Dr. med. Mabuse erscheint viermal im Jahr (47 Euro/Jahr). Die Jahres- und SchĂŒler:innen-/Student:innen-Abos (29 Euro) verlĂ€ngern sich um ein Jahr, falls sie nicht spĂ€testens sechs Wochen nach Erhalt der vierten Ausgabe im Rechnungszeitraum gekĂŒndigt werden. Geschenkabos (39 Euro) laufen automatisch aus FĂŒr das SchĂŒler:innen-/Student:innen-Abo ist bei Abschluss des Abos ein entsprechender Nachweis vorzulegen. FĂŒr den Versand ins Ausland fallen Portokosten in Höhe von 6 Euro pro Jahr an.
Seit Neustem werden unsere Eltern alt. Ich meine damit: Nicht nur meine eigene Mutter, sondern auch die Eltern meiner Freundinnen und Freunde, alle auf einmal irgendwie. FrĂŒher unterhielten wir uns bei Verabredungen am Wochenende ĂŒber Musik, Sex, die eine oder andere politische Debatte. Heute geht es oft um Rettungsknöpfe, Arztbriefe, Essen auf RĂ€dern, manchmal auch um Pflegestufen. Es ist als hĂ€tten wir alle eine Pille geschluckt, die uns Zugang zu einer anderen Ebene der Wirklichkeit verschafft.
FĂŒr mich ist das eine durchaus ĂŒberraschende Entwicklung. Es hat sich nicht angekĂŒndigt. Dabei mĂŒssen die Eltern anderer, Ă€lterer Freunde ja alt geworden sein, bevor es bei meiner Mutter passiert ist. Wahrscheinlich haben sie auch davon erzĂ€hlt, aber es ist nicht zu mir durchgedrungen. Menschen mit alten Eltern kommunizieren auf einer eigenen, fĂŒr JĂŒngere unhörbaren Frequenz, wie bei einer Hundepfeife.
Damit wir uns nicht missverstehen: Meine Mutter war immer eine sehr patente Frau. Sie kann tapezieren, Lampen anschlieĂen und an keinem SperrmĂŒllhaufen vorbeigehen, ohne irgendwas mitzunehmen und es zuhause liebevoll aufzuarbeiten. Ich habe viel von ihr gelernt. Bis sie anfing, Sachen von mir zu lernen oder jedenfalls: sich Sachen vonmir erklĂ€ren zu lassen, Dinge, die ihre technischen FĂ€higkeiten ĂŒberschritten.
von Karin Ceballos BetancurEs begann Ende der 80er-Jahre mit MTV und unserem ersten Videorekorder. Ich habe ihr x-mal erklÀrt, wie man eine Aufnahme startet oder gar: programmiert. Sie hat es x-mal notiert, auf x-Zetteln, die ebenso rÀtselhaft verschwanden wie Socken in einer Waschmaschinentrommel. Bei diesem Prinzip ist es seitdem geblieben. Sie sagt, sie kann es sich nicht merken, weil sie diese GerÀte im Grunde kein bisschen interessieren. Vielleicht ist diese Haltung sogar das Patenteste an ihr.
Neulich stellte ich fest, dass von den drei BlutdruckmessgerĂ€ten, die sie besitzt, keines funktioniert. Es fiel mir auf, als sie sich bei einem Besuch darĂŒber beklagte, dass ihre Werte stark schwanken. Zum Beweis drapierte sie die Manschette so lĂ€ssig an ihrem Oberarm, als handelte es sich um eine Stola, und warf dem GerĂ€t einen verĂ€chtlichen Blick zu. Allerdings fĂŒhrte auch die korrekte Handhabung nicht zum Erfolg. Ich habe ihr dann ein neues BlutdruckmessgerĂ€t gekauft. Letztes Mal, als ich nachsah, waren die Batterien leer.
Den Rettungsknopf, der seit einiger Zeit ihr Handgelenk umspannt, findet sie albern. Ich liebe sie sehr dafĂŒr, dass sie ihn trotzdem trĂ€gt, wohl vor allem, um mich zu beruhigen. Das ist durchaus nicht selbstverstĂ€ndlich. Freundinnen mit alten Eltern haben davon erzĂ€hlt.