Migros-Magazin-24-2020-d-OS

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52 | 8.6.2020 | 50 JAHRE SCHWARZENBACH

Der lange Weg in die neue Heimat

Die Schwarzenbach-Initiative wollte vor 50 Jahren die Zahl der Ausländer in der Schweiz reduzieren. Sie richtete sich vor allem gegen Gastarbeiter aus Italien, von denen viele bei der Migros tätig waren. Zwei italienische Familien blicken auf die schwierigen Jahre zurück. Text: Ralf Kaminski

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aria Costantini ­erinnert sich noch gut an die Ängste ­ihrer Eltern vor der Schwarzenbach-Initiative: ­Wurden die Kinder beim Spielen etwas zu wild, hiess es sofort: «Psst, nicht so laut, sonst schmeissen sie uns raus!» Armando und Rosa Capezzuto, ein Gastarbeiterpaar aus Caserta, nördlich von Neapel, war ernsthaft besorgt, dass das Schweizervolk die Vorlage annehmen könnte, und bemühte sich im Vorfeld der Abstimmung um ­besonderes Wohlverhalten der Familie. «Manchmal schlossen die Eltern sogar die Tür ab, ­damit wir zum Spielen nicht ­hinauskonnten, weil wir ja vielleicht jemanden stören könnten», erzählt Maria Costantini, heute 61 Jahre alt. Viel entspannter gingen ­Giuseppe und Caterina Crisafulli mit der Initiative um. «Zwar wussten wir, dass man uns des Landes verweisen könnte, falls sie angenommen wird, aber wir hatten einen unbefristeten Arbeitsvertrag und keine Probleme mit der Polizei», erinnert sich Caterina Crisafulli (80). «Wir wären sicher nicht die Ersten gewesen, die hätten gehen müssen. Das beruhigte uns ein wenig.» Viele Gastarbeiter bei der Migros

Das Volk lehnte die Vorlage am 7. Juni 1970 schliesslich mit 54 Prozent der Stimmen ab – eine grosse Erleichterung für beide Familien. Und «ein Sieg der ­Vernunft», wie sich die von der Migros herausgegebene Tageszeitung «Die Tat» am Tag danach freute. Doch es klang auch

Aus den Archiven James Schwarzen­ bach (1911–1994) war Parteichef der Nationalen Aktion und sass von 1967 bis 1979 für Zürich im Nationalrat.

Die Migros-Zeitungen «Die Tat» und «Wir Brückenbauer» ­setzten sich im Vorfeld der Abstimmung über die Schwarzenbach-Initiative intensiv mit der ­Vor­lage auseinander und warben für ein klares Nein. Hier ein paar Auszüge:

Rosa und Armando Capezzuto 1977 auf der Chilbi in Meilen. Heute leben ihre neun Enkel- und neun Urenkel­ kinder in der Schweiz.

Sorge mit: Da seien «Elemente angesprochen worden und auf die Barrikaden gestiegen, deren Rassismus unverfälscht an die Oberfläche trat. Diese Exzesse gehören zum Betrüblichsten, was uns von Schweizern je ­begegnet ist, und liessen das Schlimmste befürchten.» Die Initiative des rechtsgerichteten Zürcher Nationalrats James Schwarzenbach richtete sich vor allem gegen die italie­ nischen Gastarbeiter. Sie waren seit den 50er-Jahren ins Land gekommen, weil es hier in der Hochkonjunktur reichlich ­Arbeit gab. Auch in den Fabriken der Migros wurden viele von ­ihnen beschäftigt, weshalb «Die Tat» ebenso wie die Wo­chen­ zeitung «Wir Brückenbauer» (Vorläufer des Migros-Magazins) sich in ihren Artikeln stark ­gegen die Initiative engagierten (siehe unten). Bei der Migros arbeiteten auch Giuseppe und Caterina ­Crisafulli, nachdem sie 1962 und 1963 kurz nacheinander aus ­Sizilien in die Schweiz gekommen waren; er beim Entladen

Die Überfremdungsinitiative ist ­keine Lösung: Bei Annahme würden allein im Kanton Zürich 67 000 Jah­ resaufenthalter ausgewiesen wer­ den. Tausende von Arbeitsplätzen ständen leer. Maschinen und ­damit wertvolles Kapital läge brach und könnte nicht mehr genutzt werden. «Schmutzige Arbeit» ist in den letzten Jahren der wirtschaftlichen Hoch­ konjunktur nicht beliebter ­geworden. Wer würde sie verrichten? («Wir Brückenbauer», 28.2.1970)


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