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MENSCHEN
MIGROS-MAGAZIN | NR. 2, 6. JANUAR 2014 |
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PORTRÄT | 29
Blick auf das Böse
Linda Graedel porträtiert Kinderschänder und Posträuber, Mörder und Vergewaltiger. Trotzdem sieht die Gerichtszeichnerin in jedem Angeklagten erst einmal den Menschen.
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erschlimmsteFallinihrerKarriere? Die Antwort von Gerichtszeich nerin Linda Graedel kommt wie aus der Pistole geschossen: «Der Swiss airProzess. It was so boring, so lang weilig! Nichts als Krawatten, Krawatten und nochmals Krawatten – zwei Monate lang!» Die gebürtige Amerikanerin schüttelt sich. «In der dritten Woche habe ich dann irgendwann begonnen, Studien vom Vorhang zu machen, der hinter den Richtern an der Wand hing.» Die 72Jährige hat sie alle auf Papier gebannt – mit Wachsmalkreide und im A3Format: Babyquäler René Oster walder, Ein und Ausbrecherkönig Walter Stürm, Vierfachmörder Günther Tschanun und eben die SwissairMa
nager, die 2001 schlagzeilenträchtig groundeten. Seit bald 30 Jahren beliefert die Kunstmalerin Zeitungen, Fotoagenturen und Fernsehstationen mit ihren Skizzen. Im Archiv in ihrem Haus in Schaffhau sen lagert sozusagen ein gezeichnetes «Who is Who» der Schweizer Kriminal geschichte. Linda Graedel studierte am ArtCen ter in Los Angeles, verliebte sich in einen Schweizer Arzt und folgte ihm 1963 in seine Heimat, wo sie eine Familie grün deten. Und, anders als in den USA, sind in Schweizer Gerichtssälen Kameras verboten. Damit soll vermieden werden, dass das Verfahren gestört und die Wahrheitsfindung beeinträchtigt wird.
Zu ihrem Job im Gerichtssaal kam die Künstlerin über ihre zweite Leiden schaft, erzählt sie in einer charmanten Mischung aus Schweizerdeutsch und Englisch: den Jazz. Ein Musikkritiker der «NZZ» wurde Anfang der 80erJahre auf sie aufmerksam, als sie am Jazz Fes tival Willisau «just for fun» Mathias Rüegg, den Gründer des Vienna Art Or chestra, skizzierte. «Er frage mich, ob ich mir vorstellen könnte, für die ‹NZZ› am Jazzfestival in Montreux zu zeich nen», erinnert sie sich. Sie konnte. Und schwärmt noch heute. «Miles Davis hautnah – das war schon sehr cool.» Kurz darauf kam dann der damalige «Tagesschau»Moderator Heiri Müller auf sie zu: Der Prozess über die Hallen
Linda Graedels Momentaufnahmen aus dem Gerichtssaal 1
1) Kindstötung in Dietikon «Fälle wie der der kleinen Antonia gehen mir speziell an die Nieren, sicherlich auch, weil ich selbst Töchter und Enkelinnen habe. Das Baby aus Dietikon ZH war 2003 nach monatelanger Misshandlung und Mangelernährung durch seine Eltern an den Folgen eines Schütteltraumas gestorben. Der Vater nahm das Urteil – zwölf Jahre für ihn, sechs Jahre für
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seine Ex-Freundin – regungslos entgegen. Er wurde wegen Fluchtgefahr noch im Gerichtssaal verhaftet.» 2) Schläger-Skinheads «Die Boys haben mich recht ratlos gemacht. Wie kommen 19-Jährige dazu, in Liestal wahllos mit Eisenstangen und Baseballschlägern auf Passanten einzuschlagen? Für mich war der Pro-
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zess im Februar 2006 auch deswegen speziell, weil eine ganze Gruppe angeklagt war. Anders als ein Fotograf habe ich beim Zeichnen die Möglichkeit, mehrere Personen gebündelt darzustellen, obwohl sie im Gerichtssaal weit auseinander sitzen.» 3) Fall Tschanun «Der Prozess gegen den ehemaligen Chef der Zürcher Baupolizei,
der 1986 vier seiner Mitarbeiter erschoss, war mein erster Einsatz als Gerichtszeichnerin für die ‹NZZ›. Diese erschien damals noch in Schwarz-Weiss. Günther Tschanun hat mir irgendwie Angst gemacht. Am ersten Gerichtstag habe ich bei der Befragung erfahren, dass wir beide am gleichen Tag und im gleichen Jahr geboren wurden. Das fand ich irgendwie gruselig.»