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LEBEN

MIGROS-MAGAZIN | NR. 2, 7. JANUAR 2013 |

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NEUES VOM ZOO-DOKTOR

Flugkünstler unter Vollnarkose

Während einer Routineentwurmung entdeckt Tierarzt Martin Wehrle einen erbsengrossen Knoten am Bein einer Alpendohle. Der Vogel muss operiert werden.

« Zoo-Tierarzt Martin Wehrle (49) berichtet jede Woche aus dem Tierpark Goldau.

Bilder: Tierpark Goldau. Das Migros-Kulturprozent unterstützt den Kinderklub des Tierparks Goldau.

Jeder Bergwanderer kennt die schwarzen Flugkünstler, die bei der Mittagsrast auf einer Tour jeweils aus dem Nichts heraus auftauchen, ihre spektakulären Kapriolen vorführen, um sich alsbald mit einem Landemanöver in eine möglichst aussichtsreiche Position für die Erbeutung von ein paar Krümeln zu bringen. Dabei sind Dohlen gar nicht scheu und nähern sich uns Menschen bis auf wenige Zentimeter, wenn dabei etwas Essbares herausschaut. Im Tierpark Goldau bewohnen drei Alpendohlen eine Felsenvoliere. Sie müssen für eine Routineentwurmung eingefangen werden. Dabei fordern sie mit ihren geschickten Ausweichmanövern unsere Tierpfleger heraus — ein gutes Beweglichkeitstraining für alle Beteiligten. Bei der Verabreichung der Wurmmedikamente fällt ein Knoten am linken Bein einer Dohle auf. Der Vogel ist sonst sehr fit, aber der gut erbsengrosse Knoten am bloss 300 Gramm leichten Vogel ist doch gefährlich gross. Am selben Bein, an dem der Knoten sitzt, ist nämlich auch der Ring befestigt, der den Vogel kennzeichnet. Dieser bewegliche Ring reibt am Knoten, und eine Entzündung ist vorprogrammiert. Also entscheiden wir uns zur sofortigen Operation und Entfernung des Rings. Ich bereite das Narkosegerät mit der zugehörenden Maske vor, das Überwachungsgerät und die kleine Spezialfräse, um den Metallring aufzufräsen. Schon den Ring zu entfernen bedingt eine Narkose, denn der Vogel darf sich unter keinen Umständen bewegen, sonst wäre das dünne Vogelbein in Gefahr. Eigentlich könnte man ja einfach mit einer Zange den Ring durchschneiden. Die Gefahr, dass dabei das Bein ver-

Mit einer kleinen drehenden Fräsenscheibe schneidet Tierarzt Martin Wehrle den Ring auf. Die Alpendohle, den Kopf in der Narkosemaske, liegt im Tiefschlaf und spürt nichts von der ganzen Behandlung.

letzt, gebrochen oder zerschnitten, würde, wäre enorm gross. Behutsam, aber mit gezieltem Griff nehme ich die Dohle aus der Transportkiste. Sofort versucht sie mit ihrem leuchtend gelben Schnabel meinen Finger zu erwischen.

Ein paar Tage später kommt vom Labor die Entwarnung Ich fasse ihren Kopf von hinten, damit ich ihn vorsichtig in die Narkosemaske einführen kann. Jetzt das Gas anschalten, und nach wenigen Minuten wird ihr Körper schlaff, und wir können sie auf den Rücken legen. Dabei fällt mir auf, dass der Knoten am Bein bereits weg ist. Stattdessen ist nun eine offene Wunde sichtbar. Da die Alpendohle nicht einfach ruhig in der Kiste sass, sondern nach richtiger Dohlenmanier mit allen Mitteln versuchte auszubrechen, amputierte sie sich den Knoten gleich selbst mit dem beweglichen Ring, der die Zubildung quasi abrasierte. Ich muss nun also nur noch den Ring auffräsen und die Wunde behandeln.

Das Überwachungsgerät zeigt stabile Werte des Herz-Kreislauf-Systems und der Atmung. Während ich den Ring mit der drehenden Fräsenscheibe auffräse, muss meine Praktikantin Carmen mit einer Spritze Wasser zur Kühlung über den Ring spritzen, damit dieser nicht heiss wird und die Haut schädigt. Mit kurzen Unterbrüchen trenne ich den Ring auf. Mit einer Klemme muss ich ihn vorsichtig spreizen, ohne das Bein zu verletzen, dann kann ich ihn entfernen. Die Verletzung dort, wo der Knoten sass, behandle ich mit Desinfektionsmittel und Wundsalbe. Ich schalte das Narkosegerät auf reinen Sauerstoff um, damit der Vogel wieder aufwacht. Nach ein paar Minuten bewegt er sich und kann seinen Kopf bald wieder aufrecht halten — wir setzen die Alpendohle in die Transportbox, um sie am Nachmittag in die Voliere zurückzubringen. Ein paar Tage später erhalte ich vom Labor das Ergebnis, dass es sich nicht um einen bösartigen Tumor handelt.

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