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porträt
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NR. 1, 3. JANUAR 2012 | migros-magazin |
Annick Erika Ruedi (36), Marketingleiterin, Zürich, 155 Kilogramm
«Wenn ich angemacht werde, denke ich immer: Jesses, was findet der an mir?»
Wo Dicke diskriminiert werden Beruf: SBB und VBZ haben BMI-Grenzen für ihre Mitarbeiter. Die VBZ nehmen keinen mit einem BMI über 30, die SBB niemanden mit BMI über 35. Oft werden normalgewichtige Bewerber übergewichtigen vorgezogen.
gramm. Natürlich habe ich immer mal versucht, Gewicht zu reduzieren, aber danach regelmässig wieder zugelegt. Es dauerte rund zehn Jahre, bis der familiäre Konflikt verdaut war und mein Gewicht sich stabilisierte. Das Frustessen hörte auf, das Bedürfnis zu essen jedoch blieb. Ohne rigorose Disziplin ist es unglaublich schwierig, von diesem ‹Suchtverhalten› wegzukommen.
Krankenkassen: Wer einen BMI leicht über 25 hat, hat oft Mühe, eine Zusatzversicherung abzuschliessen. Zusatzleistungen für Operationen wegen Übergewicht sind reduziert oder gestrichen worden.
mein Wunschgewicht sind 70 Kilo
Airlines: Bei USFluggesellschaften wie United, Continental oder Delta müssen stark Übergewichtige zwei Sitzplätze bezahlen. Viele Airlines lassen dicke Passagiere stehen und buchen sie auf einen anderen Flug um, wenn sie nicht in den Sitz passen und der Flug ausgebucht ist. Sitze und Türen: Beides ist fast überall zu schmal und zu eng – in Restaurants, im Kino, in öffentlichen Verkehrsmitteln, in Telefonkabinen, in öffentlichen WCs und Krankenhäusern. Auch Standardsärge sind für stark Übergewichtige zu klein. So berechnen Sie Ihren Body Mass Index (BMI): Gewicht (kg) geteilt durch Grösse im Quadrat (cm2)
Einst wog Annick Erika Ruedi 155 Kilo (Bild). Dank einer Operation verlor sie 44 Kilogramm.
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Meine Familie hatte schon immer mit dem Gewicht zu kämpfen, daher wurde auch ich bereits früh auf Diät gesetzt. Mit dem unkontrollierten Essen richtig los ging es jedoch erst, als ich 19 war und nach einem schweren Familienkonflikt ausziehen musste. Immer wenns mir schlecht ging, ass ich – das gab mir ein gutes Gefühl. Zwar nahm ich sehr stark zu, ich konnte mich aber nicht bremsen. Ein Jahr später wog ich bereits über 100 Kilo-
Aus gesundheitlichen und ästhetischen Gründen habe ich mich nun für eine Magenbypass-Operation entschieden und den überschüssigen Pfunden den Kampf angesagt. Das Magenvolumen wird dabei stark verkleinert, mit der Folge, dass ich nur kleine Mengen zu mir nehmen kann, weil mir sonst schlecht wird. Mein Wunschgewicht von 70 Kilo zu erreichen, ist sehr ambitioniert, aber mit ausgewogener Ernährung und viel Bewegung hoffentlich möglich. So wie es jetzt ist, zieht das Leben in gewisser Hinsicht an mir vorbei. Ich halte mich in vielen Dingen zurück, denn ich befürchte immer, dass das Erste, was die Leute von mir wahrnehmen, mein Übergewicht ist. Das wirkt sich auch auf mein Berufsleben aus. Hinsichtlich Beziehungen bin ich in einer Zwickmühle: Ich kann niemanden ak-
zeptieren, der mich so nimmt, wie ich bin, weil ich mich selbst mit dieser Figur nicht akzeptieren kann. Wenn ich angemacht werde, denke ich immer: Jesses, was findet der an mir? Ich schätze, ich bin viel weniger mit Diskriminierungen konfrontiert als andere, weil ich mich modisch kleide und style. Daher hatte ich auch nie Schwierigkeiten, einen Job zu finden. In öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Kino kriege natürlich auch ich die Blicke zu spüren – ich nehme halt mehr Platz weg als andere. Und ich fühle mich dann immer sehr unwohl. Ab und zu gibts auch Kommentare, beispielsweise wenn ich ausgehe. Oder von Kindern auf der Strasse: Läck, isch diä dick! Ich versuche das so gut wie möglich zu ignorieren – und freue mich auf die bevorstehende Operation und die vielen Möglichkeiten, die sich mir eröffnen werden! Ich gönne es allen, die sich mit Übergewicht in ihrer Haut wohlfühlen, deshalb finde ich auch die «fat pride»-Bewegung in den USA toll. Ich kenne dort Frauen, die gehen an spezielle Partys und zeigen stolz ihre Körperfülle. Das ist prima, aber ich bin nicht der Typ dafür.
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Daniel Hess wurde wegen seines Übergewichts nicht befördert. Heute ist er selbständig und erfolgreich.