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Wo der Mensch zu Asche wird



Linke Seite: Herbstliche Stimmung auf dem Friedhof Rosengarten in Aarau. Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Der Sarg wird in den Ofen eingefahren, die Einäscherung ist automatisiert. Asche in einer Urne. Urban Kälin, Mitarbeiter im Krematorium Aarau. Herbstliches Grabgesteck. Die Sonne kämpft noch gegen den morgendlichen Nebel. Von den alten Linden schneit es gelbe, herzförmige Blätter. Auf dem Friedhof ist es still, nur eine Handvoll Gärtnerinnen und Gärtner scharrt auf Knien in der Erde. Grab für Grab reissen sie die sommerlichen Fuchsien, Begonien und anderen Blumen aus dem Boden, ersetzen sie durch winterfestes Heidenkraut und Tannenzweige. Bis Allerheiligen muss alles bereit sein. An diesem Tag kommen immer besonders viele Leute her und gedenken ihrer Liebsten.
Ein mulmiges Gefühl begleitet mich, als ich über den Friedhof Rosengarten auf das alte Krematorium Aarau zugehe. Es wurde 1912 erbaut, damals, als der Ruf nach Feuerbestattungen auch in der Schweiz immer lauter wurde. Aus Platzgründen, aber vor allem, um sich vor Krankheiten und Seuchen zu schützen. Was erwartet mich hinter den Mauern? Will ich wirklich wissen, was nach dem Tod mit dem Körper passiert?
Särge auf Rollwagen Urban Kälin führt mich herum. «Das ist unser Büro», sagt der 39-jährige Kremationsmitarbeiter. Mit «Büro» meint er den Hauptarbeitsbereich, dort, wo sich die Öfen befinden. Ich bin überrascht: keine Leichen, kein offenes Feuer, keine schwarz gekleideten, trist wirkenden Menschen. Dafür Musik aus dem Radio, ein Computer, zwei moderne Ofensysteme mit grossen Metallklappen – und eine fröhliche Mitarbeiterin. Nathalie Senn (41) hat gerade Dienst im Krematorium und ist zuständig für die Einäscherungen. Sie seien zu viert und rotierten alle zwei Wochen, erklärt Kälin. «Immer einer arbeitet drinnen, und die anderen sind im Garten.» Sie
bepflanzen die Gräber, giessen Blumen, jäten Unkraut, mähen den Rasen, schaufeln Schnee oder verlegen neue Platten.
Kälin ist gelernter Landschaftsgärtner, Senn Floristin. Beide waren sich anfangs nicht sicher, ob sie dem Job im Krematorium gewachsen sind. Und? Es sei viel weniger schlimm, als man es sich vorstelle, sagt Senn, die seit vergangenem Mai hier arbeitet. «Wir sehen die Verstorbenen so gut wie nie. Sie sind immer im Sarg, ausser bei der Aufbahrung.» Und da seien sie schön zurechtgemacht, sähen aus, als würden sie schlafen. Auch Kälin hat nach fünfeinhalb Jahren längst keine Mühe mehr mit dem Anblick. «Man gewöhnt sich daran.»
Neben dem Eingang befindet sich der Lagerraum. Die Bestatter haben einen eigenen Schlüssel dafür und können die Verstorbenen zu jeder Tages- und Nachtzeit hierherbringen. Bis zur Kremation dauert es dann in der Regel zwei bis drei Tage, wenn viel los ist, auch mal eine Woche. Während Corona waren es teilweise sogar zwei Wochen. «Ich öffne jetzt die Tür», sagt Kälin. Ich werde nervös. Kühle Luft strömt aus dem Lager. Drinnen stapeln sich Holzsärge auf Rollwagen, mehr ist nicht zu sehen. Alles viel weniger schlimm als gedacht – wie Senn es gesagt hatte.

Ein Raum der Trauer Wer wann eingeäschert wird, bestimmt der Tagesplan. Für heute sind acht Kremationen vorgesehen. Das Display am Computer zeigt 54 Minuten an. Zeit, die nächste Prozessstufe einzuleiten. Per Mausklick befördert Senn die Asche von der obersten in die zweitoberste Etage. Dort wird sie nochmals «nachgebrannt» und mineralisiert. Später gelangt sie in die unterste Ofenstufe, wo sie abkühlt und schliesslich ausgegeben wird. Der gesamte Kremationsprozess dauert zwischen zweieinhalb und drei Stunden.
Da die Etagen voneinander getrennt sind, können bis zu drei Särge gleichzeitig im Prozess sein. Senn rollt daher bereits den nächsten Sarg ins «Büro».
Fakten
Das erste Krematorium in Europa wurde 1876 in Mailand errichtet. Das erste in der Schweiz entstand 1889 auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich. Aarau war schweizweit das zehnte.
2020, im ersten Jahr der Covid-19-Pandemie, haben die Todesfälle gegenüber dem Vorjahr um 12,4 Prozent zugenommen – was sich auch auf die Arbeit im Krematorium Aarau auswirkte. Für das Jahr 2021 wurden dem Schweizer Verband für Feuerbestattungen 57091 Kremationen gemeldet.
Im vergangenen Jahr starben in der Schweiz 71192 Menschen.
Rund 80 Prozent der Verstorbenen wurden 2021 in der Schweiz kremiert. Die übrigen Bestattungen waren hauptsächlich Erdbestattungen im Sarg.



Linke Seite: Das Krematorium Aarau gehört zu den ältesten der Schweiz. Rechte Seite, im Uhrzeigersinn: Zur Einäscherung werden die Särge in einer Lagerhalle aufbewahrt. Schlichte Tonurne, gestellt vom Krematorium Aarau. Einer der Gärtner bepflanzt die Gräber für den Herbst. Vor dem Einschieben wird er gewogen, damit sich der Ofen auf die richtige Temperatur reguliert. Dann öffnet sie die Ofenklappe. Die Hitze wird sofort spürbar, es riecht nach Feuer und verbranntem Holz. Sonst nichts. Ob es nie komisch rieche? «Sehr selten», sagt Kälin. Nur wenn jemand über längere Zeit im Lagerraum war, könne es sein, dass man es kurz rieche, wenn man die Tür öffne. Senn drückt einen Knopf, worauf der Sarg automatisch eingefahren und auf dem Rost platziert wird. Die Klappe schliesst sich. Hitze und Geruch verschwinden.
Bevor Kälin zeigt, wo die Asche später entnommen wird, besuchen wir einen der Aufbahrungsräume. Auf Wunsch werden die Verstorbenen vor der Kremation vom Bestatter oder der Bestatterin im Sarg zurechtgemacht, geschminkt und parfümiert. Angehörige können hier in Ruhe Abschied nehmen. Ein Raum der Trauer, der selbst Kälin nahegehen kann. «Gerade wenn es Kinder, junge Erwachsene oder Personen in meinem Alter sind, nimmt es mich manchmal schon ziemlich mit.»
Alles, was übrig bleibt Über eine Metalltreppe gelangen wir in den unteren Stock. Bei einem Zwischenstopp auf halber Höhe führt Kälin in einen Nebenraum. Er ist nun wieder ganz der Techniker. «Das sind unsere Filteranlagen», sagt er und deutet auf zwei grosse silberne Kästen. Über Rohrsysteme werden die Rauchgase aus den Öfen hineingeleitet, gefiltert und schliesslich durch die Kamine freigesetzt.
Im Untergeschoss hat Senn die Asche bereits aus der Ausgabeöffnung geholt und auf dem Tisch ausgebreitet. Ich staune. Das ist alles? «Alles, was von einem Menschen übrig bleibt», bestätigt Kälin und fügt hinzu: «Für uns ist das aber immer noch ein Mensch, und genauso behandeln wir auch die Asche.» Ob er mehr über den eigenen Tod nachdenke, seit er hier arbeite? «Eigentlich nicht», sagt er. Aber er würde sich wünschen, dass der Tod in der Gesellschaft weniger ein Tabu wäre und man sich offe




Im Uhrzeigersinn: Statue auf dem Friedhof Rosengarten. Kleine Abdankungshalle aus dem Jahr 1912. Urban Kälin vor der modernen Abdankungshalle. Steuerungspaneel für die verschiedenen Stufen der Einäscherung. ner darüber unterhalten würde. Mit einem Magneten entfernt Senn die Sargnägel aus der Asche. Auch künstliche Knie- oder Hüftgelenke werden entnommen. Sie würden die Mühle beschädigen, so Kälin. In der silbernen Maschine wird die Asche im Anschluss verfeinert und dann direkt in die Urne abgefüllt. Wer in welche Urne kommt, ist auf einer Liste festgehalten. Die Angehörigen können selbst eine stellen, andernfalls gibt es eine aus dem Krematorium.
In einem Hinterraum verschliesst Senn gerade eine Urne mit der Aufschrift «Transporturne». Heisst? In der Schweiz muss eine Person nicht zwingend auf dem Friedhof beerdigt werden, erklärt Kälin. «Viele Leute nehmen die Asche auch mit nach Hause, verstreuen sie im Freien oder setzen sie im Garten bei.»
Abstand gewinnen Als wir in die Abdankungshallen weitergehen, verstummt das Dröhnen des Ofens. Särge und Asche scheinen gleich viel weiter weg zu sein. Ich muss zugeben, ein wenig erleichtert bin ich schon. Die kleine Halle mit der runden Kuppel und den rosafarbenen Wänden wurde 1912 errichtet, zusammen mit dem Krematorium. 1968 kam eine weitere Halle dazu. Sie ist um einiges grösser und moderner. Ein Kreuz sucht man in beiden Hallen vergebens. «Wir sind bewusst religionsneutral, damit alle Kulturen und Religionen Raum finden, sich von ihren Angehörigen zu verabschieden.»
Wer «Innendienst» hat, begleitet die Beerdigungen als Sigrist. Das heisst, bereitet die Blumengestecke vor, schliesst die Tür, wenn die Trauergäste da sind, begleitet sie ans Grab und lässt die Urne ein. Dazu ausgebildet werden die Mitarbeitenden direkt im Krematorium. «Zu sehen, wie Familien und Freunde um ihre Liebsten trauern, ist bestimmt das Schwerste an unserem Job», sagt Urban Kälin. Er sei daher immer froh, wenn er nach zwei Wochen Kremationsdienst wieder in den Garten hinauskönne. «Zum de Chopf lüfte», wie er sagt. MM