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Lass uns mal reden
Die älteren Anrufenden sind froh über die Kontaktmöglichkeit – auch ohne fachliche Beratung.
Hier hört jemand zu
Die Hotline «malreden» ermöglicht es älteren Menschen, sich anonym mit jemandem auszutauschen. Unsere Journalistin sass einen Nachmittag lang am Hörer.
Text: Anne-Sophie Keller «Ich bin den ganzen Tag allein in der Wohnung», erzählt die Fremde am anderen Ende der Leitung. «Früher habe ich viele Handarbeiten gemacht, aber nun plagen mich Schmerzen im Arm. Und wer braucht heute noch Gehäkeltes?» Ich muss leer schlucken. Seit 25 Jahren sei sie verwitwet. Nun lebt sie allein in der Stadt; um sie herum nur Fremde. Die vier Frauen, mit denen ich an diesem Nachmittag telefoniere, kennen mich nicht und haben noch nie zuvor mit mir gesprochen. Und doch erzählen sie mir ihre intimsten Geschichten: von belastenden Beziehungen und schweren Krankheiten, vom Gefühl, wenn man im Leben nicht mehr gebraucht wird, wenn Karrieren beendet, die Partner gestorben und Kinder ausgezogen sowie Freundschaften versandet sind.
Es ist ein schöner Sommernachmittag in Bern, und ich höre mir diese Geschichten an, weil ich eine Schicht des Telefonangebots «malreden» übernommen habe. Dort können ältere Menschen anonym anrufen, wenn sie ein offenes Ohr brauchen. Lanciert wurde das Projekt im April 2021 von Eve Bino (47) und Sylviane Darbellay (53). «Während meiner Arbeit als Physiotherapeutin habe ich immer wieder festgestellt, dass einige meiner Patientinnen und Patienten kaum Menschen in ihrem Umfeld haben, mit denen sie regelmässig reden können», erzählt Bino. Nachdem sie einen Artikel über das Angebot Silbernetz in Deutschland gelesen hatte, wusste sie: Das braucht es in der Schweiz auch.
Die zweite Anruferin steht gerade zwischen der Scheidung und einer
Anne-Sophie Keller am Telefon bei «malreden»

Eine Anruferin bei «malreden» Chemotherapie – ich bin überfordert. Gern würde ich helfen. Zum Glück habe ich vor meiner Schicht einen ausführlichen Leitfaden erhalten. Wie reagiere ich, wenn jemand weint? Was mache ich, wenn Wut dominiert? Ich weiss, helfen kann ich nicht wirklich, aber ich kann da sein. Laut Studien fühlt sich ein Drittel der Schweizer Bevölkerung oft einsam. Mit zunehmendem Alter verstärkt sich dieses Gefühl, wenn zeitgleich die sozialen Kontakte abnehmen. «Ich habe meine Freundschaften nicht gepflegt, viel gearbeitet und mich auf meinen Ex-Mann konzentriert. Das rächt sich jetzt», resümiert eine Anruferin ernüchtert. Die Geschichte ist stellvertretend für viele.
Von Studierenden bis zu Bankern Derzeit erhält das «malreden»-Team rund 300 Anrufe pro Monat. Sylviane Darbellay schätzt den Frauenanteil der Anrufenden auf 90 Prozent, die meisten davon im Pensionsalter: «Menschen, die kein soziales Umfeld pflegen oder erhalten konnten, werden oft dafür verurteilt. Dies führt zu noch grösserer Isolation und damit zu noch mehr Einsamkeit», sagt die Betriebsökonomin. Den Teufelskreis allein zu durchbrechen, braucht enorm viel Energie. Hier kommen die aktuell 33 Freiwilligen von «malreden» ins Spiel. Von 9 bis 20 Uhr übernehmen sie abwechselnd ihre Schichten. Es sind Studierende, Pensionierte, Berufstätige – sogar Banker haben sich bereits gemeldet. Getragen wird die Hotline durch Beiträge von Einzelpersonen, Organisationen, der öffentlichen Hand und Unterstützern wie dem Migros-Kulturprozent.
In vielen Fällen verfügen die Anrufenden durchaus noch über ein soziales Umfeld. Aber dieses hat nicht immer die Geduld, die immergleichen Geschichten zu hören. «Wir sind für die Alltagsgespräche zuständig und sehen uns als Ergänzungsangebot zur 143 der Dargebotenen Hand», sagt Bino. «Wir beraten nicht und können keine Probleme lösen. Aber wir nehmen Anteil, entlasten im Moment, wir ermutigen und geben auch Wertschätzung. So können wir die Selbstwirksamkeit fördern.»
Einfach gute Nacht sagen Der Nachmittag geht nicht spurlos an mir vorbei. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich mich in den letzten zwei Pandemiejahren nicht auch manchmal einsam gefühlt hätte. Genau diese Verletzlichkeit ist, was verbindet. Am Ende der Gespräche wirken die Anruferinnen entspannter. Mit einer lache ich sogar; eine andere fand Inspiration für ein Projekt. Es gibt Menschen, die ihre Kochrezepte verraten, andere erzählen von ihrer Familie. Und weil die Nummer ähnlich ist wie die der Schadensmeldung einer grossen Versicherung, kommt es daneben immer wieder zu amüsanten Wortwechseln mit Leuten, die falsch verbunden sind.
Eine Anruferin sagt mir, dass es ihr heute gut gehe, weil das Wetter so schön sei. Eine andere bedankt sich fürs Zuhören. Für die Sicherheit, dass man doch nicht ganz allein ist auf dieser Welt. Eine Person ruft jeweils an, um Gutenacht zu sagen. MM
«malreden» ist täglich von 9 bis 20 Uhr unter der Gratisnummer 0800890890 erreichbar. Mehr Infos: malreden.ch