SCHWEIZER JENISCHE | 25.1.2021 | 31
Ursulina Gruber
Alfred Werro
hat noch nie länger als ein halbes Jahr an einem Ort gewohnt. Er lebt die meiste Zeit im Wohnwagen.
ist bei einer Pflege familie aufgewachsen und erfuhr erst mit 30 Jahren von ihren jenischen Wurzeln.
«I weiss nid, was es isch»
Ursulina Gruber erfuhr erst als Erwachsene von ihren Wurzeln, Alfred Werro lebt seit seiner Geburt als Fahrender. Sie gehören zu den 30 000 Jenischen in der Schweiz. Beide setzen sich für ihr Volk ein – auf ganz unterschiedliche Weise. Text und Bilder: Rahel Schmucki
Gsehsch das dört obe? Ganz wiit obe Ganz, ganz chlii I weiss nid, was es isch Aber das möcht i sii* Ursulina Gruber geht um das alte Haus an der Strassenecke herum und schaut immer wieder nach oben. «Vielleicht da, bei diesem Fenster?», sagt sie und zeigt mit dem Finger auf eine Lukarne. Die 63-Jährige hält einen Brief der Zürcher Vormundschaftsbehörde über ihre Mutter in der Hand. Darauf findet sich diese Adresse in Zürich-Hottingen. Hier hat ihre Mutter wohl einmal gewohnt und gearbeitet.
«Die Auskünfte der bisherigen Arbeitgeber Mauch, Bäckerei, Gemeindestrasse 62 in Zürich 7, (…) bei denen Karoline Gruber seit ihrem im September 1956 erfolgten Zuzug nach Zürich tätig war, lauten übereinstimmend sehr ungünstig» (Brief des Amtsvormunds vom 1. April 1957) Dieser Bericht ist etwas von ganz Wenigem, das Ursulina Gruber von ihrer Mutter geblieben ist. Nur ein paar Tage nach der Geburt hat man die kleine Ursulina ihr weggenommen, in eine Pflegefamilie gegeben und ihr einen neuen Namen verpasst: Ursula Spillmann. 50 Jahre später darf
sie sich wieder Ursulina Gruber nennen. Weil sie für ihren Namen gekämpft hat. Denn erst als Erwachsene hat sie erfahren: Sie ist die Tochter einer jenischen Schweizer Fahrenden. Auf der Suche nach ihrer Herkunft ist sie auf eine Geschichte gestossen, die beispielhaft für viele Fahrende ist. Heute bezeichnet sie sich als sesshafte Jenische (siehe Box «Fahrende in der Schweiz» auf Seite 33). Ursulina Gruber geht die drei Stufen zum Eingang des Hauses hinunter und späht durch die Schaufenster. Heute ist das Gebäude ein Wohnhaus, sie erkennt aber noch Spuren der ehemali-
gen Bäckerei. «Da hinten stand sicher die Theke, an der meine Mutter gearbeitet hat.» I weiss nid, was es isch I weiss nid, was es isch I weiss nid, was es isch Chas nid säge – was es isch Das mit der Sesshaftigkeit hat Alfred Werro (62) ausprobiert. Länger als sechs Monate am Stück hat er aber nie in einer Wohnung gelebt. «Ich halte das einfach nicht aus, da fühle ich mich gefangen.» Zu Hause sei er überall. Er sagt von sich, er sei ein fahrender Schweizer Jenischer. Zurzeit wohnt er an zwei