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Die Raclette-Königin
Raymonde Pralong Gaspoz fiel das Racletteschaben sozusagen in den Schoss. «Ich schabe, seit ich fünf Jahre alt bin», sagt Pralong Gaspoz. «Jeden Morgen bin ich zu meiner Grossmutter gegangen, die eine kleine Buvette im Weiler Lannaz hatte, habe ihr die Einkäufe gebracht und bin ihr zur Hand gegangen. Niemand hat mich dazu gezwungen, ich wollte einfach nur helfen, und ich war der kleine Liebling der Touristen.»
Heute, gut fünf Jahrzehnte später, hat sich daran wenig geändert. Im Leben von Pralong Gaspoz dreht sich noch immer alles ums Racletteschaben. Seit 1986 betreibt sie an der Hauptstrasse des Dorfes Evolène VS im Val d’Hérens das Lokal Au Vieux Mazot und serviert hier die berühmte Walliser Spezialität vom Holzfeuer.
Raymonde, wie sie alle nennen, ist eine Attraktion, ja eine Institution im Dorf, die immer in Tracht auftritt: «Ich trage die Tracht jeden Tag, sie ist Teil der Dekoration mit der Terrasse und den Blumen. Wenn ich sie nicht trage, fühle ich mich nicht wohl.»
Wir wollten von Raymonde wissen, was ein gutes und authentisches Raclette ausmacht.
Der Käse Am besten wählt man «einen guten, drei oder vier Monate alten Rohmilchkäse – idealerweise einen Alpkäse, wenn es die Jahreszeit erlaubt, also ab September oder Oktober». Raymonde versichert: «Kenner können den feinen Geschmack der guten Bergkräuter wie Beifuss oder Enzian herausschmecken.» Generell ist Rohmilchkäse «milder als pasteurisierter Käse, der immer irgendwie gleich schmeckt und salziger ist. Menschen, die an industriell hergestellten Käse gewöhnt sind und zum ersten Mal Rohmilch-Raclette essen, werden anfangs vielleicht denken, dass es dem Käse ein biss-
Ein gutes Raclette «Au vieux mazot» Chez Raymonde in Evolène VS
So geht Raclette
In Evolène serviert Raymonde Pralong Gaspoz schon seit 1986 die berühmteste Walliser Sommerspezialität. Sie erklärt, wie ein echtes Raclette geht und was man dazu isst und trinkt.
chen an Geschmack fehlt. Aber nach dem zweiten oder dritten Raclette wollen sie nichts anderes mehr.»
Raymonde Pralong Gaspoz selbst, die etwa 300 Käselaibe pro Jahr schabt, bezieht ihren Nachschub aus der Käserei Haudères in der Gemeinde Evolène, gelegentlich aber auch aus dem benachbarten Val des Dix oder aus SaintMartin: «Jedes Tal», erklärt sie, «hat seine eigenen Käsesorten, aber den Unterschied bewirkt der Käser. Es ist wie bei einem Chefkoch, jeder hat seine eigenen Rezepte und seine Arbeitsweise.»
Das Feuer Ein guter Käse ist eine notwendige Voraussetzung. Das allein reicht aber noch nicht aus. Er muss am Holzfeuer geschabt werden, und nicht an irgendeinem Feuer. «Mit einer guten Glut und richtig heiss. Ich verwende Buchenholz, aber es empfiehlt sich, ein wenig Lärchen und Fichtenholz hinzuzufügen, das aromatisiert den Käse. Meine Grossmutter hat immer kleine Lärchenzweige, die sie gesammelt hatte, hineingelegt, das gibt einen wunderbaren Geschmack.» Dabei muss man immer «nah am Feuer bleiben», um nicht den richtigen Moment zum Schaben zu verpassen.
Die Kunst des Schabens Es ist vor allem eine Frage der Gewohnheit und der Fingerfertigkeit. Dabei kommt es auf eine ruhige und direkte Handbewegung an. Auf ihrer Terrasse nutzt Raymonde ein Hilfsmittel, das einer ihrer Onkel gebastelt hat: ein Wasserzufuhrsystem, das die Platte, auf der der Käse vor dem Feuer liegt, kühl hält. «So bleibt der Käse immer fest und lässt sich viel leichter schaben, sonst bricht er gern in Stücke.»
Zudem stellt Raymonde den Schaber immer in ein Glas mit kaltem Wasser. «Dann lässt sich der Käse leichter lösen.»
Wie war das mit der Klosterfrau? Bleibt die strittige Frage der «Religieuse» oder Klosterfrauen, also der gerösteten knusprigen Ränder des Käselaibs, die ans Feuer gehalten werden: Mit dem Raclette servieren oder abkratzen? Raymonde hat das schon lange geklärt: «Goldbraun geröstete Ränder schmecken einfach köstlich. Ich halte an dieser Stelle fest: Die meisten meiner Gäste lieben sie.»
Der französische Begriff «Religieuse» wird übrigens nur in der Schweiz und in Savoyen in diesem Sinne verwendet. Im übrigen Frankreich wird damit ein Brandteiggebäck bezeichnet. Warum also «Religieuse» oder Klosterfrauen? Das weiss niemand so genau, dazu kursieren mehrere Hypothesen. Wie die von Dominik Flammer in seinem Buch «Schweizer Käse»: «Dieser Ausdruck soll daher stammen, dass die Mönche, wenn sie sich am Käse satt gegessen hatten, den Gläubigen nur die Rinde übrig liessen. Letztere genossen dieses Stück aber, das für Feinschmecker auch heute noch eine echte Delikatesse ist.» Oder die Theorie des Kochs Jacques Montandon, der davon erzählt, wie Nonnen, wenn sie Familien besuchten, «diese baten, alles beiseitezulegen, was in der Küche nicht gebraucht wurde, auch die Käserinden».
Die Beilage Kleine Zwiebeln, Gewürzgurken, Paprika und Kartoffeln. Raymonde macht bei dieser Tradition keine Ausnahme. Bei den Kartoffeln bevorzugt sie «die kleinen, dünnschaligen. Diejenigen, die in höheren Lagen wachsen, sind im
«Ich trage jeden Tag die Tracht, sie ist Teil der Dekoration mit der Terrasse und den Blumen.»

Raymonde Pralong Gaspoz kennt sich aus: Sie schabt seit fast vier Jahrzehnten Raclette. Beilagen dürfen traditionell sein: Kartoffeln, Gurken, Silberzwiebeln.
Raymonde Pralong Gaspoz
Allgemeinen süsser und milder. Ich erinnere mich, dass wir beim Ausgraben der Kartoffeln immer die kleinen für das Raclette beiseitegelegt haben, wir nannten sie ‹pétolettes›. Dazu gibt es ein bisschen Schinken, Trockenfleisch und -wurst, die hier eher vor dem Raclette gegessen werden, auch wenn immer mehr Menschen sich angewöhnt haben, alles zusammen zu essen.»
Der Wein Die meisten Weissweine passen sehr gut zu Raclette. An Auswahl mangelt es im Wallis nicht, wobei der Fendant am häufigsten dazu serviert wird, aber auch Petite Arvine. Das sollte uns aber nicht daran hindern, die ausgetretenen Pfade ab und zu zu verlassen. «Humagne Blanche passt auch sehr gut zu Käse», erklärt Raymonde. Ein Wein, der aus einer nicht so bekannten Rebsorte hergestellt wird, aber dennoch berühmt ist, weil er als «Heiltrank der Wöchnerin» gilt. Raymonde weiss mehr darüber: «Früher hat man allen Frauen, die entbunden haben, einen kleinen Schluck warmen Humagne Blanche gegeben. Er stand im Ruf, Blutungen zu stoppen. Bestimmt wurde Honig hinzugefügt, damit er süsser schmeckt. Als ich entbunden habe, hatte ich meine eigene Thermoskanne mit Humagne Blanche, die mir jemand, ich weiss nicht mehr wer, auf die Geburtsstation gebracht hatte.»
Rutschia – Vorfahrin des Raclettes Raymonde erzählt, dass es «die Hirten in den Maiensässen waren, die anfingen, den Käse zu schmelzen» . Ähnlich wie beim Grillieren von Cervelat hielten sie einen Tomme von der Alp am Ende eines Stocks ins Feuer, den sie später auf einer Scheibe geröstetem Brot assen. Das war ihre warme Mahlzeit beim Kühehüten. Dass sie Tomme statt Käse verwendeten, lag daran, dass die Bauern im Allgemeinen nicht genug Kühe hatten, um grosse Laibe zu produzieren. Dieser auf geröstetem Brot geschmolzene Tomme wurde «rutschia» genannt. Es gibt übrigens noch einen Ort, an dem man dieses uralte Gericht probieren kann. Ja, richtig geraten: im Vieux-Mazot, bei Raymonde.
Und zu Hause? Natürlich hat nicht jeder die Möglichkeit, seinen Käse am Holzfeuer zu schaben. Zum Glück gibt es verschiedene Arten von Raclettesets und -öfen. Beim Käse bietet die Migros je nach saisonaler Verfügbarkeit zum Beispiel einen echten «Raclette Valais AOP» aus Rohmilch sowie Raclettekartoffeln in Spezialverpackung an. MM
