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INTERvIEW

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Nr. 22, 27. Mai 2013 | MIGROS-MAGAZIN |

«Wir sind Opfer des eigenen Erfolgs geworden»

Seit dem 1. August 2012 ist Lino Guzzella, Sohn italienischer Einwanderer, Rektor der ETH Zürich. Der Professor über die Herausforderung, dem Ansturm von immer mehr Studierenden gerecht zu werden, über das mangelnde Interesse der Frauen sowie Banken, die Lehrstühle finanzieren.

Lino Guzzella, Sie treten am Zürcher Sechseläuten auf und äussern sich in den Medien zu gesellschaftlichen Themen. Wollen Sie damit das Image der ETH Zürich popularisieren?

Mir ist es wichtig, dass die ETH in der Bevölkerung verankert ist. Die ETH lebt von der Schweiz und den Steuerzahlern. Ihnen und dem Land schulden wir, dass wir etwas zurückgeben — in Form von gut ausgebildeten Menschen, Forschungs­ resultaten und gegründeten Firmen. Wir müssen erklären, wer wir sind und was wir machen. Weil die Mehrheit noch immer nicht weiss, wofür die ETH wirklich steht?

Punktuell ist das so. Ich erlebe immer wieder, dass Menschen auf mich zu­ kommen und sagen: «Ah, Sie arbeiten an der ETH, kennen Sie Herrn Sound­ so?» Ich antworte, es tue mir leid, ich kenne nicht alle persönlich. Wir zählen inzwischen rund 18 000 Studierende und fast 8000 Mitarbeitende. Die ETH Zürich ist ein riesiger Laden. Und was wir wirklich machen, ist in der Öffent­ lichkeit noch immer nicht ganz klar. Es ist unsere Aufgabe, das zu erklären. Und das machen wir mit grosser Freude. Wie machen Sie das?

Beispielsweise, indem wir Anlässe wie die «Scientifica» oder den «Treffpunkt Science City» organisieren, wo wir uns mit der Bevölkerung austauschen. Als Rektor der ETH bin ich für die Lehre und Ausbildung zuständig. Und damit gehö­ ren die Gymnasien, Behörden, aber auch die Fachhochschulen zu unseren wich­ tigen Partnern. Wir müssen mit den Menschen reden. Was gibt es sonst noch zu verbessern?

Ich weiss, das hören die Journalisten nicht gerne: Aber uns läuft es sehr gut. Klar, jede Organisation hat Schwach­ stellen. In der Lehre sind wir in gewissen

Departementen ein Opfer des eigenen Erfolgs geworden. Ein Beispiel: In mei­ nem alten Departement, dem Maschi­ nenbau, hatten wir vor Jahren 200 Stu­ dierende pro Jahrgang. Jetzt sind es mehr als doppelt so viele.

Ich habe in früheren Interviews betont und betone es auch heute, wie wichtig eine gute Matura aus ETH­Sicht ist. Sie ist das prüfungsfreie Eintrittsticket in ein Hochschulstudium und darf auf kei­ nen Fall verwässert werden.

Was heisst das im Alltag?

Seit 2004 ist die Zahl der Studierenden um rund 50 Prozent gestiegen. Die Mittel haben wohl kaum im selben Umfang zugenommen.

Wir müssen immer mehr Studierende betreuen und dabei sicherstellen, dass auch in Zukunft die Qualität im Unter­ richt stimmt. Und wir müssen neue An­ sätze mit elektronischen Hilfsmitteln finden. Wie geht das konkret?

Ein Beispiel: Wir haben eine neue App für Smartphones entwickelt, die Studie­ renden hilft, den richtigen Hörsaal oder die Übungsunterlagen zu finden, und sie können während der Vorlesung über diese App Fragen stellen. Ein Doktorand beantwortet diese online. Ich habe diese App in meiner eigenen Vorlesung aus­ probiert, die ich auch als Rektor noch einmal wöchentlich gebe. Sie wollen an der Front sein.

Ja, ich bin überzeugt, man ist kein glaub­ würdiger Leiter, wenn man nicht weiss, was läuft und wovon man redet. Ich will auch als Rektor geerdet bleiben und kein Schreibtischtäter werden. Wie haben sich die Studierenden verändert?

Die Jungen sind noch immer die Gleichen. Sie wollen ernst genommen werden. Der grösste Teil der Studierenden ist hoch motiviert und blitzgescheit. Wir verlan­ gen viel von ihnen, und ebenso erwarte ich von den Professorinnen und Profes­ soren, dass sie engagiert unterrichten. Sie haben in der Vergangenheit kritisiert, die Matura sei zu leicht, und die Jungen zu wenig motiviert. Haben Sie seither Ihre Meinung geändert?

Das ist teilweise richtig. Unsere Mittel wurden so erhöht, dass wir die Inflation und die zusätzlichen Studierenden halb­ wegs bewältigen konnten. Wir sind effi­ zienter geworden und haben den Anteil der Drittmittel stark ausgebaut. Drittmittel heisst Privatwirtschaft?

Nicht nur. Ein grosser Teil der zusätzli­ chen Gelder stammt vom Nationalfonds, aber auch von EU­Fördergeldern. Die ETH und die Schweizer Hochschulen sind generell sehr erfolgreich im Anwer­ ben von EU­Geldern. Wir strecken uns also nach allen Richtungen. Laut ETH-Rat werden die Studiengebühren von 1160 Franken frühestens ab dem Herbstsemester 2015 verdoppelt.

Der Entscheid über die Studiengebühren liegt nicht bei der ETH und schon gar nicht bei Lino Guzzella. Der muss einfach mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln etwas Vernünftiges anfangen. Wir müssen an der ETH noch besser werden mit sozialen Stipendien, und ich muss mich aktiv darum küm­ mern, dass der Lehre mehr Gelder zu­ fliessen. Das Letzte, was ich als Secondo will, der in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen ist: dass jemand, der mo­ tiviert und talentiert ist, nicht an der ETH studieren kann, weil ihm das Geld fehlt. Das darf es nicht geben. Der Ansturm ausländischer Studierender mit teilweise minderwertigen Abschlüssen «ge-


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