ENOUGH 01: CHANGE

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180 Grad

I love India: Blumenverkäuferin in Delhis Altstadt; traditionelle Hochzeitszeremonie (März 2013); Terrakotta-Statue von Ganesha in der Sanskriti Kendar Foundation in Süd-Delhi (v. l. n. r.)

Stattdessen suchte ich mir lieber einen Job. Keine leichte Sache ohne Beziehungen, auch mit einer guten Ausbildung im Gepäck. Über alte Kontakte geriet ich an das Hotel von zwei älteren Herren, für die ich etwas Marketing machte und mich für ein Dumpinggehalt wirklich aufrieb. Schließlich ließ ich ein zweites Mal einfach los. Okay, sagte ich mir, dann hast du erst mal keinen Job. Sich von allem zu trennen, was einem nicht gut tut, soll man in Indien so gut lernen können.

dings ohne hochwertige Kosmetik, Accessoires bekannter Weltmarken, edle Mode und Spezialitäten wie Schinken, Salami oder Emmentaler, die hier ungemein kostspielig sind, keinesfalls leben kann, muss eine 30-prozentige Luxussteuer zahlen. Ich überlege bei jeder Anschaffung, ob mich etwas glücklicher macht. Vor allem, weil vor dem Laden garantiert ein Mensch in Lumpen sitzt und die Hand nach ein paar Rupien ausstreckt. Das erdet.

Antje Pfahl

Loslassen, das lernt man hier wie von selbst

Heute, drei Jahre und etliche freiberufliche Projekte später, arbeite ich in der Social-Media-Abteilung und Kundenbetreuung von Paytm, einem großen E-Commerce-Portal, und leite ein zwölfköpfiges Team. Mittlerweile habe ich eine PIO Card, eine Art Visum Light, bekomme Zuschüsse für Versicherungen und Taxis und sogar Urlaubsgeld. In Deutschland habe ich nur noch eine private Zusatzrente. In Indien gibt es gar keine Rentenversicherung oder Arbeitslosenhilfe, und Krankengeld nur bis zu umgerechnet 200 Euro im Jahr. Absicherung ist hier weitgehend Privatsache. Im Krankenhaus bezahlt man bar, bevor man überhaupt ins Sprechzimmer darf. Ich verdiene mit rund 2.000 Euro pro Monat etwa das Fünffache dessen, was der Durschnitts-Inder nach Hause bringt, kann mir also die Lebenshaltungskosten auch in einer Metropole wie NeuDelhi gut leisten. Wer aller-

Im ersten halben Jahr sehnte ich mich noch nach der Verlässlichkeit in Deutschland. Wenn ich jetzt meine Mutter besuche, ärgert mich die lähmende Langsamkeit des Alltags – zumindest im Vergleich zu Indien und der rasanten Entwicklung dort, die man physisch spüren kann. Religiös im klassischen Sinne bin ich immer noch nicht. Aber mittlerweile verstehe ich die Bedeutung dieses Zusammenseins, dass Blumen irgendwo hingelegt werden und Glocken läuten, die Hausaltare und vielen farbenfrohen Feste. Eine junge Studentin führte mich einmal durch Old-Delhi, die historische Altstadt. In einem Tempel beteten 25 Frauen und sangen spirituelle Lieder. Ganz weltvergessen, intensiv, nur für sich und einander. In solchen Momenten weiß ich, dass ich angekommen bin. Ich bin keineswegs naiv in meiner Sicht auf Indien nach den letzten Jahren, weiß um die Billigarbeit, Korruption, Diskriminierung. Und doch hört man die Frauen singen und weiß: Eigentlich ist alles gut. Irgendwie.

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