LexisNexis ZfV - Zeitschrift für Verwaltung

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Zu Recht voraus.

4/2021 S. 415–522, ART.-NR. 53–64 Dezember 2021

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Herausgeber: Thomas Kröll/Georg Lienbacher/Erich Pürgy

Lexis 360

LexisNexis, 1030 Wien, Marxergasse 25, ISSN 1017-3463

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ABHANDLUNGEN

Zeitschrift für Verwaltung 4/2021

Lexis Briengs®

» Johannes Warter: Zur systemwidrigen Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen nach §§ 55 ff Sicherheitspolizeigesetz » Michael Bajlicz: Leistbares Bauland für alle? Bemerkungen zur Novelle des Burgenländischen Raumplanungs­gesetzes » Kathrin Bayer/Sandra Tauß-Grill: Abschuss- oder Unterpachtvertrag? » Helmut Kinczel: Zur Ausnahmebewilligung im Bundesstraßenplanungsgebiet » Christoph Hofstätter: Amtshaftung bei rechtswidriger COVID-19-Verordnungserlassung » Christoph Schramek: Umweltinformationsrecht im Spannungsfeld zur Akteneinsicht

RECHTSPRECHUNGSBERICHTE

» Thomas Kröll: Rechtsprechungsbericht: Verfassungsgerichtshof und Unionsgerichte » Harald Eberhard/Christian Ranacher/Martina Weinhandl unter Mitwirkung von Klaus Wallnöfer: Recht­ sprechungsbericht: Landesverwaltungsgerichte, Bundesverwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof

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Handbuch Pharmarecht

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Das Handbuch Pharmarecht bildet in übersichtlichen und klar strukturierten Kapiteln die zentralen Rechtsgebiete ab und zeichnet ein umfangreiches Bild der hochkomplexen Materie, die aufgrund zahlreicher europäischer und internaঞonaler Regelungen von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewinnt.

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ZfV 4/2021

INHALTSVERZEICHNIS

46. Jahrgang, Dezember 2021

ABHANDLUNGEN Johannes Warter: Zur systemwidrigen Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen nach §§ 55 ff Sicherheitspolizeigesetz

417

Michael Bajlicz: Leistbares Bauland für alle?

421

Kathrin Bayer/Sandra Tauß-Grill: Abschuss- oder Unterpachtvertrag?

430

Helmut Kinczel: Zur Ausnahmebewilligung im Bundesstraßenplanungsgebiet

439

Christoph Hofstätter: Amtshaftung bei rechtswidriger COVID-19-Verordnungserlassung

445

Christoph Schramek: Umweltinformationsrecht im Spannungsfeld zur Akteneinsicht

455

RECHTSPRECHUNGSBERICHTE Thomas Kröll: Rechtsprechungsbericht: Verfassungsgerichtshof und Unionsgerichte

474

Harald Eberhard/Christian Ranacher/Martina Weinhandl unter Mitwirkung von Klaus Wallnöfer: Rechtsprechungsbericht: Landesverwaltungsgerichte, Bundesverwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof 493

FACHLITERATUR Benjamin Kneihs/Georg Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (Peter Pernthaler)

516

Harald Eberhard/Michael Holoubek/Thomas Kröll/Georg Lienbacher/Stefan Storr (Hrsg), 100 Jahre Republik Österreich. Kontinuität – Brüche – Kompromisse (Peter Pernthaler)

519

Arno Kahl/Lamiss Khakzadeh/Sebastian Schmid (Hrsg), Kommentar zum Bundesverfassungsrecht – B-VG und Grundrechte (Karl Stöger)

519

Johannes Fischer/Katharina Pabel/Nicolaus Raschauer, Handbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit (Clemens Mayr)

521

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ZfV 4/2021 IMPRESSUM

Herausgeber & Redaktion: az. Prof. Dr. Thomas Kröll Univ.-Prof. Dr. Georg Lienbacher, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes Hofrat Univ.-Prof. Dr. Erich Pürgy, Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes Wissenschaftlicher Beirat: Univ.-Prof. Dr. Gerhard Baumgartner, Klagenfurt Univ.-Prof. Dr. Harald Eberhard, Wien Univ.-Prof. DDr. Christoph Grabenwarter, Wien Univ.-Prof. Dr. Stefan Griller, Salzburg Univ.-Prof. Dr. Michael Holoubek, Wien Univ.-Prof. Dr. Benjamin Kneihs, Salzburg Univ.-Prof. Dr. Arno Kahl, Innsbruck Univ.-Prof. Dr. Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Straßburg/Wien Univ.-Prof. Dr. Barbara Leitl-Staudinger, Linz Univ.-Prof. Dr. Verena Madner, Wien Univ.-Prof. Dr. Katharina Pabel, Wien

Univ.-Prof. Dr. Magdalena Pöschl, Wien Univ.-Prof. DDr. Michael Potacs, Wien Univ.-Prof. Dr. Eva Schulev-Steindl, LL.M., Graz Univ.-Prof. Dr. Stefan Storr, Wien Univ.-Prof. Dr. Ewald Wiederin, Wien Redaktionsassistenz: Daniela Michalek Sebastian Lendl, LL.M. (WU), BSc (WU) Adresse: Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht, Wirtschaftsuniversität Wien, Welthandelsplatz 1/D3, A-1020 Wien Tel. +43 1 31336-5402 (Lienbacher), +43 1 53111-231 (Pürgy), +43 1 31336-5401 (Michalek), DW 5441 (Kröll), DW 4077 (Lendl) E-Mail: thomas.kroell@wu.ac.at georg.lienbacher@wu.ac.at erich.puergy@vwgh.gv.at

daniela.michalek@wu.ac.at sebastian.yannick.lendl@wu.ac.at Abonnentenservice: Tel. +43 1 534 52-0, Fax DW 14 E-Mail: kundenservice@lexisnexis.at Lektorat und Autorenbetreuung: MMag. Birgit Wenczel Marxergasse 25, 1030 Wien Tel. +43 1 534 52-1603 E-Mail: birgit.wenczel@lexisnexis.at Anzeigen & Mediadaten: Alexander Mayr Marxergasse 25, 1030 Wien Tel. +43 1 534 52-1116, Fax DW 144 E-Mail: anzeigen@lexisnexis.at http://lesen.lexisnexis.at/zs/zfv/ mediadaten.html

Impressum: Offenlegung gemäß § 25 MedienG Medieninhaber und Herausgeber iSd § 1 Abs 1 Z 8 und Z 9 MedienG: LexisNexis Verlag ARD Orac GmbH & Co KG | Sitz: Marxergasse 25, 1030 Wien | Unternehmensgegenstand: LexisNexis ARD Orac ist ein führender Fachverlag in Österreich im Bereich Steuern, Recht und Wirtschaft, der die Tradition der Verlagshäuser Orac und ARD unter internationalem Dach fortführt. LexisNexis ARD Orac ist ein Tochterunternehmen der international tätigen Verlagsgruppe RELX Group, deren Legal Division weltweit unter dem Namen LexisNexis firmiert. | Grundlegende Richtung: Rechtsinformation und Wirtschaftsinformation; aktuelle rechtliche Neuerungen | Geschäftsführung: Mag. Susanne Mortimore | Unbeschränkt haftender Gesellschafter: Orac Gesellschaft m.b.H., Marxergasse 25, 1030 Wien | Kommanditist: Reed Messe Salzburg Gesellschaft m.b.H., Am Messezentrum 6, 5021 Salzburg | Beteiligungsverhältnisse: Alleiniger Gesellschafter der Orac Gesellschaft m.b.H.: Reed Elsevier Austria GmbH, Am Messezentrum 6, 5021 Salzburg | Gesellschafter der Reed Messe Salzburg Gesellschaft m.b.H.: Reed Elsevier Overseas B.V., Radarweg 29, 1043 NX Amsterdam (0,1 %), Reed Elsevier Austria GmbH, Am Messezentrum 6, 5021 Salzburg (99,9 %) | Alleiniger Gesellschafter der Reed Elsevier Austria GmbH: Reed Elsevier Overseas B.V., Radarweg 29, 1043 NX Amsterdam | Alleiniger Gesellschafter der Reed Elsevier Overseas B.V.: Reed Elsevier Holdings B.V., Radarweg 29, 1043 NX Amsterdam | Gesellschafter der Reed Elsevier Holdings B.V.: RELX Group plc, 1-3 Strand (http://www.relxgroup.com/aboutus/ Pages/Home.aspx), London WC2N 5JR (50 %), Reed Elsevier Holdings Ltd., 1-3 Strand, London WC2N 5JR (50 %) | Gesellschafter der RELX Group plc: RELX PLC (52,9 %), RELX NV (47,1 %) | Gesellschafter der RELX PLC: mehr als 75 % im Streubesitz | Gesellschafter der RELX NV: mehr als 75 % im Streubesitz | Gesellschafter der Reed Elsevier Holdings Ltd.: RELX Group plc (100 %) | Redaktion: Marxergasse 25, 1030 Wien Derzeit gilt Anzeigenpreisliste Stand Jänner 2021 | Verlags- und Herstellungsort: Wien | Die Zeitschrift erscheint 4-mal jährlich | Einzelheftpreis 2022: € 171,–; Jahresabonnement 2022: € 679,– inkl. MWSt bei Vorauszahlung; Preisänderungen vorbehalten | Bank Austria IBAN: AT841200050423468600, BIC: BKAUATWW | Abbestellungen sind nur zum Jahresschluss möglich, wenn sie bis spätestens 30.11. schriftlich einlangen | Druck: Prime Rate GmbH, Megyeri út 53, H-1044 Budapest.

Verlagsrechte: Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte bleiben vorbehalten. Kein Teil dieser Zeitschrift darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm, Aufnahme in eine Datenbank oder auf Datenträger oder auf andere Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere Datenverarbeitungsanlagen, verwendbare Sprache übertragen werden. Das gilt auch für die veröffentlichten Entscheidungen und deren Leitsätze, wenn und soweit sie vom Einsender oder von der Schriftleitung redigiert, erarbeitet oder bearbeitet wurden und daher Urheberrechtsschutz genießen. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopie hergestellt werden. Bitte beachten Sie: Für Veröffentlichungen in unseren Zeitschriften gelten unsere AGB für Zeitschriftenautorinnen und -autoren (abrufbar unter https://www.lexisnexis.at/ agb/agb-zeitschriftenautoren/) sowie unsere Datenschutzerklärung (abrufbar unter https://www.lexisnexis.at/datenschutzbestimmungen/). | ISSN 1017-3463 Trotz sorgfältigster Bearbeitung erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Eine Haftung des Verlages, der Herausgeber und der Autoren ist ausgeschlossen. Dies gilt auch für Inhalte, die exklusiv digital veröffentlicht werden. Richtlinien für Autoren: » Manuskripte übermitteln Sie bitte an die E-Mail-Adresse ZfV-Zeitschrift@lexisnexis.at. » Wir ersuchen um Verwendung gängiger juristischer Zitier- und Abkürzungsregeln. » Die Beiträge sollen eine Länge von nicht mehr 35.000 Zeichen (exkl Leerzeichen, inkl Fußnoten) aufweisen. Überschreitet das Manuskript diese Länge, halten die Herausgeber Rücksprache mit dem Autor, ob eine Kürzung möglich wäre. » Die Richtlinien für das Verfassen von Zeitschriftenbeiträgen finden Sie in ausführlicher Form unter zfv.lexisnexis.at in der Rubrik Autorenservice.

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ZfV 4/2021 ART.-NR.: 53

ABHANDLUNGEN Johannes Warter

Zur systemwidrigen Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen nach §§ 55 ff Sicherheitspolizeigesetz » ZfV 2021/53

Den „richtigen“ Rechtmäßigkeitstatbestand einer Datenverarbeitung zu finden ist in der Praxis oft nicht einfach. Vor dieser Problematik ist auch der Gesetzgeber nicht gefeit. Der nachfolgende Beitrag möchte anhand des Beispiels gesetzlich vorgesehener (aber systemwidriger) Einwilligungserklärungen bei Sicherheitsüberprüfungen die damit verbundene Problemstellungen darlegen, Handlungsoptionen für Beteiligte aufzeigen und de lege ferenda eine Behebung anregen. » Deskriptoren: Sicherheitsüberprüfung; Einwilligung. » Rechtsquellen: §§ 55, 55a, 55b SPG.

I. Einleitung II. Was ist eine Sicherheitsüberprüfung? III. Wann darf eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt werden? IV. Gesetzliche Voraussetzung der Einwilligung zu einer Sicherheitsüberprüfung V. Zur Freiwilligkeit einer datenschutzrechtlichen Einwilligung VI. Das Dilemma bei Sicherheitsüberprüfungen VII. Ausblick

I.

Einleitung

Datenschutz wird in der gesellschaftlichen Wahrnehmung nach wie vor häufig mit dem Teilbereich der Einwilligungserklärungen in Verbindung gebracht. Dies hängt meines Erachtens mit der nach wie vor weitverbreiteten (aber falschen) Vorstellung zusammen, dass die Einwilligung der einzige oder zumindest wichtigste Rechtmäßigkeitstatbestand einer Datenverarbeitung sei.1 Diese Meinung ist freilich nicht nur rechtlich unrichtig, die (falsche) Wahl des Rechtmäßigkeitstatbestands der Einwilligung bereitet bei der operativen Anwendung häufig Probleme, wenn Personen ihre Einwilligung verweigern oder eine erteilte Einwilligung 1

Die Zustimmung zur Datenverarbeitung ist schätzungsweise in über 90 % der Fälle nicht notwendig. Hier kommen vielmehr andere Rechtfertigungsgründe, insb die Vertragserfüllung (Art 6 Abs 1 lit b Datenschutz-Grundverordnung – DSGVO, ABl 2016 L 119/1), die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung (Art 6 Abs 1 lit c DSGVO) oder die Verarbeitung auf Grund eines berechtigten Interesses (Art 6 Abs 1 lit f DSGVO), in Betracht. So auch Schrems im Interview mit dem Standard vom 22. 1. 2019; siehe Der Standard, Max Schrems zu DSGVO-Strafe: 50 Millionen sind für Google „fast nichts“, 22. 1. 2019 https://derstandard.at/2000096810183/Max-Schrems-50-Millionen-Eurosind-fuer-Google-fast-nichts (abgefragt am 30. 9. 2021).

Warter, Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen

widerrufen. Oft können in diesem Fall gar zugesagte (Kern-)Leistungen nicht mehr erbracht werden. Spätestens dann zeigt sich, dass die Einwilligung der falsche Rechtmäßigkeitstatbestand der Datenverarbeitung war. In der Praxis ist es deshalb von besonderer Bedeutung, den „richtigen“ Rechtfertigungsgrund einer Datenverarbeitung zu finden. Einwilligungen sollen nur dort zum Einsatz kommen, wo sie auch notwendig und passend sind. Dass vor derartigen Fehleinschätzungen auch der Gesetzgeber nicht gefeit ist, zeigt das nachfolgende Beispiel der gesetzlich vorgesehenen Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen.

II.

Was ist eine Sicherheitsüberprüfung?

Eine Sicherheitsüberprüfung ist eine Abklärung der Vertrauenswürdigkeit eines Menschen anhand personenbezogener Daten. Sie soll Aufschluss darüber geben, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Person gefährliche Angriffe begehen werde.2 Im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung werden vorhandene 2

§ 55 Abs 1 Sicherheitspolizeigesetz – SPG, BGBl 566/1991 idF BGBl I 148/2021.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN

Datenbestände, die die Sicherheitsbehörden in Vollziehung von Bundes- oder Landesgesetzen ermittelt haben, nach personenbezogenen Daten des Probanden (gegebenenfalls auch automationsunterstützt) durchsucht.3 Darüber hinaus dürfen auch zusätzliche Informationen, etwa durch Anfragen an andere Behörden, ermittelt werden, wenn der Betroffene eine Funktion innehat oder anstrebt, mit der ein Zugang zu geheimen Informationen verbunden ist.4 Der Umfang der Sicherheitsüberprüfung variiert deshalb abhängig von der jeweiligen Vertraulichkeitsstufe. Es gibt die Sicherheitsüberprüfung der Stufe „vertraulich“, „geheim“ und „streng geheim“.5 Vor Durchführung der Sicherheitsüberprüfung muss der Betroffene ein Formular, die so genannte Sicherheitserklärung, ausfüllen und unterzeichnen. Dabei muss der Betroffene – abhängig von der jeweiligen Vertraulichkeitsstufe – Fragen zu abgeleisteten Militärdiensten, zu den bisherigen beruflichen Tätigkeiten, nach verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Verfahren, aber auch zu Beziehungen zu gewaltbereiten Personen bzw Organisationen, zu Beziehungen zu Nachrichtendiensten sowie zur persönlichen finanziellen und gesundheitlichen Situation angeben.6 Die zu verwendenden Formulare werden durch die Sicherheitserklärungs-Verordnung7 bestimmt. Abschließend werden die ermittelten Daten mit den Angaben der einzuholenden Sicherheitserklärung geprüft und wird das Resultat der anfragenden Stelle übermittelt.8

III. Wann darf eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt werden? Die Inhalte dieser Sicherheitsüberprüfung beziehen sich sehr stark auf die Privatsphäre des Betroffenen, weshalb sie auch nur unter den (strengen) Voraussetzungen der §§ 55 ff SPG durchgeführt werden dürfen.9 Die Zulässigkeit einer Sicherheitsüberprüfung ist in § 55a SPG geregelt. Dort sind die Fälle, in denen eine Sicherheitsüberprüfung erfolgen darf (Abs 1) oder erfolgen muss (Abs 2 und 3), taxativ aufgezählt. Eine Sicherheitsüberprüfung darf nach § 55a Abs 1 SPG zur Sicherung gesetzmäßiger Amtsausübung oder Geheimhaltung sowie alternativ zur Sicherung der Geheimhaltung vertraulicher Informationen erfolgen. Da diese Bestimmung auf den Zweck abstellt, ist der Anwendungsbereich sehr weit gefasst.10 Eine Sicherheitsüberprüfung darf deshalb nicht nur bei jedem Organ-

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Bundesministerium für Inneres, Merkblatt zur Sicherheitsüberprüfung gem §§ 55 ff SPG (abrufbar unter https://bmi.gv.at/Downloads/Merkblatt_zur_ Sicherheitsueberpruefung-deutsch_20180914.pdf [abgefragt am 30. 9. 2021]); Hauer/Keplinger, SPG4 (2011) § 55 SPG Anm 2.1. 4 Vgl § 55 Abs 4 und § 55b Abs 3 SPG. 5 Vgl etwa die Sicherheitserklärungs-Verordnung, BGBl II 114/2000 idF BGBl II 87/2017. 6 Siehe die Anlagen A bis D der Sicherheitserklärungs-Verordnung. 7 Sicherheitserklärungs-Verordnung, BGBl II 114/2000 idF BGBl II 87/2017. 8 Hauer/Keplinger (FN 3) § 55 SPG Anm 2.2. 9 Vgl Brodil, Sicherheitsüberprüfungen durch Polizeibehörden im privaten Bereich, ZAS 2000, 141. 10 Arg „zur“. So auch Hauer/Keplinger (FN 3) § 55a SPG Anm 2.

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walter durchgeführt werden, sie ist darüber hinaus auch für alle Personen zulässig, die mit vertraulichen Informationen11 zu tun haben.12 Darüber hinaus darf eine Sicherheitsüberprüfung auch für Zwecke des vorbeugenden Schutzes von Organwaltern verfassungsmäßiger Einrichtungen, von Vertretern ausländischer Staaten, internationaler Organisationen oder anderer Völkerrechtssubjekte hinsichtlich von Menschen erfolgen, die sich im räumlichen Umfeld des Geschützten aufhalten.13 § 55a Abs 2 SPG zählt zudem eine Reihe von Fällen auf, in denen eine Sicherheitsüberprüfung zwingend zu erfolgen hat. So ist beispielsweise eine Sicherheitsüberprüfung auf Ersuchen der Behörde durchzuführen, in deren Planstellenbereich der Betroffene einen Arbeitsplatz wahrnimmt oder anstrebt, bei dem er verwaltungsbehördliche Befehls- und Zwangsgewalt ausüben oder maßgebenden Einfluss auf das Zustandekommen sonstiger Verwaltungsakte oder anderer wichtiger behördlicher Entscheidungen hat. Gleiches gilt für Personen, deren angestrebte oder wahrgenommene Tätigkeit im Auftrag der Behörde den Zugang zu vertraulichen Informationen unerlässlich macht.14 Eine Sicherheitsüberprüfung erfolgt grundsätzlich auf Ersuchen einer Behörde. Unter bestimmten Umständen haben aber auch private Unternehmen das Recht, Arbeitnehmer bzw Stellenbewerber durch die Sicherheitsbehörde überprüfen zu lassen. Auf Grund der Tatsache, dass öffentliche Behörden zunehmend Teile von Arbeitstätigkeiten an externe Unternehmen auslagern, die früher klassischerweise von Bediensteten erbracht wurden,15 ist es nicht verwunderlich, dass vermehrt auch Sicherheitsüberprüfungen auf Ersuchen von privaten Unternehmen erfolgen, weil deren Mitarbeiter Zugang zu vertraulichen Informationen haben. In vielen Fällen werden durchgeführte Sicherheitsüberprüfungen für eine Zusammenarbeit mit öffentlichen Behörden sogar vorausgesetzt.16 Sicherheitsüberprüfungen auf Grund von Sicherheitserklärungen werden zentral vom Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung vorgenommen. Sicherheitsüberprüfungen auf Ersuchen von Unternehmen sind kostenpflichtig. Die Kosten betragen je nach Vertraulichkeitsstufe € 297,–, € 593,– oder € 890,–. Die Durchführung der Sicherheitsüberprüfung erfolgt nach der Entrichtung der Gebühr.17

11 Eine Information ist nach der Legaldefinition vertraulich, wenn sie erstens unter strafrechtlichem Geheimhaltungsschutz steht und zweitens ihre Geheimhaltung im öffentlichen Interesse gelegen ist. Vom strafrechtlichen Geheimhaltungsschutz sind auch verwaltungsstrafrechtliche Vorschriften erfasst. Vgl Hauer/Keplinger (FN 3) § 55 SPG Anm 5 mwN. 12 Vgl wiederum Hauer/Keplinger (FN 3) § 55a SPG Anm 2. 13 Vgl § 55a Abs 1 Z 2 SPG. 14 Vgl § 55a Abs Z 1 SPG. Weitere Fallkonstellationen werden in den Z 2 bis 5 sowie in Abs 3 genannt. 15 Die von Auslagerung erfassten Bereiche sind breit gefächert und reichen von einfachen Reinigungsleistungen bis hin zu komplexen Dolmetschleistungen. 16 Vgl bspw https://steiermark.orf.at/news/stories/2893464/ (abgefragt am 30. 9. 2021). 17 Bundesministerium für Inneres, Merkblatt zur Sicherheitsüberprüfung, abrufbar unter https://bmi.gv.at/Downloads/Merkblatt_zur_Sicherheitsueberpruefung-deutsch_20180914.pdf (abgefragt am 30. 9. 2021).

Warter, Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen


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Der Unionsgesetzgeber hat in der DSGVO für die datenschutzrechtliche Einwilligungserklärung besondere Erfordernisse an die Freiwilligkeit einer Einwilligung geknüpft.21 Der Betroffene muss die echte und freie Wahl haben, ob er in die Verarbeitung seiner Daten einwilligt. Die Verweigerung oder Zurückziehung der Einwilligung muss jederzeit und ohne Nachteile möglich sein; nur dann liegt Freiwilligkeit im Sinne der datenschutzrechtlichen Bestimmungen vor.22

Das Merkmal der Freiwilligkeit ist aber gerade im Arbeitsverhältnis oder Bewerbungsverfahren auf Grund des häufig vorhandenen Abhängigkeitsverhältnisses und Machtungleichgewichts umstritten.23 Zwar geht die herrschende Meinung zutreffend davon aus, dass eine pauschale Verweigerung der Voraussetzungen einer freiwilligen Entscheidung aufgrund eines Ungleichgewichts wohl zu weit geht,24 weil es auch in diesen Konstellationen Fälle geben kann, in denen eine datenschutzrechtliche Freiwilligkeit vorliegt.25 Für den Großteil der Datenverarbeitungen in Bezug auf Arbeitnehmer und Bewerber kann und soll die Einwilligung allerdings keine Rechtsgrundlage bilden.26 Im Zusammenhang mit den oben ausgeführten Rahmenbedingungen bei Sicherheitsüberprüfungen liegt nun aber eine Unstimmigkeit vor. Die in § 55a Abs 1 SPG vorgesehene Einwilligung der zu überprüfenden Person kann regelmäßig die genannten Freiwilligkeitserfordernisse nicht erfüllen. Der Betroffene wird die Einwilligung und die Sicherheitserklärung gewöhnlich deswegen erteilen, „weil ihre Verweigerung zu dienstlichen Nachteilen (Verweigerung der Ernennung oder Abberufung von einer Funktion) führen“ würde.27 Dasselbe gilt für Arbeitnehmer in privaten Unternehmen. Diese Vorgehensweise würde aber grundlegend dem datenschutzrechtlichen Freiwilligkeitserfordernis widersprechen, weil der zu Überprüfende eben nicht freiwillig, sondern aus Furcht vor dienstlichen Nachteilen einwilligt. Man könnte nun freilich Überlegungen anstellen, ob mit der in § 55a Abs 1 SPG vorgesehenen Einwilligung keine datenschutzrechtliche, sondern eine Zustimmung anderer Art zur Überprüfung und Übermittlung gemeint sein könnte. Dagegen spricht aber schon die historische Entwicklung der Bestimmung. Entsprechend der Terminologie des DSG 200028 war in § 55a Abs 1 SPG bis zur Novelle BGBl I 29/2018 von einer notwendigen „Zustimmung“ die Rede, ehe der Begriff in den von der DSGVO verwendeten Terminus der „Einwilligung“ geändert wurde. In Kraft getreten ist die Begriffsänderung in § 55a Abs 1 SPG mit 25. Mai

18 Hervorhebungen durch den Autor. Ausnahmen sind für die Fälle des § 55a Abs 1 Z 2 (Menschen, die sich im räumlichen Umfeld von Organwaltern verfassungsmäßiger Einrichtungen, Vertretern ausländischer Staaten, internationaler Organisationen oder anderer Völkerrechtssubjekte aufhalten) und § 55a Abs 2 Z 2 (auf Ersuchen des Bundesministers für auswärtige Angelegenheiten vor der Erteilung eines Exequatur zugunsten des Leiters einer konsularischen Vertretung oder des Agrément zugunsten des Leiters einer diplomatischen Mission) vorgesehen. In allen anderen Fällen ist eine Einwilligung notwendig. 19 Vgl die Anlagen A bis D der Sicherheitserklärungs-Verordnung. 20 Hauer/Keplinger (FN 3) § 55b SPG Anm 1; Mißbichler in Thanner/Vogl (Hrsg), SPG2 (2013) 584. 21 Vgl Art 4 Z 11 DSGVO. 22 Vgl ErwG 42 Satz 5 zur DSGVO; Kastelitz/Hötzendorfer/Tschohl, Art 6 DSGVO, in Knyrim (Hrsg), DatKomm (Stand 7. 5. 2020, rdb.at) Rz 24 ff mwN; Pachinger, DSGVO: Aus Zustimmung wird Einwilligung, ecolex 2017, 898 (899). Das Freiwilligkeitsprinzip lässt sich bereits aus Art 8 GRC ableiten; vgl Heckmann/Paschke, Art 7, in Ehmann/Selmayr (Hrsg), DatenschutzGrundverordnung2 (2018) Rz 45. Vgl zur Zustimmung nach der RL 95/46/ EG, ABl 1995 L 281/31: Article 29 Data Protection Working Party, Opinion 15/2011 on the definition of Consent (WP 187) vom 13. 7. 2011, 12: „Consent can only be valid if the data subject is able to exercise a real choice, and there is no risk of deception, intimidation, coercion or significant negative consequences if he/she does not consent. If the consequences of

consenting undermine individual’s freedom of choice, consent would not be be free.“ Vgl nur die Nachweise bei Winter in Grünanger/Goricnik (Hrsg), Arbeitnehmer-Datenschutz und Mitarbeiterkontrolle2 (Stand 1. 11. 2018, rdb.at) Kap 2 Rz 2.76; ebenso Kastelitz/Hötzendorfer/Tschohl (FN 22) Art 6 DSGVO Rz 24/1. Kastelitz/Hötzendorfer/Tschohl (FN 22) Art 6 DSGVO Rz 24/1; Buchner/ Kühling, Art 7, in Kühling/Buchner (Hrsg), DS-GVO/BDSG3 (2020) DSGVO Rz 44. So nunmehr auch EDSA (Hrsg), Guidelines 05/2020 on consent under Regulation 2016/679 (V1.0) Rz 22. Vgl auch § 26 Abs 2 deutsches Bundesdatenschutzgesetz – BDSG, BGBl I 2017, 2097 idF BGBl I 2019, 1626. Unklar dazu noch Datenschutzbehörde 8. 8. 2018, DSB-D213.658/0002-DSB/2018. Dafür spricht etwa, dass selbst im Falle eines Arbeitsverhältnisses die Einwilligung als möglicher Zulässigkeitstatbestand angeführt wurde. Vgl ErwG 155; anders noch ErwG 34 des Kommissionsentwurfs für die DSGVO, KOM(2012) 11 endg. Vgl auch die Beispiele der Article 29 Data Protection Working Party, WP 259, 8. Vgl Kastelitz/Hötzendorfer/Tschohl (FN 22) Art 6 DSGVO Rz 24/1; Winter (FN 23) Kap 2 Rz 2.76 ff. So ausdrücklich Hauer/Keplinger (FN 3) § 55b SPG Anm 1. Ebenso Keplinger/ Pühringer, Sicherheitspolizeigesetz16 (2016) 226. Datenschutzgesetz 2000 – DSG 2000, BGBl I 165/1999 idF vor dem Datenschutz-Anpassungsgesetz 2018, BGBl I 120/2017.

IV. Gesetzliche Voraussetzung der Einwilligung zu einer Sicherheitsüberprüfung Die Zulässigkeit einer Sicherheitsüberprüfung setzt nun aber auch die Einwilligung des Betroffenen voraus. Der Gesetzgeber statuiert ausdrücklich, dass „[...] eine Sicherheitsüberprüfung nur auf Grund der Einwilligung und einer Erklärung des Betroffenen hinsichtlich seiner gegenwärtigen Lebensumstände (Sicherheitserklärung) durchzuführen“ ist.18 Eine entsprechende Passage, in der die Betroffenen in die Überprüfung der eigenen Angaben sowie die Übermittlung des Überprüfungsergebnisses an die ersuchende Behörde bzw das ersuchende Unternehmen einwilligen, ist in den Sicherheitserklärungen gemäß den Anlagen der Sicherheitserklärungs-Verordnung vorgesehen.19 (Erst) auf Grund der Einwilligung der Betroffenen ist nach der herrschenden Meinung der einschlägigen (aber bereits etwas älteren) Kommentarliteratur die Überprüfung der Daten sowie die Übermittlung des Ergebnisses der Sicherheitsüberprüfung an die in der Einwilligung genannten Stellen datenschutzrechtlich zulässig.20 Bei genauerer Betrachtung ist aber nicht nur diese Ansicht, sondern auch die vom Gesetzgeber vorgesehene Systematik problematisch.

V.

Zur Freiwilligkeit einer datenschutzrechtlichen Einwilligung

Warter, Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN 2018.29 Darüber hinaus geht die einschlägige Kommentarliteratur unstrittig davon aus, dass mit dem Begriff der „Einwilligung“ der datenschutzrechtliche Rechtmäßigkeitstatbestand gemeint ist.30 Die gesetzlich vorgesehene Einwilligung kann in der Praxis in vielen Fällen nicht die datenschutzrechtlichen Voraussetzungen erfüllen. Der Gesetzgeber hat hier einen systemwidrigen Rechtfertigungsgrund vorgesehen, denn für derartige Datenverarbeitungen kommen andere Rechtfertigungsgründe, insbesondere das öffentliche Interesse (Art 6 Abs 1 lit c DSGVO), die Erfüllung einer rechtlichen Verpflichtung (Art 6 Abs 1 lit c DSGVO) oder bei Unternehmen das berechtigte Interesse (Art 6 Abs 1 lit f DSGVO), in Betracht. Insbesondere das öffentliche Interesse könnte meines Erachtens hier als Rechtfertigungsgrund dienen, nachdem der Gesetzgeber schon als Voraussetzung einer Sicherheitsüberprüfung ein öffentliches Interesse an einer Information voraussetzt.31

VI. Das Dilemma bei Sicherheitsüberprüfungen Unternehmen und Sicherheitsbehörden verbleiben in einem Dilemma, welches sich insbesondere im Bewerbungsverfahren verdeutlicht: Entweder halten sich Behörden und Unternehmen nicht an das datenschutzrechtliche Freiwilligkeitserfordernis, indem sie bei Stellenvergaben zum Beispiel nur Bewerber berücksichtigen, die ihre Einwilligung zur (notwendigen) Sicherheitsüberprüfung erteilen (mangels Freiwilligkeit wäre die erteilte Einwilligung rechtswidrig)32 oder sie stützen die Sicherheitsüberprüfung auf einen anderen datenschutzrechtlichen Rechtfertigungsgrund und holen die (gesetzlich vorgesehene) Einwilligung nicht ein (mangels der gesetzlich vorgeschriebenen Voraussetzungen dürfte die zuständige Behörde in diesen Fällen eine Sicherheitsüberprüfung aber nicht durchführen) oder es müssten – dem datenschutzrechtlichen Freiwilligkeitsgebot entsprechend – zum Beispiel auch jene Bewerber eingestellt werden, die sich weigern, eine Einwilligung zur Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung zu erteilen. In diesen Fällen würde dem Recht auf Datenschutz ein höherer Stellenwert beigemessen werden als sicherheitsrelevanten Aspekten. Dieses Beispiel offenbart die Systemwidrigkeit des vorgesehenen Rechtfertigungsgrunds der Einwilligung im konkreten Kontext. Die Literatur ging bislang einhellig davon aus, dass die Er-

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wartung dienstlicher Nachteile, die die zu Überprüfenden regelmäßig zur Einwilligung bewegen, zulässig sei.33

VII. Ausblick An der bislang vertretenen Lehrmeinung kann wohl unbestritten nicht weiter festgehalten werden. Eine nachhaltige Lösung der geschilderten Problematik ist letztlich aber nur durch den Gesetzgeber möglich, indem dieser die bestehende Einwilligung de lege ferenda durch einen systemkonformen Rechtsmäßigkeitstatbestand ersetzt. Bis dahin bleibt Behörden und Unternehmen aus pragmatischer Sicht wohl nichts anderes übrig, als einerseits weiterhin auf die bisherige Vorgehensweise zu setzen und andererseits das entsprechende Risiko im Auge zu behalten.34 Konkret wird man in der Praxis weiterhin versuchen, sowohl bei Bewerbern als auch bei bestehenden Mitarbeitern eine Einwilligung für die Durchführung der Sicherheitsüberprüfung einzuholen.35 Bei den verbleibenden Mitarbeitern, die sich weigern, ihre Einwilligung zu erteilen, wäre eine Möglichkeit, insofern Lösungen zu finden, als diesen beispielsweise andere Tätigkeiten zugewiesen werden könnten, die keine Sicherheitsüberprüfung erfordern. In letzter Konsequenz wäre mangels Kooperation des Mitarbeiters auch eine Kündigung durch den Arbeitgeber in Betracht zu ziehen. Als Anfechtungstatbestand käme hier lediglich die Sittenwidrigkeit in Betracht. Ob eine Kündigung sittenwidrig ist, richtet sich grundsätzlich nach ihrem Beweggrund.36 Dafür wäre der Arbeitnehmer zunächst aber nicht nur behauptungs- und beweispflichtig, die Erfolgsaussichten scheinen darüber hinaus gering, wenn zwingende öffentliche Interessen an der Durchführung einer Sicherheitsüberprüfung in Zusammenhang mit der Tätigkeit bestehen. 33 Keplinger/Pühringer (FN 27) 226; Hauer/Keplinger (FN 3) § 55b SPG Anm 1. 34 Allfällige Sanktionen müssen freilich dem vorliegenden rechtlichen Umstand ausreichend Rechnung tragen. Hinzuweisen ist zudem auf die Situation, dass gegen Behörden und öffentliche Stellen, die im gesetzlichen Auftrag handeln, und gegen Körperschaften des öffentlichen Rechts keine Geldbußen verhängt werden können (vgl § 30 Abs 5 Datenschutzgesetz – DSG, BGBl I 165/1995 idF BGBl I 14/2019). 35 Vgl das Musterdokument zur Sicherheitsüberprüfung in Beck’sche OnlineFormulare Vertrag, 46. Edition (2018) Rz 5. 36 Siehe etwa OGH 9 ObA 55/17d, ARD 6577/7/2017.

Der Autor:

29 Vgl § 94 Abs 43 SPG. 30 Vgl nur Hauer/Keplinger (FN 3) § 55b SPG Anm 1; Keplinger/Pühringer (FN 27) 226; Mißbichler (FN 20) 584. 31 § 55 Abs 3 SPG; siehe dazu auch schon oben FN 11. 32 Diese Vorgehensweise verstößt offenkundig gegen das datenschutzrechtliche Freiwilligkeitserfordernis. Denn werden dienstliche Nachteile mit der Einwilligung verknüpft, wird die Einwilligung zu einer Formalität degradiert, die ihr der Gesetzgeber als datenschutzrechtlichen Rechtfertigungstatbestand nicht beimisst.

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Mag. Dr. Johannes Warter Universitätsassistent (Postdoc) Fachbereich Arbeits- und Wirtschaftsrecht, Team Arbeits- und Sozialrecht Universität Salzburg Churfürststraße 1 A-5020 Salzburg johannes.warter@plus.ac.at lesen.lexisnexis.at/autor/Warter/Johannes

Warter, Einwilligung bei Sicherheitsüberprüfungen

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Michael Bajlicz

Leistbares Bauland für alle? Bemerkungen zur Novelle des Burgenländischen Raumplanungsgesetzes » ZfV 2021/54

Dieser Beitrag folgt der jüngsten Novelle des Burgenländischen Raumplanungsgesetzes in ihrem Aufbau sowie Gliederung und soll einen Überblick über die neuen Regelungen geben. Die Verfassungskonformität ausgewählter Bestimmungen wird erörtert. Die neuen Bestimmungen für Gefahren durch Hangwasser, Hangrutschung und Hochwasser bleiben außer Betracht. » Deskriptoren: Raumplanung; Baulandhortung; Baulandmobilisierung; Baulandmobilisierungsabgabe; Vertragsraumordnung; Eigentumsfreiheit; Lex Starzynski; kommunale Privatwirtschaftsverwaltung; eigener Wirkungsbereich der Gemeinde; Energierecht; Erneuerbare Energien. » Rechtsnormen: §§ 24, 24a, 24b, 53a, 53b Bgld. RPG; Art 10 Abs 1 Z 6, Art 15 Abs 9, Art 116 Abs 2, Art 118 Abs 2, Art 119a Abs 2 und 8 B-VG; Art 5 StGG; § 9 Abs 2 F-VG 1948.

I. Einleitung II. Baulandmobilisierungsmaßnahmen A. Sparsamer Umgang mit Bauland und Maßnahmen zur Baulandmobilisierung B. Eingeschränkte Vertragsautonomie durch nachträgliche Baulandmobilisierungsvereinbarungen? C. Vertragliche Verwendungs- oder Bebauungspflichten und die Tragung der Erschließungskosten D. Die Baulandmobilisierungsabgabe 1. Gegenstand der Abgabe und ausgewählte Ausnahmen 2. Bemessungsgrundlagen und Bemessungshöhe der Baulandmobilisierungsabgabe 3. Persönliche Ausnahmen von der Abgabenpflicht III. Maßnahmen zur Sicherstellung von leistbaren Baulandpreisen A. Ein „leistbarer Kaufpreis“ für Bauland? B. (Zulässiger) Eingriff in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde? C. Kompetenzrechtliche Bedenken im Zusammenhang mit Immobilienhöchstpreisen IV. Photovoltaik- und Windkraftanlagen A. Photovoltaikanlagen B. Windkraft- und Photovoltaikabgabe V. Resümee

I.

Einleitung

Mit 6. Mai 2021 trat die jüngste Novelle1 des Bgld. RPG 20192 (RPG) in Kraft. Durch die eingeführten Gesetzesänderungen sollen insbesondere ein leistbares Preisniveau für Bauland erhalten bzw hergestellt und spekulative Baulandhortung3 unterbun-

den werden.4 Die Novelle steht zudem ganz im Zeichen der Steigerung der Klimaverträglichkeit, denn der Anteil erneuerbarer Energie am Bruttoenergieverbrauch im Burgenland soll dadurch von 47,7 % auf 70 % angehoben werden. Deshalb werden die

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Gesetz vom 4. März 2021, mit dem das Burgenländische Raumplanungsgesetz 2019, geändert wird, LGBl 27/2021. Burgenländisches Raumplanungsgesetz 2019 – Bgld. RPG 2019, LGBl 49/ 2019 idF LGBl 27/2021. Das Burgenland war im Jahr 2019 mit einem Wert von 35,1 % das Bundesland mit den meisten unbebauten Bauflächen; siehe dazu Interview mit Landesrat Heinrich Dorner, bau aktuell 2020, 220 (221).

Bajlicz, Leistbares Bauland für alle?

Der Landesgesetzgeber hat sich fünf Ziele gesetzt, deren Verwirklichung er durch diese Novelle anstrebt: 1. Gewährleistung eines leistbaren Preisniveaus für Baugrundstücke im Burgenland, 2. Unterbindung des spekulativen Hortens von Bauland, 3. Abwendung der drohenden Gefahren durch Hangwasser, Hangrutschung und Hochwasser, 4. Anpassung an Richtlinienvorgaben der EU und 5. Sicherstellung der optimierten Nutzung knapper Ressourcen zur Erreichung der ehrgeizigen Klima- und Energieziele des Landes; vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP.

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Rahmenbedingungen für den Ausbau der Anlagen zur Erzeugung von Strom aus erneuerbarer Energie geändert. Der Widerhall auf den Erstentwurf5 war – für ein Gesetzgebungsvorhaben in einem relativ kleinen Bundesland – immens. 30 Stellungnahmen von unterschiedlichen Einrichtungen und (Privat-)Personen wurden bis zum Ende der Begutachtungsfrist abgegeben und auch mehrere Expertengutachten eingeholt.6 Nachdem viel Kritik zum ersten Gesetzesentwurf berücksichtigt und dieser nochmals überarbeitet wurde, nimmt dieser Beitrag nur an ausgewählten Stellen auch auf den Erstentwurf Bezug. Nach dem Gesetzesbeschluss kam es zu einer weiteren Verzögerung im Gesetzgebungsverfahren: Mit dieser Novelle wurden auch abgabenrechtliche Bestimmungen beschlossen. Gemäß § 9 Abs 1 F-VG 19487 musste deshalb unmittelbar nach Beschlussfassung durch den Burgenländischen Landtag der Gesetzesbeschluss dem Bundeskanzleramt bekannt gemacht werden. Die Bundesregierung hat Einspruch8 wegen Gefährdung von Bundesinteressen erhoben. Umweltministerin Leonore Gewessler und Landesrat Heinrich Dorner einigten sich politisch und die am 4. März 2021 beschlossene Version des Gesetzes wurde von der Bundesregierung nicht mehr beeinsprucht.9

II.

Baulandmobilisierungsmaßnahmen

A.

Sparsamer Umgang mit Bauland und Maßnahmen zur Baulandmobilisierung

§ 24 RPG wird mit der Novelle adaptiert. Im Erstentwurf sollte lediglich ein Absatz hinzugefügt werden; der Zweitentwurf enthielt eine umfassende Überarbeitung. § 24 Abs 1 RPG berücksichtigt im Rahmen der Örtlichen Raumplanung den sparsamen Umgang mit Bauland als besonderes Planungsziel und die Vermeidung eines den voraussichtlichen Bedarf der nächsten fünf bis zehn Jahre übersteigenden Baulandbestandes. Sparsamer Umgang mit Bauland und forcierte Baulandmobilisierung stehen miteinander nicht in Widerspruch.10 § 24 Abs 1 RPG hat bereits in seiner Stammfassung eine Verpflichtung zur Ergreifung von Baulandmobilisierungsmaßnahmen – basierend auf den vorhandenen Baulandreserven und dem abschätzbaren Baubedarf in den

Dieser ist unter https://apps.bgld.gv.at/web/landesrecht.nsf/begutachtungen_abgeschlossen.xsp?year=2020&typ=Gesetz (abgerufen am 28. 10. 2021) abrufbar. 6 Im Vergleich dazu wurden bspw beim umstrittenen Entwurf zum Bgld Jagdgesetz, welcher die Gatterjagd weiterhin erlauben sollte, nur 14 Stellungnahmen abgegeben. Die Stellungnahmen zu diesem Gesetzesvorhaben können online unter https://apps.bgld.gv.at/web/landesrecht.nsf/ begutachtungen_abgeschlossen.xsp?year=2020&typ=Gesetz (abgerufen am 28. 10. 2021) abgerufen werden. 7 Finanz-Verfassungsgesetz 1948 – F-VG 1948, BGBl 45/1948 idF BGBl I 51/2012. 8 Der Einspruch ist unter https://www.bundeskanzleramt.gv.at/medien/ministerraete/ministerraete-2021/47-ministerrat-am-10-februar-2021.html (abgerufen am 28. 10. 2021) abrufbar. 9 Siehe dazu https://burgenland.orf.at/stories/3090749/ (abgerufen am 28. 10. 2021). 10 Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24 RPG.

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nächsten fünf bis zehn Jahren – durch die Gemeinden vorgesehen. Diese Verpflichtung bestand insbesondere zum Zeitpunkt der Widmung einer Fläche zu Bauland.11 In der neuen Fassung wird diese Verpflichtung erweitert: Jegliche Neuwidmung von Bauland ist nur mehr zulässig, wenn geeignete Maßnahmen – das sind solche iSd § 24 Abs 3 und 4 RPG – ergriffen werden. Die Wahl der Mittel steht der Gemeinde dabei frei.12 Gemäß § 24 Abs 3 RPG kann eine befristete Baulandwidmung für einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren festgelegt werden. Im Falle einer nicht nach Art und Umfang dem Zweck der Widmung entsprechenden Bebauung bis zum Ablauf dieser Frist muss bis zu einem Jahr nach Fristablauf eine entschädigungslose Widmungsänderung (Rückwidmung in Grünland) vorgenommen werden. Erfordert zum Beispiel die gänzliche Neuerschließung eines größeren Betriebs- oder Siedlungsgebiets eine längere Vorlaufzeit, kann ausnahmsweise eine längere Frist festgelegt oder sogar eine unbefristete Grundstückswidmung vorgenommen werden.13 § 24 Abs 4 RPG sieht den Abschluss einer privatrechtlichen Baulandmobilisierungsvereinbarung vor und nennt in den Z 1 bis 3 unterschiedliche Ausgestaltungsvarianten. Es wird keiner der in § 24 Abs 4 RPG erwähnten Möglichkeiten der Vorzug gegeben. Die Erläuterungen sprechen von einer demonstrativen Aufzählung.14 Weder das Gesetz selbst (arg die Gemeinden „können“) noch die Erläuterungen sehen Verpflichtungen zum Abschluss von Baulandmobilisierungsvereinbarungen vor. Eine Verpflichtung (insbesondere) als Voraussetzung einer Widmungsänderung wäre in Anbetracht der Rsp15 des VfGH zur Vertragsraumordnung verfassungswidrig, denn eine derartige zwingende Verknüpfung privatwirtschaftlicher mit hoheitlichen Maßnahmen sieht das System der Bundesverfassung nicht vor.16 § 24 Abs 5 RPG eröffnet die Möglichkeit von Zusammenlegungsübereinkommen zwischen der Gemeinde und Grundeigentümerinnen. Der neu angefügte § 24 Abs 6 RPG ordnet an, dass Baulandmobilisierungsmaßnahmen iSd § 24 Abs 4 RPG nicht nur zum Widmungszeitpunkt, sondern auch später getroffen werden können.17 Die Erläuterungen zur Stammfassung des RPG gingen von einer Verpflichtung gemäß § 24 Abs 1 RPG zur Ergreifung von Baulandmobilisierungsmaßnahmen insbesondere zum Zeitpunkt der Widmung einer Fläche zu Bauland aus.18 Ob die Ergänzung des § 24 Abs 6 RPG daher zwingend notwendig war, ist frag-

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ErläutRV 1693 BlgBgldLT 21. GP § 24 RPG. Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24 RPG. Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24 RPG. So die ErläutRV 1693 BlgBgldLT 21. GP § 24 RPG. VfSlg 15.625/1999; jüngst dazu Schöndorfer-Haslauer, Vertragsraumordnung in Salzburg, ZfV 2021, 129. 16 Vgl VfSlg 15.625/1999; wenn die Widmung von Flächen als Bauland oder Grünland vom Inhalt privatrechtlicher Verträge mit eben derselben Gemeinde abhängig gemacht werden würde, so würden nach Ansicht des VfGH die Raumordnungspläne in Verordnungsform der notwendigen gesetzlichen Grundlage entraten. 17 § 24 Abs 5 RPG; dies soll eine spekulative Baulandhortung unterbinden und ein stabiles Preisniveau für unbebautes Bauland garantieren; vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24 Abs 5 RPG. 18 So die ErläutRV 1693 BlgBgldLT 21. GP § 24 RPG.

Bajlicz, Leistbares Bauland für alle?


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lich. Gemäß § 24 Abs 4 RPG allein konnte jedenfalls nicht festgestellt werden, zu welchem Zeitpunkt Baulandmobilisierungsmaßnahmen des § 24 Abs 4 RPG getroffen werden dürfen und ob diese auch nach einer erfolgten Widmungsänderung noch zulässig sind. Das Tatbestandsmerkmal „insbesondere zum Zeitpunkt der Widmung“ legt nahe, dass besagte Maßnahmen nicht bloß zu diesem, sondern auch zu einem anderen (späteren) Zeitpunkt getroffen werden können. § 24 Abs 6 RPG dient daher nur der Klarstellung.

B.

Eingeschränkte Vertragsautonomie durch nachträgliche Baulandmobilisierungsvereinbarungen?

Alle in § 24 Abs 4 RPG vorgesehenen Maßnahmen beruhen auf einer zivilrechtlichen Vereinbarung zwischen dem Grundeigentümer und der Gemeinde. Dabei können beispielsweise der Abschluss eines Kaufvertrages zwischen der Gemeinde oder einem von ihr namhaft gemachten Interessenten und dem Grundeigentümer (Z 1), die Verpflichtung zur Bebauung innerhalb eines bestimmten Zeitraumes19 (Z 2) oder die Übernahme der Tragung der Erschließungskosten (Z 3) vereinbart werden. An und für sich steht es den Grundstückeigentümern und der Gemeinde frei, wie sie den Inhalt der vertraglichen Vereinbarung gestalten – oder besser gesagt: wie die Gemeinde den Vertrag gestaltet.20 Denn wie bereits oben unter II.A. erwähnt, besteht die Möglichkeit, eine Vereinbarung iSd § 24 Abs 4 RPG auch zu einem späteren Zeitpunkt als dem Widmungszeitpunkt zu treffen.21 Dass der Abschluss einer solchen sich im Nachhinein negativ auf das Eigentum eines Grundeigentümers auswirkenden Vereinbarung mit der Gemeinde für den Grundeigentümer wenig reizvoll ist, leuchtet ein.22 Er wird geringes Interesse daran haben, seine Dispositionsfreiheit über sein bereits als Bauland gewidmetes Grundstück einzuschränken. Die im Falle des Nichtzustandekommens einer nachträglichen Vereinbarung drohenden Konsequenzen zwingen die Grundeigentümer aber wohl, eine solche Vereinbarung abzuschließen: Sollte es zu keiner vertraglichen Einigung kommen, steht den Gemeinden jedenfalls das hoheitliche Mittel der Widmung zur Verfügung. Mit dieser Novelle wird die Gemeinde verpflichtet, sich dieses Instrumentariums zu bedienen, denn § 24 Abs 2 erster Satz RPG ordnet an, dass „die Gemeinde[n] im Rahmen der Örtlichen Raumplanung unter Berücksichtigung der vorhandenen Baulandreserven

19 Inklusive welche Rechtsfolgen bei Nichteinhaltung der Vereinbarung eintreten. 20 Bei den in § 24 Abs 3 RPG genannten Beschränkungsmöglichkeiten handelt es sich um eine demonstrative Aufzählung; siehe dazu bereits oben. 21 Vgl auch für das Folgende die Stellungnahme des Bundeskanzleramtes, Gz: 2020-0624.057, 9 f. Abrufbar unter https://apps.bgld.gv.at/web/ landesrecht.nsf/begutachtungen_abgeschlossen.xsp?year=2020&typ= Gesetz (abgerufen am 28. 10. 2021). 22 So auch Kanonier/Schindelegger, Planungsinstrumente, in ÖROK (Hrsg), Raumordnung in Österreich und Bezüge zur Raumentwicklung und Regionalpolitik (2018) 75 (119), die den Einsatzbereich privatrechtlicher Vereinbarungen auf Eigentümer beschränken, die bereit sind, für die Ausweisung von Bauland Gegenleistungen zu erbringen.

Bajlicz, Leistbares Bauland für alle?

ABHANDLUNGEN

und des abschätzbaren Baulandbedarfs von fünf bis zehn Jahren Maßnahmen zur Mobilisierung des Baulandes [...]“ zu treffen hat. Sollte es also zu keiner privatrechtlichen Einigung kommen, bleibt lediglich eine Umwidmung übrig. Dadurch wird die Privatautonomie der Grundeigentümer immens limitiert. Auf Grund dieser „faktischen und rechtlichen Übermachtstellung“23 ist die für das Zivilrecht typische Gleichrangigkeit beider Vertragsparteien nicht gegeben.24 Obwohl sich die Verwaltung der Mittel des Privatrechts bedient, ändert dies nichts an ihrer prinzipiellen Grundrechtsbindung. Schließlich dient der Vertrag zur Durchsetzung öffentlicher Interessen und steht im Zusammenhang mit hoheitlichen Planungsentscheidungen.25 Diese bedingte Freiwilligkeit beim Vertragsabschluss ist im Hinblick auf die Eigentumsfreiheit des Art 5 StGG relevant. Die Eigentumsfreiheit dient dem Schutz der Grundrechtsträger vor ungerechtfertigten Enteignungen und Eigentumsbeschränkungen. Der Eigentumsbegriff wird von der Rsp weit verstanden und umfasst auch die Privatautonomie.26 Ein Eingriff durch die Regelungen des Raumordnungsrechts stellt – sofern es sich nicht um eine „materielle Enteignung“ handelt – nach herrschender Ansicht eine Eigentumsbeschränkung dar.27 Die Privatautonomie wird – wie bereits oben ausgeführt – durch die in § 24 Abs 4 RPG vorgesehenen (unter Umständen nachträglichen) Maßnahmen eingeschränkt und dadurch wird die Möglichkeit geschaffen, in das Eigentumsgrundrecht im Rahmen einer zivilrechtlichen Vereinbarung einzugreifen. Der Landesgesetzgeber muss bei der Schaffung solcher Grundrechtseingriffe, welche sich nicht direkt aus dem Gesetz ergeben, sicherstellen, dass diese im öffentlichen Interesse geschehen. Darüber hinaus muss das Verhältnismäßigkeitsprinzip gewahrt werden.28 Das Bestehen eines öffentlichen Interesses an leistbarem Bauland sowie dem sparsamen, am Bedarf der Gemeinde orientierten Umgang mit Bauland ist unbestritten. Diese Ziele der örtlichen Raumplanung werden in § 24 Abs 1 RPG festgelegt. Raumordnungsverträge eignen sich auch zur Erreichung dieser Ziele.29 Ein privatrechtlicher Vertrag ist grundsätzlich nur dann erforderlich, wenn er das gelindeste zielführende Mittel darstellt.30 Sofern die Gemeinden keine Möglichkeit haben, einen Grundeigentümer durch Einsatz hoheitlicher Druckmittel in für ihn nachteilige Verträge zu drängen, bestehen gegen privatrechtliche Verträge grundsätzlich keine Bedenken.31 Die Gemeinden haben aber durch die Möglichkeit der Widmungsänderung ein starkes ho23 Lienbacher, Raumordnungsrecht, in Bachmann et al (Hrsg), Besonderes Verwaltungsrecht13 (2020) 509 (541). 24 Lienbacher (FN 23) 541. 25 Berka/Kletečka, Gutachten zu Rechtsfragen der Vertragsraumordnung, in ÖROK (Hrsg), Beiträge der Raumordnung zur Unterstützung „Leistbaren Wohnens“ (2014) 77 (100). 26 Siehe dazu VfSlg 12.227/1989; 20.089/2016. 27 Siehe dazu zum Beispiel Thalmann, Die Flächen(rück)widmung als rechtfertigungsbedürftiger Eigentumseingriff, ecolex 2011, 388 (388); Berka/ Kletečka (FN 25) 100. 28 Vgl VfSlg 13.659/1993, 13.964/1994, 17.604/2005. 29 Vgl Berka/Kletečka (FN 25) 97 ff. 30 Kleewein, Vertragsraumordnung. Zugleich ein Beitrag zum Einsatz privatrechtlicher Verträge im Verwaltungsrecht (2003) 185. 31 Kleewein (FN 30) 186.

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heitliches Druckmittel in der Hand, um Grundstückseigentümer zum Vertragsabschluss zu bewegen. Grundstückseigentümer können somit gedrängt werden, einen Vertrag iSd § 24 Abs 4 Z 1 RPG, der in seiner Wirkung einer materiellen Enteignung gleichkommt, abzuschließen.32 Es wird dadurch zweifach in die Privatautonomie der Grundeigentümer eingegriffen: Einerseits werden sie zum Vertragsabschluss mehr oder weniger gezwungen und andererseits können sie nicht einmal ihren Vertragspartner frei wählen. Im Lichte der Rsp33 des VfGH ist solche, einer materiellen Enteignung gleichkommende Übertragung des Grundstückseigentums nicht gerechtfertigt.34 Dies führt im Ergebnis zu einer Verletzung des Eigentumsgrundrechts.

C.

Vertragliche Verwendungs- oder Bebauungspfl ichten und die Tragung der Erschließungskosten

Vertragliche Verwendungs- oder Bebauungspflichten, wie sie § 24 Abs 4 Z 2 bis 3 RPG vorsehen, bewirken starke Eigentumsbeschränkungen. Durch solche Pflichten wird ein Grundstückseigentümer in seiner aus dem Eigentumsgrundrecht abzuleitenden Baufreiheit eingeschränkt. Diese stellt es ihm frei, wie und ob er seine Liegenschaft bebaut.35 Eine Bebauungspflicht stellt einen gravierenden Grundrechtseingriff dar, weil sie mit großen finanziellen Aufwendungen verbunden ist.36 Sie erfordert ein qualifiziertes öffentliches Interesse, das sich nicht auf die plangemäße Bebauung des Grundstücks beschränken darf.37 Ein solches kann in den in § 24 Abs 1 RPG genannten Zielen verortet werden. Im Hinblick auf neu zu widmendes Bauland können solche Vereinbarungen nur dann grundrechtlich problematisch erscheinen, wenn eine zu kurze Bebauungsfrist vereinbart wird, denn gemäß § 24 Abs 3 RPG muss bei jeder Neuwidmung von Bauland ohnehin eine Befristung der Widmung von fünf bis zehn Jahren festgelegt werden. § 24 Abs 4 Z 2 RPG ordnet keine Maximalfrist für Bebauungsvereinbarungen an. Im Rahmen einer systematischen Interpretation wird sich diese an der zuvor genannten Befristung von fünf bis zehn Jahren orientieren. Solche Vereinbarungen können sich für Grundeigentümer als dienlich erweisen, weil die ohnehin bei Nichtzustandekommen des Vertrages drohende Rückwidmung in Grünland verhindert werden kann.38 Da keine zwingende Verknüpfung zwischen einem Hoheitsakt und einer privatrechtlichen Vereinbarung besteht, ist die Einräumung der Möglichkeit des Abschlusses solcher Vereinbarungen in solchen Fällen verfassungskonform.

32 Lienbacher (FN 23) 541. 33 VfSlg 15.625/1999. 34 Kleewein (FN 30) 186. Kleewein zufolge wäre die völlige Preisgabe des Eigentums unter Umständen gerechtfertigt, wenn besondere öffentliche Interessen am Bau von Infrastruktureinrichtungen wie Krankenhäusern oder Schulen bestehen. 35 VfSlg 8603/1979 und 9306/1981; vgl Kleewein (FN 30) 180. 36 Kleewein (FN 30) 191 f. 37 Kleewein (FN 30) 192. 38 Berka/Kletečka (FN 25) 108 f.

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Grundeigentümer eines ohne Befristung gewidmeten Baugrundstücks befinden sich hingegen in einer anderen Situation: Sie können sich auf eine „rechtlich verfestigte, grundsätzlich unbeschränkte Nutzungsbefugnis stützen“.39 In einer solchen Konstellation wäre es aus Sicht des Eigentumsgrundrechts unzulässig, die Grundeigentümer zum Vertragsabschluss zu zwingen, nur damit eine Rückwidmung in Grünland vermieden wird.40 Hier kann auch auf die Argumente bei Z 1 verwiesen werden. Die Überwälzung der Erschließungskosten auf die Grundstückseigentümer gemäß § 24 Abs 4 Z 3 RPG erscheint im Hinblick Eigentumsgrundrecht unproblematisch.41

D.

Die Baulandmobilisierungsabgabe

1.

Gegenstand der Abgabe und ausgewählte Ausnahmen

Zur Gewährleistung eines leistbaren Preisniveaus für Baugrundstücke im Burgenland wird eine so genannte Baulandmobilisierungsabgabe eingeführt. In anderen Bundesländern bestehen vergleichbare Instrumentarien: So sieht beispielsweise § 25 Oö. ROG 1994 42 die Vorschreibung eines Aufschließungsbeitrages für als Bauland gewidmete, unbebaute Grundstücke vor, welcher im Falle der Bebauung angerechnet wird.43 Das Sbg ROG 200944 enthält in § 77b ab dem fünften Jahr für unverbautes Bauland bestimmter Widmungskategorien einen Infrastruktur-Bereitstellungsbeitrag.45 Von der Baulandmobilisierungsabgabe sind nicht rückwidbare Baulandwidmungen betroffen, die nicht bebaut sind und die öffentliche Hand mit Infrastrukturanbindungskosten belasten. Lücken inmitten vom bebauten Bauland zwingen die Gemeinden, für die Erschließung neuer Flächen Grundstücke anzukaufen. Um diesen zusätzlichen finanziellen Aufwand zu decken, wurde die Baulandmobilisierungsabgabe eingeführt.46 Sie ist als gemeinschaftliche Landesabgabe konzipiert und ihr Ertrag wird zwischen Land und Gemeinden zu gleichen Teilen aufgeteilt.47 Gemäß § 24a Abs 1 RPG sind die Eigentümer unbebauter Grundstücke abgabenpflichtig. Die Grundstücke müssen als Bauland der Widmungskategorien iSd § 33 Abs 3 Z 1 bis 9 RPG ausgewiesen sein und deren aktuelle Widmung muss vor mehr als fünf Jahren festgelegt worden sein. § 24a Abs 2 RPG sieht insgesamt neun Ausnahmefälle vor, in welchen der Abgabeanspruch nicht entsteht. Die Z 8 scheint

39 40 41 42 43

44 45 46 47

Berka/Kletečka (FN 25) 109. Berka/Kletečka (FN 25) 109. Berka/Kletečka (FN 25) 117 f. Oö. Raumordnungsgesetz 1994 – Oö. ROG 1994, LGBl 114/1993 idF LGBl 73/2011. Zusätzlich muss ab dem fünften Jahr nach der Vorschreibung des Aufschließungsbeitrages gemäß § 28 Oö. ROG 1994 jährlich ein Erhaltungsbeitrag abgeführt werden, bis es zur Bebauung des Grundstücks kommt. Salzburger Raumordnungsgesetz 2009 – Sbg ROG 2009, LGBl 30/2009 idF LGBl 77/2020. Vgl zum Beispiel Lienbacher (FN 23) 526. Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24a RPG. § 24a Abs 1 RPG idF LGBl 27/2021.

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auf den ersten Blick potenzielles Missbrauchspotenzial in sich zu bergen: Sie sieht eine Ausnahme von der Abgabenpflicht vor, wenn „bereits mit der Bebauung des Baugrundstücks begonnen wurde“. Die Anknüpfung an den Baubeginn wurde im Begutachtungsverfahren kritisch betrachtet. Es wurde befürchtet, dass mit bloßen „Scheinbauvorhaben“, welche niemals fertiggestellt werden, die Abgabenpflicht umgangen werden kann.48 In der Neufassung der Novelle wurde das berücksichtigt: In § 24a Abs 9 RPG wird nun angeordnet, dass innerhalb der Fünfjahresfrist des § 19 Z 2 Bgld. BauG49 das Bauvorhaben abgeschlossen werden muss. Widrigenfalls ist die Abgabe nachträglich festzusetzen. Eine nachträgliche Abgabe ist auch dann vorzuschreiben, wenn um eine Umwidmung in Grünland angesucht wurde (§ 24a Abs 2 Z 7 RPG) und innerhalb von zwei Jahren ab Einlangen des Ansuchens keine rechtswirksame Änderung des Flächenwidmungsplanes erfolgt. Aus Sicht des Grundeigentümers ist es problematisch, wenn seinem Ansuchen auf Umwidmung innerhalb der Frist von zwei Jahren nicht entsprochen wurde, die Abgabe aber trotzdem zu entrichten ist. Nach Z 9 sind Ausnahmen für Grundstücke im ortsüblichen Ausmaß die für eigene Kinder oder Enkelinder, welche das 30. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, festgelegt. Pro Kind und Enkelkind darf nur ein Grundstück berücksichtigt werden. Gemäß § 24a Abs 3 RPG gelten Baulandgrundstücke als unbebaut, wenn deren Bebauung nicht auf eine widmungskonforme Nutzung ausgerichtet ist und diese zum Zeitpunkt des erstmaligen Entstehens des Abgabenanspruches unbebaut waren. Der Landesgesetzgeber wollte einer möglichen Umgehung der Abgabenverpflichtung entgegenwirken. Als Beispiel führt er Gartenhütten (im Sinne von Nebengebäuden)50 an, die den Bauzwang umgehen und das Entstehen der Abgabenverpflichtung verhindern sollen. Solche Nebengebäude dürfen nur im Zusammenhang mit der Errichtung eines Wohngebäudes gebaut werden. Auf einem unbebauten, als Bauland gewidmeten Grundstück ist dies unzulässig.51

2.

Bemessungsgrundlagen und Bemessungshöhe der Baulandmobilisierungsabgabe

Gemäß § 24a Abs 5 RPG sind für die Bemessung der Baulandmobilisierungsabgabe drei Faktoren maßgeblich: Größe der unbebauten Flächen iSd § 24a Abs 2 RPG innerhalb des Gemeindegebiets, Anzahl der vollen Monate innerhalb eines Kalenderjahres, in denen einen widmungskonforme Bebauung begonnen hat, sowie der per Verordnung der Landesregierung gemäß § 24b Abs 5 RPG festgelegte Quadratmeterpreis.52 Es gelten die bereits oben erwähnten Bedenken bezüglich des Baubeginns.53

48 Bundeskanzleramt (FN 21) 3. 49 Burgenländisches Baugesetz 1997 – Bgld. BauG, LGBl 10/1998 idF LGBl 83/2020. 50 Gemäß § 2 Abs 9 Bgld. BauG idF LGBl 83/2020. 51 Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24a RPG. Das heißt, dass eine Gartenhütte nicht allein auf einem Baugrundstück stehen darf. 52 Vgl § 24a Abs 5 RPG idF LGBl 27/2021. 53 Bundeskanzleramt (FN 21) 3.

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Die Höhe der jährlichen Abgabe ist anhand eines in § 24a Abs 6 RPG festgelegten, nach Grundstücksgröße gestaffelten Prozentsatzes vorzuschreiben. Dieser beginnt bei 0,5 % des Grundstückswertes für Grundstücke von bis zu 800 m2 und endet bei 2,5 % des Grundstückswertes bei Grundstücken ab 1601 m2. Gemäß § 24a Abs 7 RPG können die in Abs 6 festgelegten Prozentsätze durch Verordnung der Landesregierung abgeändert werden. Diese muss dabei lediglich berücksichtigen, dass kleine Baulandgrundstücke geringer belastet werden als große. Zusätzlich wird es der Landesregierung ermöglicht, Ausnahmen von der Abgabepflicht durch Verordnung festzulegen. Aus welchen Gründen die Prozentsätze des § 24a Abs 6 RPG geändert oder eine Ausnahme von der Abgabepflicht festgelegt werden durfte, ging beim Erstentwurf der Novelle weder aus dem Gesetz noch aus den Erläuterungen hervor. Gerade bei „eingriffsnahen Gesetzen“ bestehen nach der Rsp54 des VfGH erhöhte Bestimmtheitserfordernisse. Nach der Ansicht55 des VfGH zählen auch Abgabengesetze zu solchen eingriffsnahen Regelungen. Der Verordnungsgeber wurde ermächtigt, einen regelmäßigen Eingriff in das Eigentumsgrundrecht vorzunehmen, ohne Kriterien im Gesetz festzulegen, die eine nähere Determinierung herbeiführen. Es gab keine weitere Bindung des Verordnungsgebers für die Festlegung als die in § 24a Abs 6 RPG festgelegten Prozentsätze. Grundeigentümer durften somit auch nicht auf die § 24 Abs 6 RPG festgelegten Prozentsätze vertrauen und konnten somit nicht mit Gewissheit das Ausmaß dieses – jährlich wiederkehrenden – durchaus intensiven Grundrechtseingriffes voraussehen. Dass § 24a Abs 7 RPG im Hinblick auf Art 18 B-VG zu unbestimmt war, wurde im Begutachtungsverfahren kritisiert.56 Der Landesgesetzgeber hat darauf reagiert und § 24 Abs 7 RPG um einige Ausnahmekriterien ergänzt. In jenen Fällen, in welchen weder Land noch Gemeinde einen erheblichen Aufwand für die Erschließungskosten getätigt haben, ist eine Befreiung möglich.

3.

Persönliche Ausnahmen von der Abgabenpflicht

Gemäß § 24a Abs 7 RPG können von der Landesregierung durch Verordnung persönliche Ausnahmen für soziale Härtefälle und für den Fall, dass „aufgrund von Rechtsvorschriften eine rasche Verwertung von Liegenschaftsvermögen nicht zulässig ist“, normiert werden. Aus rechtstechnischer Sicht ist die Tatsache merkwürdig, dass Einzelausnahmen durch Verordnung und nicht mittels Bescheid festgelegt werden sollen. Diese Verordnungsermächtigung kann auf zwei Arten gedeutet werden: Entweder der Verordnungsgeber schafft im Rahmen einer Verordnung eine abstrakte Fallgruppe wie jene der sozialen Härtefälle und befreit diese von der Abgabenpflicht oder er hat – bei strenger Auslegung des Wortlauts – für jede von einer der in § 24b Abs 7 RPG genannten Einzelausnahmen betroffenen Person eine Verordnung zu erlassen. Aus rechtstechnischer Sicht würde die Erlassung einer Verordnung für eine Einzelperson anstatt eines Bescheides 54 Vgl VfSlg 10.737/1985, 11.455/1987, 13.336/1993 und 15.468/1999. 55 VfSlg 16.566/2002. 56 Bundeskanzleramt (FN 21) 3 f.

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einen Rechtsformenmissbrauch darstellen. Im Falle von Einzelausnahmen wäre es nach der Art des Regelungsinhaltes geboten, einen Bescheid anstatt einer Verordnung zu erlassen, weil es einen individuellen Adressaten gibt. Nach der Rsp des VfGH liegt ein verfassungswidriger Rechtsformenmissbrauch vor, wenn der einfache Gesetzgeber „für individuell adressierte verwaltungsbehördliche Akte die Form der Verordnung vorsieht“.57 Bei allen anderen Ausnahmen des § 24a Abs 2 RPG wird im Rahmen des Verfahrens gemäß § 24a Abs 8 RPG (zum Teil sogar von Amts wegen) ermittelt, ob eine Ausnahme von der Abgabenpflicht besteht. Danach wird die Abgabe durch Bescheid festgesetzt. Wenn zu Unrecht die Abgabenpflicht festgestellt werden würde, könnte der Abgabenschuldner mittels Bescheidbeschwerde dagegen vorgehen. Diese Möglichkeit hätte jemand, der sich auf eine persönliche Ausnahme, welche nicht mittels Verordnung gemäß § 24 Abs 7 RPG erlassen wurde, nicht. Dadurch entsteht ein Rechtsund Säumnisschutzproblem, weil das RPG Grundstückseigentümern kein Antragsrecht auf die Erlassung einer Verordnung für Ausnahmefälle gemäß § 24a Abs 7 RPG einräumt.58 Es ist daher im Rahmen einer verfassungskonformen Interpretation jener Auslegungsvariante des § 24 Abs 7 RPG der Vorrang zu geben, die den Verordnungsgeber dazu ermächtigt, abstrakte Gruppen von Ausnahmefällen durch Verordnung zu schaffen. Ob ein Grundstückseigentümer von dieser Ausnahme von der Abgabenpflicht im Einzelfall betroffen ist, wird dann mittels Bescheid durch die Abgabenbehörde festzustellen sein. Diese Auslegungsvariante sollte – obwohl es sich um eine abgabenrechtliche und somit „eingriffsnahe“ Regelung handelt – den Anforderungen des Determinierungsgebots (Art 18 B-VG) entsprechen.59 Die andere Auslegungsvariante, bei der eine Verordnung für jeden Einzelfall erlassen werden müsste, würde einen verfassungswidrigen Rechtsformenmissbrauch darstellen. Im Hinblick auf die Ausnahme der sozialen Härtefälle stellt sich die Frage, ob es nicht auch auf Grund des Gleichheitssatzes geboten wäre, dass der Verordnungsgeber soziale Härtefälle von der Abgabenpflicht befreit. Aus Sicht des Determinierungsgebots (Art 18 B-VG) müsste er zunächst klarstellen, welche Grundstückseigentümer als soziale Härtefälle einzustufen wären. Denkbar wären Konstellationen, in welchen eine vermögenslose Person ein Baugrundstück geschenkt bekommt oder erbt. In solchen Fällen kann sich die betroffene Person aber ohnehin auf die Ausnahme gemäß § 24a Abs 2 Z 4 RPG stützen: In den ersten drei Jahren ab Erlangung des Eigentums entsteht der Abgabenanspruch nicht. Innerhalb dieses Zeitraumes kann das Grundstück 57 VfSlg 17.018/2003; siehe dazu auch Trauner, Rechtswidriger Missbrauch der Rechtsform „Verordnung“, in FS Klecatsky (2010) 765 (771). 58 Siehe zum Rechtsschutzdefizit VfSlg 17.358/2004. 59 Bei der ausreichenden Determinierung handelt es sich freilich um einen „wertausfüllungsbedürftigen“ Begriff; vgl Rill, Art 18 B-VG, in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (1. Lfg, 2001) Rz 28. Nach VfSlg 13.785/1994 „ist […] ganz allgemein davon auszugehen, daß Art. 18 B-VG einen dem jeweiligen Regelungsgegenstand adäquaten Determinierungsgrad verlangt“; vgl auch VfSlg 9227/1981, wonach „gerade im Bereich der Festsetzung von Abgaben ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis für eine exakte gesetzliche Regelung besteht“.

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zum Beispiel weiterverkauft werden, weswegen eine gleichheitsrechtliche Problematik nicht vorliegt.

III. Maßnahmen zur Sicherstellung von leistbaren Baulandpreisen A.

Ein „leistbarer Kaufpreis“ für Bauland?

In § 24b Abs 1 RPG wird den Gemeinden die Verpflichtung auferlegt, für ihre Bürger „leistbares“ Bauland zur Verfügung zu stellen, um so den Baulandbedarf der nächsten fünf bis zehn Jahre zu decken. Der Bedarf nach Bauland soll mittels Interessenbekundungen der Gemeindebürger festgestellt werden. Dafür ist ein laufendes Monitoring durch die Gemeinde vorgesehen.60 Damit sollen zum Kauf angebotene und tatsächlich verkaufte Baulandgrundstücke und die erzielten Preise dokumentiert werden. Keine Verpflichtung zum Monitoring besteht in jenen Gemeinden, in welchen nachweislich kein Mangel an leistbarem Bauland besteht, oder wenn eine forcierte Nutzung von Baulandreserven dem Örtlichen Entwicklungskonzept der jeweiligen Gemeinde widerspricht. Bei einem Mangel an leistbarem Bauland kann die Landesregierung die betroffene Gemeinde zur Ergreifung geeigneter Maßnahmen auffordern. Die aus der Aufforderung resultierende Verpflichtung soll nach den Erläuterungen jedoch nicht dazu führen, dass die Gemeindehaushalte auf Grund der Bodenbeschaffung zu überteuerten Preisen finanziell belastet werden.61 Aus diesem Grund ordnet § 24b Abs 2 RPG an, dass der Kaufpreis im Rahmen eines Rechtsgeschäfts, welches der Erfüllung der Verpflichtung des § 24b Abs 1 RPG dient, einen von der Landesregierung per Verordnung gemäß § 24b Abs 5 RPG festgelegten Kaufpreis nicht übersteigen darf. In begründeten Ausnahmefällen sind Überschreitungen zulässig, wenn sie wirtschaftlich vertretbar sind. Die Kriterien für einen solchen „begründeten Ausnahmefall“ sind weder dem Gesetz noch den Erläuterungen zu entnehmen. Aus Sicht des verfassungsrechtlichen Determinierungsgebots (Art 18 B-VG) ist dies kritisch zu betrachten. Es wird in den Erläuterungen lediglich darauf hingewiesen, dass diese Ausnahmen einer entsprechenden Begründung bedürfen, welche im Fall einer aufsichtsbehördlichen Genehmigungspflicht des Rechtsgeschäfts gemäß § 87 Bgld. GemO 200362 zu prüfen ist.63 Der verordnete Maximalpreis gilt überdies gemäß § 24b Abs 3 RPG nur für Rechtsgeschäfte, welche dem Zweck der Bereitstellung leistbaren Baugrundes dienen, und somit nicht für sämtliche Grundstückserwerbe durch die Gemeinde.

60 Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24b RPG. 61 Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24b RPG. 62 Burgenländische Gemeindeordnung 2003 – Bgld. GemO 2003, LGBl 55/ 2003 idF LGBl 72/2019. 63 Eine solche Verknüpfung mit einer aufsichtsbehördlichen Genehmigung ist gemäß Art 119a Abs 8 B-VG zulässig; vgl Stolzlechner, Art 116 B-VG, GemVerfNov 1962, in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (24. Lfg, 2020) Rz 34.

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B.

(Zulässiger) Eingriff in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde?

Die Verfassung billigt den Gemeinden umfassende zivilrechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit zu.64 Das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht der Gemeinde, im Rahmen der kommunalen Privatwirtschaftsverwaltung tätig zu werden, ist gemäß Art 116 Abs 2 iVm Art 118 Abs 2 B-VG Teil des eigenen Wirkungsbereichs der Gemeinde.65 Bereits die Materialien zur B-VG-Novelle BGBl 205/1962 unterstreichen, dass es dem Bundes- und Landesgesetzgeber verwehrt ist, „diskriminierende Vorschriften gegenüber der Gemeinde auf diesem Gebiet aufzustellen“.66 Art 116 Abs 2 B-VG ist ein Diskriminierungsverbot.67 Es verbietet die „Erlassung eines die Gemeinden (negativ) diskriminierenden Sonderwirtschaftsrechts“.68 Es darf aber nicht als generelles Verbot von speziellen Regelungen der kommunalen Privatwirtschaftsverwaltung verstanden werden.69 Die Formulierung „innerhalb der Schranken der allgemeinen Bundes- und Landesgesetze“ des Art 116 Abs 2 B-VG hat eine Diskussion über die Reichweite dieser Schranken angestoßen.70 Von manchen Seiten wurde die Meinung vertreten, dass die Einschränkung der wirtschaftlichen Betätigungsfähigkeit der Gemeinden nur durch für jedermann geltende „allgemeine“ Gesetze zulässig wäre. Ein so weitgehendes Verbot für gesetzliche Beschränkungen der kommunalen Privatwirtschaftsverwaltung kann aber weder der Verfassungsbestimmung selbst noch den Materialien entnommen werden.71 Bernd-Christian Funk sieht in der vom Verfassungsgesetzgeber gewählten Formulierung einen Formelkompromiss zwischen den unterschiedlichen politischen Auffassungen72 über die kommunale Wirtschaftsfähigkeit.73 Die heute herrschende Lehre74 zieht die Grenze der kom-

64 Stolzlechner (FN 63) Art 116 B-VG, GemVerfNov 1962 Rz 28. 65 Siehe dazu Weber, Art 116 B-VG, in Korinek/Holoubek et al (Hrsg), Österreichisches Bundesverfassungsrecht (1. Lfg, 1999) Rz 13; Oberndorfer, Gemeinderecht und Gemeindewirklichkeit (1971) 154 ff; vgl VfSlg 6549/1971, 6828/1972, 9885/1983, 12.189/1989. 66 RV 639 BlgNR 9. GP 14. 67 Weber (FN 65) Art 116 B-VG Rz 14. 68 Stolzlechner (FN 63) Art 116 B-VG, GemVerfNov 1962 Rz 32. 69 Weber (FN 65) Art 116 B-VG Rz 14. 70 Ausführlich zu den unterschiedlichen Standpunkten Schwarzer, Die verfassungsgesetzliche Garantie der freien wirtschaftlichen Betätigung der Gemeinden und ihre Grenzen, Arbeitshefte der WU Wien Nr 11 (1980) 45 ff; mwN Segalla, Kommunale Daseinsvorsorge (2006) 165. 71 Weber (FN 65) Art 116 B-VG Rz 14. 72 Die ÖVP wollte das Subsidiaritätsprinzip für die unternehmerische Tätigkeit der Gemeinde in der Verfassung verankert haben, während die SPÖ die unbeschränkte wirtschaftliche Autonomie der Gemeinde vor Augen hatte; vgl Schwarzer (FN 70) 53. 73 Ausführlich zu den entgegengesetzten Positionen des christlich-sozialen Subsidiaritätsdenkens und der Programmatik der Sozialdemokratie Funk, Gestaltungsformen kommunaler Wirtschaftsverwaltung, in Krejci/Ruppe (Hrsg), Rechtsfragen der kommunalen Wirtschaftsverwaltung (1992) 1 (5 ff ). MwN Weber (FN 65) Art 116 B-VG Rz 14. 74 Umfassend zur Thematik Schwarzer (FN 70); mwN Korinek, Das Zusammenspiel hoheitlicher und privatrechtlicher Gestaltungsakte in der kommunalen Wirtschaftsverwaltung, in Krejci/Ruppe (Hrsg), Rechtsfragen der kommunalen Wirtschaftsverwaltung (1992) 27 (33 ff ); Korinek/Holoubek, Grundlagen staatlicher Privatwirtschaftsverwaltung – Verfassungsrechtli-

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munalen Wirtschaftsfreiheit entlang im Bundes-Verfassungsgesetz bereits angelegter, systemimmanenter verfassungsrechtlicher Schranken.75 Nur eine verfassungsrechtliche Ermächtigung erlaubt ein derartiges wirtschaftliches Sonderrecht.76 Zu diesen verfassungsrechtlichen Schranken zählen Kriterien des eigenen Wirkungsbereichs (Art 118 Abs 2 B-VG), die Kriterien der Wirtschaftlichkeit, Sparsamkeit und Zweckmäßigkeit (so genanntes „Effizienzgebot“, Art 119a Abs 2 B-VG) sowie die Berücksichtigung überörtlicher Interessen (Art 119a Abs 8 B-VG).77 Nach den Erläuterungen78 stellt die „aktive Bodenpolitik“ ein überörtliches Interesse dar, das den Eingriff in den eigenen Wirkungsbereich der Gemeinde rechtfertigt. Der Eingriff wird damit auf die Berücksichtigung überörtlicher Interessen (Art 119a Abs 8 B-VG) gestützt. Auf Grund überörtlicher Interessen kann aber lediglich ein Genehmigungsvorbehalt im Rahmen eines aufsichtsbehördlichen Verfahrens gemäß Art 119a Abs 8 B-VG festgelegt werden. Art 119a Abs 8 B-VG bildet keine Grundlage für eine Einschränkung der Gemeindeautonomie auf Grund eines „überörtlichen Interesses“ an Hand einer Deckelung der Grundstückspreise. Eine solche Einschränkung durch das RPG kann nicht auf Art 119a Abs 8 B-VG gestützt werden. Im Ergebnis verletzen die Abs 3 und 5 des § 24b RPG das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht der Gemeinde, im Rahmen der kommunalen Privatwirtschaftsverwaltung tätig zu werden.

C.

Kompetenzrechtliche Bedenken im Zusammenhang mit Immobilienhöchstpreisen

Kommt dem Landesgesetzgeber überhaupt die Kompetenz zu, einen Höchstpreis für den Erwerb von Immobilien festzulegen, oder greift er auf kompetenzwidrige Art und Weise in die Zivilrechtskompetenz des Bundes gemäß Art 10 Abs 1 Z 6 B-VG79 ein? Es muss zunächst überprüft werden, ob es sich bei § 24 Abs 3 RPG um eine zivilrechtliche Regelung handelt. Da ein Teil der essentialia negotii – nämlich der Kaufpreis – von der Landesregierung festgelegt wird, kommt es zu einer Modifikation des allgemeinen Zivilrechts. Es handelt sich daher um eine zivilrechtliche Regelung.80 Nach der Rsp des VfGH sind „Bestimmungen über den Erwerb des Eigentums an unbeweglichem Vermögen [...] jedenfalls solche des Zivilrechtswesens gemäß Art 10 Abs 1 Z. 6 B-VG, wenn hiedurch rechtsgeschäftlich einräumbare Rechte von Personen des Privatrechtes untereinander berührt werden“.81 Ebenso führt das Überwiegen öffentlicher Interessen – zu welchen der Burgen-

75 76

77 78 79 80 81

che und einfachgesetzliche Rahmenbedingungen nicht-hoheitlicher Verwaltung (1993) 81 ff. Segalla (FN 70) 166. Stolzlechner (FN 63) Art 116 B-VG, GemVerfNov 1962 Rz 32. Unter „allgemeinen Bundes- und Landesgesetzen“ versteht der Verfassungsgesetzgeber also bloß einfache Gesetze; vgl Schwarzer (FN 70) 56. Schwarzer (FN 70) 57. Eine weitere Schranke stellen die Bindung an Grundund Freiheitsrechte dar; vgl Weber (FN 65) Rz 14. Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP § 24b RPG. BGBl 1/1930 idF BGBl I 14/2019. Vgl Kleewein (FN 30) 101. VfSlg 13.322/1992 Pkt 3.2.

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ländische Landesgesetzgeber anscheinend auch leistbares Bauland zählt – noch nicht dazu, dass ein Regelungsgegenstand dem öffentlichen Recht zuzuordnen ist.82 Die Höchstpreisregelung wirkt sich auch auf die Rechtsunterworfenen aus. Deshalb scheidet die Qualifikation als Selbstbindungsgesetz iSd Art 17 B-VG als Kompetenzgrundlage aus. Nach Art 15 Abs 9 B-VG sind die Landesgesetzgeber im Bereich ihrer Gesetzgebung befugt, die zur Regelung des Gegenstandes erforderlichen Bestimmungen auch auf dem Gebiet des Zivilrechts (sowie des Strafrechts) zu treffen. Der VfGH unterscheidet bei der Ermächtigung des Art 15 Abs 9 B-VG zwei Gesichtspunkte: die Erforderlichkeit („rechtstechnischer Zusammenhang“) und den inhaltlichen Ermächtigungsbereich („Regelungsspielraum“). Die Erforderlichkeit wird vom VfGH streng ausgelegt, während er im Hinblick auf den Ermächtigungsbereich mehr Spielraum gewährt.83 Der VfGH verfolgt in seiner aktuellen Rsp einen rechtstechnischen Ansatz und orientiert sich nicht an teleologischen Gesichtspunkten, um „die zivilrechtliche Generalklausel vor ‚landesrechtlicher Aushöhlung‘ zu schützen“.84 Bereits mit seinem ersten Erk85 zum damaligen Art 15 Abs 5 B-VG hat der VfGH den Grundstein für seine restriktive Rechtsprechungslinie gelegt.86 Es muss eine „unerlässliche Verbindung“ zwischen der Landesmaterie und der zivilrechtlichen Ergänzungsregelung bestehen.87 Die zivilrechtliche Regelung muss in „dienender Funktion“ zur Hauptmaterie stehen.88 Diese Rsp wurde im Großen und Ganzen fortgeführt89 und in seinem Erk90 aus dem Jahre 1980 nochmals wörtlich wiedergegeben und es werden mehrere Voraussetzungen für die Erforderlichkeit genannt.91 Zunächst muss dem Landesgesetzgeber die Gesetzgebungskompetenz für eine Hauptmaterie zukommen, an welche die Ergänzungsregelung anknüpft.92 Das Raumordnungsrecht ist eine typische Querschnittsmaterie, den Bundesländern kommt – abgesehen von gewissen Fachplanungskompetenzen des Bundes – die Gesetzgebungskompetenz zu.93 Diese Voraussetzung ist erfüllt. Bei der zivilrechtlichen Bestimmung muss es sich um eine unselbständige Ergänzungsregelung zur landesgesetzlichen Hauptregelung handeln.94 Die zivilrechtliche Spezialregelung darf ohne 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91

92 93 94

Vgl Kleewein (FN 30) 98; siehe dazu auch zum Begriff des Zivilrechts VfSlg 9580/1982 und 11.760/1988. Pernthaler, Zivilrechtswesen und Landeskompetenzen (1987) 69. Kleewein (FN 30) 99; Pernthaler (FN 83) 64. VfSlg 558/1926. Harrer, Unerlässlichkeit ist nicht erforderlich, ZfV 2018, 49 (53). VfSlg 558/1926; vgl auch Pernthaler (FN 83) 62 f. Lienbacher, Kompetenzverteilung im Bundesstaat (2001) 249. VfSlg 1809/1949, 2319/1952, 2658/1954, 6055/1969, 6343/1970, 8458/ 1978, 8989/1980, 9580/1982, 9906/1983, 10.097/1984 und 13.322/1992. VfSlg 8989/1980; vgl auch Pernthaler (FN 83) 62. Die Kriterien wurden in der Literatur bereits mehrfach dargestellt; siehe dazu zum Beispiel Harrer (FN 86) ZfV 2018, 53; Kleewein (FN 30) 99; Pendl, Zivilrecht in Landesgesetzen am Beispiel des Vertragsaufhebungsrechts nach § 44 Abs 9 StROG, ÖJZ 2013, 1002 (1011); Pernthaler (FN 83) 63. Die Rsp wurde auch zuletzt in VfSlg 19.427/2011 zusammengefasst. VfSlg 13.322/1992 Pkt 4.1. Vgl beispielsweise Berka, Verfassungsrecht8 (2021) Rz 423. VfSlg 558/1926.

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den Konnex zur Hauptregelung nicht vollziehbar sein. Es genügt für die Anwendung des Art 15 Abs 9 B-VG nicht, dass die zivilrechtliche Regelung die Zwecke des Landesgesetzgebers verwirklicht.95 Anders gesagt: Das Telos spielt nach der Rsp des VfGH bei Anwendung des mit Art 15 Abs 9 B-VG keine Rolle. Daraus ergibt sich das Erfordernis eines rechtstechnischen Zusammenhanges zwischen den beiden Vorschriften. Die zivilrechtliche Ergänzungsregelung muss notwendig sein, weil durch eine öffentlich-rechtliche Regelung im Materiengesetz eine zivilrechtliche Frage aufgekommen ist.96 Art 15 Abs 9 B-VG erweitert nicht die Gesetzgebungsbefugnisse, sondern macht diese nur „wirksamer“. Dem Landesgesetzgeber ist es daher verboten, eine zivilrechtliche Hauptregelung zu treffen, wie er es im Falle des § 24b Abs 3 RPG gemacht hat. Lediglich eine „accesorische Bestimmung auf dem Gebiet des Zivilrechtswesens“ darf von den Bundesländern geregelt werden.97 Der Regelung des § 24b Abs 3 RPG fehlt der rechtstechnische Zusammenhang, der mit der Absicht des Landesgesetzgebers, die Budgets der Gemeinden nicht zusätzlich zu belasten, nicht hergestellt werden kann, um eine Gesetzgebungskompetenz nach Art 15 Abs 9 B-VG zu begründen. Dadurch wird kein zivilrechtliches – sondern, wenn überhaupt, ein fiskalisches – Problem aufgeworfen. Zur Förderung der raumordnungsrechtlichen Ziele steht die Möglichkeit der Gestaltung des Privatrechts aber nicht offen, solange die privatrechtliche Regelung keine notwendige Ergänzung darstellt.98 Im Fall des § 24b Abs 3 RPG schafft der Landesgesetzgeber eine zivilrechtliche – und somit rechtstechnisch selbständige – Hauptregelung. Es handelt sich um keine notwendige Ergänzung. Die landesgesetzliche Hauptregelung muss schließlich ohne die zivilrechtliche Sonderbestimmung derart unvollständig sein, dass sie nicht sinnvoll vollziehbar wäre. Durch die Ergänzungsregelung wird die Hauptregelung erst zur inhaltlich vollständigen Rechtsnorm.99 Von einer derartigen Unvollständigkeit auf dem Gebiet des Raumordnungsrechts gehen jedoch weder Lehre100 noch Rsp101 aus. Nach der Ansicht von Wolfgang Kleewein stellen Maximalpreise keine notwendige Ergänzung des Raumordnungsrechts dar, weil das angestrebte Regelungsziel – die widmungskonforme Bebauung – auch ohne diese erreicht werden kann.102 Wenn aus zivilrechtlicher Sicht die öffentlich-rechtlichen Regelungen zu keinen privatrechtlichen Problemlagen füh95 96 97 98 99 100 101

VfSlg 8989/1980, 13.322/1992. Vgl VfSlg 13.322/1992. Vgl VfSlg 2452/1952. Vgl VfSlg 13.322/1992 Pkt 3.3.2. Lienbacher (FN 88) 252. Kleewein (FN 30) 100 f. Vgl VfSlg 9580/1982 im Hinblick auf einen Mangel der Kontrolle des Liegenschaftsverkehrs im Zusammenhang mit einer möglichen Unvollständigkeit der Vorschriften des Bau- und Raumordnungsrechts. 102 Kleewein (FN 30) 101 f. Dieser ist auch der Meinung, dass auch Abweichungen vom Vorkaufsrecht des ABGB, die Möglichkeit der Vereinbarung einer abweichenden Einlösungsfrist oder die Anordnung, dass im Fall der Nichtbeachtung des Vorkaufsrechts eine Vertragsstrafe in Höhe des unzulässigen Mehrerlöses fällig wird, nicht auf Art 15 Abs 9 B-VG gestützt werden können.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN

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ren, besteht auch kein Bedarf nach einem Sonderzivilrecht.103 Wie bereits beim Kriterium der unselbständigen Ergänzungsregelung erwähnt, handelt es sich bei § 24b Abs 3 RPG um eine Hauptregelung. Die Frage nach der Unvollständigkeit erübrigt sich daher. Der Landesgesetzgeber hat durch die Erlassung des § 24 Abs 3 RPG kompetenzwidrig gehandelt und in die Zivilrechtskompetenz des Bundes eingegriffen. Diese Bestimmung ist verfassungswidrig.

IV. Photovoltaik- und Windkraftanlagen

Abs 3 RPG „besonders zu berücksichtigen“. Oftmals handelt es sich um eine zwingende Voraussetzung für die Ausweisung der Fläche. Die qualifizierte Nutzung wird in § 53a Abs 3 Z 1 bis 6 RPG geregelt. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Anlage von einer Bürgerenergiegemeinschaft106 oder einer Erneuerbare-Energie-Gemeinschaft107 betrieben wird.108 § 53a Abs 5 RPG hält noch einmal fest, dass die Errichtung und der Betrieb von Photovoltaikanlagen, welche im Flächenwidmungsplan gemäß Abs 4 gesondert ausgewiesen werden, ein vorrangiges Interesse gegenüber dem Schutz des Landschaftsbildes darstellen.109

A.

B.

Photovoltaikanlagen

§ 53a Abs 1 RPG sieht ein Primat der Installation von Photovoltaikanlagen auf Dächern oder von gebäudeintegrierten Lösungen vor. Sofern dies nicht möglich ist, dürfen Photovoltaikanlagen – bei Erfüllung aller sonstigen gesetzlichen Vorgaben – auf geeigneten Freiflächen errichtet werden. Dies ist nur zulässig, wenn die Voraussetzungen des § 53a Abs 2 Z 1 bis 3 RPG kumulativ vorliegen. Die Photovoltaikanlage muss deshalb vorrangig zur Deckung des Eigenbedarfs dienen und ihre Modulfläche darf höchstens 35 m2 (für Betriebs- und Industriegebietsflächen 100 m2) betragen. Weiters ist ihre Errichtung nur auf der Widmungsfläche des zugehörigen Gebäudes oder auf der dem Gebäude zuordenbaren Widmungsfläche „Grünfläche-Hausgärten“ zulässig. Im Hinblick auf die zulässigen Widmungsflächen für die zugehörigen Gebäude gibt es eine Einschränkung: Im Baugebiet für Erholungs- oder Tourismuseinrichtungen iSd § 33 Abs 3 Z 7 RPG und in Sondergebieten iSd § 33 Abs 3 Z 8 RPG ist eine Errichtung von Photovoltaikanlagen nicht zulässig. Größere Photovoltaikanlagen, welche die Flächenbegrenzungen des § 53a Abs 2 Z 3 RPG überschreiten, dürfen nur in so genannten Eignungszonen errichtet werden.104 Diese werden von der Landesregierung im Verordnungsweg festgelegt und sind im Flächenwidmungsplan ersichtlich zu machen.105 Gemäß § 53a Abs 4 RPG dürfen in einer Eignungszone Grünflächen der Widmungskategorie „nicht landwirtschaftliche Nutzung“ iSd § 40 Abs 2 RPG im Flächenwidmungsplan der Gemeinde ausgewiesen werden. Mit der Zonierung hat sich der Verordnungsgesetzgeber an unterschiedlichen Kriterien wie zum Beispiel an der aktuellen sowie an der künftigen Netzeinspeisung zu orientieren. Dabei wird explizit darauf hingewiesen, dass der Landschaftsbildschutz im Falle wichtiger energiewirtschaftlicher Interessen zurücktritt. Nach den Erläuterungen wird bei der Ausweisung einer Fläche in der Eignungszonenverordnung ein Konzept für deren qualifizierte Nutzung benötigt. Solche Konzepte sind gemäß § 53a 103 Kleewein (FN 30) 100 f. 104 Dem korrespondiert die Anordnung in § 53a Abs 4 RPG, laut welcher nur auf Flächen der Widmungskategorie „nicht landwirtschaftliche Nutzung“ Photovoltaikanlagen errichtet werden dürfen, welche die Flächenabgrenzungen des § 54a Abs 2 Z 3 RPG überschreiten. 105 Eine Eignungszonenverordnung wurde bereits von der Burgenländischen Landesregierung erlassen, LGBl 60/2021.

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Windkraft- und Photovoltaikabgabe

Um einen Ausgleich für die Beeinträchtigung des Landschaftsbildes durch große Photovoltaikanlagen iSd § 53a Abs 3 RPG sowie durch Windkraftanlagen zu schaffen, hat der Landesgesetzgeber in § 53b RPG eine Windkraft- und Photovoltaikabgabe eingeführt. Diese ist gemäß § 53b Abs 2 RPG als gemeinschaftliche Landesabgabe konzipiert und der Abgabenanspruch entsteht gemäß Abs 4 mit Fertigstellung der Anlage und endet mit deren Abbruch. Die Höhe der Abgaben ist gemäß § 53b Abs 5 RPG von der Landesregierung im Verordnungsweg festzulegen. Bei den Photovoltaikanlagen ist auf deren Flächengröße und bei den Windkraftanlagen auf deren Höhe und Leistung Bedacht zu nehmen. Für Photovoltaikanlagen darf höchstens eine jährliche Abgabe in Höhe von € 700,– pro Hektar beanspruchter Fläche vorgesehen werden und im Bereich der Windkraftanlagen beträgt die Maximalhöhe der jährlichen Abgabe € 3.000,– pro Megawatt.110

106 ISd Art 16 RL (EU) 2019/944 des Europäischen Parlaments und des Rates v 5. 6. 2019 mit gemeinsamen Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt, ABl 2019 L 158/125, berichtigt mit ABl 2020 L 15/8. 107 ISd Art 22 RL (EU) 2018/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates v 11. 12. 2018 zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen, ABl 2018 L 328/82, berichtigt mit ABl 2018 L 311/11. 108 Weitere qualifizierte Anlagen iSd § 53a Abs 3 Z1 RPG wären solche, die eine Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Energieproduktion oder der Finanzierung einer Photovoltaikanlage vorsehen (Z 2), eine landwirtschaftliche Nutzung weiterhin ermöglichen (Z 3), eine kombinierte Netznutzung mit Windkraftanlagen vorsehen (Z 4), die Netzeinspeisung mit Energiespeicherung kombinieren (Z 5), die Energieversorgung von Betriebsstätten im Burgenland (Direktleitung) sicherstellen (Z 6). 109 Vgl IA 542 BlgBgldLT 22. GP. 110 Die Maximalbeträge wurden erst nach einem Einspruch durch den Ministerrat gemäß § 9 Abs 2 F-VG 1948 hinzugefügt; der Ministerratsbeschluss (47/15) ist unter https://www.bundeskanzleramt.gv.at/medien/ministerraete/ministerraete-2021/47-ministerrat-am-10-februar-2021.html (abgerufen am 28. 10. 2021) abrufbar. Im Lichte der Rsp des VfGH (VfSlg 19.448/2011) müssen nämlich „bereits im Gesetz die wesentlichen Voraussetzungen und Inhalte des behördlichen Handelns umschrieben sein“. Dies wäre ohne einen Maximalbetrag nicht der Fall gewesen, weswegen das Determinierungsgebot des Art 18 B-VG verletzt worden wäre. Der VfGH hat bereits in VfSlg 13.309/1992 im Hinblick auf Abgaben ausgesprochen, dass die „Festlegung einer Maximalhöhe einer Abgabe (eines Beitrages) im Gesetz eine den Erfordernissen des Art 18 B-VG entsprechende determinierende Wirkung haben […]“ kann. Siehe weiters zum differenzierten Legalitätsprinzip Kröll, Durchführungsverordnung und differenziertes Legalitätsprinzip, ZfV 2017, 280.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN

V.

Resümee

Der Burgenländische Landesgesetzgeber hat in mehreren Bereichen der Novelle des RPG die ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen überschritten. Im Hinblick auf den Eingriff in den eigenen Wirkungsbereich dürfte er über ein gewisses Problembewusstsein verfügt haben: Immerhin kann den Erläuterungen ein – wenn auch missglückter – Rechtfertigungsversuch111 für diesen Eingriff entnommen werden. Bezüglich des Eingriffs in das Eigentumsgrundrecht vertröstet er die Grundeigentümer lediglich damit, dass sie diesen „wirtschaftlichen Reflex“ hinzunehmen haben. Die so genannte Lex Starzynski wird hingegen in keiner Weise thematisiert. Aller Voraussicht nach wird sich der VfGH mit der Verfassungsmäßigkeit der in diesem Beitrag behandelten Bestimmungen des

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RPG auseinandersetzen müssen. Denn die Burgenländische ÖVP hat bereits vor Beschlussfassung durch den Landtag angekündigt, einen Gesetzesprüfungsantrag beim VfGH zu stellen.112 112 https://burgenland.orf.at/stories/3092811/ (abgerufen am 2.10.2021).

Der Autor: Univ.-Ass. Mag. Michael Bajlicz Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht Wirtschaftsuniversität Wien Welthandelsplatz 1/D3 A-1020 Wien michael.bajlicz@wu.ac.at lesen.lexisnexis.at/autor/Bajlicz/Michael

111 Dieser wird oben unter III.B. behandelt.

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Abschuss- oder Unterpachtvertrag? » ZfV 2021/55

Die Verpachtung von Jagdgebieten unterliegt gesetzlichen Beschränkungen. Insbesondere die Unterverpachtung ist – wenn überhaupt – nur unter strengen Voraussetzungen erlaubt. Die jagdrechtlichen Regelungen sollen eine klare Zuordnung der Verantwortlichkeit des jeweiligen Pächters gewährleisten. In der Praxis kommt es immer öfter zu (an sich zulässigen) Abschussverträgen, mit denen ein Verkauf von Abschüssen erfolgt. Dem Abschussberechtigten werden darin allerdings oft umfassende Rechte und vor allem Pflichten übertragen. Es stellt sich die Frage, wo die Grenze zwischen schon unzulässiger Unterverpachtung und noch zulässigem Abschussvertrag liegt. » Deskriptoren: Jagdgebiete; Abschussvertrag; Jagderlaubnisschein; Unterverpachtung; Umgehung; Zulässigkeitskriterien. » Rechtsquellen: Bgld. JagdG 2017; K-JG; NÖ JG; Oö. Jagdgesetz; Sbg JG; Stmk Jagdgesetz; TJG 2004; Vlbg JG; Wr Jagdgesetz.

I. Pachtvertrag A. Verpachtung als übliche Bewirtschaftungsform B. Regelungen zur Unterverpachtung in Landesjagdgesetzen C. Zweck der Be- und Einschränkungen bei der (Unter-)Verpachtung 1. Örtliche Komponente 2. Personenbezogene Komponente 3. Zeitliche Komponente II. Abschussvertrag A. Abschussvertrag als mögliche andere (zusätzliche) Bewirtschaftungsform B. Regelungen zu Abschussverträgen in den Landesjagdgesetzen 1. Explizite Erwähnung von Abschussverträgen 2. Ansonsten: Schweigen im Walde zfv.lexisnexis.at

Bayer/Tauß-Grill, Abschuss- oder Unterpachtvertrag?

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN

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III. Abgrenzung von Unterpacht- und Abschussvertrag in der Judikatur A. Inhalt B. Vergütung von Wildschäden C. Jagdaufsicht D. Verantwortung und Auftreten nach außen E. Wildfütterung F. Revierbetreuung G. Erfüllung eines Abschusskontingents H. Benützung von Jagdeinrichtungen I. Weitere Faktoren IV. Zulässigkeit von „Abschussverträgen plus“? A. Überschneidung von öffentlichem Recht und Zivilrecht B. Regelungen im öffentlichen Recht C. Beurteilung im Einzelfall: Umfang und Zweck des „Abschussvertrages plus“ 1. Variante 1: Kein Umgehungsgeschäft 2. Variante 2: Umgehungsgeschäft V. Fazit

I.

Pachtvertrag

A.

Verpachtung als übliche Bewirtschaftungsform

In Österreich herrscht das Revierjagdsystem,1 wobei zwischen Eigenjagdgebieten und Gemeinde-, Gemeinschafts- oder Genossenschaftsjagdgebieten unterschieden wird: Eigenjagdgebiete sind zusammenhängende Grundflächen von mindestens 115 ha,2 die im Eigentum eines gleichen Grundeigentümers stehen und als solche von der Jagdbehörde anerkannt wurden. In Eigenjagdgebieten steht es dem Grundeigentümer frei, die Jagd auf seinen Grundflächen selbst auszuüben, einen Jagdverwalter zu bestellen oder das Eigenjagdgebiet zu verpachten.3 Gemeinde-, Gemeinschafts- oder Genossenschaftsjagdgebiete fassen im Wesentlichen jene „übrig gebliebenen“ Grundflächen zusammen, die keinem Eigenjagdgebiet angehören. Je nach Bundesland4 werden sie Gemeinde-, Gemeinschafts- oder Genossenschaftsjagdgebiete genannt und in vielen Bereichen ähnlich geregelt. In diesen Jagdgebieten ist das Jagdrecht in der Regel zu verpachten.5 Die meisten Landesjagdgesetze ermögli1 2

3 4

5

Erlacher, Waffen- und Jagdrecht (2015) 66. In Tirol wird in Abweichung von den restlichen Bundesländern grundsätzlich eine zusammenhängende land- oder forstwirtschaftlich nutzbare Grundfläche von mindestens 200 ha gefordert (§ 5 Abs 1 Tiroler Jagdgesetz 2004 – TJG 2004, LGBl 41/2004 idF LGBl 111/2021), im Burgenland eine Fläche von 300 ha (§ 5 Abs 1 Burgenländisches Jagdgesetz 2017 – Bgld. JagdG 2017, LGBl 24/2017 idF LGBl 11/2021). Erlacher (FN 1) 67 ff. Genossenschaftsjagdgebiete (Burgenland, Oberösterreich, Niederösterreich, Tirol, Vorarlberg), Gemeinschaftsjagdgebiete (Salzburg) oder Gemeindejagdgebiete (Kärnten, Steiermark, Wien). ZB § 22 Wiener Jagdgesetz – Wr Jagdgesetz, LGBl 6/1948 idF LGBl 27/2021; § 14 Steiermärkisches Jagdgesetz 1986 – Stmk Jagdgesetz, LGBl 23/1986 idF LGBl 59/2018; § 11 Abs 2 TJG 2004; § 14 Abs 2 Salzburger Jagdgesetz 1993 – Sbg JG, LGBl 100/1993 idF LGBl 85/2020.

Bayer/Tauß-Grill, Abschuss- oder Unterpachtvertrag?

chen (zumindest vorübergehend) auch in diesen Gebieten die Jagdrechtsausübung durch einen Jagdverwalter.6 Die übliche Bewirtschaftungsform bleibt aber die Verpachtung. Die Landesjagdgesetze regeln insbesondere, welche Personen als Pächter geeignet sind,7 wie lange die Pachtperiode andauert,8 welche Form und Inhalte der Pachtvertrag aufweisen muss9 und welche Anzeige- oder Genehmigungspflichten zu beachten sind.10 Alle Landesjagdgesetze sehen vor, dass die Verpachtung von Jagdgebieten grundsätzlich11 ungeteilt – also als Einheit und nicht bloß nach gewissen Revierteilen („örtliche Unteilbarkeitsregel“) – erfolgen muss.12 Diese Unteilbarkeitsregel enthält auch einen weiteren Aspekt: Der Verpächter darf sich keine Rechte oder Pflichten zurückbehalten („sachliche Unteilbarkeitsregel“). Es ist also unzulässig, ein Jagdgebiet zu verpachten, sich selbst aber eine gewisse Anzahl an Stücken „zu behalten“ oder sich Zustimmungsrechte zu Jagdschutzorganen usw vorzubehalten.13

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7 8 9

10 11

12 13

ZB § 2 Abs 3 Bgld. JagdG 2017; § 2 Abs 5 Kärntner Jagdgesetz 2000 – K-JG, LGBl 21/2000 idF LGBl 7/2021; § 26 Oberösterreichisches Jagdgesetz – Oö. Jagdgesetz, LGBl 32/1964 idF 46/2021. ZB §§ 33 ff Bgld. JagdG 2017; § 18 K-JG; § 25 Sbg JG. ZB § 17 K-JG; § 18 Abs 2 TJG 2004. ZB § 41 NÖ Jagdgesetz 1974 – NÖ JG, LGBl 6500-0 idF LGBl 2/2020; § 19 Oö. Jagdgesetz; § 20 Vorarlberger Jagdgesetz 1988 – Vlbg JG 1988, LGBl 32/1988 idF LGBl 50/2021. ZB §§ 22 ff TJG 2004; § 29 und § 46 Abs 4 Wr Jagdgesetz; § 24 Abs 6 und § 75 Stmk Jagdgesetz. Bei Eigenjagdgebieten ist eine Verpachtung nur eines Teiles oder mehrerer Teile möglich, wenn alle Jagdgebietsteile die für ein Eigenjagdgebiet erforderliche Mindestgröße aufweisen (zB § 46 Wr Jagdgesetz; § 60 Abs 1 Bgld. JagdG 2017; § 34 Abs 3 Oö. Jagdgesetz) oder sogar größer sind (§ 39 Abs 2 iVm § 11 Abs 3 lit b Sbg JG); in Salzburg ist die teilweise Verpachtung der Gemeinschaftsjagd zur vereinbarten Abrundung oder zum verfügten Austausch von Jagdgebieten zulässig (§ 24 Sbg JG). Vgl zB § 38 Bgld. JagdG 2017; § 29 Z 1 NÖ JG und § 28 Abs 4 und § 35 Abs 1 Sbg JG. Vgl VwGH 27. 11. 2012, 2010/03/0159; UVS Tirol 9. 4. 2009, 2009/11/0291-7.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN Nach den Landesjagdgesetzen14 kann die Jagdausübung somit nur in ihrer Gesamtheit (und im Weg der Bestellung von Jagdverwaltern) an einen Pächter übertragen werden. Für den Pächter stellt sich die Frage, ob und wie er die ihm aus dem Pachtvertrag zustehenden Rechte einem Dritten übertragen kann. Denkbar ist die Unter- oder Weiterverpachtung. Die Unterverpachtung ist die entgeltliche Überlassung der dem Pächter aus dem Pachtvertrag zustehenden Rechte durch diesen an einen Dritten. Pächter bleibt derjenige, der den eigentlichen Pachtvertrag abgeschlossen hat. Im Unterschied zur Unterverpachtung wird bei der Weiterverpachtung die Pachtung für den Rest der Pachtdauer gänzlich an einen Dritten abgetreten. Dabei scheidet der erste Pächter als solcher aus dem Pachtverhältnis aus; der neue Pächter tritt an seiner Stelle in das Pachtverhältnis ein. Für Zwecke dieses Beitrages wird ausschließlich auf die Unterverpachtung eingegangen, weil es nur bei dieser zu Abgrenzungsschwierigkeiten mit Abschussverträgen kommen kann.

B.

Regelungen zur Unterverpachtung in Landesjagdgesetzen

Die (Un-)Zulässigkeit einer Unterverpachtung ist je nach Bundesland unterschiedlich ausgestaltet. Am strengsten und klarsten für sämtliche Jagdgebiete ist die Unterverpachtung in Tirol geregelt, wo diese sowohl für Eigenals auch Genossenschaftsjagden verboten ist.15 Auch Oberösterreich und Salzburg kennen explizite Verbote für Unterverpachtungen. In Oberösterreich ist dieses explizite Verbot auf die Unterverpachtung von Genossenschaftsjagden beschränkt.16 In Salzburg umfasst das Verbot eine „der Fläche nach gänzliche Überlassung“ eines Gemeinschaftsjagdgebiets oder eines gepachteten Teils einer Gemeinschaftsjagd.17 Die (bloß) „teilweise Überlassung“ von Teilen eines Gemeinschaftsjagdgebietes in Salzburg ist hingegen mit Zustimmung der Jagdkommission und Genehmigung der Jagdbehörde möglich, wenn Interessen des Jagdbetriebs und der Land- und Forstwirtschaft nicht dagegen sprechen.18 Solche Bedenken liegen nach § 35 Abs 2 letzter Satz Sbg JG insbesondere vor, „wenn durch die Überlassung Jagdgebiete entstehen, die das für die ordnungsgemäße Ausübung der Jagd erforderliche Ausmaß nicht besitzen“. Nicht eindeutig klar ist, ob sich in Salzburg aus den Formulierungen „der Fläche nach [...] Überlassung“ in Abs 1 ein Unterschied zur „Überlassung“ in Abs 2 ergibt. Den Gesetzesmaterialien ist dazu nichts zu entnehmen. Aus der Regelungssystematik (insbesondere auch auf Grund § 35 Abs 2 letzter Satz Sbg JG) ist aber eher davon auszugehen, dass mit beiden Absätzen dieselbe „Überlassung“ – also die Unter- und Weiterverpachtung – geregelt werden soll und beide Formen nur dann zulässig sind, wenn sie sich 14 ZB § 2 Abs 5 Bgld. JagdG 2017. 15 § 19 TJG 2004. 16 Gemäß § 34 Abs 7 Oö. Jagdgesetz bleiben hinsichtlich der Verwertung eines Eigenjagdrechtes die Regeln des Privatrechts „im Übrigen“ unberührt. 17 § 35 Abs 1 Sbg JG. 18 § 35 Abs 2 Sbg JG.

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nur auf Teile der gepachteten Gemeinschaftsjagd und nicht auf das gesamte gepachtete Gebiet beziehen. Keine Regelungen zur Unterverpachtung und damit kein explizites Verbot gibt es in der Steiermark19 und in Vorarlberg. In der Steiermark war die Unterverpachtung einer Gemeindejagd bis 2015 nur mit Zustimmung des Gemeinderats und Genehmigung der Bezirksverwaltungsbehörde möglich.20 Nunmehr wird nur die Weiterverpachtung ausdrücklich geregelt, was laut den Gesetzesmaterialien zum Entfall der Möglichkeit der Unterverpachtung von Gemeindejagden führen sollte.21 Auch in Vorarlberg war im Jagdgesetz von 194822 noch ein Verbot der Unterpacht enthalten. Dieses trat mit Inkrafttreten des Jagdgesetzes von 1988, welches die Unterverpachtung nicht mehr ausdrücklich regelt, außer Kraft.23 In den Gesetzesmaterialien wird der Entfall dieses expliziten Verbots nicht erläutert,24 das Fehlen von Regelungen zu bzw expliziten Verboten von Unterverpachtungen führt aber unseres Erachtens nicht dazu, dass eine Unterverpachtung uneingeschränkt erlaubt wäre. Im Gegenteil: Eine Unterverpachtung würde ein „neues“ Pachtverhältnis darstellen und wäre daher wieder an den materiellen (zum Beispiel örtliche Unteilbarkeit, Eignung der Pächter, Pachtdauer) und verfahrensrechtlichen (zum Beispiel Anzeige/Genehmigung des Pachtvertrags) Pachtbestimmungen des betreffenden Landesjagdgesetzes zu messen. Die Bundesländer Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Salzburg und Wien erlauben die Unterverpachtung von Jagdgebieten grundsätzlich, geben dafür aber gewisse – mehr oder weniger strenge – Rahmenbedingungen vor. So wird die Zulässigkeit der Unterverpachtung zum Beispiel davon abhängig gemacht, dass sie im Pachtvertrag vorgesehen ist,25 die Zustimmung des Jagdausschusses/der Jagdkommission bzw des Eigenjagdberechtigten vorliegt,26 die Unterverpachtung der Behörde angezeigt und/oder von dieser genehmigt wird,27 Interessen der Jagd nicht entgegenstehen (zB durch Überlassung an zur Jagdpacht geeignete Person oder durch Überlassung/Zurückbleiben von ausreichend großen Jagdgebieten).28 Bei Analyse aller neun Landesjagdgesetze ist eine gewisse Tendenz dahingehend erkennbar, dass die westlicheren Bundesländer eine Unterverpachtung eher – explizit oder implizit – verbieten. Die südlichen/östlichen Bundesländer schaffen hingegen 19 Das Stmk Jagdgesetz trifft keine Regelungen über die Unterverpachtung, sondern ausschließlich über die Abtretung der Jagdpachtung (also de facto über die Weiterverpachtung; vgl § 22 Stmk Jagdgesetz über die Abtretung der Jagdpachtung). 20 § 22 Stmk Jagdgesetz idF LGBl 23/1986. 21 16. GPStLT RV EZ 3033/1; § 22 Stmk Jagdgesetz idF LGBl 9/2015. 22 § 35 Vlbg JG 1948 idF LGBl 5/1948. 23 § 70 Vlbg JG 1988 idF LGBl 32/1988: 1. 10. 1988. 24 RV, 3. Blg im Jahr 1988 zu den Sitzungsberichten des 23. Vorarlberger Landtages. 25 § 20 K-JG; § 54 Bgld. JagdG 2017; § 38 Abs 3 und § 51 Abs 2 NÖ JG. 26 § 54 Bgld. JagdG 2017; § 38 Abs 3 und § 51 Abs 2 NÖ JG. 27 § 20 K-JG; § 54 Bgld. JagdG 2017; § 38 Abs 3 und § 51 Abs 2 NÖ JG; § 35 Abs 1 und § 46 Abs 4 Wr Jagdgesetz. 28 § 20 K-JG; § 54 Bgld. JagdG 2017; § 38 Abs 3 und § 51 Abs 2 NÖ JG.

Bayer/Tauß-Grill, Abschuss- oder Unterpachtvertrag?


ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN

ART.-NR.: 55

Möglichkeiten zur Unterverpachtung, solange diese gegenüber der Behörde klar kommuniziert wird und damit der örtliche, persönliche und zeitliche Verantwortungsbereich klar zugeordnet werden kann (siehe dazu gleich).

C.

Zweck der Be- und Einschränkungen bei der (Unter-)Verpachtung

Das Jagdrecht ist ein aus dem Eigentum an Grund und Boden fließendes Privatrecht. Öffentliche Interessen stehen allerdings der freien Ausübung dieses Privatrechts entgegen. Nach der Rsp des VfGH besteht in Österreich – im Vergleich zu anderen Staaten der EU – sogar ein spezifisches Interesse an einer flächendeckenden Jagdbewirtschaftung: Im europäischen Vergleich ist die Schalenwilddichte und Diversität in Österreich am höchsten. Auf Grund des Wildverbisses ist bei rund der Hälfte der österreichischen Waldflächen die notwendige Verjüngung nicht mehr gegeben. Die Höhe der durch Wildeinfluss verursachten Schäden haben sogar den Rechnungshof mehrmals dazu veranlasst, Maßnahmen zur Reduzierung der hohen Wildbestände zu fordern.29 Die Gewährleistung einer flächendeckenden und geordneten Jagdwirtschaft liegt im öffentlichen Interesse „an der Erhaltung der günstigen Wirkungen des Waldes, eines artenreichen und gesunden Wildbestandes, eines ausgewogenen Naturhaushalts, der Erfordernisse der Land- und Forstwirtschaft und der wildökologischen Raumplanung“.30 Durch einen unsachgemäßen Jagdbetrieb tritt nicht nur eine Schädigung des betreffenden Jagdgebietes und der Land- und Forstwirtschaft, sondern auch eine Benachteiligung der angrenzenden Jagdgebiete ein.31 Die Ausübung der Jagd stellt daher nicht bloß ein Freizeitvergnügen dar. Sie dient insbesondere dazu, ein wildökologisches Gleichgewicht aufrechtzuerhalten.32 Daraus ergeben sich drei wesentliche Punkte: Die Jagdbewirtschaftung soll flächendeckend/systematisch (örtliche Komponente) und geordnet/ordnungsgemäß (personenbezogene sowie zeitliche Komponente) ausgeübt werden. Die Landesgesetzgebung ist daher berechtigt, die Ausübung des Jagdrechts zu regeln und Einschränkungen aus jagdwirtschaftlichen und jagdpolizeilichen Gründen aufzustellen.33

1.

Örtliche Komponente

Durch eine jagdgebietsbezogene Organisation der Jagdbewirtschaftung soll eine (auf Grund der Bindung des Jagdrechts an das Grundeigentum mögliche) unkontrollierte Jagd jedes Grund29 VfSlg 20.103/2016; VfSlg 20.205/2017; siehe zu dieser Rsp ausführlich Auner, Jagdfreistellung von Grundstücken – Rechtsprechungsvergleich zwischen VfGH und EGMR, ZfV 2018, 15; Bayer/Hackländer/Eisenberger, VfGH sieht keine Verfassungswidrigkeit in der Verpflichtung des (ethisch motivierten) Grundeigentümers, die Jagd zu dulden, RdU 2017, 32. 30 Für Kärnten und Niederösterreich ausdrücklich VfSlg 20.103/2016; VfSlg 20.205/2017. 31 Motivenbericht, abgedruckt in Gürtler/Lebersorger, Niederösterreichisches Jagdrecht7 (2010) § 26 NÖ JG Anm 2. 32 VfSlg 20.103/2016. 33 VfSlg 1712/1948; vgl auch VfSlg 7891/1976; 9121/1981; 19.873/2014.

Bayer/Tauß-Grill, Abschuss- oder Unterpachtvertrag?

eigentümers auf seinen Grundstücken vermieden werden. Es soll eine systematische Jagdausübung unter Berücksichtigung der Größe der Wildtierlebensräume sichergestellt werden. Voraussetzung dafür ist eine flächendeckende Jagdbewirtschaftung in großflächigen Planungsräumen.34 Dieses Ziel wird vom jeweiligen Landesgesetzgeber insbesondere durch Vorschriften über die Mindestgröße von Jagdgebieten (in den meisten Bundesländern 115 ha),35 die eine ordnungsgemäße und hinreichend ertragsfähige Jagdwirtschaft ermöglichen, verfolgt. Aus diesen Vorschriften ergibt sich klar, dass die jagdliche Bewirtschaftung einer diese Mindestgröße unterschreitenden Grundfläche tunlichst vermieden werden soll.36 Die Unterverpachtung nur eines Teils des Jagdgebiets würde zu einer Aufteilung des Jagdgebiets führen. Die systematische Jagdausübung in diesem Jagdgebiet wäre nicht mehr sichergestellt. Gerade in Fällen, in denen dadurch auch die vom Landesgesetzgeber festgelegte Mindestgröße von Jagdgebieten unterschritten würde, würde die Unterverpachtung damit dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Jagdwirtschaft widersprechen. Zudem führt eine örtliche Aufteilung eines Jagdgebiets zu Schwierigkeiten bei der Erfüllung von Verpflichtungen des Jagdausübungsberechtigten (wie zum Beispiel der Erfüllung des – für das gesamte Jagdgebiet – festgelegten Abschlussplans, die Führung der Abschlussliste etc).37 Die Beschränkungen der Landesgesetzgeber im Zusammenhang mit der Unterverpachtung von Jagdgebieten dienen daher (auch) dazu, die örtliche Aufteilung des Jagdgebiets zu verhindern bzw nur unter eingeschränkten Voraussetzungen zu ermöglichen und damit eine systematische, flächendeckende Jagdbewirtschaftung sicherzustellen.

2.

Personenbezogene Komponente

Die Erreichung des Ziels einer sachgemäßen Jagdausübung und einer weidgerechten Erlegung von Wild hängt wesentlich von den persönlichen und fachlichen Qualitäten des jeweiligen Jagdausübungsberechtigten (Jagdpächters) ab.38 Die Landesjagdgesetze stellen daher hohe Anforderungen an die Person des Pächters und sehen Regelungen vor, die der Behörde die Überprüfung der Qualifikationen des Pächters ermöglichen.39 Es ist mit den Grundsätzen einer geordneten Jagdwirtschaft unvereinbar, wenn Personengruppen als Pächter auftreten, deren zahlenmäßige und persönliche Zusammensetzung unbestimmt bleibt.40

34 VfSlg 20.205/2017. 35 Vgl FN 2. 36 VfSlg 7183/1973; vgl auch Motivenbericht, abgedruckt in Gürtler/Lebersorger (FN 31) § 5 NÖ JG Anm 1. 37 Vgl VwGH 23. 10. 2013, 2013/03/0071. 38 Motivenbericht, abgedruckt in Gürtler/Lebersorger (FN 31) § 26 NÖ JG Anm 1; auch der VfGH hält die Forderung der Landesjagdgesetze, wonach der Pächter für die Jagdausübung bestimmte Voraussetzungen erfüllen muss, für sachlich (VfSlg 9399/1982); vgl auch Binder, Jagdrecht (1992) 21. 39 Vgl FN 7 und 10. 40 Motivenbericht, abgedruckt in Gürtler/Lebersorger (FN 31) § 26 NÖ JG Anm 2.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN

Ohne gesetzliche Einschränkungen/Regelungen könnte eine Unterverpachtung dazu führen, dass Personen die Rechte und Pflichten eines Jagdausübungsberechtigten ausüben, die dafür nicht qualifiziert sind und/oder die der Behörde nicht bekannt sind und damit nicht ihrer Kontrolle unterliegen. Aus diesem Grund verbieten die meisten Landesgesetzgeber eine Unterverpachtung generell oder knüpfen sie an die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen. Damit wird sichergestellt, dass der Behörde (aber auch den sonstigen Beteiligten) klar ist, wer für ein bestimmtes Jagdgebiet verantwortlich ist, wer Adressat von Bescheiden (zum Beispiel des Abschussplanbescheids) ist, und dass diese Person auch die dazu erforderlichen Qualifikationen aufweist.

3.

Zeitliche Komponente

Die von einem Jagdausübungsberechtigten durchgeführten Investitionen und Maßnahmen wirken sich erst nach einem längeren Zeitraum aus. Aus Sicht des Jagdausübungsberechtigten wird dieser Aufwand zur positiven Entwicklung des Wildstandes nur dann lohnenswert sein, wenn er auch die Früchte seiner Arbeit ernten kann und das Pachtverhältnis nicht beendet wird, bevor die Maßnahmen wirken. Eine zu kurz bemessene Pachtperiode könnte dem Jagdberechtigten einen Anreiz leisten, sich für die getätigten Aufwendungen durch zu umfassende Wildabschüsse zu entschädigen.41 Sämtliche Landesjagdgesetze enthalten daher eine Regelung, wonach die Verpachtung von (je nach Bundesland) Gemeinde-, Gemeinschafts- oder Genossenschaftsjagdgebieten und üblicherweise auch von Eigenjagdgebieten42 grundsätzlich für eine bestimmte Pachtdauer (je nach Bundesland sechs bis zehn Jahre) zu erfolgen hat.43 Eine kürzere Pachtdauer ist in der Regel nur bei einer Auflösung des Pachtverhältnisses vorgesehen. In einem solchen Fall findet eine Neuverpachtung für die restliche Dauer der Jagd- bzw Pachtperiode statt.44 Würde der Hauptpächter das von ihm gepachtete Gebiet daher immer nur für kurze Dauer an verschiedene Personen unterverpachten, könnte dies der positiven Entwicklung des Wildstandes und damit den oben angeführten öffentlichen Interessen schaden. Auch vor diesem Hintergrund dienen Verbote bzw Beschränkungen der Unterverpachtung dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung eines wildökologischen Gleichgewichts.

41 Motivenbericht, abgedruckt in Gürtler/Lebersorger (FN 31) § 11 NÖ JG Anm 1. 42 In der Steiermark ist zB die Verpachtung von Eigenjagdgebieten auch für kürzere Zeit als eine Jagdpachtperiode möglich (§ 7 Abs 2 letzter Satz Stmk Jagdgesetz). 43 § 33 Abs 2 iVm § 13 Abs 1 Bgld. JagdG 2017; § 17 Abs 1 K-JG; § 25 Abs 2 iVm § 11 Abs 1 NÖ JG; § 19 Abs 1 iVm § 2 Abs 2 Oö. Jagdgesetz; § 24 Abs 1 iVm § 5 Sbg JG; § 9 Stmk Jagdgesetz; § 18 Abs 2 TJG; § 20 Abs 2 Vlbg JG 1988; § 22 iVm § 11 Abs 2 Wr Jagdgesetz. 44 ZB § 32 Abs 2 Oö. Jagdgesetz; § 30 Abs 1 Stmk Jagdgesetz; § 44 Wr Jagdgesetz.

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ART.-NR.: 55

II.

Abschussvertrag

A.

Abschussvertrag als mögliche andere (zusätzliche) Bewirtschaftungsform

Über einen Abschussvertrag45 wird einem Dritten gegen Entgelt der näher konkretisierte Wildabschuss im gesamten Jagdrevier oder in Teilen des Jagdreviers überlassen.46 Der Abschussvertrag ist weder als Jagdrechtverpachtung noch als Bestellung des Abschussberechtigen zum Jagdverwalter anzusehen.47 Es geht um die Übertragung nur eines Teiles der in der Jagdberechtigung des Jagdpächters gelegenen Befugnisse, nicht um die Überlassung des Jagdrechts oder Jagdausübungsrechts an sich.48 Der Abschussvertrag wird zivilrechtlich als obligatorischer Vertrag besonderer Art mit dienstbarkeitsähnlichen Elementen qualifiziert, der unter Bedachtnahme auf die Sprachregeln, allgemeinen Erkenntnisgrundsätze und allgemeinen Auslegungsregeln, insbesondere nach § 914 ABGB,49 auszulegen ist.50 Der Abschussnehmer ist als zahlender Jagdgast anzusehen.51 Einen Abschussvertrag kann – wenn ein Jagdgebiet verpachtet wurde – auf Grund der örtlichen und sachlichen Unteilbarkeitsregel nur der Pächter wirksam abschließen.

B.

Regelungen zu Abschussverträgen in den Landesjagdgesetzen

1.

Explizite Erwähnung von Abschussverträgen

Explizite Regelungen über die Ausgestaltung bzw Zulässigkeit von Abschussverträgen finden sich nur in den Landesjagdgesetzen von Tirol und Wien. In Tirol enthält das TJG 2004 ausdrückliche Regelungen über Wildabschussverträge. Demnach kann der Abschuss von Wild nur insoweit Gegenstand eines Vertrages sein, als dem nicht die Verpflichtung zur Verpachtung oder zur Übertragung der Ausübung des Jagdrechtes auf einen Jagdleiter nach § 11 Abs 2, 3, 5 oder 6 TJG 2004 bzw zur Bestellung eines Jagdleiters nach § 11 Abs 4 TJG 2004 entgegensteht. Ausdrücklich unzulässig sind nach § 20a Abs 1 TJG 2004 die gänzliche Überlassung des Jagdausübungsrechtes ohne jede Möglichkeit einer Einflussnahme durch den Jagdausübungsberechtigten sowie die Übertragung (i) der Jagdleitung, (ii) des Jagdschutzes, (iii) der Haftung für Wild- und Jagdschäden, (iv) von Meldepflichten nach jagdrechtlichen Vorschriften, (v) von Aufgaben im Rahmen der Wildfütte-

45 In der Praxis wird ein Abschussvertrag auch oft als Pirschvertrag bezeichnet, zB BFG 15. 2. 2016, RV/7102450/2013. 46 Vgl VwGH 19. 1. 1924, A 307/23, VwSlg 13.430 A; 28. 1. 1925, A 282/24, VwSlg 13.749 A. 47 RIS-Justiz RS0063013. 48 VwGH 21. 2. 1927, A 374/26, VwSlg 14.672 A/1927. 49 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch – ABGB, JGS 946/1811 idF BGBl I 175/ 2021. 50 RIS-Justiz RS0063013. 51 Gürtler/Lebersorger (FN 31) § 38 NÖ JG Anm 1.

Bayer/Tauß-Grill, Abschuss- oder Unterpachtvertrag?


ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN

ART.-NR.: 55

rung oder (vi) der Verpflichtung zur Durchführung von Verbiss-, Fege- oder Schälschutzmaßnahmen. In Wien darf grundsätzlich auch der Wildabschuss nur mit Genehmigung des Magistrats der Stadt Wien vergeben werden. Die Genehmigung darf nach § 35 Wr Jagdgesetz nur erteilt werden, wenn dies den Interessen der Jagd- und der Land- und Forstwirtschaft nicht widerstreitet. Ohne Genehmigung des Magistrats ist die Vergebung des Wildabschusses gestattet, wenn (i) der Wildabschuss auf bestimmte Wildarten beschränkt ist, (ii) dem Jagdpächter die Verfügung über das erlegte Wild verbleibt oder dem Abschussnehmer nur die Trophäe oder nur solches Wild überlassen wird, das üblicherweise dem Schützen zufällt (wie Schnepfen, Trapp-, Auer- und Birkhahnen), (iii) der Abschuss innerhalb der Grenzen des Abschussplanes erfolgt und (iv) der Abschuss bei Erfüllung der sonstigen Bestimmungen des Wr Jagdgesetzes erfolgt.

2.

Ansonsten: Schweigen im Walde

Außerhalb von Tirol und Wien werden keine spezifischen Regelungen über die Ausgestaltung und Form von Abschussverträgen getroffen. Allerdings kennen fast alle Landesjagdgesetze die Möglichkeit von so genannten Ausgeh- oder Jagderlaubnisscheinen,52 denen üblicherweise der Abschluss von Abschussverträgen zu Grunde liegt. Beim Jagderlaubnisschein handelt es sich um eine schriftlich erteilte Bewilligung des Jagdausübungsberechtigten bzw Jagdinhabers. Nur in der Steiermark und in Niederösterreich ist die Ausstellung von Ausgeh- oder Jagderlaubnisscheinen nicht zwingend erforderlich.53 Burgenland und Kärnten sehen eine zeitliche Einschränkung im Sinne einer Genehmigungspflicht für Jagderlaubnisscheine vor: Soll dieser länger als eine Woche gültig sein, ist die Ausgabe an die Genehmigung der Bezirksverwaltungsbehörde (Burgenland)54 bzw des Bezirksjägermeisters (Kärnten)55 erforderlich. In Oberösterreich,56 Salzburg57 und Vorarlberg58 ist unabhängig von der Gültigkeitsdauer kein Erfordernis einer behördlichen Genehmigung vorgesehen; in Vorarlberg hat aber die Behörde erforderlichenfalls die Erteilung von Jagderlaubnissen einzuschränken.

Im Burgenland sind bei der Anzahl der ausgestellten Jagderlaubnisscheine zudem Wildbestand und Jagdgebietsgröße zu berücksichtigen. Angemessen ist ein Jagderlaubnisschein je 115 ha Jagdfläche zusätzlich zur Zahl der Jagdpächter.59

III. Abgrenzung von Unterpacht- und Abschussvertrag in der Judikatur Die Abgrenzung zwischen Unterpachtpachtvertrag und Abschussvertrag ist in der Theorie einfach: Überlässt ein Pächter einem Dritten die Jagdausübung samt allen daraus resultierenden Rechten und Pflichten ohne jede Einflussnahmemöglichkeit, liegt ein Unterpachtvertrag vor. Wird einem Dritten hingegen lediglich der Wildabschuss überlassen, liegt ein Abschussvertrag vor. Abgrenzungsschwierigkeiten bereiten Verträge, mit denen Dritten neben dem bloßen Wildabschuss auch andere Rechte und Pflichten übertragen werden. Da Abschussverträge nach den Landesjagdgesetzen (bis auf die oben angeführten Ausnahmen) erlaubt, Unterpachtverträge hingegen entweder verboten oder nur beschränkt möglich sind, ist die Abgrenzung zwischen diesen Vertragstypen relevant. Ob ein (zulässiger) Abschussvertrag oder ein (allenfalls unzulässiger) Unterpachtvertrag vorliegt, ist im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen.60 Sowohl die ordentlichen Gerichte als auch die VwG haben sich mehrfach im Einzelfall mit dieser Abgrenzung auseinandergesetzt. Für die Frage, welcher Vertrag vorliegt, sind die Vorschriften des Zivilrechts maßgeblich.61 OGH und VwGH berücksichtigen folgende Faktoren:

A.

Das Jagdrecht umfasst nicht nur die ausschließliche Befugnis, innerhalb eines bestimmten Jagdgebietes dem Wild nachzustellen, es zu fangen, zu erlegen und sich anzueignen, sondern auch, sich verendetes Wild, Fallwild, Abwurfstangen sowie die Eier des Federwildes anzueignen. Werden nicht sämtliche dieser Rechte übertragen, spricht das eher gegen einen Unterpachtvertrag.62

B. 52 Die Finanzbehörden, Verwaltungsgerichte und Höchstgerichte beschäftigen sich regelmäßig mit Abschuss- oder Pirschverträgen, die in den übrigen Bundesländern (außer Tirol und Wien) abgeschlossen werden. ZB OGH 26. 2. 2002, 1 Ob 294/01v; VwGH 5. 11. 2003, 2002/17/0343; BFG 15. 2. 2016, RV/7102450/2013; LVwG Ktn 11. 1. 2019, KLVwG-106/7/2018. 53 In der Steiermark wird gesetzlich nur festgehalten, dass Personen mit Jagdkarte nur mit Zustimmung des Jagdausübungsberechtigten jagen dürfen (vgl § 37 Abs 6 Stmk Jagdgesetz). Auch das NÖ JG regelt die Jagderlaubnisscheine nicht explizit, kennt aber „Personen, die eine Jagderlaubnis erhalten haben (Jagdgäste) oder auf Grund eines ihnen erteilten Auftrages Wildabschüsse vorzunehmen haben (Abschußbeauftragte)“ (§ 5 Abs 3 NÖ JG). 54 § 69 Bgld. JagdG 2017. 55 § 41 K-JG. 56 § 35 Abs 2 Oö. Jagdgesetz. 57 § 47 Abs 1 Sbg JG. 58 § 23 Abs 2 Vlbg JG 1988.

Bayer/Tauß-Grill, Abschuss- oder Unterpachtvertrag?

Inhalt

Vergütung von Wildschäden

Verpflichtet sich der Abschussnehmer auch zur Vergütung des Wildschadens, kann dennoch ein Abschussvertrag vorliegen.63 In einer allgemein gehaltenen Vereinbarung, wonach Jagd- und Wildschäden einzeln zu vergüten sind und diesbezüglich die Vorschriften des jeweiligen Landesjagdgesetzes gelten, ist noch keine Übertragung der Haftung für diese Schäden

59 60 61 62

§ 69 Bgld. JagdG 2017. Vgl VwGH, A 282/24 (FN 46). VwGH 23. 3. 1950, 0332/48, VwSlg 1339 A; 8. 5. 1978, 1174/77. Vgl VwGH, A 307/23 (FN 46); OGH 12. 7. 1990, 8 Ob 687/89; 26. 2. 2002, 1 Ob 294/01v. 63 Vgl VwGH 3. 2. 1923, Z 55, VwSlg 13.218 A.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN auf den Vertragspartner zu sehen.64 Ist jemand von der Haftung für Wildschäden befreit, spricht das für die Stellung als Abschussnehmer.65 Die Übertragung der Haftung für Wildschäden durch den Pächter an seinen Vertragspartner deutet in Richtung Unterverpachtung.66

ART.-NR.: 55

bloßer Abschussvertrag, sondern ein Vertrag sui generis vor.73 Die dem Vertragspartner auferlegte Pflicht, für die Hege und Schneeräumung zu sorgen, führt nämlich nicht zwingend zur Qualifikation als Unterpachtvertrag.74

G. C.

Jagdaufsicht

Der (Unter-)Pächter muss eine Jagdaufsicht gewährleisten. Wird diese Pflicht laut Vertrag (auch hinsichtlich eines Teils des Jagdgebiets) nicht übertragen, ist eher von einem Abschussvertrag auszugehen.67 Umgekehrt spricht es für eine Unterverpachtung, wenn der Vertragspartner die Verpflichtung zur Jagdaufsicht übernimmt.68

D.

Verantwortung und Auftreten nach außen

Widersprüchlich ist die Rsp in Bezug auf das Auftreten des Pächters gegenüber der Genossenschaft, Gemeinde oder Behörde: In Fällen, in denen der Pächter weiterhin gegenüber Genossenschaft, Gemeinde oder Behörde fungiert, allein für die Obliegenheiten der Pachtung verantwortlich bleibt und auch selbst die Jagd auf dem Jagdgebiet ausübt, soll keine Unterverpachtung vorliegen.69 VwGH und OGH halten aber auch fest, dass der Umstand allein, dass der Behörde und dem Jagdausschuss gegenüber nur der Pächter als Berechtigter und Verpflichteter aufscheint, eine Unterverpachtung nicht ausschließen könne. Denn es gehöre zum Wesen der Unterverpachtung, dass der Unterpächter nur zum Hauptpächter als Unterverpächter, nicht aber zum Verpächter in ein rechtliches Verhältnis trete.70

E.

Wildfütterung

Erfüllung eines Abschusskontingents

Verpflichtet sich der Vertragspartner dem Pächter gegenüber unter anderem dazu, ein bestimmtes Abschusskontingent zu erfüllen, kann das für einen Vertrag sui generis sprechen.75

H.

Benützung von Jagdeinrichtungen

Erlaubt der Pächter seinem Vertragspartner, Jagdeinrichtungen mitzubenützen, schadet das der Einordnung als Abschussvertrag nicht.76 Auch wenn dem Vertragspartner erlaubt wird, selbst (neue) Jagdeinrichtungen zu schaffen, muss das nicht für einen Unterpachtvertrag sprechen.77

I.

Weitere Faktoren

Nicht von Relevanz für die rechtliche Einordnung einer Vereinbarung sind nach der Judikatur des VwGH78 zudem folgende weiteren Faktoren: Laufzeit der Vereinbarung (Fehlen von) Regelungen für eine Kündigung Recht zur Bestimmung, wer Abschüsse vornimmt

IV. Zulässigkeit von „Abschussverträgen plus“? A.

Überschneidung von öffentlichem Recht und Zivilrecht

Verpflichtet sich der Vertragspartner gegenüber dem Pächter unter anderem zur Zahlung von Futtergeld, liegt nach der Judikatur kein bloßer Abschussvertrag, sondern ein Vertrag sui generis vor.71 Wird der Vertragspartner verpflichtet, für die Versorgung mit Futter zu sorgen, führt das jedenfalls nicht zwingend zum Vorliegen eines Unterpachtvertrages.72

Nach Ansicht des OGH ist es zivilrechtlich zulässig, in Abschussverträgen auch weitere Rechte und Pflichten zu übertragen. Diese Verträge sui generis werden nachstehend „Abschussverträge plus“ genannt. Das konkrete Problem an solchen „Abschussverträgen plus“ liegt auf der Hand: Nur weil etwas zivilrechtlich möglich ist, heißt das noch nicht, dass es jagdrechtlich zulässig ist.

F.

B.

Revierbetreuung

Verpflichtet sich der Vertragspartner gegenüber dem Pächter unter anderem auch zur Revierbetreuung, liegt (ebenfalls) kein

64 65 66 67 68 69 70 71 72

Vgl VwGH, A 307/23 (FN 46). Vgl VwGH, A 374/26 (FN 48); OGH 12. 7. 1990, 8 Ob 687/89. Vgl VwGH 20. 6. 2012, 2012/03/0022; OGH 19. 12. 1973, 5 Ob 238/73. Vgl VwGH, A 374/26 (FN 48). Vgl VwGH, 2012/03/0022 (FN 66); OGH 19. 12. 1973, 5 Ob 238/73. VwGH 28. 10. 1925, A 169/25, VwSlg 14.004 A. VwGH, A 374/26 (FN 48); OGH 19. 12. 1973, 5 Ob 238/73. Vgl OGH 26. 2. 2002, 1 Ob 294/01v. Vgl OGH 12. 7. 1990, 8 Ob 687/89.

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Regelungen im öffentlichen Recht

Klar geregelt werden die Folgen einer unzulässigen gänzlichen Übertragung eines oder mehrerer der in Abschnitt III genannten Rechte bzw Pflichten nur in Tirol:79

73 74 75 76 77 78 79

Vgl OGH 26. 2. 2002, 1 Ob 294/01v. Vgl OGH 12. 7. 1990, 8 Ob 687/89. Vgl OGH 26. 2. 2002, 1 Ob 294/01v. Vgl VwGH, 2012/03/0022 (FN 66). Vgl OGH 12. 7. 1990, 8 Ob 687/89. Vgl VwGH, 2012/03/0022 (FN 66). § 20a Abs 2 TJG 2004.

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ZfV 4/2021 ART.-NR.: 55

Besteht der Verdacht, dass ein Abschussvertrag (oder dessen Verlängerung, Änderung oder Ergänzung) nicht nach jagdrechtlichen Vorschriften zustande gekommen ist, diesen widersprechende Bestimmungen enthält oder insgesamt eine unzulässige Unterverpachtung darstellt, hat die Bezirksverwaltungsbehörde den Jagdausübungsberechtigten zur Vorlage des Vertrages aufzufordern. Diesfalls hat der Jagdausübungsberechtigte den Vertrag binnen einer Woche in schriftlicher Form vorzulegen. Die Bezirksverwaltungsbehörde hat die Vorlage des Vertrages zu bestätigen. Sie kann die Bestätigung versagen und die Rechtswirksamkeit des Vertrages mit Bescheid aussetzen, wenn der Abschussvertrag nicht nach jagdrechtlichen Vorschriften zustande gekommen ist, den jagdrechtlichen Vorschriften widerspricht oder insgesamt eine unzulässige Unterverpachtung darstellt. Die Versagung der Bestätigung und die Aussetzung der Rechtswirksamkeit des Vertrages ist nur dann unzulässig, wenn dies unverhältnismäßig wäre. Erfolgt bis zum Ablauf von vier Wochen nach Einlangen des vollständigen Abschussvertrages bei der Bezirksverwaltungsbehörde keine Versagung, gilt die Vorlage des Abschussvertrages als bestätigt. Eine Aussetzung ist dann nicht mehr zulässig. Ansonsten werden öffentlich-rechtliche Konsequenzen zu Abschussverträgen nur für Wien genannt. Dort ist jeder Abschussvertrag (also auch ohne Verdacht eines Verstoßes gegen jagdrechtliche Bestimmungen) vom Magistrat zu genehmigen. Einem unzulässigen Abschussvertrag ist die Genehmigung zu versagen.80 Die Nichtmeldung eines Abschussvertrags gegenüber der Jagdbehörde stellt eine Verwaltungsübertretung dar.81 Die übrigen Landesjagdgesetze treffen keine expliziten Regelungen zu den Konsequenzen von „Abschussverträgen plus“. Wird aber durch den „Abschussvertrag plus“ das Jagdgebiet zum Zweck der Jagdausübung der Fläche nach aufgeteilt, liegt nach einigen Landesjagdgesetzen eine verbotene Vereinbarung vor.82 Im Übrigen kann zur Behandlung von „Abschussverträgen plus“ das Zivilrecht nutzbar gemacht werden. Je nach Umfang der mit dem Abschussvertrag übertragenen Rechte und Pflichten sind verschiedene Konstellationen möglich, die unterschiedlich zu behandeln sind.

C.

Beurteilung im Einzelfall: Umfang und Zweck des „Abschussvertrages plus“

Die Hintergründe für den „Abschussvertrag plus“ können verschieden sein. In vielen Fällen steht tatsächlich nur der Verkauf des Wildabschusses im Vordergrund, es werden aber weitere Bestimmungen zur Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses, die über einen bloßen Abschussvertrag hinausgehen, in den Ver80 § 35 Wr Jagdgesetz. 81 § 129 Abs 1 lit a Wr Jagdgesetz. 82 ZB § 38 Bgld. JagdG 2017; § 29 NÖ JG.

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ABHANDLUNGEN

trag aufgenommen (Fall 1). In anderen Fällen ist von den Parteien zwar ein Unterpachtvertrag gewollt, auf Grund der gesetzlichen Einschränkungen beim Unterpachtvertrag wird hingegen ein Abschussvertrag gewählt. Um den gewünschten Wirkungen eines Unterpachtvertrags so nahe wie möglich zu kommen, werden zahlreiche weitere Rechte und Pflichten übertragen (Fall 2). Für beide Fälle ist zu beurteilen, ob der „Abschussvertrag plus“ nicht an den Vorschriften zum Unterpachtvertrag zu messen und als Umgehungsgeschäft zu beurteilen ist. Bei einem Umgehungsgeschäft versuchen die Parteien, die Rechtsfolgen einer bestimmten Vorschrift zu vermeiden (zum Beispiel die Nichtigkeit wegen eines gesetzlichen Verbots).83 Nach der in der jüngeren Lehre und Rsp vorherrschenden „objektiven“ Theorie kommt es für die Beurteilung, ob ein Umgehungsgeschäft vorliegt, nicht auf eine besondere Umgehungsabsicht der Parteien an.84 Auch wenn das Umgehungsgeschäft „dem Buchstaben des Gesetzes nach“ gegen kein gesetzliches Verbot verstößt, vereitelt es im Ergebnis den Zweck, den das Gesetz mit dem Verbot anstreben wollte.85 Im oben skizzierten Fall 2, in dem von den Parteien sogar die Wirkungen eines Unterpachtvertrags gewünscht werden, ist – sofern der Vertrag nicht schon auf Grund der unter Abschnitt III dargestellten Abgrenzung als Unterpachtvertrag zu qualifizieren ist – von einem Umgehungsgeschäft auszugehen. Aber auch in Fall 1, in dem die Parteien nicht in Umgehungsabsicht gehandelt haben, kommt (je nach konkreter Ausgestaltung) ein Umgehungsgeschäft in Betracht. Nähert sich der von den Parteien abgeschlossene „Abschussvertrag plus“ durch die umfangreiche Übertragung von Rechten und Pflichten stark an einen Unterpachtvertrag an, wird damit im Ergebnis genau das erreicht, was durch die gesetzliche Beschränkung der Unterpacht verhindert werden sollte. Wird der „Abschussvertrag plus“ mit umfassenden Rechten und Pflichten nicht für das gesamte Jagdrevier vergeben, kann es faktisch zu einer Aufteilung des Reviers kommen (Verstoß gegen Grundsatz der örtlichen Unteilbarkeit). Aber auch wenn der „Abschussvertrag plus“ das ganze Jagdgebiet umfasst, kann durch die Übertragung umfangreicher Rechte und Pflichten ein Zweck des Verbots bzw der Beschränkung der Unterpacht vereitelt werden: Grundsätzlich darf nur eine den Revierverhältnissen angepasste beschränkte Anzahl von bestimmten Personen mit der Jagdausübung betraut sein, deren jagdliche Eignung von der Behörde überprüft wurde.86 Werden also durch den „Abschussvertrag plus“ dem Abschussnehmer neben dem Recht auf Abschuss weitere Rechte und Pflichte übertragen, wird damit aber de facto weder das Jagdgebiet der Fläche nach aufgeteilt noch das Jagdausübungsrecht übertragen, liegt kein Umgehungsgeschäft vor. 83 Vonkilch, § 916 ABGB, in Fenyves/Kerschner/Vonkilch (Hrsg), ABGB3 (2011) Rz 21; Binder/Kolmasch, § 916 ABGB, in Schwimann/Kodek (Hrsg), ABGB Praxiskommentar4 (2014) Rz 22. 84 Ausführlich Binder/Kolmasch (FN 83) § 916 Rz 24 mwN. 85 Richter, Umgehungsgeschäft, Lexis Briefings Zivilrecht, Februar 2020. 86 Dazu Abschnitt III.

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Wird aber durch einen „Abschussvertrag plus“ de facto die Fläche des Jagdgebiets zum Zwecke der Jagdausübung aufgeteilt oder das Jagdausübungsrecht übertragen, ist der Vertrag als Umgehungsgeschäft zu beurteilen.

1.

Variante 1: Kein Umgehungsgeschäft

Stellt ein „Abschussvertrag plus“ kein Umgehungsgeschäft dar, ist von einem grundsätzlich zulässigen Abschussvertrag auszugehen. Allerdings muss im Einzelfall geprüft werden, ob die einzelnen über einen bloßen Abschussvertrag hinausgehenden Rechte und Pflichten gegen landesjagdgesetzliche Bestimmungen verstoßen. Verstößt der Inhalt eines Vertrages nur zum Teil gegen ein gesetzliches Verbot, so hat sich nach dem Verbotszweck der übertretenen Vorschrift zu bestimmen, ob der Vertrag zur Gänze oder nur teilweise nichtig sein soll, wobei in der Regel einer Restgültigkeit der Vorzug zu geben ist (Teilnichtigkeit bloß einzelner gesetzwidriger Vertragsklauseln gemäß § 879 ABGB).87 Enthält daher ein Abschussvertrag zusätzliche Vertragsbestimmungen, die nach den Landesjagdgesetzen verboten sind, entfallen diese. Der restliche Vertragsinhalt bleibt weiter aufrecht.

2.

Variante 2: Umgehungsgeschäft

Das Umgehungsgeschäft ist nicht automatisch rechtswidrig bzw automatisch nichtig, sondern am Zweck der umgangenen Vorschrift zu messen. Haben das Umgehungs- und das primär beabsichtigte Rechtsgeschäft vergleichbare Auswirkungen, ist in der Regel die umgangene Rechtsvorschrift auf das Umgehungsgeschäft anzuwenden. Wäre das primär beabsichtigte Geschäft auf Grund einer Verbotsvorschrift nichtig, ist auch das Umgehungsgeschäft ungültig.88 Ist ein „Abschussvertrag plus“ als Umgehungsgeschäft zu qualifizieren, ist er wie ein Unterpachtvertrag zu beurteilen, der je nach landesgesetzlicher Regelung unter Umständen gesetzlich unzulässig ist. Sind Unterpachtverträge zwar verboten, sieht das Landesjagdgesetz aber keine Bestimmung über die Aussetzung der Wirksamkeit durch die Behörde vor, ergibt sich die Nichtigkeit (des gesamten Vertrages) aus § 879 ABGB. Wird ein „Abschussvertrages plus“ abgeschlossen, der ein Umgehungsgeschäft darstellt, kann das auch verwaltungsstrafrechtliche Konsequenzen haben, so zum Beispiel wenn Unterpachtverträge verboten sind89 oder eine Anzeige eines Unterpachtvertrags unterlassen wurde.90

V.

Fazit

Das Jagdausübungsrecht ist grundsätzlich (örtlich und sachlich) ungeteilt zu verpachten. Die Unterverpachtung ist in manchen

87 Bollenberger/Bydlinski, § 879 ABGB, in Koziol/Bydlinski/Bollenberger (Hrsg), Kurzkommentar zum ABGB6 (2020) Rz 29. 88 Binder/Kolmasch (FN 83) § 916 Rz 22 mwN. 89 ZB § 135 Abs 1 Z 31 iVm § 38 NÖ JG. 90 ZB § 129 Abs 1 lit a iVm § 46 Abs 4 Wr Jagdgesetz.

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Bundesländern verboten, in anderen unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Grundsätzlich zulässig sind hingegen Abschussverträge, mit denen einem Dritten gegen Entgelt der näher konkretisierte Wildabschuss im gesamten Jagdrevier oder in Teilen des Jagdreviers überlassen wird. Die gesetzlichen Regelungen in den Landesjagdgesetzen sind dabei vielfach sowohl zur Unterverpachtung als auch zu Abschussverträgen kryptisch formuliert. In der Praxis werden oft Abschussverträge geschlossen, die über den Abschuss von Wild hinausgehende Rechte und Pflichten vorsehen. Zum Teil erfolgt dies bewusst – anstelle von unzulässigen/eingeschränkt zulässigen Unterpachtverträgen; zum Teil dürfte diese Entwicklung den erwähnten kryptischen gesetzlichen Formulierungen geschuldet sein. Eine gesetzliche Klarstellung samt Nennung der aus der Rsp abgeleiteten Abgrenzungskriterien – wie es beispielsweise in Tirol vorgesehen ist – wäre deshalb für alle Bundesländer wünschenswert. Für die Abgrenzung ist im ersten Schritt anhand der Kriterien der Rsp zu überprüfen, ob ein Vertrag als bloßer Abschussvertrag, als Vertrag sui generis/„Abschussvertrag plus“ oder als Unterpachtvertrag zu qualifizieren ist. Bei Qualifikation als Unterpachtvertrag ist die Zulässigkeit anhand des Landesjagdgesetzes zu beurteilen. „Abschussverträge plus“ sind zwar auf Grund der Formfreiheit des Zivilrechts grundsätzlich möglich. Allerdings ist zu prüfen, ob nicht ein Umgehungsgeschäft vorliegt, das Sinn und Zweck des Verbots/der Beschränkung von Unterpachtverträgen vereitelt. Ist dies der Fall, ist der Vertrag wie ein Unterpachtvertrag zu behandeln und nach dem jeweiligen Landesjagdgesetz unter Umständen unzulässig. Dies kann zur Nichtigkeit des Vertrags, aber auch zur Verwirklichung eines Verwaltungsstraftatbestands führen. Liegt kein Umgehungsgeschäft vor, ist die Zulässigkeit der einzelnen Regelungen des Abschussvertrags anhand der landesgesetzlichen Bestimmungen zu beurteilen. Unter Umständen können diese Klauseln nichtig sein (Teilnichtigkeit).

Die Autorin: DDr. Kathrin Bayer Eisenberger Rechtsanwälte GmbH Schloßstraße 25 A-8020 Graz off ice@eisenberger.eu lesen.lexisnexis.at/autor/Bayer/Kathrin

Die Autorin: Dr. Sandra Tauß-Grill Eisenberger Rechtsanwälte GmbH Schloßstraße 25 A-8020 Graz off ice@eisenberger.eu lesen.lexisnexis.at/autor/Tauß-Grill/Sandra

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Helmut Kinczel

Zur Ausnahmebewilligung im Bundesstraßenplanungsgebiet » ZfV 2021/56

In einem gemäß § 14 Abs 1 BStG 1971 verordneten Bundesstraßenplanungsgebiet dürfen zufolge § 14 Abs 3 Neu-, Zuund Umbauten nicht vorgenommen und Anlagen jeder Art weder errichtet noch geändert werden. Die Behörde hat hiervon jedoch Ausnahmen zuzulassen, wenn diese den geplanten Straßenbau nicht erheblich erschweren oder wesentlich verteuern oder zum Schutze des Lebens und der Gesundheit von Personen notwendig sind. So klar und verständlich diese Regelung auf den ersten Blick auch scheinen mag, wirft sie doch zahlreiche Auslegungs- und Anwendungsschwierigkeiten auf.* » Deskriptoren: Bundesstraßen; Verfassungsrecht; Planungsrecht; Bundesstraßenplanungsgebiet; Bausperre; Ausnahmebewilligung. » Rechtsquellen: Art 7, 18 B-VG; § 14 BStG 1971; § 14 E-InfrastrukturG, § 6 Abs 4 NÖ Straßengesetz 1999.

I. Einleitung und Problemaufriss II. Systematische Aufarbeitung A. Zum strukturellen Unterschied zwischen § 14 Abs 1 und Abs 3 BStG 1971 B. Zur so genannten „Kumulierungsfrage“ C. Zur „Erheblichkeits- oder Wesentlichkeitsschwelle“ 1. Auslegungsrahmen 2. Exkurs: „Heranrückende Wohnbebauung“ 3. Das Genehmigungsverfahren gemäß § 4 Abs 1 BStG 1971 4. Liegenschaftsfläche wird unmittelbar benötigt (erste Fallvariante) 5. Potentielle/konkrete Antragsabweisung (zweite Fallvariante) 6. Umfassende Adaptierung der Planunterlagen (dritte Fallvariante) 7. Ausnahmebewilligung verursacht Kosten (vierte Fallvariante) 8. Grundrechte als Prüfungsmaßstab der Fallvarianten III. Zusammenfassung

I.

Einleitung und Problemaufriss

Die Bundesministerin für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie kann als zuständige Straßenbehörde nach Maßgabe des § 14 Abs 1 BStG 19711 mittels Verordnung ein Gelände zum Bundesstraßenplanungsgebiet erklären.2 Die Erlassung einer solchen Verordnung hat zur Folge, dass in diesem Bereich eine Bausperre gilt. Gemäß § 14 Abs 3 kann der Landeshauptmann als zuständige Straßenbehörde Ausnahmen von diesem Bauverbotsbereich mittels Bescheid bewilligen.3 Fehlt es an einer solchen Aus-

nahmebewilligung, stellt dies zB in einem gemeindebehördlichen Bauverfahren zumindest ein faktisches Genehmigungshindernis für den Bürgermeister als Baubehörde erster Instanz dar.4 Die im BStG normierte Regelung mag dabei für sich genommen zwar auf den ersten Blick klar und unmissverständlich sein, tatsächlich sind damit doch einige Auslegungs- und Anwendungsschwierigkeiten verbunden. So heißt es in § 14 Abs 1 BStG 1971 zunächst, dass eine Verordnung nur dann zu erlassen ist, wenn „der geplante Straßenbau 4

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder. Bundesstraßengesetz 1971 – BStG 1971, BGBl 286/1971 idF BGBl I 156/ 2021. § 32 Z 2 BStG 1971. § 32 Z 1 BStG 1971.

Dabei ist zu beachten, dass der Landeshauptmann als Straßenbehörde gemäß § 14 Abs 4 BStG 1971 auf Antrag der Bundesstraßenverwaltung die Beseitigung eines dem § 14 Abs 3 widersprechenden Zustandes auf Kosten des Betroffenen anzuordnen hätte. Gleiches ist zu beachten, wenn zB eine Deponie nach dem Abfallwirtschaftsgesetz 2002 – AWG 2002, BGBl I 102/2002, oder eine gewerbliche Betriebsanlage nach der Gewerbeordnung 1994 – GewO 1994, BGBl 194/1994, errichtet werden soll.

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* 1 2 3

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erheblich erschwert oder wesentlich verteuert wird“. Gleichfalls lautet § 14 Abs 3, dass die Behörde Ausnahmen davon zuzulassen hat, wenn diese „den geplanten Straßenbau nicht erheblich erschweren oder wesentlich verteuern“. In diesem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, in welchem Verhältnis die in § 14 Abs 1 und Abs 3 getroffenen – deckungsgleichen – Vorgaben zueinander stehen und welche Konsequenzen damit verbunden sind. Außerdem enthält diese Regelung keine Vorgabe darüber, wie in einem Ausnahmeverfahren gemäß § 14 Abs 3 BStG 1971 mit allfälligen Kumulierungsüberlegen umzugehen ist. Es stellt sich also die Frage, ob sich der Antragsteller andere geplante Bauvorhaben bei der Beurteilung, ob es durch sein Vorhaben zu einer wesentlichen Verteuerung oder erheblichen Beeinträchtigung des Straßenprojektes kommt, zu seinen Lasten im Ausnahmebewilligungsverfahren anrechnen lassen muss. Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage lässt § 14 Abs 3 BStG 1971 völlig offen, unter welchen Umständen die geforderte Qualifikation hin zu einer wesentlichen Verteuerung oder erheblichen Beeinträchtigung überhaupt erreicht werden soll. Mit dem gegenständlichen Beitrag sollen die zuvor identifizieren Rechtsfragen systematisch aufgearbeitet werden. Dabei wird das Ziel verfolgt, verallgemeinerungsfähige sichtigte Straßenbauvorhaben zu entwickeln, die sich auf einzelne Ausnahmeverfahren übertragen lassen.

II.

Systematische Aufarbeitung

A.

Zum strukturellen Unterschied zwischen § 14 Abs 1 und Abs 3 BStG 1971

Die Erlassung einer Ausnahmebewilligung scheint schon per se in Widerspruch zur Erlassung einer Verordnung zum Bundesstraßenplanungsgebiet zu geraten. Steht kraft einer erlassenen Verordnung gemäß § 14 Abs 1 BStG 1971 fest, dass eine erhebliche Erschwernis oder eine wesentliche Verteuerung in Bezug auf das geplante Straßenprojekt zu befürchten ist, dann wäre somit das Ergebnis eines allfälligen Verfahrens zur Erlangung einer Ausnahmebewilligung gemäß § 14 Abs 3 schon präjudiziert, weil der jeweilige Bewilligungsantrag wegen der vorliegenden Verordnung zwangsläufig abzuweisen wäre. Andernfalls hätte die fragliche Verordnung gar nicht erlassen werden dürfen.5 Wie Michael Hecht hierzu schon zutreffend anmerkt, unterscheiden sich Abs 1 und Abs 3 von § 14 BStG 1971 trotz zum Teil deckungsgleicher Wortfolge aber maßgeblich voneinander. Während Abs 1 allgemein-abstrakt auf bauliche Veränderungen (schlechthin) abstellt, nimmt Abs 3 auf die vom Bewilligungswerber (Arg: „diese“) konkret geplante Baumaßnahme Bezug.6 Dieser Unterschied wird meiner Ansicht nach auch in der Wahl der Rechtsform deutlich. Während dem § 14 Abs 1 BStG 1971 ein Verordnungserlassungsverfahren zu Grunde liegt und damit auf

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eine allgemein-abstrakte Beurteilung abgestellt wird, handelt es sich demgegenüber beim Verfahren zur Erlangung einer Ausnahmebewilligung dem Wesen nach um ein Projektgenehmigungsverfahren, bei dem die Straßenbehörde die Vereinbarkeit des konkret beantragten Projekts mit den in § 14 Abs 3 festgelegen Bewilligungsvoraussetzungen zu beurteilen hat.7 Im Ergebnis heißt dies, dass im Rahmen des § 14 Abs 1 BStG 1971 etwa zu berücksichtigen wäre, wenn eine Gemeinde im fraglichen Bereich zum Beispiel ein Gewerbegebiet aufzuschließen beabsichtigt oder die Trasse unter oder in der Nähe eines verbauten Ortes verlaufen soll. Beide Fälle legen eine solche rege Bautätigkeit nahe, dass es hier, allgemein-abstrakt betrachtet, zu einem Konflikt mit dem geplanten Straßenbau kommen könnte. Eine solche allgemein-abstrakte Betrachtungsweise wäre dagegen bei einer „Befürchtungsprüfung“ gemäß § 14 Abs 3 unzulässig, weil es hier ausschließlich auf konkrete Bauprojekte ankommt. Die Frage, wie konkret die Planung des Bauprojektes vorangeschritten sein muss, ist unter Berücksichtigung des Umstandes zu beantworten, welches Ziel mit dem Ausnahmeverfahren verfolgt wird. Dieses Ziel ist offenkundig. Das Verfahren dient dazu, um herausfinden zu können, inwiefern das Bauprojekt das beabsichtigte Straßenbauvorhaben zu verteuern oder zu beeinträchtigen vermag. Folglich müssen den Einreichunterlagen grundsätzlich alle Informationen zu entnehmen sein, die für eine solche Beurteilung notwendig sind.8 Welche Unterlagen das im einzelnen Fall sind, wird von Projekt zu Projekt variieren. In jedem Fall wird dem Antrag ein Plan anzuschließen sein, aus dem die Lage des Projektes standortgenau entnommen werden kann. Außerdem sind allenfalls Baupläne, Bau- oder Betriebsbeschreibungen sowie Angaben über den Verwendungszweck notwendig. Es ist somit festzuhalten, dass es zwischen den eingangs erwähnten deckungsgleichen Wortfolgen einen strukturell unterschiedlichen Ansatzpunkt gibt, der auch bei der weiteren Auslegung des § 14 Abs 3 BStG 1971 zu beachten sein wird.

B.

Da sowohl die Verordnungs- als auch die Bescheiderlassung eine wesentliche Verteuerung oder erhebliche Beeinträchtigung voraussetzt, wird in der Literatur die Auffassung vertreten, dass eine solche Qualifikation nur dann erreicht werden kann, wenn hierbei mehrere bauliche Änderungen bzw Baumaßnahmen zusammengerechnet werden könnten.9 Fraglich erscheint, ob eine solche kumulative Betrachtung überhaupt zulässig wäre. Wie in anderen Projektgenehmigungsverfahren ist auch im gegenständlichen Ausnahmeverfahren gemäß § 14 Abs 3 BStG 1971 strikt zwischen Antragsgegenstand (also Verfahrensund Entscheidungsgegenstand) und Beurteilungsgegenstand

7 5 6

Siehe dazu Hecht, Die Rechtstellung der Nachbarn öffentlicher Straßen (1995) 133. Hecht (FN 5) 133.

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Zur so genannten „Kumulierungsfrage“

8 9

Vgl dazu Wessely, Zur Bewilligungspflicht gemäß § 21 BStG nach der Bundesstraßengesetz-Novelle 1996, ZfV 1997, 580 (585). Siehe dazu mwN etwa Wessely (FN 7) ZfV 1997, 587. Hecht (FN 5) 133.

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zu unterscheiden.10 Beide Begriffe sind außerdem vom Beurteilungsmaßstab abzugrenzen. Antragsgegenständlich ist das gesamte vom Bauwerber zur Bewilligung eingereichte Projekt. Aber nur das unter den Beurteilungsgegenstand fallende Projekt ist auch im Verfahren anhand des Beurteilungsmaßstabes zu beurteilen.11 Den Beurteilungsgegenstand bilden in einem Verfahren gemäß § 14 Abs 3 BStG 1971 Neu-, Zu- und Umbauten sowie die Errichtung oder Änderung von Anlagen jeder Art. Beurteilungsmaßstab ist die vom Beurteilungsgegenstand verursachte Befürchtung einer erheblichen Beeinträchtigung oder wesentlichen Verteuerung in Bezug auf den geplanten Straßenbau. Wird von der Behörde nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens festgestellt, dass der Beurteilungsgegenstand eine solche Verteuerung oder Beeinträchtigung auszulösen vermag, ist der Antrag abzuweisen. Anders als zum Beispiel das UVP-G 2000,12 das in § 3 Abs 2 ausdrücklich eine Kumulierungsprüfung normiert, kennt das BStG 1971 keine solche gesetzliche Bestimmung, wonach das beantragte Projekt mit – wie auch immer gearteten – anderen Bauprojekten in einer Zusammenschau gesamthaft zu betrachten und anhand des in § 14 Abs 3 BStG 1971 festgelegten Maßstabes zu beurteilen wäre. Folglich hat also die Straßenbehörde nur das vom Projektwerber beantragte Projekt im Rahmen des Ausnahmeverfahrens zu beurteilen. Der Umstand, dass bereits andere Projekte im Bauverbotsbereich genehmigt wurden oder bei der Behörde zur Beurteilung anhängig sind, spielt im Hinblick auf den Beurteilungsmaßstab keine Rolle, weil sie nicht beurteilungsgegenständlich sind. Ein allfälliger Einwand gegen ein solches Ergebnis, dass wohl kaum einmal ein bloß einzeln zu beurteilendes, konkret beantragtes Projekt eine wesentliche Verteuerung oder erhebliche Beeinträchtigung auszulösen vermag und deswegen eine Kumulation notwendig wäre, muss daher mangels einer gesetzlichen Ermächtigung im Ausnahmeverfahren hierzu unbeachtlich bleiben.13

C.

Zur „Erheblichkeits- oder Wesentlichkeitsschwelle“

1.

Auslegungsrahmen

Bei den Wortfolgen „erheblich beeinträchtigen“ und „wesentlich verteuern“ handelt es sich um unbestimmte Gesetzesbegriffe, weil die Wörter erheblich und wesentlich nur eine unbestimmte Vorstellung vermitteln.14

Bei der Sinnermittlung dieser unbestimmten Gesetzesbegriffe ist dabei zunächst nur klar, dass nicht jede beliebige Auswirkung zugleich auch eine wesentliche Verteuerung oder eine erhebliche Beeinträchtigung darstellt. Es braucht vielmehr Umstände, die für eine besondere Qualifikation sprechen. Welchen Bedeutungsinhalt die Wörter verteuern oder beeinträchtigen für sich alleine haben, lässt sich rasch mit einer inhaltlich-systemischen Wortlautinterpretation klären. Verteuern ist jeder monetäre Mehraufwand, der durch eine Ausnahmebewilligung in Bezug auf das geplante Straßenprojekt, welches nach § 4 Abs 1 BStG 1971 zu genehmigen ist, bewirkt werden würde;15 Beeinträchtigung ist jedes sonstige Faktum in diesem zuvor gennannten Sinn.16 In einem nächsten Schritt wird es nun entscheidend darauf ankommen, jene Umstände herauszuarbeiten, die eine solche Qualifikation hin zur benötigten Schwelle auszulösen vermögen.17 Zum Zweck dieser Analyse wird aber zuvor noch ein Exkurs zum Rechtsinstitut der „heranrückenden Wohnbebauung“ dargestellt, um diese Ausführungen dann an geeigneter Stelle in diese Bewertung einfließen zu lassen. Außerdem wird kursorisch das Genehmigungsverfahren gemäß § 4 Abs 1 BStG 1971 dargestellt, weil dieses als Bezugspunkt für die weitere Auslegung maßgeblich ist.

2.

Exkurs: „Heranrückende Wohnbebauung“

Der VfGH ist zur Auffassung gelangt, dass etwa Gewerbebetriebe Schutz vor einer heranrückenden Wohnbebauung haben müssen. Dieser Schutz sieht vor, dass die von der Betriebsanlage genehmigten Emissionen bei der baurechtlichen Genehmigung von Wohnbauprojekten zu berücksichtigen sind, zumal ansonsten mit nachträglichen gewerberechtlichen Auflagen zum Schutz der hinzugezogenen Nachbarschaft gegen Immissionen zu rechnen wäre.18 Schutzzweck eines solchen Rechtsinstitutes ist folglich ein Bestandsschutz der bereits rechtskräftig genehmigten Betriebsanlage vor der heranrückenden Wohnbebauung.19 Zur rechtssicheren Zielerreichung einer solchen verfassungsrechtlich gebotenen Vorgabe bieten sich Schutzmaßnahmen (denkbar sind Schallschutzmaßnahmen am Wohnbauvorhaben oder beim emittierenden Nachbarbetrieb) an, die im Bauverfah-

10 Siehe dazu Schmelz/Schwarzer, Kommentar zum UVP-G (2011) § 17 Rz 35. 11 So bilden den Beurteilungsgegenstand einer Anlage zur Erlangung einer gewerblichen Betriebsanlagengenehmigung nur jene Anlagenteile, „die der Entfaltung einer gewerblichen Tätigkeit zu dienen bestimmt [sind]“ (VwGH 28. 9. 2011, 2007/04/0114). 12 Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000 – UVP-G 2000, BGBl 697/1993 idF BGBl I 80/2018. 13 Hecht (FN 5) 133; seine Überlegung würde auch noch im Hinblick auf Art 7 B-VG problematisch sein, wie er selbst andeutet. Außerdem trifft sie nicht zu, wie im Folgenden gezeigt wird. 14 VwGH 30. 3. 1954, 1195/51.

15 Siehe Duden (Wörterbuch abrufbar unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/verteuern). 16 Zur gewählten Interpretationsmethode siehe etwa B. Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht5 (2017) Rz 549 und 551. 17 Eine historische Interpretation hilft nicht weiter, weil sich der Gesetzgeber in den Materialen hierzu nicht geäußert hat. Dies gilt auch für vergleichbare Bestimmungen zur Sicherung von Trassenverläufen wie zB § 60 Tir Straßengesetz, LGBl 13/1989 idF LGBl 138/2019, § 6 Abs 4 NÖ Straßengesetz, LGBl 8500-0 idF LGBl 57/2015, § 24 Bgld Straßengesetz 2005, LGBl 79/2005, § 5a Abs 1 iVm 5 und 6 Hochleistungsstreckengesetz – HIG, BGBl 135/1989 idF BGBl I 154/2004, oder § 14 E-Infrastrukturgesetz – E-InfrastrukturG, BGBl I 4/2016. 18 Siehe mwN nur Schwarzer, Abwehr- und Ersatzansprüche des Betriebsinhabers bei heranrückenden Wohnbauten, ÖZW 1999, 13 (15). 19 Vgl Th. Neger/Spiegl/D. Neger, Heranrückende Wohnbebauung, bbl 2016, 136 (146).

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ren zur Genehmigung des Wohnbauprojektes zu berücksichtigende sind. Im besten Fall werden diese vom Wohnbau-Genehmigungswerber gleich direkt in seinem Bauprojekt aufgenommen oder von der Baubehörde – falls möglich – als Auflage im Bescheid festgeschrieben. Der Wohnbau-Genehmigungswerber wird in aller Regel die Maßnahmen realisieren und auch bezahlen, weil er sonst Gefahr läuft, keine Baugenehmigung zu erhalten.20

3.

Das Genehmigungsverfahren gemäß § 4 Abs 1 BStG 1971

§ 4 Abs 1 BStG 1971 sieht seinem Wortlaut nach vor, dass mit Bescheid nur über den Straßenverlauf durch Festlegung der Straßenachse, im Fall einer Ausbaumaßnahme durch Beschreibung, abgesprochen wird, nicht aber über das eingereichte und der Genehmigung zu Grunde liegende Projekt in seiner Gesamtheit.21 Trotz dieses bundesstraßenspezifischen Umstandes bedarf diese Festlegung eines konkreten Projektes, welches an den in § 4 Abs 1 iVm §§ 7 und 7a festgelegten Genehmigungsvoraussetzungen (objektiver/subjektiver Nachbarschutz, Wirtschaftlichkeit und Umweltverträglichkeit des Straßenbauvorhabens, sowie die Erfordernisse des Verkehrs und die funktionelle Bedeutung des Straßenzuges) zu messen ist.22 So müssen die Projektunterlagen etwa im Hinblick auf den Nachbarschutz entsprechend detailliert sein, weil es ansonsten nicht möglich wäre, im Verfahren die hierfür notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein Projekt ist dann zu bewilligen, wenn dieses – allenfalls unter Vorschreibung von Nebenbestimmungen – alle Genehmigungsvoraussetzungen erfüllt.23 Insgesamt liegt hierdurch dem Genehmigungsantrag im Allgemeinen ein beträchtliches Einreichoperat bei.24

4.

Liegenschaftsfläche wird unmittelbar benötigt (erste Fallvariante)

Steht zum Zeitpunkt der Einreichung der Ausnahmeerteilung im Hinblick auf ein „§ 4 Abs 1“-Verfahren fest, dass das geplante Bauvorhaben auf jener Liegenschaft situiert sein soll, auf der sich auch die Straßenachse oder die solcherart beschriebene Ausbaumaßnahme selbst unmittelbar befinden wird, dann hat dies zur faktischen Folge, dass ein allenfalls ausnahmsweise bewilligtes Bauwerk der späteren Straße weichen wird müssen. Zu bedenken ist dabei, dass für solche Fälle das BStG 1971 zwar den Weg über die Einlösung/Enteignung kennt (§§ 17 ff ). Wäre aber antizipativ im Ausnahmeverfahren darauf geachtet

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worden, welche Auswirkung eine solche Bewilligung auf die Genehmigung nach § 4 Abs 1 hat, hätte man erkennen müssen, dass es damit zu einer offenkundig vermeidbaren Verteuerung oder Beeinträchtigung kommt. Dies begründet sich damit, weil das Bauwerk im Fall einer Enteignung wieder abgerissen und dann dafür auch noch eine Entschädigung bezahlt werden muss. In solchen Fällen ist somit von einer wesentlichen Verteuerung oder erheblichen Beeinträchtigung auszugehen. Ein gegenteiliges Ergebnis würde den in § 14 Abs 3 BStG 1971 normierten Schutzzweck genauso außer Acht lassen wie die gesetzliche Vorgabe, dass Bundesstraßen sparsam zu realisieren sind (§ 7 Abs 7).

5.

Potentielle/konkrete Antragsabweisung (zweite Fallvariante)

Könnte von einem zu genehmigenden Projekt (§ 4 Abs 1) eine Gesundheitsgefährdung für einen Nachbarn ausgehen, dann ist dieses Projekt nicht genehmigungsfähig (§ 4 Abs 1 iVm § 7a Abs 1 Z 1). Das BStG 1971 ermöglicht der Bundesstraßenverwaltung zwar, Minderungsmaßnahmen (passiver/aktiver Lärmschutz) zu ergreifen. Lässt sich aber auch solcherart keine Gesundheitsgefährdung verhindern, dann wäre der Antrag abzuweisen. Spätestens im Genehmigungsverfahren (§ 4 Abs 1 BStG 1971) muss somit feststellbar sein, ob mit dem Straßenprojekt eine Gesundheitsgefährdung auf einen bestehenden Nachbarn einhergeht oder nicht. In einem Ausnahmeverfahren kann eine solche Feststellung aber nicht immer ausreichend genau getroffen werden. Dies wird der Fall sein, wenn ein Antrag auf Ausnahme zu einem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem die Planungsarbeiten gerade im Hinblick auf den damit verbundenen Bereich noch nicht so weit fortgeschritten sind, um die Frage einer allfälligen Lärmbeeinträchtigung mit der dafür notwendigen fachlichen Sicherheit beantworten zu können. Würde nun trotzdem die Ausnahme erteilt werden, könnte dies im schlimmsten Fall die Antragsabweisung im „§ 4 Abs 1“-Verfahren“ zur Konsequenz haben. Dies ist auch deswegen nicht abwegig, weil gesundheitsbezogener Nachbarschutz, der als subjektives Recht im Genehmigungsverfahren geltend gemacht werden kann, absolut gewährleistet und einer Abwägung von Interessen somit nicht zugänglich ist.25 In einem solchen Fall ist die Beeinträchtigung klarerweise als erheblich zu qualifizieren. Ergibt sich auf Grund des fortgeschrittenen Planungsstandes, dass durch die Erteilung einer Ausnahme eine Situation geschaffen wird, bei der es zu einer unabwendbaren Gesundheitsbeeinträchtigung kommen könnte, dann gilt das zuvor Gesagte umso mehr.

20 Siehe Th. Neger/Spiegl/D. Neger (FN 19) bbl 2016, 146. 21 Vgl Pürgy/Hofer, Verkehrsrecht in Holoubek/Potacs (Hrsg), Öffentliches Wirtschaftsrecht4 (2019) 1053 (1086). 22 Mayrhofer, Bundes- und Landesstraßenplanungsrecht, in Hauer/Nußbaumer (Hrsg), Österreichisches Raum- und Fachplanungsrecht (2006) 311 (333). 23 Im Übrigen stehen die Kriterien zueinander nicht in einem Rangverhältnis. Sie bilden vielmehr gleichberechtigte Genehmigungsvoraussetzungen (vgl Kneihs, Verfassungsfragen der Neuregelung der Trassenfestlegung im Bundesstraßengesetz, ZfV 2007, 1 [4]). 24 Siehe zur Wirtschaftlichkeitsprüfung eingehend VfSlg 19.126/2010.

6.

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Umfassende Adaptierung der Planunterlagen (dritte Fallvariante)

Alle Fallvarianten, die eine umfassende Adaptierung der Einreichunterlagen notwendig werden lassen, können potentiell dazu geeignet sein, eine erhebliche Beeinträchtigung darzustel25 N. Raschauer, BStG, in Altenburger/N. Raschauer (Hrsg), Kommentar zum Umweltrecht (2014) § 7a Rz 1.


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len. Dies wird beispielsweise dann der Fall sein, wenn sich die zuvor beschriebene Gesundheitsgefährdung oder eine sonstige nachbarschutzbezogene Beeinträchtigung (§ 7 BStG 1971) durch aktive (insbesondere straßenseitige Lärmschutzwände) Lärmschutzmaßnahmen aus fachplanerischer Sicht zweifelsfrei zwar in den Griff bekommen ließe. Kann dies auf Grund der fortgeschrittenen straßenplanerisch getroffenen Festlegungen jedoch nur mehr mit hohem Aufwand noch in die bereits erarbeiteten Projektunterlagen integriert werden (vor allem Abweichen von der angedachten Straßenachse samt Veränderungen des Straßenkörpers), dann könnte dies eine umfassende Adaptierung des Projektes notwendig machen. Es könnte hierdurch also zu einer erheblichen Beeinträchtigung kommen. Je intensiver der damit einhergehende Zeitverlust wäre, desto gewichtiger wäre jedenfalls das Argument. Im Übrigen setzt diese Fallvariante voraus, dass die durch die Ausnahme verursachten Lärmschutzmaßnahmen keine nennenswerten Mehrkosten verursachen, indem sie sich gut in der bisherigen Planung berücksichtigen lassen.

7.

Ausnahmebewilligung verursacht Kosten (vierte Fallvariante)

Könnten künftige Nachbarn dagegen mittels passiven (insbesondere objektseitige Lärmschutzfenster) Lärmschutzmaßnahmen aus fachplanerischer Sicht zweifelsfrei geschützt werden, dann wird in aller Regel eine umfassende Adaptierung der Projektunterlagen nicht notwendig sein. Hierbei wird jedoch ins Kalkül zu ziehen sein, dass die Frage des Lärmschutzes samt den damit einhergehenden Kostenerwägungen mit § 7 Abs 3 BStG 1971 (so genannte „Relativitätsklausel“) zwar geregelt ist.26 Diese Regelung bezieht sich aber bloß auf den Schutz der bestehenden Nachbarschaft. Völlig anders verhält es sich dagegen im gegebenen Zusammenhang. Obwohl der Liegenschaftseigentümer weiß, dass er sich in einer Sperrzone befindet, will er trotzdem sein Bauprojekt dort verwirklichen, ohne jedoch selbst genau abschätzen zu können, wie sich das Straßenprojekt später in nachbarrechtlicher Hinsicht auszuwirken vermag. Ein solcher Liegenschaftseigentümer kann nicht den gleichen Schutz genießen, wie eine schon bestehende Nachbarschaft. Insofern ist es auch zulässig, in systematisch übertragbarer Weise die Überlegungen aus der „heranrückenden Wohnbebauung“ auf die hier gegebenen Sachverhaltskonstellationen umzulegen. Im Ergebnis heißt dies: Kosten für Lärmschutzmaßnahmen, die wegen einer Ausnahmebewilligung notwendig werden würden, führen zu einer wesentlichen Verteuerung des geplanten Straßenprojektes. Zur Vermeidung eines solchen Ergebnisses stünde es dem Bauwerber natürlich frei, die allenfalls hierzu

in einem Ausnahmeverfahren feststellbaren Kosten selbst zu tragen.27

8.

Grundrechte als Prüfungsmaßstab der Fallvarianten

Zu einer grundrechtlich geschützten Eigentumsbeschränkung kommt es unter anderem dann, wenn das Recht eines Liegenschaftseigentümers zu bauen beeinträchtigt wird.28 Erfolgt der Grundrechtseingriff dabei durch die Vollziehung, dann verletzt ein in das Eigentum eingreifender Bescheid das Grundrecht auf Eigentum, wenn dieser gesetzlos ergeht, sich auf eine verfassungswidrige Rechtsgrundlage stützt oder eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage denkunmöglich anwendet, wobei es als eine Form der Denkunmöglichkeit aufgefasst wird, wenn einem Gesetz ein verfassungswidriger Inhalt unterstellt wird.29 Schließlich hat der Eigentumseingriff sachlich zu erfolgen, wodurch dieser nicht nur verhältnismäßig30 sein muss, sondern darüber hinaus auch dem aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten Sachlichkeitsgebot zu entsprechen hat.31 Wird also beabsichtigt, einen Antrag auf Erteilung einer Ausnahme auf Grund obiger Überlegungen abzuweisen, dann sind die zuvor dargestellten Fallvarianten nochmals anhand dieser grundrechtlichen Vorgaben zu überprüfen.32 Bei dieser Grundrechtsprüfung ist ins Kalkül zu ziehen, dass das Recht zu bauen zwar grundrechtlich geschützt ist. Bei einer allenfalls nach § 14 Abs 3 BStG 1971 auszusprechenden Versagung einer Ausnahme handelt es sich im Vergleich zur (formellen/materiellen) Enteignung aber bloß um eine zeitlich befristete Eigentumsbeschränkung, die im Fall einer Straßenverlaufsgenehmigung außer Kraft tritt (§ 14 Abs 5). Darüber hinausgehende Eigentumsbeschränkungen würde ein solcher Bescheid dagegen nicht bewirken. Eigentumsrechtliche Auswirkungen, die sich auf Grund des § 4 Abs 1 iVm §§ 15 und 17 ff BStG 1971 ergeben, wären dagegen zu Gunsten des Bauwerbers nicht zu berücksichtigen, weil diese im Ausnahmeverfahren gemäß § 14 Abs 3 schlichtweg nicht verfahrensgegenständlich sind. Im Zweifel könnte daher die Schwelle niedriger als höher angesetzt werden. Bezogen auf die zuvor erarbeiteten Fallvarianten, ist darüber hinaus Nachfolgendes zu beachten: Werden durch eine Ausnahmebewilligung gemäß § 14 Abs 3 BStG 1971 vermeidbare Kosten verursacht, weil ein Bauwerk auf jener Liegenschaft errichtet werden soll, auf der sich auch die Straßenachse befindet, dann würde dieser Umstand auf Seiten der Bundesstraßenverwaltung bei einer Adäquanzprü-

26 Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung von Beeinträchtigungen sind nur zu ergreifen, wenn dies im Verhältnis zum Erfolg mit wirtschaftlich vertretbarem Aufwand erreicht werden kann (siehe dazu näher N. Raschauer [FN 25] § 7 BStG Rz 7).

27 Vergleichbares wird im Eisenbahnrecht geregelt (Hauer, Eisenbahnwegeplanung, in Hauer/Nußbaumer [Hrsg], Österreichisches Raum- und Fachplanungsrecht [2006], 359 [366] mit Hinweis auf § 5a Abs 5 und 7 HIG). 28 Vgl VfSlg 8603/1979 und 9306/1981. 29 Vgl zB VfSlg 10.482/1985 und 13.847/1994. 30 Siehe zu der aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung abgeleiteten Interessenabwägung mwN Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht12 (2019) Rz 730. 31 Pöschl, § 14 Gleichheitsrechte, in Merten/Papier (Hrsg), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa VII2 (2014) Rz 36 ff. 32 Siehe nur VfSlg 10.737/1985.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN fung33 schwer ins Gewicht fallen. Dies begründet sich darin, weil die Bundesstraßenverwaltung schon von Gesetzes wegen zum sparsamen Planen verpflichtet ist (§ 7 Abs 7) und das Errichten eines solchen Gebäudes diese Vorgabe geradezu konterkarieren würde. Demgegenüber fällt das Recht des Eigentümers hier kaum ins Gewicht, weil er damit rechnen muss, dass sein Bauwerk zeitnah wieder enteignet und im Folgenden abgerissen wird. Könnte es durch eine Ausnahmebewilligung zu einer möglichen Antragsabweisung des Straßenprojektes kommen, schlägt das zu vollen Lasten auf Seiten der Bundesstraßenverwaltung durch. Dem steht zwar das Recht des Eigentümers zu bauen gegenüber. Würde aber in einem solchen Fall dem Recht zu bauen zum Erfolg verholfen werden, dann würde das diametral dem in § 14 Abs 3 BStG 1971 festgelegten Regelungszweck entgegenstehen. Ähnliches ist zu berücksichtigen, wenn durch ein Ausnahmeverfahren von der Bundesstraßenverwaltung verlangt werden würde, eine umfassende Adaptierung ihrer Pläne vornehmen zu müssen, was eine enorme Zeitverzögerung für das Gesamtprojekt zur Folge habe könnte. Solche dem Schutzzweck völlig negierende Auslegungsergebnisse würden dieser Norm einen gleichheitswidrigen, weil unsachlichen, Inhalt unterstellen und wären damit abzulehnen. Entstünden durch die Ausnahmebewilligung wegen der späteren Umsetzung des Straßenprojektes Kosten (insbesondere passiver Lärmschutz), dann dürften diese nicht – auch nicht anteilig – durch eine entsprechende systematische Auslegung der in § 7 Abs 3 BStG 1971 normierten „Relativitätsklausel“ der Bundesstraßenverwaltung angelastet werden. Diese Überlegung stützt sich darauf, weil die von § 7 Abs 3 geregelte Situation (bestehende Nachbarn) mit der hier gegenständlichen (künftige Nachbarn) nicht vergleichbar ist. Eine Gleichbehandlung dieser beiden Sachverhaltskonstellationen würde zu einer sachlich nicht begründbaren Privilegierung künftiger Nachbarn führen. Demgegenüber hat der VfGH mit der „heranrückenden Wohnbebauung“ ein Rechtsinstitut geschaffen, nach der der Verursacher solcher Kosten diese auch zu tragen hat. Da es sich beim Ausnahmewerber um den Verursacher von Kosten in einer mit diesem Rechtsinstitut vergleichbaren Situation handelt, ist dieses Auslegungsergebnis in systematischer Hinsicht vergleichbar und damit legitim. Im Ergebnis heißt dies, dass obige Erwägungen einer grundrechtlichen Prüfung standhalten würden und als maßgebliche Grundlage für jede Einzelfallbeurteilung herangezogen werden könnten.

III. Zusammenfassung Bei einem Ausnahmebewilligungsverfahren gemäß § 14 Abs 3 BStG 1971 ist – anders als bei einem Verordnungsverfahren gemäß § 14 Abs 1 – nur das konkret beantragte Projekt beachtlich. 33 Zur Adäquanz im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mwN VfSlg 15.577/1999.

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Maßgeblich ist dabei ausschließlich jener Teil, der sich unter den in § 14 Abs 3 BStG 1971 festgelegten Beurteilungsgegenstand (Neubau etc) subsumieren lässt. Dieser Beurteilungsgegenstand ist dann anhand des Beurteilungsmaßstabes (wesentliche Verteuerung oder erhebliche Beeinträchtigung) zu messen. Eine wie auch immer geartete kumulative Betrachtung mit anderen Bauprojekten ist mangels entsprechender gesetzlicher Grundlage im Ausnahmeverfahren nicht vorgesehen. Zu einer wesentlichen Verteuerung oder erheblichen Beeinträchtigung würde es durch die Bewilligung der beantragten Ausnahme dann kommen, wenn die antragsgegenständliche Baumaßnahme unmittelbar auf der geplanten Straßenachse errichtet werden soll oder damit eine umfassende Adaptierung der straßenbaulichen Genehmigungsunterlagen einhergehen könnte. Zudem wäre von einer erheblichen Beeinträchtigung immer dann auszugehen, wenn die Erteilung einer Ausnahme die spätere Abweisung des beabsichtigten Straßenprojektes zur Folge haben könnte. Eine wesentliche Verteuerung liegt schließlich immer auch dann vor, wenn der Bundesstraßenverwaltung auf Grund der Ausnahmebewilligung zusätzliche Kosten wegen passiver Lärmschutzmaßnahmen entstehen würden. Demgegenüber könnte ein Antrag auf Erteilung einer Ausnahmebewilligung eines Vorhabens, welches in einem verordneten Bundesstraßenplanungsgebiet liegt, bewilligungsfähig sein, wenn von der Straßenbehörde – unter Berücksichtigung der vorherigen Überlegungen – entsprechende Nebenbestimmungen (Auflagen oder Bedingungen) in den Bescheid aufgenommen werden. So könnte etwa die Bewilligung – natürlich unter Berücksichtigung und abhängig von den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls – unter der Bedingung erteilt werden, dass das bei der Baubehörde anhängige Bauprojekt vom Bauwerber so ergänzt wird, dass dieses mit den aus lärmtechnischer Sicht entsprechend notwendigen Lärmschutzfenstern und -türen (siehe zum Schallschutz die so genannte OIB-Richtlinie 5 des Österreichischen Instituts für Bautechnik) ausgestattet und errichtet wird. Außerdem könnte im Bedarfsfall vom Antragsteller etwa die Vorlage eines entsprechenden geotechnischen Nachweises über die Standsicherheit verlangt werden, mit welchem belegt wird, dass trotz der Errichtung des Bauvorhabens die Grundbruchsicherheit in Richtung des geplanten Straßenprojektes gewahrt bleibt.

Der Autor: Dr. Helmut Kinczel Team Vergabe und Öffentliches Recht Abteilung Recht und Einkauf Autobahnen- und SchnellstraßenFinanzierungs-Aktiengesellschaft Rotenturmstraße 5-9, PF 983 A-1011 Wien helmut.kinczel@asfinag.at lesen.lexisnexis.at/autor/Kinczel/Helmut

Kinczel, Ausnahmebewilligung im Bundesstraßenplanungsgebiet

Foto: privat

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Christoph Hofstätter

Amtshaftung bei rechtswidriger COVID-19Verordnungserlassung Dargestellt anhand der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96, BGBl II 96/2020 in der Fassung BGBl II 151/2020, und des Erkenntnisses des VfGH vom 14. Juli 2020, V 411/2020 » ZfV 2021/57

Soweit im Wege der Amtshaftung für Schäden gehaftet wird, die „in Vollziehung der Gesetze“ zugefügt werden, kann auch die rechtswidrige Verordnungserlassung haftungsbegründend wirken. Hat der Verfassungsgerichtshof eine Verordnung als gesetzwidrig erkannt, gerade im Hinblick auf das COVID-19-Verordnungsrecht kein Einzelfall, ist allein eine erste Hürde am Weg zum Amtshaftungsanspruch genommen. Denn nach dem Amtshaftungsgesetz sind zahlreiche Voraussetzungen zu erfüllen, weshalb die Geschädigten auch darauf achten sollten, worauf der Verfassungsgerichtshof seine Entscheidung gestützt hat. » Deskriptoren: Amtshaftung; rechtswidrige Verordnung; COVID-19-Maßnahmen. » Rechtsquellen: Art 23 B-VG; §§ 1 und 2 AHG; COVID-19-Maßnahmenverordnung-96.

I. Ein Ausgangsbeispiel anstelle einer Einleitung II. Amtshaftung nach dem Amtshaftungsgesetz A. Haftung des Rechtsträgers für seine Organe B. Haftung „nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts“ C. Haftung „in Vollziehung der Gesetze“ D. Schaden „am Vermögen oder an der Person“ E. „Verhalten“ des Organs F. Kausalität G. Rechtswidrigkeit H. Rechtswidrigkeitszusammenhang I. Verschulden J. Rechtmäßiges Alternativverhalten III. Conclusio

I.

Ein Ausgangsbeispiel anstelle einer Einleitung

Von1 14. April 20202 bis einschließlich 30. April 20203 galt nach der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 4 folgende Rechtslage: 1

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3

Schriftliche Fassung eines am 10. November 2020 an der JKU Linz gehaltenen Vortrags. Die Bearbeitung wurde im Wesentlichen Ende November 2020 abgeschlossen. Für Diskussion, Anregungen und Kritik danke ich Thomas Garber, Peter Ivankovics, Reinhard Jantscher und Barbara Steininger. § 5 Abs 6 Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der die Verordnung betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geändert wird, BGBl II 151/2020. § 5 Abs 1 Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, mit der die Verordnung betreffend vor-

„§ 1. Das Betreten des Kundenbereichs von Betriebsstätten des Handels und von Dienstleistungsunternehmen sowie von Freizeitund Sportbetrieben zum Zweck des Erwerbs von Waren oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen oder der Benützung von Freizeit- und Sportbetrieben ist untersagt. § 2 (1) § 1 gilt nicht für folgende Bereiche: 1. öffentliche Apotheken

4

läufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 geändert wird, BGBl II 151/2020; § 13 Abs 2 Z 1 COVID-19-Lockerungsverordnung – COVID-19-LV, BGBl II 197/2020. Verordnung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, BGBl II 96/2020 idF BGBl II 151/2020.

Hofstätter, Amtshaftung bei rechtswidriger COVID-19-Verordnungserlassung

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2. 3. 4. 5. 6.

7. 8. 9. 10. 11.

12. 13. 14.

15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. [...]

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Lebensmittelhandel (einschließlich Verkaufsstellen von Lebensmittelproduzenten) und bäuerlichen Direktvermarktern Drogerien und Drogeriemärkte Verkauf von Medizinprodukten und Sanitärartikeln, Heilbehelfen und Hilfsmitteln Gesundheits- und Pflegedienstleistungen Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen die von den Ländern im Rahmen der Behindertenhilfe-, Sozialhilfe-, Teilhabe- bzw. Chancengleichheitsgesetze erbracht werden veterinärmedizinische Dienstleistungen Verkauf von Tierfutter Verkauf und Wartung von Sicherheits- und Notfallprodukten Notfall-Dienstleistungen Agrarhandel einschließlich Schlachttierversteigerungen sowie der Gartenbaubetrieb und der Landesproduktenhandel mit Saatgut, Futter und Düngemittel Tankstellen und angeschlossene Waschstraßen Banken Postdiensteanbieter einschließlich deren Postpartner, soweit diese Postpartner unter die Ausnahmen des § 2 fallen sowie Postgeschäftsstellen iSd § 3 Z 7 PMG, welche von einer Gemeinde betrieben werden oder in Gemeinden liegen, in denen die Versorgung durch keine andere unter § 2 fallende Postgeschäftsstelle erfolgen kann, jedoch ausschließlich für die Erbringung von Postdienstleistungen und die unter § 2 erlaubten Tätigkeiten, und Telekommunikation Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Rechtspflege Lieferdienste Öffentlicher Verkehr Tabakfachgeschäfte und Zeitungskioske Hygiene und Reinigungsdienstleistungen Abfallentsorgungsbetriebe KFZ- und Fahrradwerkstätten Baustoff-, Eisen- und Holzhandel, Bau- und Gartenmärkte Pfandleihanstalten und Handel mit Edelmetallen.

(4) § 1 gilt unbeschadet Abs. 1 nicht für den Kundenbereich von sonstigen Betriebsstätten des Handels, wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m2 beträgt. Als sonstige Betriebsstätten des Handels sind Betriebstätten zu verstehen, die dem Verkauf, der Herstellung, der Reparatur oder der Bearbeitung von Waren dienen. Sind sonstige Betriebsstätten baulich verbunden (z. B. Einkaufszentren), ist der Kundenbereich der Betriebsstätten zusammenzuzählen, wenn der Kundenbereich über das Verbindungsbauwerk betreten wird. Veränderungen der Größe des Kundenbereichs, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen wurden, haben bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereichs außer Betracht zu bleiben.“ In seiner Leitentscheidung V 411/2020 vom 14. Juli 2020 hat der VfGH bekanntlich ausgesprochen, dass die Wortfolge „ , wenn der Kundenbereich im Inneren maximal 400 m2 beträgt“ und der vierte Satz – „Veränderungen der Größe des Kundenbereichs, die nach dem 7. April 2020 vorgenommen wurden, haben bei der Ermittlung der Größe des Kundenbereichs außer Betracht zu bleizfv.lexisnexis.at

ben.“ – des (im Entscheidungszeitpunkt bereits außer Kraft getretenen) § 2 Abs 4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 gesetzwidrig waren. Festgestellt wurde ein Verstoß gegen § 1 COVID-19-MG5 idF BGBl I 23/2020.6 Die Gründe werden später erläutert.7 Die antragstellende Partei im Verfahren V 411/2020 betreibt ihren Handelsgeschäftszweig – Handel mit Waren aller Art, insbesondere Schuhhandel – an 49 Standorten in Österreich und war vom verordneten Betretungsverbot von Betriebsstätten des Handels gemäß § 1 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 nach Ansicht des VfGH aktuell und unmittelbar betroffen. Indem der VfGH (nachträglich) Teile der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 für gesetzwidrig erklärt hat, dürfte er dem Rechtsschutzanliegen der antragstellenden Partei in dem ihm möglichen Rahmen vordergründig entsprochen haben. Nicht verhindern konnte der VfGH mit seiner nachprüfenden Kontrolle naturgemäß, dass der antragstellenden Partei auf Grund des Ausbleibens ihrer Kunden ein finanzieller Nachteil entstanden ist. Ob die antragstellende Partei diesen finanziellen Nachteil erfolgreich in einem Amtshaftungsverfahren gemäß Art 23 Abs 1 B-VG iVm § 1 Abs 1 AHG8 geltend machen könnte, soll in weiterer Folge geprüft werden.

II.

Amtshaftung nach dem Amtshaftungsgesetz

Gemäß § 1 Abs 1 AHG haften ausgewählte Rechtsträger nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts für den Schaden am Vermögen oder an der Person, den die als ihre Organe handelnden Personen in Vollziehung der Gesetze durch ein rechtswidriges Verhalten wem immer schuldhaft zugefügt haben; dem Geschädigten haftet das Organ nicht. Der Schaden ist nur in Geld zu ersetzen.

A.

Haftung des Rechtsträgers für seine Organe

Nach dem System des AHG kann von einem Geschädigten allein ein Rechtsträger und niemals ein Organ in Anspruch genommen werden; hier wäre bereits der Rechtsweg unzulässig (§ 9 Abs 5 AHG).9 Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und 5 6

7 8 9

COVID-19-Maßnahmengesetz – COVID-19-MG, BGBl I 12/2020. § 1 COVID-19-MG idF BGBl I 23/2020 lautete: „§ 1. Beim Auftreten von COVID-19 kann der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz durch Verordnung das Betreten von Betriebsstätten oder nur bestimmten Betriebsstätten zum Zweck des Erwerbs von Waren und Dienstleistungen oder Arbeitsorte im Sinne des § 2 Abs. 3 ArbeitnehmerInnenschutzgesetz untersagen, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erforderlich ist. In der Verordnung kann geregelt werden, in welcher Zahl und zu welcher Zeit jene Betriebsstätten betreten werden dürfen, die vom Betretungsverbot ausgenommen sind. Darüber hinaus kann geregelt werden, unter welchen bestimmten Voraussetzungen oder Auflagen Betriebsstätten oder Arbeitsorte betreten werden dürfen.“ Siehe unter II.G. Amtshaftungsgesetz – AHG, BGBl 20/1949 idF BGBl I 122/2013. RIS-Justiz RS0124590, RS0103737; Schragel, Kommentar zum Amtshaftungsgesetz3 (2003) Rz 258; Ziehensack, Amtshaftungsgesetz. Praxiskommentar (2011) § 9 AHG Rz 181.

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Konsumentenschutz (in der Folge: BMSGPK), der die vom VfGH für rechtswidrig erklärte Verordnung erlassen hat, ist nicht Haftungsadressat. Sein Verhalten ist dem Bund zuzurechnen,10 weil er funktional für den Bund tätig wird, indem er auf Grundlage des § 1 COVID-19-MG idF BGBl I 23/2020 eine Verordnung in Angelegenheiten des Gesundheitswesens (Art 10 Abs 1 Z 12 B-VG) erlässt. Zudem besteht auch eine organisatorische Zuordnung zum Bund, die ebenfalls zurechnungsbegründend wirkt (vgl § 1 Abs 3 AHG).

B.

Haftung „nach den Bestimmungen des bürgerlichen Rechts“

Gemäß der Gesamtverweisung in § 1 Abs 1 AHG ist die Haftung nach dem AHG grundsätzlich eine Schadenersatzhaftung nach bürgerlichem Recht, wobei das AHG einige wenige materiellrechtliche Sonderregeln enthält (zum Beispiel nur Geldersatz und keine Naturalrestitution, Amtshaftung als Verschuldenshaftung).11

C.

Haftung „in Vollziehung der Gesetze“

Ein Amtshaftungsanspruch besteht nur für jenes Verhalten, das die Organe eines Rechtsträgers „in Vollziehung der Gesetze“ setzen. „Vollziehung der Gesetze“ ist Gerichtsbarkeit oder Verwaltung, nicht aber Gesetzgebung (vgl § 1 Abs 2 AHG). § 2 Abs 3 AHG schließt zudem eine Haftung aus einer (fehlerhaften) höchstgerichtlichen Entscheidung aus. Auch erfasst das AHG nur den Bereich der Hoheitsverwaltung und nicht jenen der Privatwirtschaftsverwaltung.12 Welches Verhalten als „Vollziehung der Gesetze“ anzusehen ist, gehört zu den umstrittensten Fragen des Amtshaftungsrechts und kann besonders dann schwer zu beantworten sein, wenn die Verwaltung nicht rechtsformengebunden agiert.13 Sofern man Hoheitsverwaltung von der Privatwirtschaftsverwaltung nach dem rechtstechnischen Mittel, welches eingesetzt wird, scheiden kann, entfallen die Abgrenzungsschwierigkeiten.14 Die Erlassung von Verordnungen geschieht im Rahmen der Hoheitsverwaltung und ist eindeutig „Vollziehung der Gesetze“.15 Der BMSGPK hat mit der COVID-19-Maßnahmenverord10 Mader, § 1 AHG, in Schwimann/Kodek (Hrsg), ABGB Praxiskommentar4 (2016) Rz 7; Koziol, Haftpflichtrecht II3 D/10/Rz 3 (Stand 1. 1. 2018, rdb. at); Kucsko-Stadlmayer, Art 23 B-VG, in Korinek/Holoubek et al (Hrsg), Kommentar Bundesverfassungsrecht (11. Lfg, 2013) Rz 12. Zu den theoretischen Grundlagen der Zurechnung treffend Wimmer, Art 23 B-VG, in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (24. Lfg, 2020) Rz 1 f. 11 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 16; Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 1 ff. 12 OGH 27. 2. 2017, 1 Ob 201/16i; Schragel (FN 9) Rz 72; Vrba, Amtshaftung – Staatshaftung (Stand Mai 2021) Kap. 1.4, 7. 13 Rebhahn, Staatshaftung wegen mangelnder Gefahrenabwehr (1997) 88 ff; vgl auch allgemein Novak, Die Problematik der Abgrenzung der Hoheitsverwaltung von der sogenannten Privatwirtschaftsverwaltung, in FS Antoniolli (1979) 61 ff. 14 RIS-Justiz RS0049882; vgl Raschauer, Allgemeines Verwaltungsrecht5 (2017) Rz 705 ff; Schragel (FN 9) Rz 73 ff. 15 OGH 19. 1. 1999, 1 Ob 306/98a; 28. 3. 2000, 1 Ob 272/99b; 23. 11. 2016, 1 Ob 199/16w; Antoniolli/Koja, Allgemeines Verwaltungsrecht3 (1996) 23 ff;

nung-96 ohne Zweifel eine (ordnungsgemäß in Teil II des Bundesgesetzblatts kundgemachte) Rechtsverordnung erlassen.16 Die hier beschriebene Haftungsvoraussetzung ist erfüllt.

D.

Schaden „am Vermögen oder an der Person“

Nach dem AHG sind Schäden „am Vermögen oder an der Person“ zu ersetzen. Was ein Schaden ist, legt das AHG nur im Verweisungswege fest; es ist wiederum auf die Grundsätze des bürgerlichen Rechts zurückzugreifen.17 Die antragstellende Partei im Verfahren V 411/2020 argumentiert, dass ihr durch die angefochtenen Bestimmungen der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 „Umsatzeinbußen in Höhe von 100 Prozent“ entstanden sind. Dass die einschränkenden Maßnahmen zu einem finanziellen Nachteil bei der antragstellenden Partei geführt haben, wird man annehmen müssen. Wie hoch der erlittene Schaden tatsächlich ist, kann hier nicht abschließend ausgemessen werden. Einzubeziehen wird etwa die Überlegung sein, ob eine zweiwöchige faktische Betriebsschließung durch ein Betretungsverbot gegenüber den Kunden dazu führt, dass der Konsum in den Online-Handel verlagert wird, das Kaufbedürfnis nach Ablauf der Behinderung befriedigt wird oder überhaupt erlischt. Ankommen wird es dabei insbesondere auch auf die Art der angebotenen Waren. Allenfalls wird auch eine Schadensschätzung gemäß § 273 ZPO18 vorzunehmen sein.19 Der Verlust unternehmerischer Gewinne wird nach einem sehr weiten Begriffsverständnis vom OGH als positiver Schaden eingestuft, der schon bei leichter Fahrlässigkeit zu ersetzen ist.20 Für entgangenen Gewinn hätte der Schädiger dagegen grundsätzlich erst ab grober Fahrlässigkeit einzustehen (§ 1324 ABGB21).22 Nach allgemeinen Grundsätzen gilt auch nach dem AHG über dessen § 2 Abs 2 – der auf einen Individualantrag nach Art 139 Abs 1 Z 3 B-VG nicht anwendbar ist23 – hinaus eine Schadenminderungspflicht. Ergreift der Geschädigte kein Rechtsmittel, obwohl es geeignet gewesen wäre, den Schaden ganz oder teil-

16

17 18 19 20

21 22 23

Geroldinger, Amtshaftung wegen Fehlern bei Bekämpfung der COVID19-Epidemie? JBl 2020, 523 (529); Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 32; Rebhahn (FN 13) 88; Schragel, (FN 9) Rz 61 ff; Wimmer (FN 10) Art 23 B-VG Rz 42; Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 416. Eine Auseinandersetzung mit dem Themenkreis Rechtsverordnung-Verwaltungsverordnung-Erlass kann dementsprechend unterbleiben (näher aus amtshaftungsrechtlicher Perspektive zB Schragel [FN 9] Rz 62; allgemein zB Hofstätter, Der Erlass im Schulrecht [2013] 37 ff ). Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 42, 88 f; Rebhahn (FN 13) 408 ff. Zivilprozessordnung – ZPO, RGBl 113/1895 idF BGBl I 148/2020. Näher dazu Rechberger, § 273 ZPO, in Fasching/Konecny (Hrsg), Zivilprozessgesetze3 (Stand 1. 8. 2017, rdb.at). Judikaturbeispiele bei Wagner, § 1293 ABGB, in Schwimann/Kodek (Hrsg), ABGB Praxiskommentar4 (2016) Rz 10 ff; zur jüngeren Rsp des OGH auch Koziol, Österreichisches Haftpflichtrecht I4 (2020) 113 f. Die Lehre ist hier zurückhaltender (zB Reischauer, § 1293 ABGB, in Rummel [Hrsg], ABGB3 [Stand 1. 1. 2007, rdb.at]). Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch – ABGB, JGS 946/1811 idF BGBl I 175/2021. Koziol (FN 20) 108 f; Karner, § 1293 ABGB, in Koziol/Bydlinski/Bollenberger (Hrsg), KBB – Kurzkommentar zum ABGB6 (2020) Rz 3. OGH 26. 4. 1989, 1 Ob 1/89; Schragel (FN 9) Rz 188.

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weise abzuwenden, so handelt er sorglos in eigenen Angelegenheiten und verletzt die ihm obliegende Rettungspflicht. Trifft ihn ein Verschulden, so ist der Schaden nach § 1304 ABGB zu teilen.24 Im konkreten Fall hat die antragstellende Partei mit dem Antrag gemäß Art 139 Abs 1 Z 3 B-VG ein Rechtsmittel ergriffen, dessen spätere Zurückweisung wegen Unzulässigkeit nach der im Einbringungszeitpunkt (29. April 2020) herrschenden Rsp des VfGH zu befürchten stand.25 Zudem war das Rechtsmittel grundsätzlich ungeeignet, den Schaden abzuwehren, ist doch der VfGH nicht permanent versammelt und entscheidet in praxi in der Regel in vier Sessionen pro Jahr;26 das VfGG27 sieht im gegenständlichen Zusammenhang auch keinen einstweiligen Rechtsschutz vor (vgl aber § 20a VfGG). Selbst wenn der Individualantrag noch am Tag des Inkrafttretens der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 – ein im Hinblick auf die Ansprüche an die Ausgestaltung des Antrags nicht realistisches Szenario – beim VfGH eingelangt wäre, der Schaden der antragstellenden Partei im Zeitraum von 14. April 2020 bis einschließlich 30. April 2020 wäre damit nach der Entscheidungspraxis des VfGH nicht abwendbar gewesen. Bei dieser Wertung hätte es auch nicht geschadet, wäre die Antragstellung unterblieben, weshalb auch sonstige, durch die aufgehobene Verordnungsbestimmung belastete Personen grundsätzlich einen unbeschränkten Amtshaftungsanspruch geltend machen können.28 Bei der Schadensberechnung ist auch ein Vorteilsausgleich vorzunehmen; die antragstellende Gesellschaft muss sich jene Ersparnisse, die ihr durch das Ausbleiben der Kunden bzw die faktische Betriebsschließung entstanden sind, anrechnen lassen (zum Beispiel Reinigungskosten, staatliche Unterstützungsleistungen).29

E.

„Verhalten“ des Organs

„Verhalten“ iSd § 1 Abs 1 AHG kann – entsprechend dem allgemeinen Schadenersatzrecht (vgl § 1294 ABGB) – sowohl eine Handlung als auch eine Unterlassung sein.30 Der BMSGPK hat die COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 erlassen und damit eine Rechtshandlung gesetzt.

24 RIS-Justiz RS0108035; Karner (FN 22) § 1304 ABGB Rz 9 f; Reischauer (FN 20) § 1304 ABGB Rz 37 ff; Wimmer (FN 10) Art 23 B-VG Rz 55, 63. 25 Auf diese Rsp geht der VfGH in Rz 33 ff ein; vgl auch die Äußerung des BMSGPK im verfassungsgerichtlichen Verfahren; Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht12 (2019) Rz 1023. 26 Horvath, § 6 VfGG, in Eberhard/Fuchs/Kneihs/Vašek (Hrsg), VfGG. Kommentar zum Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 (2019) Rz 1. Vereinzelt finden auch zusätzliche Sessionen („Zwischensession“) statt; dazu Holzinger, Die Organisation des Verfassungsgerichtshofes (Plenum, „Kleine Besetzung“, Zuständigkeiten des Präsidenten), in Holoubek/Lang (Hrsg), Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen (2010) 15 (22). 27 Verfassungsgerichtshofgesetz 1953 – VfGG, BGBl 85/1953 idF BGBl I 24/2020. 28 Vgl OGH 26. 4. 1989, 1 Ob 1/89. 29 OGH 26. 2. 2009, 1 Ob 131/08h; Schragel (FN 9) Rz 172; Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 885 ff. 30 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 43; Schragel (FN 9) Rz 141.

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F.

Kausalität

Für die Frage der Kausalität kommt es nach den Regeln des allgemeinen Schadenersatzrechts auf die äquivalente und adäquate Verursachung an.31 Ohne die Erlassung der vom VfGH aufgehobenen Bestimmungen der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 wäre der Schaden bei der antragstellenden Partei nicht eingetreten, hätten doch die Kunden die Betriebsstätten zum Erwerb von Waren betreten dürfen und auch betreten (Äquivalenz). In welchem Ausmaß Kunden sich auch trotz der grassierenden Pandemie nicht hätten abschrecken lassen, hat bereits in die Schadensberechnung einzufließen. Zudem war im Zeitpunkt der Erlassung der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 für den BMSGPK vorhersehbar, dass durch das Betretungsverbot ein Schaden bei den davon betroffenen Unternehmen entstehen würde (Adäquanz).32 Dass sich der BMSGPK dessen bewusst war, lässt sich mittelbar auch aus seiner Äußerung im verfassungsgerichtlichen Verfahren ableiten, wonach eine Abwägung zwischen dem Gesundheitsschutz der Allgemeinheit und der Erwerbsfreiheit der Betroffenen vorzunehmen war.33

G.

Rechtswidrigkeit

Rechtswidrigkeit im Sinne des AHG liegt dann vor, wenn das Verhalten eines Organs gegen Verbote oder Gebote der Rechtsordnung verstößt.34 Auf die Verletzung eines subjektiven öffentlichen Rechts des Geschädigten kommt es dagegen nicht an;35 eine Haftungsbeschränkung wird durch das Abstellen auf den Schutzzweck der Norm erreicht.36 Im Schrifttum wird zudem unter Hinweis auf die Lehre vom Verhaltensunrecht (im Gegensatz zum Erfolgsunrecht) vertreten, dass auf Ebene der Rechtswidrigkeit zu prüfen ist, ob das Organ auch die objektiv gebotene Sorgfalt eingehalten hat. Plakativ spricht hier Robert Rebhahn von einem zweifachen Maßstab und unterscheidet die öffentlich-rechtliche Rechtmäßigkeit von der ersatzrechtlichen Beurteilung anhand des AHG.37 Die Rsp fasst 31 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 44; Schragel (FN 9) Rz 175; näher Rebhahn (FN 13) 543 ff; Bollenberger, Kausalität als Voraussetzung des Haftungsanspruchs, in Holoubek/Lang (Hrsg), Organhaftung und Staatshaftung in Steuersachen (2002) 30 (31 ff ). 32 Davon, dass das Schadensereignis seiner Natur nach völlig ungeeignet erscheint, einen Erfolg nach der Art des eingetretenen herbeizuführen und bloß eine außergewöhnliche Verkettung der Umstände vorliegt (vgl Koziol [FN 20] 567 ff ), kann hier nicht gesprochen werden. 33 Die Passage aus Rz 24 im Wortlaut: „Vor dem Hintergrund des gewichtigen öffentlichen Interesses des Gesundheitsschutzes und der engen zeitlichen Befristung (14. 4. bis 30. 4. 2020) wiegt im Ergebnis die Ungleichbehandlung der sonstigen Betriebsstätten des Handels untereinander im Rahmen der erforderlichen Interessenabwägung weniger schwer als das damit verfolgte Ziel des Gesundheitsschutzes.“ 34 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 48; Schragel (FN 9) Rz 142; Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 965. 35 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 48 mwN; vgl auch RIS-Justiz RS0112461, RS0049967, RS0049847. 36 Dazu näher sogleich unter H. 37 Rebhahn (FN 13) 431; Schauer, Verschulden als Haftungsvoraussetzung, in Holoubek/Lang (Hrsg), Organhaftung und Staatshaftung in Steuersachen (2002) 46 (49).

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dagegen die objektive Sorgfaltswidrigkeit als Schuldelement auf;38 die bei der Beurteilung eines Amtshaftungsanspruchs wegen rechtswidriger Verordnungserlassung entscheidende Frage, ob die erlassende Behörde rechtlich unvertretbar gehandelt hat, wird dementsprechend auch hier auf Ebene des Verschuldens geprüft.39 In unserem angenommenen Amtshaftungsverfahren im Gefolge von V 411/2020 ist die öffentlich-rechtliche Rechtswidrigkeit in Form der Gesetzwidrigkeit der Verordnungsbestimmungen bereits vom VfGH festgestellt worden. Das Amtshaftungsgericht ist an diese Feststellung gebunden (vgl schon Art 139 Abs 6 B-VG) und kann etwa nicht die Klage aus dem Grunde abweisen, der Bundesminister hätte nicht rechtswidrig (im hier zugrunde gelegten Sinne) gehandelt.40 Aus welchen Gründen hat der VfGH die Bestimmungen der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 nun als gesetzwidrig erachtet? Von der antragstellenden Partei wurden als Gründe für die Gesetzwidrigkeit der Verordnung vorgebracht: Verstoß gegen das aus Art 7 Abs 1 B-VG abgeleitete Sachlichkeitsgebot, gleichheitswidrige Rechtswirkungen (Rz 8 ff ); Verletzung des Grundrechts der Erwerbsfreiheit gemäß Art 6 StGG (Rz 19); Verletzung der Eigentumsgarantie gemäß Art 5 StGG und Art 1 1. ZPEMRK (Rz 20); Widerspruch gegen die gesetzliche Grundlage, Überschreitung des Verordnungsermessens (Rz 21).41 Nach seiner stRsp ist der VfGH in auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art 139 B-VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken beschränkt.42 Der VfGH hatte sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Verordnung aus den in der Begründung des Antrags dargelegten Gründen gesetzwidrig ist.43 Insoweit mag es überraschen, dass der VfGH die angefochtenen Bestimmungen der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 auch mit der Begründung aufgehoben hat, der Verordnungsgeber hätte der aus Art 18 Abs 2 B-VG erfließenden Dokumentationspflicht44 bei der Verordnungserlassung nicht entsprochen 38 RIS-Justiz RS0110837; Rebhahn (FN 13) 452; Schauer (FN 37) 50; Schragel (FN 9) Rz 159. 39 Zum Begriff der Rechtswidrigkeit nach dem AHG Stelzer/Maschke, Rechtswidrigkeit und Rechtswidrigkeitszusammenhang als Voraussetzung des Haftungsanspruches, in Holoubek/Lang (Hrsg), Organhaftung und Staatshaftung in Steuersachen (2002) 14 (15 ff ). 40 OGH 11. 3. 1996, 1 Ob 31/94; Mader/Vollmaier, § 11 AHG, in Schwimann/ Kodek (Hrsg), ABGB Praxiskommentar4 (2016) Rz 12; Rebhahn (FN 13) 423 ff; Schragel (FN 9) Rz 265. 41 Ab Rz 54 fasst der VfGH die Bedenken der antragstellenden Partei noch einmal zusammen. 42 ZB VfSlg 9287/1981, 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002; Grabenwarter/Frank, B-VG (2020) Art 140 B-VG Rz 53 ff. 43 ZB VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004. 44 Vgl Rz 90: „Die Entscheidungsgrundlagen, die im Verordnungsakt zur Änderung der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 mit BGBl. II 151/2020 dokumentiert sind, beschränken sich auf ein Papier zum ‚Weitere[n] Fahrplan Corona-Krise‘, das schlagwortartig eine Reihe zu treffender Maßnahmen aufzählt und dabei auch die hier in Rede stehenden Maßnahmen erwähnt. Unterlagen oder Hinweise, die die Umstände der zu erlassenden Regelungen betreffen, fehlen im Verordnungsakt gänzlich. Es ist aus dem Verordnungsakt nicht ersichtlich, welche Umstände im Hinblick

und damit im Ergebnis § 1 COVID-19-MG verletzt (erster Grund). Von der antragstellenden Partei war lediglich eine Überschreitung des vom Gesetzgeber eingeräumten Verordnungsermessens durch den BMSGPK vorgebracht worden.45 Eine derart rigide Handhabung des Kriteriums der hinreichenden Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen ist der bisherigen Rsp des VfGH wohl nicht mit hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen.46 Zumindest die vom VfGH in Rz 74 angegebenen Judikate VfSlg 11.972/1989 und 17.161/2004 lassen erkennen, dass sich der VfGH in der Vergangenheit primär daran gestoßen hat, dass die verordnungserlassende Behörde schlecht ermittelt hat und als Folge daraus eine für die Adressaten nachteilige Verordnung erlassen hat.47 Die ebenfalls in Rz 74 zitierte Entscheidung VfSlg 20.095/2016 wiederum weist darauf hin, dass bei der Anordnung eines Bettelverbots durch entsprechende Ermittlungstätigkeit das Vorliegen eines Missstands belegt werden konnte und die Verordnung aus diesem Grund nicht zu beanstanden ist.48 Dennoch ist es aus rechtsstaatlichen Gründen durchaus begrüßenswert, dass auch bei der Erlassung von Verordnungen, die nicht einem verfahrensrechtlichen Regime wie jenem des AVG49 unterliegen, sowohl an die Ermittlungs- als auch an die Dokumentationspflicht strenge Anforderungen gestellt werden. Gerade bei der Erlassung zahlreicher Verordnungen wie in der „Corona-Krise“ ist das verordnungserlassende Organ dadurch bereits im Vorbereitungsstadium dazu gezwungen, für jede einzelne Maßnahme die Faktenlage entsprechend zu erheben, der Maßnahme zuzuordnen und die Ermittlungsergebnisse abwä-

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auf welche möglichen Entwicklungen von COVID-19 den Verordnungsgeber insbesondere bei seiner Entscheidung hinsichtlich der 400 m2-Grenze oder der unterschiedlichen Voraussetzungen für das Betreten sonstiger Handelsstätten und der in § 2 Abs. 1 Z 22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 genannten Bereiche geleitet haben.“ Nicht unwahrscheinlich ist allerdings, dass der antragstellenden Partei die fehlende Dokumentation mangels Einsicht in den Verordnungsakt gar nicht bewusst war und der Mangel erst dadurch zu Tage tritt, dass der VfGH im Verfahren den Verordnungsakt anfordert. Anderes gilt im Bereich der Raumordnung; vgl zuletzt VfGH 11. 12. 2019, V55/2019 ua: „Wie der Verfassungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung zur Erlassung von Planverordnungen festgehalten hat, ist die Einhaltung der zur Erlassung derartiger Verordnungen gesetzlich angeordneten Verfahrensvorschriften aktenmäßig zu dokumentieren; so hat er in VfSlg 18.640/2008 unter Bezugnahme auf Vorjudikatur ausgesprochen, dass ‚die für eine Änderung des Bebauungsplanes herangezogenen Entscheidungsgrundlagen erkennbar dokumentiert sein‘ müssen (vgl VfSlg 14.780/1997, 13.503/1993, 17.224/2004).“ VfSlg 17.161/2004: „Gerade in Fällen, in denen sich der Verordnungsgeber hinsichtlich der für die Verordnungserlassung maßgeblichen Umstände – wie hier – ausschließlich auf die Mitteilung einer Interessenvertretung verläßt, ‚ohne diese auch nur annäherungsweise zu überprüfen‘, hat der Verfassungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung betont, daß dem Verordnungsgeber eine Pflicht zur detaillierten – und aktenkundigen – Ermittlung der Grundlagen für die Verordnungserlassung zukommt (VfSlg. 11756/1988, 11757/1988, 11918/1988, 11972/1989).“ Ein Bezug auf die Dokumentation im Akt wird nicht ausdrücklich hergestellt. VfSlg 20.095/2016: „Der Bericht dokumentiert – in einer für den Verfassungsgerichtshof für die Überprüfung der Gesetzmäßigkeit der Verordnung notwendigen nachvollziehbaren Weise – einen spezifischen Missstand an Marktplätzen durch bettelnde Personen, der durch das Vbg. Landes-Sicherheitsgesetz nicht hinreichend abgewehrt werden kann.“ Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG, BGBl 51/1991 idF BGBl I 58/2018.

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gend zu würdigen. Eine rein globale Erhebung und Dokumentation – etwa in einem einheitlichen Datenraum ohne Konnex zu einem konkreten Verordnungsakt – reicht dementsprechend nicht aus. Der zweite Grund liegt dagegen auf der Hand und findet auch eindeutig Niederschlag im Individualantrag: Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und damit im Ergebnis Gesetzwidrigkeit, weil dem § 1 COVID-19-MG ein gleichheitswidriger Inhalt unterstellt wird. Der VfGH verortet die Gleichheitswidrigkeit nicht in der Ungleichbehandlung von sonstigen Betriebsstätten des Handels iSd § 2 Abs 4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 je nach Betriebsfläche; die größenabhängige Differenzierung scheint der VfGH vielmehr als verfassungskonform zu erachten.50 Gleichheitswidrig ist (allein) die unsachliche Differenzierung zwischen den in § 2 Abs 1 Z 22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 angeführten und dementsprechend vom Betretungsverbot sowie auch von den Vorgaben des § 2 Abs 6 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 (pro Kunde müssen grundsätzlich 20 m2 Kundenbereich verfügbar sein) ausgenommenen Bau- und Gartenmärkten und den sonstigen Betriebsstätten des Handels. Die Rechtfertigungsversuche des BMSGPK (Relevanz der Baumärkte für das Baunebengewerbe, Bedeutung der Gartenmärkte für Verrichtungen des täglichen Lebens etc) werden hier zu Recht verworfen.51 Im Ergebnis verstoßen die angefochtenen Bestimmungen in § 2 Abs 4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 gegen § 1 COVID19-MG, weil es erstens der Verordnungsgeber gänzlich unterlassen hat, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass nachvollziehbar ist, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat. Die angefochtenen Regelungen verstoßen zweitens auch deswegen gegen § 1 COVID-19-MG, weil sie zwischen Betriebsstätten des Handels, deren Kundenbereich im Inneren über 400 m2 beträgt, und insbesondere Bau- und Gartenmärkten iSd § 2 Abs 1 Z 22 COVID-19Maßnahmenverordnung-96 unsachlich differenzieren (Rz 95).

50 Auch die Formulierung „durchaus vereinbar sein mag“ vermag das im textlichen Zusammenhang (Rz 93) nicht entscheidend abzuschwächen. Rechtfertigen lässt sich diese Differenzierung auf Grund der Größe der Betriebsstätte wohl nur damit, dass man versucht hat, so vielen Handelsunternehmen wie möglich eine frühere Öffnung zu gewähren, auch wenn auf Grund der vorliegenden Gesundheitsdaten offensichtlich war, dass eine vollständige Öffnung nicht zu verantworten gewesen wäre. Zu einer abschließenden Beurteilung fehlen dem Autor einschlägige Informationen – diese sind auch der Entscheidung des VfGH nicht zu entnehmen –; interessant wäre es etwa, zu erfahren, von welcher Reduktion des Kundenaufkommens bei alleiniger Öffnung der kleinen Handelsbetriebe man im Vorfeld ausgehen durfte. Bei einer Senkung um 50 % hätte man bei einem Zeitraum von zwei Wochen etwa auch eine alternierende Öffnung (1. Woche Betriebe bis 400 m2, 2. Woche Betriebe ab 400 m2) in Erwägung ziehen und die Ungleichbehandlung zumindest abschwächen können. Zuzugestehen ist, dass von der Größe verschiedene, leicht fassbare, Abgrenzungskriterien nicht einfach zu finden sind; nicht ideal wäre wohl auch eine bundeslandspezifische Öffnung gewesen. 51 Zustimmend auch Stöger, RdM-LS 2020/91, 197 (201 f), der darauf hinweist, dass Bau- und Gartenmärkte nicht vergleichbar mit den für die Grundversorgung der Bevölkerung essenziellen Lebensmittelgeschäften oder Drogeriemärkten sind.

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Aus welchen Gründen (Normverstößen) der VfGH die angefochtenen Verordnungsbestimmungen als gesetzwidrig erachtet hat, ist insbesondere dafür bedeutsam, um einschätzen zu können, ob der Schutzzweck der verletzten Normen einen Ersatzanspruch für die antragstellende Partei im Verfahren V 411/2020 miteinschließt.52 Dies zu beurteilen obliegt dem Amtshaftungsgericht.

H.

Rechtswidrigkeitszusammenhang

Gemäß § 1 Abs 1 AHG haftet der Rechtsträger für den Schaden, den sein Organ „wem immer“ rechtswidrig und schuldhaft zugefügt hat. Der Ausdruck „wem immer“ wird von der herrschenden Ansicht mit „jedermann“ in § 1295 Abs 1 ABGB gleichgesetzt, woraus sich ergibt, dass die für das allgemeine Schadenersatzrecht relevanten Grundsätze des Rechtswidrigkeitszusammenhangs (Schutzzweck der Norm) auch für Amtshaftungsansprüche heranzuziehen sind.53 Der Rechtsträger haftet demnach nur für jene verursachten Schäden, die die übertretene Verhaltensnorm nach ihrem Schutzzweck gerade verhindern sollte.54 Zu prüfen ist dementsprechend, ob Pflichten des Rechtsträgers nur im Interesse der Allgemeinheit oder auch im Interesse einzelner Betroffener normiert sind. Dabei genügt es nach der Rsp, dass die verletzten Rechtsvorschriften die Verhinderung eines Schadens konkreter Personen mitbezweckt haben.55 Ein wesentliches, aber nicht ausschließliches Kriterium für das Vorliegen eines Rechtswidrigkeitszusammenhangs ist das Vorhandensein eines subjektiv-öffentlichen Rechts.56 Im vorliegenden Fall hat der Verordnungsgeber gegen § 1 COVID-19-MG verstoßen. Dieser insbesondere die Erwerbsfreiheit einschränkenden Bestimmung wird man grundsätzlich unterstellen können, dass sie neben dem Gesundheitsschutz der Allgemeinheit auch die Interessen der von allfälligen faktischen Betriebsschließungen betroffenen Personen schützen möchte. Damit ist der Rechtswidrigkeitszusammenhang allerdings noch nicht dargetan, ist doch darauf zu blicken, aus welchen Gründen ein gesetzwidriges Handeln vom VfGH angenommen wurde.57 Zwei Gründe hat der VfGH angegeben: Verletzung der aus Art 18 Abs 2 B-VG erfließenden Dokumentationspflicht bei der Verordnungserlassung (erster Grund); Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, weil dem § 1 COVID-19-MG ein gleichheitswidriger Inhalt unterstellt wird (zweiter Grund). Bezüglich des ersten Grundes ist der Rechtswidrigkeitszusammenhang zu verneinen. Die ordnungsgemäße Führung des Verordnungsakts dient – wie der VfGH selbst ausgesprochen hat – dazu, 52 Allgemein zum Schutzzweckerfordernis Rebhahn (FN 13) 425 ff. 53 Schragel (FN 9) Rz 130 mwN; Stelzer/Maschke (FN 39) 25 f; Rebhahn, Amtshaftung und Normzweck, JBl 1981, 512 (512 ff ); Vrba (FN 12) Kap. 1.6, 5 ff; zB OGH 24. 6. 2020, 1 Ob 92/20s. 54 RIS-Justiz RS0027553. 55 OGH 13. 6. 2000, 1 Ob 79/00z. 56 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 60 mwN; vgl auch Kucsko-Stadlmayer (FN 10) Art 23 B-VG Rz 42 ff; Wimmer (FN 10) Art 23 B-VG Rz 50. 57 Rebhahn (FN 13) 458 nennt das „schutzzweckspezifische Rechtswidrigkeit“.

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die Überprüfung deren Rechtmäßigkeit zu ermöglichen, weil nur so nachvollzogen werden könne, warum der Verordnungsgeber die mit dieser Regelung getroffenen Maßnahmen für erforderlich gehalten hat (Rz 74). Zudem komme solchen Anforderungen eine wichtige, die Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns sichernde Funktion zu (Rz 80). Der Schutz jener Personen, die von einem Betretungsverbot betroffen sind, ist vom (Verfassungs-)Gesetzgeber unter diesem Aspekt nicht entsprechend intendiert.58 Anderes gilt für den zweiten Grund. Art 7 Abs 1 B-VG gewährleistet den Einzelnen ein subjektives Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und verbietet insbesondere unsachliche Differenzierungen zu Lasten der einzelnen Grundrechtsträger.59 Als Schutzzweck des Art 7 Abs 1 B-VG im amtshaftungsrechtlichen Sinn kann dementsprechend ausgemacht werden, die Grundrechtsträger vor allen Nachteilen zu schützen, die aus einer gleichheitswidrigen Behandlung durch den Staat entstehen können. Auf dieser Grundlage ist der Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen der gleichheitswidrigen und damit im Ergebnis gesetzwidrigen Verordnungserlassung und der Schädigung der antragstellenden Partei im Verfahren V 411/2020 dargetan und auch diese Haftungsvoraussetzung nach § 1 Abs 1 AHG erfüllt.

I.

Verschulden

Eine weitere Haftungsvoraussetzung ist das Verschulden des handelnden Organs. Mangels anderer Vorgaben gelten auch im Amtshaftungsrecht die Verschuldensregeln des ABGB. Gehaftet wird für jeden Grad des Verschuldens, das heißt für Vorsatz, grobe Fahrlässigkeit und leichte Fahrlässigkeit.60 Die Feststellung des Verschuldens obliegt dem Amtshaftungsgericht.61 Das Verhalten des Organs ist dabei am Haftungsmaßstab des § 1299 ABGB zu messen, womit dem Organ ein erhöhter, objektivierter Sorgfaltsmaßstab auferlegt wird.62 Eine Rechtfertigung,

58 Selbst wann man in diesem Punkt den Rechtswidrigkeitszusammenhang bejahen sollte, würde ein Amtshaftungsanspruch auf Grund des Verstoßes gegen die Dokumentationspflicht auf der Verschuldensebene scheitern. Aus dem Wortlaut des Art 18 Abs 2 B-VG lässt sich diese Verpflichtung nicht unmittelbar ableiten und die Rsp des VfGH war hier – wie unter G dargestellt – in der Vergangenheit ebenfalls nicht eindeutig. Geht man davon aus, dass die verordnungserlassende Behörde ordentlich ermittelt, aber unordentlich im konkreten Verordnungsakt dokumentiert hat, bleibt sie damit noch im Rahmen einer vertretbaren Rechtsansicht. 59 Ausführlich allgemein Berka/Binder/Kneihs, Die Grundrechte. Grund- und Menschenrechte in Österreich2 (2019) 505 ff; Holoubek, Art 7/1 S 1, 2 B-VG, in Korinek/Holoubek et al (Hrsg), Kommentar Bundesverfassungsrecht (14. Lfg, 2018); Bezemek, Grundrechte in der Rechtsprechung der Höchstgerichte (2016) 338 ff. 60 RIS-Justiz RS0049940; näher Wimmer (FN 10) Art 23 B-VG Rz 52 ff. 61 Schragel (FN 9) Rz 157; Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 65. Siehe auch OGH 25. 3. 2003, 1 Ob 9/03k: Die Amtshaftungsgerichte sind bei Beurteilung der Vertretbarkeit eines individuellen oder generellen Verwaltungsakts an die diese Verschuldensfrage berührenden Wertungen in Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs nicht gebunden. Durch den Ausspruch des Verfassungsgerichtshofes ist nur die Frage nach der Rechtswidrigkeit des Organverhaltens als eine der Erfolgsvoraussetzungen des Klageanspruchs geklärt. 62 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 66; Schauer (FN 37) 56 ff; Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 1290; OGH 7. 8. 2001, 1 Ob 285/00v.

das Organ habe nicht über die entsprechende Befähigung zur Führung der Angelegenheit verfügt, scheidet dementsprechend aus. Der Mangel ist vom Rechtsträger zu vertreten. Das gilt auch für politisch bestellte Organe wie den BMSGPK;63 dass der konkrete Organwalter weder ein rechtswissenschaftliches Studium noch die Dienstprüfung für den rechtskundigen Verwaltungsdienst des Bundes absolviert hat, bleibt bei der Beurteilung des Verschuldens außer Betracht. Mit Walter Schragel ist anzunehmen, dass der BMSGPK die Grenzen seiner Fähigkeiten kennen und zuverlässigen juristischen und fachlichen Rat einholen muss.64 Gerade ein Bundesminister verfügt zudem über einen entsprechenden Geschäftsapparat (vgl Art 77 B-VG), den er derart zu organisieren hat, dass ihm die für die gesetzmäßige Vollziehung des ihm übertragenen Verwaltungsbereichs erforderlichen Fachkenntnisse zur Verfügung stehen.65 Wie misst man nunmehr aus, ob ein von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts als rechtswidrig erkannter Rechtsakt auch schuldhaft erlassen worden ist? Dem § 1 Abs 1 AHG nicht entsprechen würde es, jede Rechtsansicht eines Organs, die von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts nicht gebilligt wurde, als rechtswidrig und zugleich schuldhaft auszuweisen; den Organen sollen mit den Worten von Rudolf Welser vielmehr keine allzu strengen Fesseln auferlegt werden, um „die Auslegung ‚lebendig‘ zu erhalten“.66 Vor diesem – nicht nur in der Verwaltung, sondern auch in der (Zivil-)Gerichtsbarkeit bestehenden – Hintergrund hat man in Lehre und Rsp die Figur der vertretbaren Rechtsansicht entwickelt. Unvertretbar ist die Rechtsansicht nach der Rsp jedenfalls dann, wenn die anzuwendende gesetzliche Bestimmung eindeutig ist und zudem höchstrichterliche Rsp zur Verfügung steht.67 Sind gesetzliche Bestimmungen nicht vollkommen eindeutig, enthalten sie Unklarheiten über die Tragweite des Wortlauts und steht zudem eine höchstrichterliche Rsp als Entscheidungshilfe nicht zur Verfügung, kommt es darauf an, ob bei pflichtgemäßer Überlegung die getroffene Entscheidung als vertretbar bezeichnet werden kann.68 Ein schuldhaftes Organverhalten soll danach nicht schon bei jeder unrichtigen Rechtsanwendung vorliegen, sondern nur, wenn der Bereich der bei pflichtgemäßer Überlegung vertretbaren Gesetzesauslegung bzw Rechtsanwendung

63 Rebhahn (FN 13) 459. 64 Schragel (FN 9) Rz 158. 65 Vgl auch die Überlegungen von Welser, Öffentlichrechtliches und Privatrechtliches aus Anlaß einer Amtshaftungsklage, JBl 1975, 225 (239), wonach bei der Prüfung des Verschuldens im Zusammenhang mit einer Gesetzesauslegung wohl auch berücksichtigt werden müsse, welches Organ ausgelegt hat; an die Auslegung einer Bezirksverwaltungsbehörde könnten wohl nicht dieselben Anforderungen gestellt werden wie an eine solche des BKA; ihm folgend Rebhahn (FN 13) 502: „an die Kenntnisse und die Weisheit eines Bundesministeriums werden höhere Anforderungen zu stellen sein als an die eines Gemeindesekretäres“; aM Tanzer, Die „vertretbare” Rechtsauffassung im Steuerrecht, in Holoubek/Lang (Hrsg), Organhaftung und Staatshaftung in Steuersachen (2002) 158 (160 f). 66 Welser (FN 65) JBl 1975, 238; so auch RIS-Justiz RS0049955; Tanzer (FN 65) 162. 67 RIS-Justiz RS0049969. 68 RIS-Justiz RS0049951.

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überschritten ist.69 Im Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit hat der OGH auch ausgesprochen, dass Eingriffe in verfassungsgesetzlich geschützte Rechte besonders sorgfältig abzuwägen sind und die Verletzung dieser Pflicht Amtshaftungsansprüche zur Folge haben kann.70 Gerade bei der Verordnungserlassung wird man verlangen können, dass die in der Regel weiteren Vorgaben der Verfassung eher eingehalten werden als die in der Regel engeren Vorgaben des Gesetzes. Für Verordnungen gilt nach der Rsp des OGH zudem Besonderes: Bei Erlassung von Verordnungen ist zu berücksichtigen, dass sie in aller Regel nicht unter einem solchen Zeitdruck erarbeitet werden müssen, wie dies bei Bescheiden und anderen Entscheidungen im Einzelfall unvermeidlich sein kann. Sie haben für viele Personen zu gelten und üben häufig eine einschneidende Wirkung auf die Rechtsstellung der Normadressaten aus, weshalb es zu erwarten und den Organen auch zuzumuten ist, dass ihrer inhaltlichen Ausgestaltung und Formulierung besonderes Augenmerk gewidmet und die Übereinstimmung mit der gesetzlichen Grundlage genau geprüft wird.71 Besonders deutlich wird hier Schragel, wenn er ausspricht, dass aus den genannten Gründen „rechtswidrige Verordnungen [in der Regel] auch schuldhaft erlassen werden“.72 An anderer Stelle spricht er von einem „besonders strenge[n]“ Verschuldensmaßstab bei der Verordnungserlassung sowie davon, dass bei der Beurteilung der Vertretbarkeit der behördlichen Auffassung „ein strengerer Maßstab“ – gemeint wohl gegenüber der Prüfung bei Bescheiden – angebracht ist.73 Beispiele aus der Judikatur des OGH, in denen er rechtswidrige Verordnungen auf ihre Vertretbarkeit geprüft hat, sind rar gesät, weil nach stRsp des OGH74 die Prüfung der Vertretbarkeit einer Rechtsauffassung als Verschuldenselement ganz von den Umständen des Einzelfalls abhängig ist und sich deshalb regelmäßig einer Beurteilung als erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO entzieht, die Revision also nicht zulässig ist.75 Die wenigen vorhandenen Entscheidungen zeigen folgendes Bild: In OGH 17. März 1982, 1 Ob 6/82, wurde (rechtswidriges und) schuldhaftes Verhalten eines Bürgermeisters angenommen, der es unterlassen hatte, einen Gemeinderatsbeschluss, dessen Verordnungscharakter mit Erk des VfGH bejaht wurde, sofort nach den einschlägigen Bestimmungen kundzumachen.76 In OGH 21. Oktober 1987, 1 Ob 38/87, wurde es als unvertretbar angesehen, dass die verordnungserlassende Behörde von einer klaren Rechtslage im vollen Bewusstsein abgewichen ist und Kanalisationsbeiträge vielmehr auf Grund von bloßen Zweckmäßigkeitsüberlegungen gesetzwidrig bemessen hat. 69 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 73 mwN; Schragel (FN 9) Rz 159. 70 RIS-Justiz RS0050067; Schragel (FN 9) Rz 159. 71 RIS-Justiz RS0049935; erstmals entwickelt, soweit ersichtlich, in OGH 21. 10. 1987, 1 Ob 38/87. 72 Schragel (FN 9) Rz 69. 73 Schragel (FN 9) Rz 158 f; ähnlich auch Rebhahn (FN 13) 502; nicht in dieser Deutlichkeit äußert sich Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 73. 74 RIS-Justiz RS0110837. 75 Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 1320. 76 Dazu Kerschner, Amtshaftung statt Kundmachung? Bemerkungen zur E 1 Ob 6/82, JBl 1984, 355.

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In OGH 29. Jänner 2010, 1 Ob 255/09w, wurde die Rechtsansicht der zuständigen Behörde bei der Erlassung dreier Gas-Systemnutzungstarife-Verordnungen als vertretbar angesehen. Die Rechtsauffassung der Behörde, die Gebrauchsabgabe als steuerbegünstigte Entnahme (Gewinnpräzipuum) zu werten, wurde durch ein noch vor Erlassung der ersten Verordnung vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in Auftrag gegebenes Gutachten zweier Universitätsprofessoren zur Berechnung der Tarife für die Systemnutzung im Bereich öffentlicher Abgasnetze unterstützt. Dass weitere notwendige Nachforschungen unterlassen wurden, rechtfertigte der OGH auch mit dem für die Verordnungserlassung grundsätzlich untypischen Zeitdruck, unter dem die Behörde stand. In OGH 21. März 2018, 1 Ob 5/18v, sprach der OGH in einem Verfahren nach Aufhebung von Flächenwidmungsplänen durch den VfGH aus, die Auslegung eines unbestimmten Gesetzesbegriffs durch die verordnungserlassende Behörde sei als vertretbar zu beurteilen, weil weder eine klare Rechtslage, eine stRsp noch (auch nur) eine eingeübte Verwaltungspraxis (der Aufsichtsbehörde) vorgelegen habe. War die Rechtsansicht des BMSGPK, die sich in den vom VfGH als gesetzwidrig erklärten Verordnungsbestimmungen manifestiert, vertretbar? Das ist die nicht ganz leicht zu beantwortende Kernfrage der hier – auf Basis der nach dem Verfahren V 411/2020 vorliegenden Informationen – vorgenommenen amtshaftungsrechtlichen Beurteilung. Nach dem vorher Gesagten können mehrere Gründe für die Vertretbarkeit der Rechtsansicht des BMSGPK ins Treffen geführt werden. Erstens lag noch keine Judikatur zur (gerade erst erlassenen) gesetzlichen Grundlage der aufgehobenen Verordnungsbestimmungen vor. Zweitens hat der VfGH die Rechtswidrigkeit der Verordnungsbestimmungen mit einem Verstoß gegen Art 7 Abs 1 B-VG begründet, dessen Wertungen – das zeigt sich insbesondere in der umfangreichen Rsp des VfGH – auch im Hinblick auf unsachliche Differenzierungen nicht immer leicht zu fassen sind.77 Drittens erfolgte die Verordnungserlassung in Zeiten einer Pandemie und damit gewiss in einer angespannten Situation, während der der BMSGPK und seine Mitarbeiter wohl ohne Zweifel über Gebühr belastet waren.78 Gegen die Vertretbarkeit der Rechtansicht spricht allerdings auch einiges. Erstens wurden die Verordnungsbestimmungen mittelbar wegen eines Verstoßes gegen ein verfassungsgesetzlich geschütztes Recht aufgehoben, was grundsätzlich als gravierender anzusehen sein wird als eine reine Gesetzwidrigkeit, weil die Verfassung im Allgemeinen der Vollziehung einen größeren Spielraum lässt als das Gesetz. Zweitens liegt zum Gleichheitssatz eine umfassende Judikatur des VfGH vor, die zwar in ihren Rändern umstritten und nicht immer nachvollziehbar sein mag, im Kernbe77 Vgl statt vieler Öhlinger/Eberhard (FN 25) Rz 762. 78 Geroldinger (FN 15) JBl 2020, 538, weist etwa darauf hin, dass die Behörden speziell zu Beginn der Pandemie unter großem Zeitdruck standen und unter Einbeziehung zahlreicher Unbekannter schwierige Entscheidungen treffen mussten, weshalb auch bei der Beurteilung der Vertretbarkeit eines Rechtsstandpunkts Vorsicht angebracht sei.

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reich der unsachlichen Differenzierungen allerdings auch hinreichend deutlich ist; zudem hat sich auch die Lehre intensiv um die Systematisierung dieser Rsp bemüht.79 Drittens fehlen wohl sachliche Argumente dafür, dass Baumärkte und Gartenmärkte gegenüber sonstigen Handelsbetrieben bevorzugt werden dürfen. Die vom BMSGPK im verfassungsgerichtlichen Verfahren betriebene Argumentation, wonach die Öffnung der Baumärkte für das Baunebengewerbe essentiell sei, überzeugt nicht, ist doch eine Versorgung mit Materialien auf anderem Wege gesichert und zielen die Baumärkte primär auf Endverbraucher ab. Noch stärker wiegt meines Erachtens die Ungleichbehandlung von Gartenmärkten und sonstigen Handelsbetrieben mit der Begründung, Erstere hätten für Verrichtungen des täglichen Lebens eine besondere Bedeutung. Für eine große Anzahl an Menschen gehört die Gartenarbeit allein deshalb nicht zu den Verrichtungen des täglichen Lebens, weil sie nicht über einen Garten verfügen; Blumenerde ist zudem kein versorgungskritisches Gut. Soweit im „Lockdown“ das Interesse am Heimgärtnern (etwa auch am Balkon) zugenommen haben mag, wird das aber wohl auch für die sportliche Betätigung anzunehmen sein. Warum Handelsbetriebe, die etwa (Sport-) Schuhe vertreiben, danach anders gestellt sein sollen als Gartenmärkte, hätte einer ausführlicheren Rechtfertigung bedurft, die wohl aber nicht gefunden werden kann. Ein Regel-Ausnahme-System, wie es der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 zu Grunde liegt, ist besonders anfällig für unsachliche Differenzierungen. Bei eindeutig nicht versorgungskritischen Betrieben hätte man exakt prüfen müssen, warum man die einen bevorzugt und die anderen benachteiligt, ist doch das Risiko, durch eine nicht rechtfertigbare Ungleichbehandlung Schäden zu verursachen, gerade bei einem so massiven Eingriff wie der Betriebsschließung außerordentlich hoch. Eine reine Branchenbevorzugung unter gleichwertigen Handelsbetrieben hätte als gleichheitswidrig auffallen können. Bei der Lockerung der faktischen Betriebsschließung, eigentlich schon bei der Anordnung dieser mit der COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 idF BGBl II 96/2020 (Stammfassung) unter gleichzeitiger Benennung von einigen Ausnahmen, hätte eine Abstufung insbesondere danach vorgenommen werden müssen, wie wichtig bestimmte Branchen für die notwendige Versorgung der Bevölkerung sind. Als Grundsatz wäre dabei zu befolgen gewesen, dass für Branchen auf gleicher Stufe gleiche Regeln gelten müssen. Lockert man die Vorgaben, dann wäre das „Kontingent an sozialer Mobilität“, welches nach der damaligen Entwicklung der Pandemie zusätzlich verfügbar geworden ist (vgl Rz 24, 64), nach einem vollziehbaren und sachlichen Kriterium unter den auf gleicher Ebene stehenden Betrieben zu verteilen gewesen. Viertens darf auch der Zeitdruck, unter dem der BMSGPK stand, nicht überbewertet werden. Gerade bei der Zurücknahme von Beschränkungen, die zwar insbesondere vor dem Hintergrund der Erwerbsfreiheit so rasch wie aus einem gesundheitspolitischen Standpunkt möglich zu erfolgen haben, muss sich das verordnungserlassende Organ genügend Zeit nehmen, eine gleichheitskonforme Lösung zu erarbei-

79 Statt vieler Pöschl, Gleichheit vor dem Gesetz (2008).

ten. Fünftens sind an die Verordnungen eines Bundesministers, der über einen spezialisierten und gut ausgestatteten Behördenapparat verfügt, aus amtshaftungsrechtlicher Perspektive besonders hohe Anforderungen zu stellen. Die ministerielle Organisation sollte es in der Regel erlauben, dass auch in Krisenzeiten genügend persönliche, fachliche und zeitliche Kapazitäten bereitstehen, um einen verfassungs- und gesetzeskonformen Vollzug zu gewährleisten. Das führt zu folgendem Ergebnis der Verschuldensprüfung: Zuerst ist festzuhalten, dass der BMSGPK nicht vorsätzlich gehandelt hat. Denn es kann ihm nicht unterstellt werden, dass er es ernstlich für möglich hielt und sich damit abfand, eine gesetzwidrige, einen Schaden verursachende Verordnung zu erlassen.80 Auch der „rauchende Colt“, der die Rechtsansicht des BMSGPK nach der Rsp des OGH als in jedem Falle unvertretbar qualifiziert, konnte nicht gefunden werden. Nach den obigen Ausführungen und vor dem Hintergrund eines strengen Maßstabs ist die Rechtsansicht, die er der Verordnungserlassung zugrunde gelegt hat, meines Erachtens allerdings als nicht vertretbar einzustufen. Ein Verschulden in Form (leicht)81 fahrlässigen Handelns liegt dementsprechend vor. Mit der Bejahung auch dieser Haftungsvoraussetzung wäre der Amtshaftungsanspruch der geschädigten antragstellenden Partei in VfGH V 411/2020 nach dem Stand der hier vorliegenden Informationen begründet. Eine potentielle Einwendung des haftungspflichtigen Rechtsträgers ist allerdings noch denkbar.

J.

Rechtmäßiges Alternativverhalten

Keine Haftung soll grundsätzlich entstehen, wenn derselbe Nachteil auch durch ein rechtmäßiges Verhalten hätte eintreten können (so genanntes „rechtmäßiges Alternativverhalten“).82 Der Rechtsträger kann sich nur auf rechtmäßiges, das heißt richtiges, Verhalten berufen, die Vertretbarkeit eines Verhaltens genügt nicht.83 Zudem scheidet der Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens im Amtshaftungsverfahren dann aus, wenn die übertretene Verhaltensnorm von ihrem Schutzzweck her jedes andere Organverhalten ausschließen und deshalb Eingriffe in ein fremdes Rechtsgut an eine bestimmte Form (ein bestimmtes Verhalten) binden will.84 80 Vgl Ziehensack (FN 9) § 3 AHG Rz 11 zur von § 5 StGB geprägten Vorsatzdefinition. 81 Ein grob fahrlässiges Vorgehen, welches über eine unvertretbare Rechtsansicht hinausgeht und ein exzeptionelles Abweichen vom gebotenen Sorgfaltsmaßstab darstellt (Ziehensack [FN 9] § 3 AHG Rz 9), wird nach den Umständen der Verordnungserlassung nicht anzunehmen sein. 82 Schragel (FN 9) Rz 155; Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 1251; Koziol (FN 20) 608 ff; Vrba (FN 12) Kap. 1.6, 9 ff. 83 RIS-Justiz RS0022889; Schragel (FN 9) Rz 155; kritisch Rebhahn (FN 13) 648 ff; Ziehensack (FN 9) § 1 AHG Rz 1322. 84 RIS-Justiz RS0022911. Beispielhaft ließ der OGH bei einer durch den VfGH festgestellten Verletzung des verfassungsmäßig gewährleisteten Rechts auf persönliche Freiheit die Einwendung, eine Haft wäre auch vom zuständigen Richter verhängt worden, nicht zu (OGH 15. 7. 1981, 1 Ob 35/80; RISJustiz RS0027498).

Hofstätter, Amtshaftung bei rechtswidriger COVID-19-Verordnungserlassung

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Heruntergebrochen auf den vorliegenden Fall bedeutet das: Die haftungsrelevante Rechtswidrigkeit der angefochtenen Verordnungsbestimmungen liegt darin begründet, dass der BMSGPK zwischen Baumärkten und Gartenmärkten auf der einen Seite und sonstigen Handelsbetrieben auf der anderen Seite unsachlich differenziert hat. Grundsätzlich rechtskonform hätte der BMSGPK dementsprechend in zwei Varianten gehandelt: wenn er, erstens, die Baumärkte und Gartenmärkte nicht in § 2 Abs 1 Z 22 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 gelistet, sondern dem allgemeinen Regime des § 2 Abs 4 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 unterstellt hätte, oder wenn er, zweitens, die sonstigen Handelsbetriebe auch in § 2 Abs 1 COVID-19-Maßnahmenverordnung-96 aufgezählt hätte. Im ersten erwähnten Fall wäre der Schaden der antragstellenden Partei im Verfahren V 411/2020 ebenfalls eingetreten; mit anderen Worten: Es ist ein rechtmäßiges Alternativverhalten denkbar, welches zur selben Schädigung wie das vom BMSGPK gesetzte Verhalten geführt hätte. Zu dieser Wertung sind noch drei Überlegungen anzuführen: Erstens ist nicht gesagt, dass der Schaden bei einer diskriminierungsfreien Betriebsschließung derselbe gewesen wäre.85 Zweitens wäre auf Basis der gerade angestellten Überlegungen bei der Annahme eines identen Schadens Amtshaftung (allein) wegen einer in unsachlicher Weise differenzierenden Verordnung stets ausgeschlossen, weil der Schaden immer auch bei „ungünstiger Gleichbehandlung“ entstanden wäre. Ob der Staat durch die Konstruktion des rechtmäßigen Alternativverhaltens so weitreichend freigezeichnet werden soll, ist, soweit ich sehe, in der veröffentlichten Judikatur bisher noch nicht abschließend beurteilt worden. Allenfalls könnte hier die gerade dargestellte Judikatur zur Bindung von Eingriffen in ein fremdes Rechtsgut an eine bestimmte Form weiterentwickelt werden.86 Drittens ist trotz des Erk in V 411/2020 noch nicht endgültig entschieden, ob die „ungünstige Gleichbehandlung“ überhaupt rechtskonform gewesen wäre.87 Schließlich greift ein solches Vorgehen (die grundsätzliche Schließung sämtlicher sonstiger, nicht versorgungskritischer, Handelsbetriebe) in die Erwerbsfreiheit der Betroffenen ein und könnte vordergründig dann nicht mit dem Gesundheitsschutz gerechtfertigt werden, wenn doch nach den vorliegenden Informationen zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung klar war, dass eine Lockerung der faktischen Betriebsschließungen (etwa genau im Ausmaß der Bau-

85 Nicht ausgeschlossen ist, dass Menschen ihre Konsumlust nach einem einmonatigen Lockdown eben in jenen nicht versorgungskritischen Handelsbetrieben ausgelebt haben, die als Erste wieder geöffnet hatten, und zur Verfügung stehende Budgets zum Zeitpunkt der späteren Öffnung schon erschöpft waren. Ein Schaden könnte auch dadurch eingetreten sein, dass die Konkurrenzfähigkeit – etwa auf dem betriebsanlagenbezogenen Mietmarkt – der benachteiligten Betriebe gegenüber den bevorzugten Betrieben gelitten hätte. 86 Mader (FN 10) § 1 AHG Rz 63; Schragel (FN 9) Rz 155; Kucsko-Stadlmayer (FN 10) Art 23 B-VG Rz 44. 87 Darüber, ob die Betriebsschließung auch auf Grundlage der Erwerbsfreiheit oder Eigentumsfreiheit rechtswidrig sein könnte, spricht der VfGH nicht ausdrücklich ab. Er betont allerdings mehrmals, dass der Gesetzgeber dem BMSGPK einen weitreichenden Einschätzungs- und Prognosespielraum hinsichtlich der Setzung (und Lockerung) der Maßnahmen eingeräumt hat (Rz 74, 76, 77).

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märkte und Gartenmärkte) möglich gewesen wäre. Freilich wird man sich schwer damit tun, eine Rechtswidrigkeit darin zu sehen, dass sich der BMSGPK für eine restriktive Schließungspolitik und – innerhalb eines vom Gesetzgeber eingeräumten Spielraums – für ein besonders hohes Niveau beim Schutz der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsinfrastruktur entschieden hat. Ob im Ergebnis dem BMSGPK die Einwendung des rechtmäßigen Alternativverhaltens zubilligen sein wird, ist nicht einfach zu beantworten. Die Entscheidung darüber liegt beim Amtshaftungsgericht.88 Nimmt man eine Haftpflicht des belangten Rechtsträgers Bund an, ist in der Folge noch zu prüfen, ob der BMSGPK oder sonstige in die Erlassung der Verordnung eingebundene Organe dadurch regresspflichtig werden (vgl §§ 3, 4, 5 und 6 Abs 2 AHG).

III. Conclusio Aus den vorigen Ausführungen wird deutlich, dass das von der antragstellenden Partei erfolgreich geführte Verfahren V 411/2020 nur ein erster Etappensieg auf dem Weg zum Ausgleich der durch rechtswidriges staatliches Handeln verursachten Schäden war. Dennoch war es aus Sicht des späteren Amtshaftungsklägers wichtig, dass der VfGH seine strenge Zulässigkeitsrechtsprechung zu Individualanträgen etwas aufgeweicht und somit zumindest eine Haftungsvoraussetzung, die (öffentlich-rechtliche) Rechtswidrigkeit, verbindlich in einem Verfahren mit überschaubarem Kostenrisiko festgestellt hat. Insoweit gibt der VfGH der antragstellenden Partei nicht nur nachträglich – quasi um des „Rechthabens“ willen, ohne weitere Folgen – recht, sondern eröffnet ihr auch eine Perspektive für einen allfälligen Schadensausgleich. Die vorliegende Entscheidung des VfGH macht es zudem wahrscheinlicher, dass eine Anrufung der Amtshaftungsgerichte mit Rechtszug bis zum OGH nicht erforderlich sein und eine Lösung schon im Rahmen des Aufforderungsverfahrens (§ 8 Abs 1 AHG) gefunden wird. Bei einem im Amtshaftungsverfahren streng gehandhabten Verschuldenskriterium im Sinne des AHG wird der VfGH, der ohnehin schon viele Funktionen in sich vereint, im Verfahren nach Art 139 B-VG mittelbar auch zum „Amtshaftungsgerichtshof“.89 88 Nach Rebhahn (FN 13) 634 wäre das rechtmäßige Alternativverhalten vom Amtshaftungsgericht „anhand der herrschenden Meinung zum öffentlichen Recht“ selbst zu beurteilen. 89 Unmittelbarer „Staatshaftungsgerichtshof“ ist er schon im Rahmen des Verfahrens nach Art 137 B-VG; dazu näher Hofstätter, Die Kausalgerichtsbarkeit des Verfassungsgerichtshofes (2020) 478 ff.

Der Autor: az. Prof. Mag. Dr. iur. Christoph Hofstätter, Bakk. phil. Institut für Öffentliches Recht und Politikwissenschaft Karl-Franzens-Universität Graz Universitätsstraße 15/C3 A-8010 Graz christoph.hofstaetter@uni-graz.at lesen.lexisnexis.at/autor/Hofstätter/Christoph

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Foto: Simon Ceh

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ABHANDLUNGEN

Christoph Schramek

Umweltinformationsrecht im Spannungsfeld zur Akteneinsicht » ZfV 2021/58

Der vorliegende Beitrag stellt das Recht auf freien Zugang zu Umweltinformationen dem Recht auf Akteneinsicht gegenüber. Die beiden Informationsrechte, materiellrechtlich auf der einen und verfahrensrechtlich auf der anderen Seite, erfüllen zwar unterschiedliche Funktionen im Rechtssystem, weisen jedoch in der praktischen Anwendung gewisse Überschneidungen auf. Mitunter räumt das Umweltinformationsrecht sogar umfassendere Möglichkeiten zur Informationsgewinnung ein. Daraus resultierende Spannungsverhältnisse können informationspflichtige Stellen vor praktische Herausforderungen stellen. Trotzdem verdrängt das materielle Informationsrecht das formelle Parteirecht auf Akteneinsicht auf Grund seiner fundamentalen Bedeutung im Verwaltungsverfahren nicht.* » Deskriptoren: Aktenbestandteile; Akteneinsicht; Anbringen; Antrag; freier Zugang; Informationsrecht; Interessenabwägung; Kostenersätze; Manuduktion; Parteirecht; Parteistellung; Umweltinformation; Verbesserung; Verwaltungsverfahren. » Rechtsquellen: Art 4 Aarhus-Konvention; RL 90/313/EWG; RL 2003/4/EG; § 13 Abs 1 bis 3, §§ 13a, 17 AVG; § 4 Auskunftspflichtgesetz; § 5 Abs 5, § 17 Abs 5, § 50 Abs 4 AWG 2002; § 43 Abs 3 BDG 1979; § 3 E-GovG; Art II EGVG; §§ 84e, 84h GewO 1994; § 169 Abs 5 LFG; §§ 2, 4, 5, 6 Abs 1 und 2, § 8 Abs 1 und 2 UIG; § 4 Abs 2, § 9 Abs 1, § 19 Abs 7 UVP-G 2000; § 19 Abs 5 Bgld. ISUG; § 10 K-ISG; § 8 Z 3, § 11 Abs 5 NÖ Auskunftsgesetz; § 16 Abs 5 Oö. USchG; § 27 Abs 5 Sbg UUIG; § 5 Abs 5 StUIG; § 5 Abs 6 TUIG 2005; § 5 Abs 5 Vbg Landes-UIG¸§ 5 Abs 5 Wr. UIG.

I. Einleitung II. Generelle Abgrenzung des Umweltinformationsrechts von der Akteneinsicht unter Einbeziehung des Auskunftsrechts III. Gegenüberstellung und „Fallstricke“ A. Adressatenkreise B. Antragserfordernisse 1. Formelle Voraussetzungen 2. Inhaltliche Voraussetzungen sowie Verbesserung und Manuduktion insbesondere im UIG 3. Abgrenzung in der Praxis: Antrag auf Akteneinsicht versus Antrag auf Mitteilung einer Umweltinformation 4. Ergebnis zu den Antragserfordernissen C. Gegenstände 1. Grundlegender Vergleich 2. Umweltinformationen sind sämtliche Informationen über …? 3. Zusammenfassung und Abgrenzung zur Akteneinsicht D. Umfang der Akteneinsicht und Formen der Informationsbekanntgabe 1. Umfang der Akteneinsicht 2. Formen der Informationserteilung im Umweltinformationsrecht 3. Gegenüberstellung 4. Exkurs: Kosten für Ausdrucke und Kopien E. Schranken und Verweigerung 1. Grundsätzliche Gegenüberstellung 2. Interessenabwägungen 3. Verweigerung IV. Zusammenfassende Bewertung *

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Verfassers wieder.

Schramek, Umweltinformationsrecht und Akteneinsicht

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I.

Einleitung

„Der öffentliche Charakter von Informationen ist ein wesentlicher Bestandteil jeder demokratischen Gesellschaft.“ Mit diesen Worten wird der Allgemeine Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage1 zur Stammfassung des UIG2 aus dem Jahr 1993 eingeleitet. Hintergrund der Schaffung des UIG bildete die damalige RL 90/313/EWG,3 deren erklärtes Ziel es war, den freien Zugang zu umweltbezogenen und bei den Behörden vorhandenen Informationen zu gewährleisten. Dieser Zielstellung lag wiederum der Gedanke zu Grunde, dass hinreichende Informationen über den Zustand der Umwelt von elementarer Bedeutung für eine effektive Umwelt(schutz)politik sind.4 Seine Pflicht zum Tätigwerden begründete der Gesetzgeber im Jahr 1993 damit, dass ein „generelles und umfassendes Recht auf Mitteilung von Umweltdaten, das insbesondere auch jedermann Akteneinsicht oder die Übermittlung von Abschriften, Ausdrucken etc gewährt, [...] positivrechtlich noch nicht verankert [ist]“. In Abgrenzung zur Auskunftspflicht5 wird an derselben Stelle zudem wie folgt dargelegt: „Über die allgemeine, materienunabhängige Auskunftspflicht nach den Auskunftspflichtgesetzen hinausgehend ist Akteneinsicht zu gewähren und sind auf Verlangen Ablichtungen, Abschriften, Ausdrucke etc. zur Verfügung zu stellen.“6 Derartige Ausführungen, aus denen abgeleitet werden könnte, dass das Recht auf Umweltinformation ein generelles Recht auf Akteneinsicht eröffnet, deuten bereits ein gewisses Spannungsverhältnis zwischen den Umweltinformationsgesetzen und dem in § 17 AVG7 grundgelegten Parteirecht, dem eine wesentliche Informations-8 wie auch Kontrollfunktion in einem Verwaltungsverfahren zukommt, an. Dieses Spannungsverhältnis zwischen einem vergleichsweise jüngeren Informationsrecht auf der einen und einem fundamentalen Verfahrensrecht auf der anderen Seite bildet den Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Insbesondere stellt sich die Frage, inwieweit es – vor allem vor dem Hintergrund des bewusst weiten Verständnisses des Umweltinformationsbegriffs zur Förderung der Verbreitung von Umweltinformationen9 – in man-

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6 7 8

9

ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 8. Umweltinformationsgesetz – UIG, BGBl 495/1993 idF BGBl I 74/2018. RL 90/313/EWG des Rates v 7. 6. 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt, ABl 1990 L 158/56. Reidt/Schiller, Umweltinformationsgesetz, in Landmann/Rohmer (Hrsg), Umweltrecht (90. Lfg, 2019) Vorbemerkung Rz 1. Vgl außerdem in den ErwG zur RL 90/313/EWG: „Der Zugang zu umweltbezogenen Informationen im Besitz der Behörden wird den Umweltschutz verbessern.“ Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass sich im Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags der Entwurf eines Informationsfreiheitsgesetzes in Begutachtung befunden hat. Gesetzliche Bestimmungen betreffend Umweltinformationen sollen davon jedoch unberührt bleiben (Erläut 95/ME 27. GP 5 und 12). ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 10 (vgl auch 17). Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG, BGBl 51/1991 idF BGBl I 58/2018. So auch die Kategorisierung bei Lehofer, Parteienrechte im Verwaltungsverfahren, in Holoubek/Lang (Hrsg), Allgemeine Grundsätze des Verwaltungs- und Abgabenverfahrens (2006) 411 (417 ff ). Vgl vor allem die ErwG (1) und (9) der RL 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 28. 1. 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu

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chen Bereichen zu einer Überlagerung oder gar Verdrängung der Akteneinsicht in umweltbezogenen Verfahren kommen kann. Der gegenständliche Beitrag ist im Wesentlichen dreigeteilt: Nach einer überblicksartigen Abgrenzung der beiden Untersuchungsgegenstände (II.) werden spezielle Merkmale von Akteneinsicht und Umweltinformationsrecht eingehend behandelt und einander gegenübergestellt (III.). Konkrete Problemstellungen betreffen dabei unter anderem die Mindesterfordernisse eines Antrags nach dem UIG in Abgrenzung zu einem Verlangen auf Akteneinsicht oder die Frage, in welchem Umfang unterschiedliche Akteninhalte Umweltinformationen enthalten können. Ziel dieser Gegenüberstellungen, die teilweise mit Beispielen aus der Praxis veranschaulicht werden, ist es, „Fallstricke“ und Spannungsverhältnisse zu ermitteln, die einer abschließenden Bewertung unterzogen werden (IV.). Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird nachfolgend in erster Linie das UIG angeführt und auf landesrechtliche Bestimmungen dann verwiesen, wenn sie relevante Abweichungen vom UIG enthalten.

II.

Generelle Abgrenzung des Umweltinformationsrechts von der Akteneinsicht unter Einbeziehung des Auskunftsrechts

Auf den ersten Blick scheint die Trennlinie zwischen dem Umweltinformationsrecht und dem Recht auf Akteneinsicht deutlich zu sein: Während das UIG jedermann den Zugang zu Umweltinformationen ermöglicht – Ennöckl/Maitz10 sprechen diesbezüglich von einem eigenständigen materiellrechtlichen Informationszugangsrecht –, gewährt das Recht auf Akteneinsicht, wie der Name schon erahnen lässt, Verfahrensparteien Einsicht in einen Verfahrensakt. Dem Informationszugangsrecht steht somit ein für Parteien fundamentales Verfahrensrecht gegenüber. Vor diesem Hintergrund ist das Recht auf Mitteilung einer Umweltinformation, wie etwa auch jenes auf Auskunftserteilung nach dem Auskunftspflichtgesetz,11 nicht geeignet, ein (generelles) Recht auf Akteneinsichtnahme durchzusetzen12 und kann auch nicht eins zu eins die fehlende Parteistellung kompensieren.13 Umgekehrt stellt das Recht auf Akteneinsicht keine Grundlage für eine allgemeine Informationspflicht der Behörde dar.14 In Bezug auf das bundesverfassungsrechtlich grundgelegte Auskunftsregime hat der VwGH unter Verweis auf die Erläuterungen15 zur Stammfassung des Auskunftspflichtgesetzes judiziert, dass die Auskunftserteilung im Sinne des Auskunftspflichtgesetzes „nicht auch die Gewährung der im AVG geregelten Akten-

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14 15

Umweltinformationen und zur Aufhebung der RL 90/313/EWG des Rates, ABl 2003 L 41/26. Ennöckl/Maitz, UIG. Umweltinformationsgesetz2 (2011) § 4 Rz 6. Auskunftspflichtgesetz, BGBl 287/1987 idF BGBl I 158/1998. VwGH 22. 2. 1999, 98/17/0355. So auch Gerhartl, Reichweite und Grenzen der Auskunftspflicht, ÖJZ 2020, 11 (15), zur Auskunftspflicht nach dem Auskunftspflichtgesetz. Vgl auch VwGH 25. 11. 2015, Ra 2015/09/0052. Lehofer (FN 8) 419. ErläutRV 41 BlgNR 17. GP 3.

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einsicht bedeutet, sondern die Weitergabe von Informationen über einen Akteninhalt, die in aller Regel nicht jene Detailliertheit an Informationen aufweisen wird, die bei der Einsicht in Akten zu gewinnen wäre“.16 Zwar kann die Auskunftserteilung auch in Form der Einsichtnahme gewährt werden,17 jedoch existiert grundsätzlich keine Pflicht der Behörde, dies zu tun.18 Auch sonst besteht kein Recht des Auskunftswerbers, die Auskunft in einer von ihm gewünschten Form zu erhalten.19 Etwas anders stellt sich die Rechtslage im Fall des Umweltinformationsrechts dar, das im Vergleich zum materienunabhängigen Auskunftsrecht, wie eingangs bereits ausgeführt, weiter in das Instrument der Akteneinsicht hineinreicht, allerdings dennoch nicht, worauf in weiterer Folge noch zurückzukommen ist, mit diesem gleichgesetzt werden kann.20 Einen weiteren wesentlichen Abgrenzungspunkt bildet die Tatsache, dass das Recht auf Akteneinsicht grundsätzlich nur in Zusammenhang mit einem bestimmten Verwaltungsverfahren eingeräumt wird,21 während ein Antrag auf Mitteilung von Umweltinformationen, abgesehen von dem durch das Informationsbegehren eingeleiteten Verfahren selbst, losgelöst von einem konkreten Verfahren gestellt werden kann. Ein Konnex zu einem Verwaltungsverfahren, wie im Falle der Akteneinsicht, besteht insofern nicht. Dennoch ist freilich nicht auszuschließen, dass während eines laufenden Verfahrens ein Umweltinformationsbegehren in Bezug auf dieses Verfahren gestellt wird. Bereits diese Beispiele zeigen, dass die gegenständlich behandelten „Instrumente“/„Institutionen“ durchaus Parallelen bzw Überschneidungen aufweisen,22 die wiederum in der praktischen Anwendung gewisse „Fallstricke“ legen können, was nachfolgend im Detail behandelt wird.

auf Akteneinsicht zu,24 jedoch nur betreffend ein bestimmtes Verfahren.25 Es muss allen am Verfahren beteiligten Parteien in gleichem Umfang gewährt werden, was nach herrschender Lehre auch ein Recht auf Gleichbehandlung im Unrecht umfasst.26 Aus der Literatur27 geht unter Verweis auf die Gesetzesmaterialien zur Stammfassung des AVG aus dem Jahr 1925 (BGBl 274/1925) hervor, dass die Schaffung eines subjektiven prozessualen Parteirechts von Beginn an die Intention von § 17 Abs 1 AVG bildete. Umgekehrt könne jedoch kein Verbot aus der Bestimmung dahingehend abgeleitet werden, auch weiteren Personen, etwa Beteiligten oder Interessenten, unter Beachtung der Amtsverschwiegenheit (Art 20 Abs 3 B-VG) sowie des Grundrechts auf Datenschutz Akteneinsicht zu gewähren.28 Diesem Rahmen im AVG steht die äußerst weite Formulierung im UIG gegenüber: Das Recht auf freien Zugang zu Umweltinformationen wird gemäß § 4 Abs 1 jeder natürlichen oder juristischen Person gewährleistet. Eine deutliche Abgrenzung zur Akteneinsicht ergibt sich aus dem ausdrücklichen Hinweis, wonach ein Rechtsanspruch oder ein rechtliches Interesse keine Voraussetzung für den Zugang bildet. Insofern kann eine Umweltinformation unabhängig von einer Parteistellung und letzten Endes auch von einem bestimmten Verfahren begehrt werden. Ennöckl/ Maitz vergleichen vor diesem Hintergrund den Umweltinformationsanspruch mit einer actio popularis.29 Der weite Adressatenkreis im UIG, der zudem nicht nur österreichische Staatsbürger, sondern auch ausländische natürliche und juristische Personen umfasst, soll dem allgemeinen Bedürfnis nach Information im Umweltbereich bzw der eingangs beschriebenen Intention dienen, wonach erst hinreichende Informationen eine wirksame Umweltschutzpolitik ermöglichen.30

III. Gegenüberstellung und „Fallstricke“

B.

Antragserfordernisse

1.

Formelle Voraussetzungen

A.

Adressatenkreise

Der Kreis der zur Akteneinsicht Berechtigten erstreckt sich ausschließlich auf die Parteien eines anhängigen oder bereits abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens.23 Ihnen kommt dieses subjektive prozessuale Recht unabhängig vom Zweck des Begehrens

Entsprechend den vorangehenden Ausführungen, wonach das subjektive Recht unabhängig vom Zweck besteht, setzt das Recht auf Akteneinsicht nicht die Darlegung eines Informationsinteresses von Seiten der Partei voraus.31 Eine gesonderte Begründung für die Akteneinsicht ist somit nicht erforderlich.32

16 VwGH 13. 9. 1991, 90/18/0193; 25. 1. 1993, 90/10/0061. 17 Vgl etwa VwGH 29. 3. 1982, 81/17/0049. 18 MwN Faber, Zeitgeschichtliche Forschung zwischen Amtsverschwiegenheit und Auskunftspflicht, in Eisenberger/Ennöckl/Reiter-Zatloukal (Hrsg), Zeitgeschichtsforschung im Spannungsfeld von Archiv-, Datenschutz- und Urheberrecht (2018) 161 (170). 19 Wieser, Art 20/4 B-VG, in Korinek/Holoubek et al (Hrsg), Kommentar Bundesverfassungsrecht (4. Lfg, 2001) Rz 29. 20 Bidner, Das Umweltinformationsgesetz – Zersplitterung des Auskunftsrechts, ecolex 1995, 135 (136 f). 21 Vgl auch Reidt/Schiller (FN 4) Vorbemerkung Rz 5 sowie allgemein auf Auskunftspflichten bezogen Gerhartl, Das Recht auf Akteneinsicht, JAP 2 (2019/2020), 85 (87). 22 Siehe N. Raschauer, Der Anspruch auf Umweltinformation, in Hauer (Hrsg), Umweltinformation zwischen Anspruch und Wirklichkeit (2010) 47 (55). 23 Vgl VwGH 15. 12. 2009, 2009/11/0230.

24 MwN VwGH 27. 4. 2017, Ro 2015/07/0002. 25 MwN Hengstschläger/Leeb, AVG online § 17 Rz 2 (Stand 1. 1. 2014, rdb.at). 26 Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 12. Siehe auch Novak, Rechtsfragen der Akteneinsicht im Verwaltungsverfahren, ÖJZ 1973, 253 (255 f). 27 Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 2; Novak (FN 26) ÖJZ 1973, 255. 28 Kolonovits/Muzak/Stöger, Verwaltungsverfahrensrecht11 (2019) Rz 177; Schulev-Steindl, Verwaltungsverfahrensrecht6 (2018) Rz 143. Siehe auch Novak (FN 26) ÖJZ 1973, 255, der darauf verweist, dass dieser Ermächtigung nur in sachlicher Hinsicht eine Grenze gezogen ist: „Was der Behörde gegenüber der allein anspruchsberechtigten Partei verboten ist, kann ihr nicht gegenüber der Nichtpartei erlaubt sein.“ 29 Ennöckl/Maitz (FN 10) § 4 Rz 2. 30 N. Raschauer (FN 22) 50. 31 VwGH 20. 11. 2003, 2002/09/0093. 32 Vgl VwGH 21. 2. 2005, 2004/17/0173; 22. 10. 2013, 2012/10/0002.

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Ebenso bedarf es zwar keines förmlichen Antrags, jedoch muss die Partei ein konkretes Verlangen zur Einsichtnahme äußern.33 Ähnliches gilt für das Begehren auf Mitteilung einer Umweltinformation, das nicht begründet werden muss, bzw bedarf es auch keiner Darlegung eines Motivs oder Verwendungszwecks.34 Das Begehren kann schriftlich oder, soweit es der Natur der Sache nach tunlich erscheint, mündlich sowie in jeder technischen Form gestellt werden, welche die Behörde zu empfangen in der Lage ist (§ 5 Abs 1 UIG). In den Gesetzesmaterialien35 wird betont, dass diese Formulierung auf § 13 Abs 1 AVG in der Fassung der AVG-Novelle BGBl I 10/2004 beruht. Mit dieser Novelle kam es zu einer zwischenzeitlichen Beseitigung der (historischen) Differenzierung zwischen mündlichen und telefonischen Anbringen, was sich allerdings als unzweckmäßig erwiesen hat, weshalb diese Differenzierung mit dem Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007, BGBl I 5/2008, wieder eingeführt wurde.36 Dass das UIG in diesem Sinn nicht angepasst wurde, schadet jedoch nicht. Es ist vor dem historischen Hintergrund und auf Grund der Tatsache, dass das Informationsbegehren in jeder technischen Form erfolgen kann,37 jedenfalls davon auszugehen, dass es auch telefonisch gestellt werden kann.38 Im Übrigen werden im UIG keine besonderen formellen Voraussetzungen für das Informationsbegehren festgelegt, das insofern weitgehend formlos an die informationspflichtige Stelle herangetragen werden kann. Dass der Anspruch auf freien Zugang zu Umweltinformationen jedoch geradezu voraussetzungslos ist, wie in der Literatur mitunter ausgeführt wird,39 trifft nur insoweit zu, als zum einen nicht bekannt gegeben werden muss, aus welchen Motiven oder zu welchem Verwendungszweck die Information begehrt wird, und zum anderen die Anhängigkeit eines Verwaltungsverfahrens nicht erforderlich ist. Davon abgesehen kann hingegen unter Zugrundelegung der nachfolgend dargestellten inhaltlichen Aspekte dem Anspruch keine gänzliche Schrankenlosigkeit attestiert werden.

2.

Inhaltliche Voraussetzungen sowie Verbesserung und Manuduktion insbesondere im UIG

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Anführung einer Aktenzahl wird jedoch nicht vorausgesetzt.40 Ein zu allgemein oder unbestimmt gehaltenes Begehren auf Akteneinsicht muss gemäß § 13 Abs 3 AVG einer Verbesserung unterzogen werden41 bzw ist der Antragsteller im Falle eines mündlichen Begehrens gemäß § 13a AVG entsprechend anzuleiten.42 Im UIG tritt zu den geringen formellen Vorgaben in § 5 Abs 1 UIG auf der Basis weiterer Bestimmungen ebenfalls ein gewisser materieller Rahmen hinzu, der bei der Formulierung eines Begehrens zu beachten ist. Dies gilt insbesondere für die in § 6 UIG normierten Mitteilungsschranken, bei deren Vorliegen die Mitteilung der Umweltinformation unterbleiben kann. So darf das Begehren etwa nicht zu allgemein gehalten sein (§ 6 Abs 1 Z 3 UIG) oder offenbar missbräuchlich gestellt werden (§ 6 Abs 1 Z 2 UIG). Gerade in Bezug auf ersteren Fall sieht § 5 Abs 1 dritter Satz UIG eine Verpflichtung der Behörde dahingehend vor, dem Informationssuchenden bei einem Begehren, aus dem Inhalt oder Umfang der gewünschten Mitteilung nicht ausreichend klar hervorgehen, innerhalb einer – abweichend von § 13 Abs 3 AVG, der eine angemessene Frist vorsieht – zwei Wochen nicht übersteigenden Frist43 die schriftliche Präzisierung (Verbesserung) des Ansuchens aufzutragen. Für die Präzisierung gilt zwingend ein Schriftformerfordernis, unabhängig davon, in welcher Form das ursprüngliche Begehren eingebracht wurde.44 Wird dem Verbesserungsauftrag nicht nachgekommen, muss die jeweils zuständige Behörde das Begehren zurückweisen.45 Im Umkehrschluss aus diesen Ausführungen folgt im Hinblick auf die Antragsvoraussetzungen, dass der Antragsteller Art und Umfang der begehrten Umweltinformation genau zu bezeichnen und insofern bereits im Begehren, dem dadurch aus inhaltlicher Sicht Grenzen gesetzt werden, die erforderlichen Präzisierungen vorzunehmen hat.46 Die Beurteilung, welche Information verlangt wird, bemisst sich danach, wie das jeweilige Begehren nach seinem erkennbaren (objektiven) Erklärungswert zu verstehen ist.47 Vor dem Hintergrund des aus Sicht der Behörde verpflichtend zu erteilenden Verbesserungsauftrags im Falle eines zu unkonkreten Antrags ergibt sich meines Erachtens als absolutes Mindesterfordernis für den Antrag, dass wenigstens in irgend-

Im Bereich der Akteneinsicht ist es aus inhaltlicher Sicht lediglich erforderlich, dass das betreffende Verwaltungsverfahren gegenüber der Behörde ausreichend bestimmt bezeichnet wird. Die

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Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 6; VwGH 14. 4. 2010, 2007/08/0125. Ennöckl/Maitz (FN 10) § 4 Rz 7. ErläutRV 641 BlgNR 22. GP 7. ErläutRV 294 BlgNR 23. GP 8; siehe auch Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 13 Rz 6. 37 Vgl zu § 13 Abs 1 AVG idF BGBl I 10/2004 Thienel, Verwaltungsverfahrensrecht4 (2006) 107. Siehe auch Ennöckl, Umweltinformationsgesetz, in Ennöckl/Raschauer/Wessely (Hrsg), Handbuch Umweltrecht3 (2019) 832 (838). 38 Hauer geht davon aus, dass die AVG-Novelle BGBl I 5/2008 und die dabei vorgenommene Neufassung von § 13 AVG der diesbezüglichen Bestimmung im UIG nicht derogiert hat (Hauer, Die Umweltinformation im System der Rechtsordnung, in Hauer [Hrsg], Umweltinformation zwischen Anspruch und Wirklichkeit [2010] 19 [25]). 39 N. Raschauer (FN 22) 52; vgl auch für Deutschland Reidt/Schiller (FN 4) § 3 Rz 10.

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VwGH 28. 1. 2004, 2003/12/0173. VwGH 6. 9. 2005, 2002/03/0110. Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 6/1. Wenngleich es aus dem Wortlaut dieser Bestimmung nicht klar hervorgeht, ergibt sich aus den Erläuterungen zur Stammfassung des UIG (ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 16), dass sich die maximal zweiwöchige Frist auf die vom Informationssuchenden vorzunehmende Verbesserung bezieht und nicht auf die Behörde bzw den von ihr zu erteilenden Auftrag zur Präzisierung (Huemer/Stilgenbauer, Das Rechtsschutzverfahren nach UIG, in Hauer [Hrsg], Umweltinformation zwischen Anspruch und Wirklichkeit [2010] 95 [97]). Ennöckl/Maitz (FN 10) § 5 Rz 3. Ennöckl/Maitz (FN 10) § 6 Rz 5. N. Raschauer (FN 22) 53. So hat der VwGH etwa das Begehren auf „konkrete detaillierte Projektunterlagen“ und „Pläne“ eines geplanten Hubschrauberlandeplatzes als zu unbestimmt erachtet (VwGH 24. 5. 2012, 2010/03/0035). VwGH 2. 6. 1999, 99/04/0042.

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einer Form erkennbar ist, dass das Begehren auf eine umweltrelevante Information abzielt.48 Zu beachten ist dabei, dass dem Antragsteller vielfach Art und Umfang der bei der informationspflichtigen Stelle vorhandenen Umweltinformationen nicht bekannt sein werden. In Deutschland wird diesem Umstand in der verwaltungsgerichtlichen Judikatur dadurch Rechnung getragen, dass eine subjektive Betrachtung erfolgt, indem das aus Sicht des Informationssuchenden subjektiv Mögliche und Zumutbare die Grenze der Konkretisierungspflicht bildet.49 Ähnlich hat auch schon der VwGH angedeutet, dass sich der Rahmen der Verbesserung bzw Präzisierung eines Begehrens im Bereich dessen befindet, was dem Informationssuchenden auf Grund seines Wissensstandes zumutbar ist.50 Andernfalls würden Begehren auf Informationsmitteilung regelmäßig ins Leere laufen.51 Hinzu kommt als Hilfestellung für den Antragsteller die besondere Manuduktionspflicht in § 5 Abs 1 vierter Satz UIG, indem er bei der schriftlichen Präzisierung seines zu allgemeinen Begehrens zu unterstützen ist. Diese fand mit der UIG-Novelle 2004, BGBl I 6/2005, Eingang in das UIG, deren Hintergrund insbesondere die Anpassung an die Erfordernisse der neuen UmweltinformationsRL 2003/4/EG52 bildete. Letztere hatte wiederum zum Ziel, auf der Basis von Erfahrungen der Mitgliedstaaten mit der Vorgänger-RL 90/313/EWG die Umweltinformationsgesetzgebung im Hinblick auf die Optimierung und effiziente Gestaltung der Umweltinformationsflüsse weiterzuentwickeln.53 Im Bericht der Europäischen Kommission vom 29. Juni 200054 wurden Erfahrungsberichte einzelner Mitgliedstaaten über die Anwendung der RL 90/313/EWG gesammelt und dabei unter anderem positiv hervorgehoben, dass einzelne Mitgliedstaaten (Dänemark, Irland) rechtliche Verpflichtungen der zuständigen Behörden und Stellen zur Unterstützung und Beratung von Informationssuchenden vorgesehen haben. Vor diesem Hintergrund wurde vermutlich die Unterstützungspflicht in die neue RL übernommen bzw letztendlich im UIG normiert. Worin genau diese Unterstützungsleistung jedoch besteht bzw wie weitgehend sie ausgestaltet ist, darüber schweigen sowohl die Gesetzesmaterialien als auch die Literatur. In Deutschland wird zur vergleichbaren Bestimmung im deut-

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Vgl hierzu auch nachfolgend 3. MwN Reidt/Schiller (FN 4) § 4 UIG Rz 5a; vgl auch N. Raschauer (FN 22) 53. VwGH 16. 3. 2016, Ra 2015/10/0113. Vgl auch OVG NRW 13. 3. 2019, 15 A 769/18: „Wird die Einsicht in bislang unbekannte Unterlagen begehrt, kann, wenn ein gesetzlich vorgesehener Informationszugangsanspruch nicht vollständig leer laufen soll, von dem Antragsteller nicht stets verlangt werden, dass er die Unterlagen, auf die sich sein Informationszugangsbegehren bezieht, im Einzelnen genau bezeichnet. Eine solche Bezeichnung ist ihm regelmäßig ohne nähere Kenntnis des Akteninhalts nicht möglich.“ 52 RL 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 28. 1. 2003 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates, ABl 2003 L 41/26. 53 ErläutRV 641 BlgNR 22. GP 2. 54 Bericht der Europäischen Kommission an den Rat und das Europäische Parlament über die Erfahrungen aus der Anwendung der Richtlinie 90/313/EWG des Rates v 7. 6. 1990 über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt (KOM [2000] 400 endg).

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ABHANDLUNGEN schen UIG55 (§ 4 Abs 2 vierter Satz) betont, dass die Unterstützung über die allgemeine Beratungs- und Auskunftspflicht gemäß § 25 deutsches VwVfG56 hinausgehe.57 Für die österreichische Rechtslage kann ebenfalls davon ausgegangen werden, dass die Unterstützungspflicht im UIG gegenüber der Manuduktionspflicht des § 13a AVG weitreichender ist: So wird nach dem Wortlaut in § 5 Abs 1 UIG etwa nicht ausgeschlossen, dass auch durch einen berufsmäßigen Parteienvertreter vertretene Informationssuchende die Unterstützung in Anspruch nehmen können.58 Als wesentlich komplexer erweist sich die Frage, ob und, bejahendenfalls, inwieweit diese Unterstützungspflicht auch inhaltliche Aspekte umfasst. Ersteres kann meines Erachtens dahingehend beantwortet werden, dass auf der Basis des Wortlauts in § 5 Abs 1 die „besondere“59 Manuduktionspflicht im UIG weniger auf die Anleitung zur Vornahme einzelner verfahrensrechtlicher Schritte und die damit verbundenen Rechtsfolgen, wie es bei § 13a AVG der Fall ist,60 abzielt, sondern sie vielmehr, zwar nicht in unbegrenztem Ausmaß – etwa durch Offenlegung von einzelnen Akteninhalten –, jedoch zumindest in Grundzügen inhaltliche Aspekte umfassen dürfte. Diese Sichtweise gründet darauf, dass sich die besondere Manuduktionspflicht auf die schriftliche Präzisierung des in Bezug auf Inhalt oder Umfang unklaren Ansuchens bezieht (arg: „[...] ist dabei zu unterstützen.“), der zu setzende verfahrensrechtliche Schritt damit ohnehin klar ist. Als Gegenstand der Unterstützung verbleibt somit die von Seiten des Informationssuchenden vorzunehmende inhaltliche Präzisierung, weshalb durch die informationspflichtige Stelle vorwiegend nur in inhaltlicher Form unterstützt werden kann. Im Übrigen sind formelle Aspekte im UIG bereits insofern von untergeordneter Rolle, als an das Begehren selbst, wie vorangehend dargestellt, keine besonderen formellen Voraussetzungen geknüpft werden. Die inhaltliche Unterstützung dürfte jedoch nicht unbeschränkt gelten. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit § 43 Abs 3 BDG 1979,61 der eine Unterstützungspflicht gegenüber Parteien als allgemeine Dienstpflicht eines Beamten des Bundes normiert. Die Gesetzesmaterialien62 halten dazu fest, dass diese Unterstützungspflicht auf Grund der Gefahr der Parteilichkeit nicht zu extensiv betrachtet werden dürfe. Zwar enthält die Pflicht im BDG 1979 keinen Rechtsanspruch auf inhaltliche Information und ist ansonsten als allgemeine Beamtenpflicht, aus der kein subjektives Recht einer Partei abgeleitet werden kann, auch nicht unmittelbar vergleichbar mit der Unterstützungspflicht im UIG, die sich auf ein bestimmtes Informationsverfahren im Umweltbereich bezieht, jedoch kann diese grundsätzliche Überle55 Deutsches Umweltinformationsgesetz – UIG, BGBl I 2004, S 3704, idF BGBl I 2021, S 306. 56 Deutsches Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG, BGBl I 2003, S 102, idF BGBl I 2021, S 2154, 2194. 57 Reidt/Schiller (FN 4) § 4 UIG Rz 6. 58 N. Raschauer (FN 22) 54. 59 Ennöckl/Maitz (FN 10) § 5 Rz 4. 60 Schulev-Steindl (FN 28) Rz 136. 61 Beamten-Dienstrechtsgesetz 1979 – BDG 1979, BGBl 333/1979 idF BGBl I 136/2021. 62 ErläutRV 11 BlgNR 15. GP 85.

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gung durchaus auch auf das UIG übertragen werden. Man denke nur an ein Informationsbegehren, das berechtigte Interessen Dritter beeinträchtigen würde.63 Eine schrankenlose Unterstützung des Informationssuchenden würde auch hier den Anschein einer Parteilichkeit erwecken. Anhand verschiedener Beispiele wird ebenfalls ersichtlich, dass sich die Unterstützung wohl nur in einem engen Rahmen bewegt: Der VwGH hat etwa ein Handeln im Sinne der Manuduktionspflicht darin gesehen, dass berechtigte behördliche Zweifel an der Zulässigkeit der vom Informationssuchenden formulierten Frage im Zuge des Auftrags zur Präzisierung bekannt gegeben werden.64 In Art 3 Abs 3 der RL 2003/4/EG wird als Beispiel für eine Unterstützungsleistung angeführt, dass der Antragsteller über die Nutzung öffentlicher Verzeichnisse iSd Art 3 Abs 5 lit c unterrichtet werden kann. Etwas weitgehender hat das LVwG Sbg ausgeführt, dass auf Grund der Manuduktionspflicht eine Verpflichtung bestünde, auf weitere mögliche Bewilligungspflichten nach anderen Materiengesetzen hinzuweisen, wodurch sich unter Umständen Zuständigkeiten anderer informationspflichtiger Stellen ergeben könnten.65 Dieser Fall wird meines Erachtens aber mehr von § 5 Abs 2 UIG (Weiterleitung an oder Hinweis auf die zuständige Stelle) erfasst und ist weniger eine Angelegenheit der besonderen Manuduktion in § 5 Abs 1 UIG. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich eine allgemeingültige Aussage zur – vor allem inhaltlichen – Reichweite der besonderen Manuduktionspflicht in § 5 Abs 1 UIG auf Grund der Einzelfallbezogenheit jedes Informationsbegehrens kaum treffen lässt, sie jedoch grundsätzlich nur innerhalb eines engen Rahmens stattfinden dürfte. Die Tatsache, dass das UIG eine eigene Bestimmung betreffend die Präzisierung des Informationsbegehrens enthält, zeigt, dass die Frage, wann ein Begehren auf Mitteilung einer Umweltinformation eine ausreichend klare Determinierung aufweist, keine einfache ist. Hinzu kommt, dass der subjektive Kenntnisstand des Antragstellers über die bei der informationspflichtigen Stelle vorhandenen oder bereitgehaltenen Umweltinformationen eine nicht nur in der Natur der Sache liegende, sondern auch laut Judikatur des VwGH bei der Präzisierung des Begehrens zu beachtende Grenze bildet. Demgegenüber erfordert die Akteneinsichtnahme keine derartige mitunter komplexe inhaltliche Beurteilung.

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nen aufweisen muss, um ihn von einem Antrag auf Akteneinsicht abgrenzen zu können. Den Hintergrund bilden verschiedene Beispiele aus der Praxis, insbesondere zwei Judikate, die jeweils mit Anträgen auf Akteneinsicht ihren Ausgang genommen haben, jedoch von Personen ohne Parteistellung in dem den Akt betreffenden Verfahren gestellt wurden und im Ergebnis mehr oder weniger deutlich auf die Mitteilung von Umweltinformationen gerichtet waren.

a. Fallkonstellationen Im Folgenden geht es im Wesentlichen darum, welche Mindesterfordernisse ein Antrag auf Mitteilung von Umweltinformatio-

Fallkonstellation 1: Antrag auf Akteneinsicht unter Bezugnahme auf umweltinformationsrechtliche Grundlage Den Gegenstand des Erk des VwGH vom 26. 6. 2019, Ra 2017/04/0130, bildete ein Antrag von Anrainern einer gewerblichen Betriebsanlage (Seveso-III-Betrieb), der auf Gewährung der Akteneinsicht hinsichtlich des Sicherheitskonzeptes der Betriebsanlage (§ 84e GewO 1994)66 gerichtet war. Der Antrag bzw die anschließende Beschwerde wurden von der Behörde bzw vom LVwG wegen mangelnder Parteistellung als unzulässig zurück- bzw unbegründet abgewiesen. Der daraufhin angerufene VwGH folgte den Vorinstanzen jedoch nicht und judizierte, dass die Voraussetzungen für die Mitteilung der beantragten Information, nämlich des Inhalts des Sicherheitskonzepts, nach den Bestimmungen des UIG vorgelegen seien. Vor dem Hintergrund, dass eine Umweltinformation auch durch Einsichtnahme gewährt werden könne,67 habe auch nicht geschadet, dass das Begehren auf Ermöglichung der Akteneinsicht (allerdings nur in Bezug auf das Sicherheitskonzept) gelautet hatte. Das in der Literatur gezogene Fazit aus diesem Erk, wonach die „falsche Bezeichnung“ im Antrag als „Akteneinsicht“ für die Mitteilung der begehrten Umweltinformation nicht schade („falsa demonstratia non nocet“),68 wirft für die Verwaltungspraxis durchaus einige Fragen auf. Im Umkehrschluss müsste nämlich daraus gefolgt werden, dass grundsätzlich jedes Begehren auf Akteneinsicht, das von einer Person gestellt wird, der keine Parteistellung zukommt, von Seiten der Behörde zusätzlich dahingehend geprüft werden müsste, ob damit eine Umweltinformation oder generell eine Auskunft begehrt wird. Dies wäre jedoch meines Erachtens eine zu weitgehende Interpretation des gegenständlich behandelten Erk. Vielmehr muss wohl aus dem verfahrenseinleitenden Antrag zumindest ansatzweise hervorgehen, dass er auf eine Umweltinformation abzielt. So hebt der VwGH in seinem Erk vom 26. 6. 2019 ausdrücklich hervor, dass sich die informationssuchenden Anrainer in ihrem Antrag unter anderem auf die RL 2003/4/EG berufen haben, und kommt am Ende zum Ergebnis, dass „die Voraussetzungen für einen durchsetzbaren Rechtsanspruch [...] nach den Bestimmungen des UIG vorliegen“. Wenngleich das Begehren nicht ausdrücklich auf die Mitteilung einer Umweltinformation, sondern auf Akteneinsicht gerichtet war, ergibt sich somit bereits aus der Nennung einer

63 Vgl hierzu die Ablehnungsgründe in § 6 Abs 2 UIG. 64 VwGH, 2010/03/0035 (FN 46); vgl auch LVwG Tir 3. 7. 2018, LVwG-2018/ 44/1074-2. 65 LVwG Sbg 23. 5. 2019, 405-2/169/1/2-2019.

66 Gewerbeordnung 1994 – GewO 1994, BGBl 194/1994 idF BGBl I 65/2020. 67 Siehe etwa auch VwGH 8. 4. 2014, 2012/05/0061. 68 Blecha, Anmerkung zu VwGH 26. 6. 2019, Ra 2017/04/0130, RdU 2020, 169 (170).

3.

Abgrenzung in der Praxis: Antrag auf Akteneinsicht versus Antrag auf Mitteilung einer Umweltinformation

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umweltinformationsrechtlichen Grundlage – in diesem Fall der RL, auf welche die nationalen Rechtsgrundlagen zurückzuführen sind – in ausreichendem Maß, dass umweltrelevante Informationen begehrt werden.69 Allerdings wäre es wohl zu formalistisch, aus diesem Ergebnis abzuleiten, dass die Anführung von entsprechenden Rechtsgrundlagen eine notwendige Voraussetzung für einen Antrag nach UIG darstellt. Letzten Endes muss auch ausreichen, dass für die Behörde auf Basis des Antrags in einer anderen Form ein Begehren auf Umweltinformation erkennbar ist, was anhand der folgenden beiden Beispiele veranschaulicht wird. Ob ein Begehren auf Akteneinsicht lautet, erweist sich dann als nebensächlich bzw handelt es sich vielmehr um eine Frage der Form der Informationsmitteilung.70 Fallkonstellation 2: Antrag auf Akteneinsicht ohne Bezugnahme auf umweltinformationsrechtliche Grundlage Der Ansicht, dass weder eine umweltinformationsrechtliche Grundlage noch ein erkennbares Begehren auf Umweltinformation vorausgesetzt wird, dürfte das LVwG Sbg sein: Unter Berufung auf die vorgenannte Judikatur des VwGH hat es in einem Erk aus dem Jahr 2019 den Antrag auf Akteneinsicht eines Grundstückseigentümers, dem gemäß § 50 Abs 4 AWG 200271 keine Parteistellung zukam, als Antrag nach UIG quasi „umgedeutet“.72 Konkret hatte der Grundstückseigentümer „Akteneinsicht“ in den ursprünglichen Genehmigungsbescheid einer im vereinfachten Verfahren genehmigten Behandlungsanlage beantragt. Dem Sachverhalt lässt sich kein Hinweis darauf entnehmen, dass der Antragsteller eine Umweltinformation begehrt bzw sich auf eine entsprechende umweltinformationsrechtliche Grundlage berufen hätte. Dementsprechend wurde auch hier der Antrag mangels Parteistellung von der Behörde zurückgewiesen. In weiterer Folge argumentierte das LVwG Sbg jedoch dahingehend, die Behörde habe verkannt, dass dem Beschwerdeführer unabhängig von einer Parteistellung im abfallwirtschaftsrechtlichen Verfahren ein Rechtsanspruch auf die beantragte Einsicht nach dem UIG zukomme, weshalb es der Beschwerde des Antragstellers gegen den zurückweisenden Bescheid stattgab. Es mag zwar grundsätzlich unstrittig sein, dass ein Genehmigungsbescheid nach dem AWG 2002 Umweltinformationen enthält. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob die Umdeutung eines Antrags auf Akteneinsicht zu einem Informationsbegehren zulässig ist bzw ob die Behörde letzten Endes sogar dazu verpflichtet gewesen wäre, zu erkennen, dass dem Begehren auf Akteneinsicht durch Mitteilung einer Umweltinformation Rechnung zu tragen sei. Beides ist meines Erachtens aus folgenden Grün-

69 Ein Verweis auf Art 4 der bzw die Aarhus-Konvention an sich müsste meines Erachtens wohl ebenso als ausreichend angesehen werden, weil die RL 2003/4/EG der Umsetzung von Art 4 Aarhus-Konvention dient (vgl ErwG [5] der RL 2003/4/EG). 70 Siehe hierzu unten III.D.2. 71 Abfallwirtschaftsgesetz 2002 – AWG 2002, BGBl I 102/2002 idF BGBl I 8/2021. 72 LVwG Sbg 17. 12. 2019, 405-2/206/1/2-2019.

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den zu verneinen: Im Erk vom 1. 9. 2020, 2009/17/0153, hat der VwGH ausgeführt, „dass eine Entscheidung über ein Auskunftsbegehren nach dem Auskunftspflichtgesetz eine andere ‚Sache‘ darstellt, als eine solche über ein Begehren auf Akteneinsicht“. Im konkreten Fall hatte die Beschwerdeführerin von der Behörde, der Finanzmarktaufsicht, die Herausgabe bestimmter Daten bzw Informationen, allerdings ohne Angabe einer Rechtsgrundlage, somit auch nicht des Auskunftspflichtgesetzes, begehrt. In der anschließenden Beschwerde gegen den zurückweisenden Bescheid der Behörde wurden sowohl eine Verletzung im Recht auf Akteneinsicht als auch eine im Recht auf Erteilung einer Auskunft geltend gemacht. Der VwGH hielt unter anderem dazu fest, dass das von der belangten Behörde zurückgewiesene Begehren nicht als ein Begehren auf Erteilung einer Auskunft nach dem Auskunftspflichtgesetz zu deuten sei. Zum einen hatten sich die Beschwerdeführer nicht auf das Auskunftspflichtgesetz gestützt und zum anderen hatten sie ihr spezifisches Interesse an der Kenntnis der betreffenden Daten im Hinblick auf ihre Parteistellung in einem Verwaltungsstrafverfahren hervorgehoben. Nichts anderes kann für das dem Erk des LVwG Sbg zu Grunde gelegene Begehren auf Akteneinsicht gelten. Zu verweisen ist dabei außerdem auf die vorangehend dargelegte Abgrenzung zwischen Auskunftspflicht, Mitteilung einer Umweltinformation und Akteneinsicht.73 Wenngleich das Recht auf Mitteilung einer Umweltinformation umfangreichere Möglichkeiten bietet als die Auskunftspflicht, kann es dennoch nicht mit dem Recht auf Akteneinsicht gleichgesetzt werden. Es handelt sich um unterschiedliche „Sachen“, die dementsprechend in dem das Informationsverfahren einleitenden Antrag klar darzulegen sind.74 Es besteht schließlich laut Rsp weder eine Befugnis noch eine Pflicht der Behörde, „von der Partei tatsächlich nicht erstattete Erklärungen aus der Erwägung als erstattet zu fingieren, dass der Kontext des Parteienvorbringens die Erstattung der nicht erstatteten Erklärung nach behördlicher Beurteilung als notwendig, ratsam oder empfehlenswert erscheinen lässt“.75 Zusammengefasst ist meines Erachtens ein deutlich erkennbarer Antrag auf Akteneinsicht ohne (formelle) Anführung einer umweltinformationsrechtlichen Grundlage oder, wie nachfolgend gezeigt wird, sonstiger (inhaltlicher) Ausführungen, aus denen hervorgeht, dass konkret eine Umweltinformation begehrt wird, nicht ausreichend für einen Rechtsanspruch auf Mitteilung einer Umweltinformation bzw wäre es zu weitgehend, von der Behörde in einem derartigen Fall zu verlangen, den An-

73 Vgl die ständige Judikatur des VwGH, wonach die Auskunftspflicht nach dem Auskunftspflichtgesetz nicht geeignet ist, eine Akteneinsicht durchzusetzen (mwN VwGH 9. 9. 2015, 2013/04/0021). 74 Ähnlich wohl auch VwGH 30. 5. 2017, Ra 2017/07/0034: Der VwGH ist darin der Ansicht des LVwG nicht entgegengetreten, wonach mit dem Antrag auf Zustellung eines Teilkollaudierungsbescheides nach dem WRG 1959 (Wasserrechtsgesetz 1959 – WRG 1959, BGBl 215/1959 idF BGBl I 73/2018) kein Anspruch auf Umweltinformation geltend gemacht worden sei. Auch hier stand die Frage der Parteistellung (in Bezug auf einen Teilkollaudierungsbescheid) im Vordergrund. 75 VwGH 13. 9. 2016, Ro 2016/03/0016, mit Verweis auf VwGH 24. 9. 2014, 2011/13/0082.

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trag als solchen nach UIG umzudeuten. Im Hinblick auf das Verfahren vor dem VwG ergibt sich außerdem Folgendes: Wenngleich eine Bindung des VwG an ein Beschwerdevorbringen grundsätzlich nicht besteht,76 hat das LVwG Sbg im dargestellten Fall durch die Umdeutung des verfahrenseinleitenden Antrags, der auf die Akteneinsicht iSv § 17 AVG abgezielt hat und zu Recht wegen mangelnder Parteistellung zurückgewiesen wurde, seinen Prüfungsumfang überschritten, dessen äußerster Rahmen die Sache des bekämpften Bescheids, somit der Inhalt des Spruchs bildet.77 Sache des Verfahrens war im gegenständlichen Verfahren ausschließlich ein Antrag auf Akteneinsicht und die damit verbundene Frage der Parteistellung. Fallkonstellation 3: (Bloße) Anfrage auf Information zu einem umweltrelevanten Thema Die dritte und in der Praxis wohl am schwierigsten zu handhabende Situation bildet jene, in welcher von einer Person ohne Parteistellung eine Anfrage auf Information zu einem bestimmten Verfahren gestellt wird und die angefragte Information ein offensichtlich umweltrelevantes Thema betrifft, jedoch keine Berufung auf Umweltinformationsrecht oder ein ausdrücklicher Hinweis dahingehend erfolgt, dass die Mitteilung einer Umweltinformation begehrt wird. Dies wäre etwa, um ein Beispiel aus der Praxis aufzugreifen, der Fall, wenn eine Person, ohne je eine Parteistellung in dem betreffenden Verfahren innegehabt zu haben, wissen möchte, ob beim Betrieb eines rechtmäßig bewilligten Wasserkraftwerks das vorgeschriebene Pflicht-/Dotierwasser eingehalten wird, und diese Anfrage unter Umständen ohne Kenntnis über das UIG stellt. Von der vorangehenden Fallkonstellation 2 unterscheidet sich dieser Fall dadurch, dass der Gegenstand bzw vielmehr die Grundlage des Anbringens für den einzelnen Sachbearbeiter zunächst nicht klar ersichtlich ist, während ein Antrag auf Akteneinsicht deutlich auf § 17 AVG grundgelegt ist und auf die Frage der Innehabung einer Parteistellung abzielt. Nach den allgemeinen Vorgaben des AVG, die, worauf nachfolgend zurückzukommen ist, großteils auch im „Informationserteilungsverfahren“ anzuwenden sind, bzw nach der dazu ergangenen Rsp des VwGH ist bei der Beurteilung von Parteienanbringen grundsätzlich der Inhalt des Anbringens, das erkennbare oder zu erschließende Ziel des Parteischrittes entscheidend. Den Maßstab dafür bildet der objektive Erklärungswert. Liegt ein aus inhaltlicher Sicht unklares oder nicht genügend bestimmtes Anbringen vor, hat die Behörde von Amts wegen den Gegenstand des Anbringens zu ermitteln.78 Umgelegt auf die gegenständliche Fallkonstellation bedeutet dies meines Erachtens, dass von einem Antrag nach UIG wohl auch dann auszugehen sein dürfte, wenn sich aus diesem ein

76 Vgl etwa VwGH 23. 2. 2018, Ro 2017/03/0025. 77 Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren2 § 27 VwGVG Rz 8 (Stand 1. 10. 2018, rdb.at). 78 Vgl etwa VwGH 27. 7. 2017, Ra 2015/07/0109; 6. 11. 2006, 2006/09/0094; 30. 5. 2001, 97/21/0144. Siehe auch Kolonovits/Muzak/Stöger (FN 28) Rz 152.

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Informationsbegehren ableiten lässt, das inhaltlich79 mit einer Umweltrelevanz in Zusammenhang steht.80 Bei der Fallkonstellation 3 dürfte diese Voraussetzung bereits gegeben sein. Zu beachten ist dabei auch die Judikatur des VwGH, wonach eine richtlinienkonforme Auslegung des UIG ergibt, dass Umweltinformationen so umfassend wie möglich öffentlich zugänglich zu machen sind und die Bekanntgabe von Informationen die allgemeine Regel sein sollte.81 In Zweifelsfällen ist vor diesem Hintergrund wohl eher von einem rechtswirksamen Antrag auf Mitteilung einer Umweltinformation auszugehen. Letzten Endes handelt es sich jedoch um eine ausgesprochen einzelfallabhängige Beurteilung. Kritischer wird die Bewertung jedenfalls immer dann, wenn der Antrag einen Bezug zu behaupteten Parteirechten wie in den Fallkonstellationen 1 und 2 aufweist. In einem solchen Fall ist die Beantwortung der Frage entscheidend, ob der Antrag rein auf eine Akteneinsichtnahme und damit auf eine behauptete Parteistellung oder (auch) auf ein Informationsbegehren abzielt. Ist ausschließlich Ersteres der Fall, kann nicht gleichzeitig ein taugliches Informationsbegehren in den Antrag hineininterpretiert werden. Geht es hingegen aus inhaltlicher Sicht ausreichend erkennbar um eine Umweltinformation und nicht nur formal um die Parteistellung,82 wird von einem tauglichen Antrag nach dem Umweltinformationsrecht auszugehen sein. Doch auch hier gilt, dass es sich letzten Endes um ausgesprochen einzelfallabhängige Beurteilungen handelt, die auf einer theoretischen Ebene schwer zu kategorisieren sind. Einfacher ist die Beurteilung jedenfalls dann, wenn eine umweltinformationsrechtliche Grundlage angeführt oder das Begehren ausdrücklich als solches auf Mittteilung einer Umweltinformation betitelt wird. Letzten Endes kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Begehren (einer Partei) gleichzeitig auf Akteneinsicht und Mitteilung einer Umweltinformation gerichtet ist.

b. Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG? Insbesondere von der vorangehend dargestellten Fallkonstellation 3 ausgehend stellt sich außerdem die Frage, ob für die Behörde auf Grund der allgemeinen Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG – die „besondere“ Manuduktionspflicht im UIG bezieht sich, wie dargestellt, nur auf die Verbesserung eines bereits eingebrachten Antrags – die Pflicht besteht, eine (unvertretene) Person dahingehend anzuleiten, einen Antrag auf Mitteilung einer Umweltinformation zu stellen. Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst grundlegend darauf einzugehen, ob das AVG auch im Informationserteilungsver-

79 VwGH, 2012/05/0061 (FN 67). 80 Vgl auch VwGH, 2012/05/0061 (FN 67): „Nun trifft es zwar zu, dass dann, wenn sich aus dem Antrag ein Informationsbegehren ableiten lässt, das unabhängig von einer Umweltrelevanz steht, davon ausgegangen werden kann, dass sich der Antrag nicht auf auskunftspflichtige Umweltinformationen bezieht […]“. 81 VwGH 25. 9. 2019, Ra 2019/05/0078; Ra 2015/10/0113 (FN 50); 29. 5. 2008, 2006/07/0083 (unter Verweis auf die ErwG [9] und [16] der RL 2003/4/EG). 82 VwGH, 2012/05/0061 (FN 67).

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fahren anwendbar ist. Als relevant erweist sich dabei, dass das Informationsbegehren in erster Linie auf einen „nicht normativen Hoheitsakt“ („Realakt“)83 abzielt, nämlich auf die Mitteilung der jeweils begehrten Information. Lediglich im ablehnenden Fall, wenn die begehrte Information gar nicht oder nicht zur Gänze mitgeteilt wird, ist die Erlassung eines Bescheides vorgesehen (§ 8 Abs 1 UIG). Insofern teilen die Umweltinformationsgesetze das Informationsverfahren – wie auch die Auskunftspflichtgesetze das Auskunftsverfahren –84 in zwei Abschnitte: Während der erste Verfahrensabschnitt auf die Mitteilung der jeweiligen Information in Form eines so genannten „Realakts“ abzielt („Informationserteilungsverfahren“), sieht ein (möglicher) zweiter Abschnitt im Falle der Nicht- oder nicht vollständigen Mitteilung der begehrten Information die Zurück- oder Abweisung in Form eines Bescheides vor. Gemäß § 8 Abs 2 UIG gilt als Verfahrensordnung für den Zweiten Abschnitt, die Bescheiderlassung, in der Regel das AVG. Diese Bestimmung ist offensichtlich § 4 Auskunftspflichtgesetz nachgebildet.85 Für den Ersten Abschnitt lässt das UIG jedoch offen, welche Verfahrensordnung anzuwenden ist, bzw enthält es für einzelne Bereiche, etwa betreffend die Form des Informationsbegehrens, eigene verfahrensrechtliche Bestimmungen. Da das Verfahren in den Umweltinformationsgesetzen jenem nach den Auskunftspflichtgesetzen nachgebildet ist,86 kann auf die dazu ergangene Literatur zurückgegriffen werden. Aus dieser geht mehrheitlich hervor, dass das AVG lediglich auf die Bescheiderlassung anwendbar sei, nachdem die Auskunftserteilung nicht in Form eines Bescheides erfolge.87 Dieser Sichtweise treten Hengstschläger/Leeb mit den meines Erachtens besseren Argumenten entgegen, die in gleicher Weise für das Informationserteilungsverfahren nach UIG gelten.88 Sie betonen im Wesentlichen, dass auch bei der Auskunftserteilung behördliche Aufgaben iSd Art II Abs 1 EGVG89 besorgt werden. Die Auskunftserteilung selbst sei zwar keine Willenserklärung, jedoch erfordere diese, „dass das zuständige Organ zum Ergebnis gelangt, die konkrete Auskunft sei nach dem jeweiligen Auskunftspflichtgesetz zu erteilen“. Dabei handle es sich um einen Willensakt im Sinne eines einseitigen und verbindlichen Ausspruchs über die Zulässigkeit der Auskunftserteilung, weshalb das Auskunftserteilungsverfahren ein

83 Vgl zu alldem B. Raschauer, Realakte, schlicht hoheitliches Handeln und Säumnisschutz, in Holoubek/Lang (Hrsg), Rechtsschutz gegen staatliche Untätigkeit (2011) 265 (271 ff ). 84 Hengstschläger/Leeb, Verfahrensrechtliche Fragen der Auskunftspflicht gem Art 20 Abs 4 B-VG unter besonderer Berücksichtigung des APG des Bundes und des OÖ APG, in Hauer (Hrsg), Die Verwaltung zwischen Verschwiegenheit und Transparenz (2003) 32 (37). 85 Ennöckl/Maitz (FN 10) § 8 Rz 5. 86 Vgl etwa ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 16. 87 MwN Hengstschläger/Leeb (FN 84) 37; vgl auch Wieser (FN 19) Art 20/4 B-VG Rz 58. 88 Hengstschläger/Leeb (FN 84) 38 ff. Vgl auch Gerhartl (FN 13) ÖJZ 2020, 14. 89 Einführungsgesetz zu den Verwaltungsverfahrensgesetzen 2008 – EGVG, BGBl I 87/2008 idF BGBl I 61/2018.

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einheitliches behördliches Verfahren nach Art II EGVG darstelle und insofern das AVG anwendbar sei.90 Gerade für das Umweltinformationsverfahren tritt noch ein weiteres wichtiges Argument hinzu: Seit der UIG-Novelle BGBl I 95/2015 bedarf es im UIG keines separaten Antrags auf Bescheiderlassung mehr.91 Ein Informationsbegehren ist somit gleichzeitig als Antrag auf Bescheiderlassung im Verweigerungsfall zu verstehen,92 was noch viel mehr dafür spricht, dass es sich um ein einheitliches, für Behörden iSv Art II EGVG nach AVG zu führendes Verfahren handelt. So ist etwa Bernhard Raschauer unter Bezugnahme auf die im Jahr 1977 einsetzende Judikatur des VwGH davon ausgegangen, dass das AVG in allen Verfahren anwendbar sei, die mit Bescheid enden können, und sei dies nur im negativen Fall. Der negative Bescheid sei eine der beiden Erledigungsvarianten eines einzigen Verfahrens.93 Insgesamt fügen sich die Bestimmungen des AVG auch weitgehend harmonisch in die Umweltinformationsgesetze ein, ergänzen die dortigen Verfahrensbestimmungen oder füllen bestehende Lücken. Nicht einzusehen wäre etwa, warum die Befangenheitsgründe in § 7 AVG nicht auch für das Informationserteilungsverfahren gelten sollten.94 Meines Erachtens ist davon auszugehen, dass auch § 13 Abs 2 zweiter Satz AVG im Informationserteilungsverfahren anwendbar ist, weil § 5 Abs 1 UIG nichts Abweichendes regelt. Ebenso ist davon auszugehen, dass das Recht auf Akteneinsicht im Umweltinformationsverfahren Anwendung findet und somit bei einem entsprechenden Antrag Einsichtnahme in den das Informationsverfahren betreffenden Akt gewährt werden muss. Informationspflichtige Stellen, die keine Behörden iSd Art II EGVG sind, haben demgegenüber im Informationserteilungsverfahren auf die allgemeinen Grundsätze eines rechtsstaatlichen Verwaltungsverfahrens zurückzugreifen.95 Auf der Basis der vorangehenden Überlegungen erweist sich jedenfalls auch § 13a AVG im Informationserteilungsverfahren als anwendbar. Die Bestimmung dürfte jedoch keine ausreichende Grundlage dafür bieten, einen (unvertretenen) Informationssuchenden, der keinen entsprechenden Antrag stellt, zu seinem Ziel, nämlich die Informationsbekanntgabe, durch einen Hinweis auf die Möglichkeit, einen Antrag nach UIG zu stellen, hinzuleiten. Zwar ist die Behörde auf der Grundlage von § 13a AVG dazu verpflichtet, die zur Vornahme von Verfahrenshandlungen nötigen Anleitungen zu geben, jedoch bezieht sich diese Pflicht nicht auf die Sache selbst. Die Manuduktionspflicht umfasst so-

90 Ein weiteres Argument von Hengstschläger/Leeb für diese Sichtweise, dessen Behandlung jedoch den Rahmen des gegenständlichen Beitrags überschreiten würde, zielt darauf ab, dass durch Art 20 Abs 4 B-VG keine ausschließliche Zuständigkeit zur Regelung des Auskunftsverfahrens geschaffen wurde, welche die Bedarfskompetenz nach Art 11 Abs 2 B-VG verdrängt hätte (Hengstschläger/Leeb [FN 84] 41 ff ). Generell aM zur Anwendung des AVG im Mitteilungsverfahren Huemer/Stilgenbauer (FN 43) 97. 91 Anders § 4 Auskunftsplichtgesetz. 92 ErläutRV 696 BlgNR 25. GP 3. 93 B. Raschauer (FN 83) 273 f. 94 Vgl Hengstschläger/Leeb (FN 84) 43. 95 Hengstschläger/Leeb (FN 84) 44.

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ZfV 4/2021 ABHANDLUNGEN mit keine materiellrechtliche Beratung.96 Ebenso lässt sich nicht daraus ableiten, dass die Behörde darzulegen hätte, was zweckmäßigerweise vorgebracht werden könnte oder welche Erfolgsaussichten bestimmte Verfahrensschritte haben,97 wodurch insbesondere in einem Mehrparteienverfahren wiederum der Anschein von Parteilichkeit vermieden werden soll.98

4.

Ergebnis zu den Antragserfordernissen

Um den Bogen zum eigentlichen Thema, der in einem Vergleich des Umweltinformationsrechts zur Akteneinsicht liegt, zu spannen, lässt sich in Bezug auf den Themenkomplex „Antragserfordernisse“ zusammenfassend festhalten, dass die jeweiligen formellen Voraussetzungen für ein Verlangen auf Akteneinsicht bzw ein Begehren auf Mitteilung einer Umweltinformation nicht besonders umfangreich sind. Hinsichtlich der inhaltlichen Antragserfordernisse ist der Gegenstand der Akteneinsicht mit dem Bezug auf den gesamten Akteninhalt eines bestimmten Verwaltungsverfahrens im Vergleich zu jenem des Umweltinformationsanspruchs wesentlich klarer umrissen.99 Dementsprechend muss im UIG der Gegenstand von Seiten des Informationssuchenden vorab ausreichend klar definiert werden, was im Einzelfall durchaus zu Schwierigkeiten führen kann bzw vor dem Hintergrund, dass der subjektive Kenntnisstand des Antragstellers eine Rolle spielt, für die informationspflichtige Stelle nicht leicht zu beurteilen ist. Der Auftrag zur schriftlichen Präzisierung sowie die darauf bezogene Pflicht zur Unterstützung („besondere Manuduktionspflicht“), die jedoch keine unbegrenzte ist, können hier Abhilfe schaffen. Demgegenüber lässt sich aus dem Recht auf Akteneinsicht neben der allgemeinem Manuduktion nach § 13a AVG keine derartige Unterstützungspflicht von Seiten der Behörde ableiten. Einen weiteren bedeutenden Aspekt bildet im Bereich des Umweltinformationsrechts die Frage, ab wann von einem gültigen Antrag nach dem UIG ausgegangen werden kann. Hier ergeben sich in der Praxis zur Akteneinsicht insofern erhebliche Schnittstellen, als es mitunter vorkommt, dass Anträge auf Akteneinsicht gestellt werden, denen jedoch in Wahrheit ein Informationsbegehren des Antragstellers (ohne Parteistellung) zu Grunde liegen kann. Der Umgang mit derartigen Anträgen ist kein einfacher und sehr einzelfallabhängig. Als wesentlich erweist sich meines Erachtens jedoch, dass auf der Basis des objektiven Erklärungswerts100 zumindest ein Begehren erkennbar sein muss, das auf eine umweltrelevante Information gerichtet ist. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang auch der allgemeine Grundsatz, wonach Umweltinformationen so umfassend wie möglich zugänglich zu machen sind. Jedoch eröffnet dabei die allgemeine Manuduktionspflicht gemäß § 13a AVG keinen Raum für eine materielle Anleitung des

96 97 98

MwN Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 13a Rz 6. Lehofer (FN 8) 421. ErläutRV 160 BlgNR 15. GP 6. Vgl auch Davy, Zur Rechtbelehrung im Verwaltungsverfahren (§ 13a AVG), ÖGZ 1983, 58 (59), sowie oben die Ausführungen zu § 43 Abs 3 BDG 1979. 99 Siehe hierzu nachfolgend C. 100 Vgl auch VwGH 31. 1. 2018, Ra 2016/10/0121.

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Informationssuchenden dahingehend, ihm die Einbringung eines Antrags nach Umweltinformationsrecht zu empfehlen.

C.

Gegenstände

1.

Grundlegender Vergleich

Der Gegenstand des Rechts auf Akteneinsicht ist relativ klar umrissen: Es bezieht sich auf alle Aktenbestandteile, welche die Sache der Partei betreffen. Umfasst sind nicht nur Schriftstücke, sondern sämtliche (geschriebenen, gedruckten oder elektronisch gespeicherten) Texte, Zeichnungen, Pläne, Fotografien, Filme oder sonstige Gegenstände, die von der Behörde in Bezug auf ein bestimmtes Verwaltungsverfahren verwahrt werden, kurzum alles, was die Behörde zum Zweck der Beweissicherung anlegt.101 Während bei der Akteneinsicht der Bezug einer Information zu einem bestimmten Verfahren ausschlaggebend ist, steht im Umweltinformationsrecht die Frage, was unter den Umweltinformationsbegriff des § 2 UIG fällt, im Vordergrund. Die im UIG vorgenommene Definition des Gegenstands ähnelt zunächst insofern jener der Akteneinsicht, als einleitend festgelegt wird, dass es sich dabei um sämtliche Informationen in schriftlicher, visueller, akustischer, elektronischer oder sonstiger materieller Form über nachfolgend abschließend aufgezählte Kategorien, die etwa Zustände, Faktoren oder Maßnahmen umfassen, handelt. Die Art der Speicherung, schriftlich oder elektronisch, erweist sich als nicht relevant.102 Auf der Grundlage von § 4 Abs 1 UIG kommt jedoch ein nicht unbedeutender Aspekt hinzu: Die begehrte Umweltinformation muss bei der informationspflichtigen Stelle vorhanden sein oder für sie bereitgehalten werden. Die Gesetzesmaterialien103 halten dazu fest, dass für den letzteren Fall ein Übermittlungsanspruch der Behörde vorausgesetzt wird. Es sollen dadurch Auftragsverhältnisse zwischen informationspflichtigen Stellen und natürlichen oder juristischen Personen, die selbst nicht informationspflichtige Stellen sind, erfasst sein. Dementsprechend kann die bei einer informationspflichtigen Stelle für eine andere informationspflichtige Stelle aufbewahrte Information nur von der aufbewahrenden Stelle begehrt werden. Der Anspruch auf eine bereitgehaltene Information ist folglich nur ein subsidiärer, der dann greift, wenn die aufbewahrende Stelle selbst nicht informationspflichtig ist.104 Vor diesem Hintergrund ergibt sich eine – vor allem im Vergleich zur Akteneinsicht – wohl vielfach unterschätzte Reichweite des Umweltinformationsanspruchs. So gilt eine Information als für eine informationspflichtige Stelle bereitgehalten, wenn etwa ein Anlagenbetreiber gesetzlich dazu verpflichtet ist, innerbetriebliche Aufzeichnungen zu führen, und der Behörde auf ihr Verlangen hin Einsicht zu gewähren hat, wie es beispielsweise bei § 17 Abs 5 AWG 2002 im Hinblick auf Aufzeichnungspflichten für Abfall-

101 102 103 104

Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 5. N. Raschauer (FN 22) 56 f. ErläutRV 641 BlgNR 22. GP 6. N. Raschauer (FN 22) 58.

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besitzer der Fall ist.105 Ein derartiger Übermittlungsanspruch der informationspflichtigen Stelle kann jedoch nicht nur auf der Basis einer gesetzlichen Grundlage bestehen, sondern auch auf einem Verwaltungsakt fußen.106 Dies wäre etwa bei Nebenbestimmungen in einem Bescheid der Fall, welche den Betreiber einer Anlage zur Selbstüberwachung und – auf Verlangen der Behörde – zum Zurverfügungstellen der dabei erhobenen Daten verpflichtet. Auch hier besteht ein Rechtsanspruch der Behörde auf für sie bereitgehaltene Daten, was letzten Endes bedeutet, dass sie über das Umweltinformationsrecht zur Überprüfung der Einhaltung der von ihr vorgeschriebenen Nebenbestimmungen verhalten werden kann. Im Vergleich zur Akteneinsicht eröffnet das Umweltinformationsrecht, auf das sich jedermann berufen kann, in diesem Aspekt einen weit größeren Rahmen an Möglichkeiten. Das Umweltinformationsrecht bezieht sich somit auch auf Daten, die der Behörde nicht unmittelbar vorliegen, während die Akteneinsicht auf den bei der Behörde vorhandenen Akteninhalt abstellt. Eine grundlegende Gegenüberstellung des Gegenstands des Umweltinformationsrechts und der Akteneinsicht führt zu folgendem Ergebnis: Während im einen Fall der Bezug auf ein bestimmtes Verfahren relevant ist, steht im anderen der materiellrechtliche Regelungsgegenstand107 in Form der Umweltinformation im Vordergrund, woraus der elementare Unterschied zwischen dem Verfahrensrecht einerseits und dem Informationsrecht andererseits ersichtlich wird. Die Tatsache, dass es in der praktischen Anwendung zu Überschneidungen kommt, ist meines Erachtens auch auf das weite Verständnis des Umweltinformationsbegriffs bzw der diesen definierenden Kategorien zurückzuführen, worauf in der Folge näher eingegangen wird.

2.

Umweltinformationen sind sämtliche Informationen über …?

a. Weites Verständnis Wie bereits dargelegt, werden die einzelnen Kategorien in § 2 Z 1 bis 6 UIG abschließend aufgelistet.108 Der Umstand, dass es sich dabei um eine taxative Aufzählung handelt, relativiert sich aber vor dem Hintergrund des generell weiten Verständnisses des Umweltinformationsbegriffs und der Tatsache, dass jede Kategorie selbst wiederum eine demonstrative Aufzählung enthält. Auf das weite Verständnis haben bereits die Gesetzesmaterialien zum UIG aus dem Jahr 1993 in Bezug auf den damals verwendeten Begriff der „Umweltdaten“ hingewiesen.109 Mit der Novelle im Jahr 2005 wurden in § 2 UIG die bisherigen „Umweltdaten“ durch die nunmehrigen „Umweltinformationen“ ersetzt, was mit einer zu105 Vgl weiters § 5 Abs 5 AWG 2002, § 84h GewO 1994 oder § 169 Abs 5 Luftfahrtgesetz – LFG, BGBl 253/1957 idF BGBl I 151/2021. Hierzu Ennöckl/ Maitz (FN 10) § 4 Rz 9; N. Raschauer (FN 22) 57 f. 106 Für Deutschland: Reidt/Schiller (FN 4) § 2 UIG Rz 54. 107 Ennöckl/Maitz (FN 10) § 2 Rz 24. 108 Es handelt sich um „Umweltzustandsdaten“ (Z 1), „Umweltfaktoren“ (Z 2), „Umweltmaßnahmen“ (Z 3), „Umweltberichte“ (Z 4), „wirtschaftliche Umweltanalysedaten“ (Z 5) und „Menschliche Gesundheit, Sicherheit und Lebensmittelkontamination“ (Z 6). 109 ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 13.

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sätzlichen Ausweitung bzw – auf Basis der bisherigen Anwendungserfahrungen mit der RL 90/313/EWG in den Mitgliedstaaten –110 mit einer Präzisierung des Begriffsverständnisses einherging.111 Die weite Auslegung des Umweltinformationsbegriffs wird vor allem auch, wie nachfolgend dargestellt, in der Judikatur des VwGH betont.112 Aus dieser lassen sich konkrete Anhaltspunkte zu Informationen ableiten, die jedenfalls zur Verfügung zu stellen sind, wobei sich dennoch in der Praxis eine Fülle an mitunter komplexen Abgrenzungsfragen ergibt, die in der Folge nur zum Teil umrissen werden können. Für das vorliegend zu behandelnde Thema sind insbesondere jene Umweltinformationen von Interesse, die Gegenstand von Verwaltungsverfahren bzw Bestandteil der dazugehörigen Akten sind.

b.

Akteinhalte als Umweltinformationen – Judikaturüberblick Als allgemeiner Grundsatz, der zunächst für jedes Begehren auf Mitteilung einer Umweltinformation gilt, kann die bereits zitierte Judikatur des VwGH angesehen werden, wonach eine richtlinienkonforme Auslegung der RL 2003/4/EG ergibt, dass es notwendig ist, Umweltinformationen so umfassend wie möglich öffentlich zugänglich zu machen bzw zu verbreiten, und dass die Bekanntgabe von Informationen die allgemeine Regel sein soll.113 Zwar betont der VwGH auch, dass damit „kein allgemeines und unbegrenztes Zugangsrecht zu allen bei den Behörden verfügbaren Informationen, die auch nur den geringsten Bezug zu einem Umweltgut aufweisen, vorgesehen“ wird,114 jedoch sind – auf der Grundlage von § 2 Z 3 UIG (Tatbestand „Umweltmaßnahmen“) – Informationen zugänglich zu machen, „wenn sie (u.a.) Tätigkeiten oder Maßnahmen betreffen, die sich auf die maßgeblichen Umweltgüter auswirken oder wahrscheinlich auswirken, also diesbezüglich zumindest beeinträchtigend wirken können“.115 Demnach ist aus Sicht des VwGH bereits die bloße Möglichkeit von Umweltauswirkungen durch eine Maßnahme, worunter auch unterschiedlichste Vorhaben verstanden werden, ausreichend, um Informationen über diese Maßnahme bzw das Vorhaben als Umweltinformation zu qualifizieren.116 Die „Umweltmaßnahmen“ in § 2 Z 3 UIG bildeten somit in der Judikatur bereits mehrfach die maßgebliche Grundlage dafür, dass Akteninhalte als Umweltinformationen zur Verfügung zu stellen waren. So wurden Inhalte verschiedenster Unterlagen, wie Anträge, Projektbeschreibungen, Pläne – dazu gehören auch Lagepläne über die Situierung117 – und Gutachten be-

110 111 112 113 114 115

Bericht der Europäischen Kommission vom 29. 6. 2000 (vgl oben FN 54). ErläutRV 641 BlgNR 22. GP 2. Etwa VwGH, 2006/07/0083 (FN 81); 24. 10. 2012, 2013/07/0081. Vgl oben FN 81. EuGH 12. 6. 2003, Rs C-316/01, Glawischnig, EU:C:2003:343, Rz 25. VwGH, Ra 2019/05/0078 (FN 81). Vgl auch VwGH 30. 3. 2017, Ro 2017/ 07/0004; Ra 2015/10/0113 (FN 50) sowie 2010/03/0035 (FN 46). 116 VwGH 26. 11. 2015, Ra 2015/07/0123. 117 VwGH, Ra 2015/10/0113 (FN 50). Bei derartigen Plänen, die als Projektunterlagen Auskunft über die genaue Lage geben, handelt es sich nicht um „Pläne und Programme“ iSd § 2 Z 3 UIG, sondern um Informationen zu einer „Tätigkeit“ im Sinn dieser Bestimmung (vgl hierzu nachfolgend c.).

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treffend Vorhaben oder Tätigkeiten, die Umweltauswirkungen nach sich ziehen können, als Umweltinformationen im Sinne der jeweils anzuwendenden Umweltinformationsgesetze qualifiziert.118 Als umweltrelevante Vorhaben hat der VwGH etwa projektierte Parkplätze,119 Hubschrauberlandeplätze120 oder die Erweiterung und den Betrieb von Sportanlagen unter anderem durch die Errichtung einer Beschneiungsanlage für Schipisten inklusive Speicherteich121 angesehen und sich insofern in seiner Judikatur vordergründig mit der Einordnung von Akteninhalten befasst, die sich auf konkrete Anlagen- (etwa in Verfahren nach der GewO 1994 oder den Naturschutzgesetzen der Länder) oder Bauvorhaben bezogen haben.122 Ebenso wurden vom VwGH123 Stellungnahmen in einem Verfahren, die geeignet sein können, Einfluss auf die Ausführung eines Projektes und damit auch auf dessen Wirkungen auf die Umwelt zu nehmen, als Umweltinformation qualifiziert, so etwa eine (nicht bindende) Stellungnahme der Behörde iSd § 4 Abs 2 UVP-G 2000.124 Irrelevant ist dabei, ob diese Information objektiven („in objektivierter Form“) oder subjektiven Charakter hat. Insofern können auch Stellungnahmen von Beteiligten in einem laufenden Verfahren als Umweltinformation angesehen werden, wie etwa solche zur Wahrung des Parteiengehörs.125 Anhand dieses Judikaturüberblicks wird erneut das weite Begriffsverständnis deutlich bzw ergibt sich daraus, dass eine Fülle an Akteninhalten Umweltinformationen enthält und insofern nach dem Umweltinformationsrecht des Bundes oder der Länder bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen zur Verfügung zu stellen sind.

c. Abgrenzungsfragen in Bezug auf die Kategorisierung Schwierigkeiten bereitet aus mehrerlei Hinsicht die konkrete Kategorisierung einer Umweltinformation. So können vor dem Hintergrund des weiten Begriffsverständnisses gleichzeitig mehrere Kategorien erfüllt sein: Beispielsweise werden Berichte über die Umsetzung des Umweltrechts nach § 2 Z 4 UIG, worunter insbesondere im Sekundärrecht der EU grundgelegte Berichtspflichten zu verstehen sind, bereits von den in § 2 Z 3 UIG enthaltenen Umweltmaßnahmen erfasst.126 Ebenso ist in diesem Zusammenhang anzuführen, dass Informationen über Maßnahmen nach § 2 Z 3 UIG, wie etwa Stellungnahmen oder Gutachten, vielfach Umweltzustandsdaten gemäß § 2 Z 1 UIG enthalten. Auf Grund der Tatsache, dass manche Umweltzustandsdaten gemäß § 4 Abs 2 UIG so genannte „freie Umweltinformationen“ bilden, auf welche die

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VwGH, Ra 2019/05/0078 (FN 81); Ra 2015/10/0113 (FN 50). VwGH 12. 7. 2000, 2000/04/0064; 15. 6. 2004, 2003/05/0146. VwGH, 2010/03/0035 (FN 46). VwGH, Ra 2015/10/0113 (FN 50). VwGH 25. 10. 2019, Ra 2019/07/0021. VwGH, 2013/07/0081 (F 112); vgl auch VwGH, 2003/05/0146 (FN 119). Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000 – UVP-G 2000, BGBl 697/1993 idF BGBl I 80/2018. 125 VwGH, Ra 2015/07/0123 (FN 116); hier ging es konkret um eine Stellungnahme zur Wahrung des Parteiengehörs in einem Verwaltungsstrafverfahren. 126 Vgl N. Raschauer (FN 22) 59 f.

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Ablehnungsgründe in § 6 Abs 2 UIG127 nicht anzuwenden sind, ist wohl davon auszugehen, dass gerade hier eine genaue Differenzierung zwischen mehreren potentiell anwendbaren Kategorien zu erfolgen hat. Demgegenüber wird in der deutschen Judikatur mitunter keine nähere Unterscheidung vorgenommen,128 was jedoch auch damit zusammenhängen könnte, dass es im dortigen UIG, wie auch in der RL 2003/4/EG, ein den österreichischen „freien Umweltinformationen“ vergleichbares Konstrukt mit einer derart umfassenden absoluten Informationspflicht nicht gibt.129 Ebenso ergeben sich Schwierigkeiten vor dem Hintergrund, dass der VwGH bei der Kategorisierung zuweilen nicht konsistent vorgeht. Während einerseits Vorhaben („Tätigkeiten“), wie etwa die geplante Errichtung einer Anlage, als „Umweltmaßnahme“ und einzelne Unterlagen bzw Aktenbestandteile, die Informationen zu dieser Maßnahme enthalten, zur Gänze oder in Teilen als dazugehörige Umweltinformationen qualifiziert werden, gibt es andererseits auch Judikatur, in welcher der VwGH wiederum darauf abstellt, dass eine Unterlage zu einem Vorhaben/einer Tätigkeit selbst als „Umweltmaßnahme“ im Sinne des UIG anzusehen ist. Die erstere Variante kommt etwa zum Ausdruck, indem der VwGH ausdrücklich Projektunterlagen nicht unter „Pläne und Programme“ iSd § 2 Z 3 UIG (im konkreten Fall des dieser Bestimmung inhaltlich entsprechenden § 8 Z 3 NÖ Auskunftsgesetz)130 subsumiert, sondern vielmehr als Informationen zu einer „Tätigkeit“ im Sinne dieser Bestimmung ansieht.131 Demgegenüber wurde in einem anderen Fall ein Sicherheitskonzept, zu dessen Erstellung der Inhaber einer gewerblichen Betriebsanlage gemäß § 84e GewO 1994 verpflichtet ist, als Umweltmaßnahme qualifiziert,132 was wiederum ein Beispiel für die zweite Variante darstellt. In Bezug auf Aktenbestandteile wird Letztere jedoch, soweit vor allem in Bezug auf die VwGH-Judikatur der jüngeren Vergangenheit ersichtlich, wohl in der Minderzahl der Fälle herangezogen. Hiervon ausgenommen sind jedenfalls Bescheide, die im Sinne der zweiten Variante unter den Tatbestand „Verwaltungsakt“ in § 2 Z 3 UIG subsumiert werden.133 Gäbe es diesen Tatbestand nicht, wäre denkbar, den Bewilligungsbescheid einer umweltrelevanten Anlage als Information über eine „Tätigkeit“ im Sinne der ersten Variante anzusehen.

127 Vgl hierzu unten E. 128 Siehe etwa VG Köln 22. 11. 2007, 13 K 4113/06 = ZUR 2008, 215 Rz 17: „Bei den gutachtlichen Stellungnahmen des Bundesamtes für Naturschutz handelt es sich als Zusammenstellung von Daten über den Zustand von Umweltbestandteilen i.S. von § 2 Abs. 3 Nr. 1 UIG bzw. als Berichte über die Umsetzung des Umweltrechts gem. § 2 Abs. 3 Nr. 4 UIG um Umweltinformationen […]“. 129 Vgl Art 4 Abs 2 der RL 2003/4/EG sowie § 8 Abs 1 deutsches UIG, die jeweils bestimmte Ablehnungsgründe lediglich in Bezug auf Informationen über Emissionen in die Umwelt ausschließen. Zu den „freien Umweltinformationen“ siehe zuletzt VwGH 6. 7. 2021, Ra 2020/07/0065. 130 NÖ Auskunftsgesetz, LGBl 0020-0 idF LGBl 60/2021. 131 VwGH, Ra 2015/10/0113 (FN 50) (vgl hierzu oben FN 117). Siehe etwa auch VwGH, 2010/03/0035 (FN 46), wo Einrichtung und Betrieb eines Hubschrauberlandeplatzes als „Tätigkeit“ iSv § 2 Z 3 UIG qualifiziert wurden. 132 VwGH 26. 6. 2019, Ra 2017/04/0130. 133 So auch Ennöckl/Maitz (FN 10) § 2 Rz 7.

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Bei diesen Kategorisierungen und in der Judikatur nicht immer stringent eingehaltenen Abgrenzungen handelt es sich jedoch um Fragen, die im Großteil der Fälle eher von akademischer Natur sind, zumal für das Endergebnis eines Begehrens auf Mitteilung einer Umweltinformation meist entscheidend ist, ob die Behörde zum Schluss kommt, dass eine Umweltinformation Gegenstand dieses Begehrens ist.

d. Was ist nun die Umweltinformation? Im Hinblick auf das gegenständliche Thema bildet einen viel wichtigeren Aspekt, der allerdings weniger mit den einzelnen Kategorien in § 2 UIG zusammenhängt, die Frage, ob einzelne Unterlagen zur Gänze oder lediglich im Hinblick auf die umweltrelevanten Teile als Umweltinformationen zur Verfügung zu stellen sind. Der VwGH134 hat diesbezüglich in einem Erk aus dem Jahr 2016 zwischen Unterlagen, die per se Umweltinformationen sind, sowie Dokumenten (Aktenbestandteilen), die Umweltinformationen enthalten, differenziert, wobei sich daraus keine näheren Anhaltspunkte ergeben, unter welchen Voraussetzungen vom einen oder vom anderen Fall auszugehen ist. Wiederum handelt es sich wohl um eine einzelfallabhängige Beurteilung anhand des konkreten Begehrens. Der Unterschied, ob etwa gesammelte Projektunterlagen, Gutachten oder Stellungnahmen zur Gänze oder lediglich im Hinblick auf die jeweils darin enthaltenen „umweltrelevanten Bestandteile“135 zur Verfügung zu stellen sind, ist jedoch gerade für das vorliegende Thema ein eklatanter. Nicht zuletzt hat dies auch Auswirkungen auf die Frage, in welcher Form die begehrte Umweltinformation mitzuteilen ist. So kann sich etwa, wenn nicht ein gesamter Aktenbestandteil zur Verfügung zu stellen ist, die Mitteilung in Form einer schriftlichen Auskunftserteilung iSd § 5 Abs 4 UIG als zweckmäßiger gegenüber der Übermittlung eines beispielsweise an mehreren nicht umweltrelevanten Stellen „geschwärzten“ Dokuments erweisen.136 Diese Möglichkeit besteht allerdings nicht, wenn ein Dokument zur Gänze als Umweltinformation qualifiziert wird und somit uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen ist, was in der Folge in Bezug auf umweltrelevante Bescheide veranschaulicht wird. e. Anwendungsfall: Bescheide als Umweltinformationen Eine für die Praxis bedeutende Frage bildet jene, ob bzw inwieweit Bescheide oder deren Inhalt als Umweltinformationen mitzuteilen sind. So hat etwa das LVwG Stmk ausgesprochen, dass baurechtliche Genehmigungsbescheide „mit Sicherheit“ Umweltmaßnahmen iSd § 2 Z 3 UIG darstellen.137 Da sich im konkreten Fall die belangte Behörde jedoch nicht mit den Verweigerungstatbeständen auseinandergesetzt, sondern vielmehr das Informationsbegehren abgewiesen hatte, wurde der entsprechende Bescheid behoben. In der Literatur wurde auf der Basis 134 VwGH 25. 5. 2016, Ra 2015/10/0104. 135 Vgl VwGH, Ra 2015/10/0113 (FN 50). 136 VwGH, Ra 2015/10/0104 (FN 134). Siehe zu Schwärzungen – allerdings in Bezug auf Mitteilungsschranken – auch VwGH 24. 5. 2018, Ra 2018/ 07/0346, sowie Ra 2019/05/0078 (FN 81). 137 LVwG Stmk 30. 1. 2015, LVwG 41.1-239/2015.

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dieses Erk – meines Erachtens fälschlicherweise – die Schlussfolgerung gezogen, dass Baubescheide generell als Umweltinformationen zur Verfügung zu stellen seien.138 In einem anderen Fall hat auch das LVwG NÖ judiziert, dass sämtliche zu einem Grundstück vorhandenen Baubescheide Umweltinformationen darstellen würden und als solche zu übermitteln seien.139 Es trifft zwar jedenfalls zu, dass Bescheide, die sich auf die in den § 2 Z 1 und 2 UIG genannten Umweltbestandteile und -faktoren auswirken, als „Verwaltungsakte“ Umweltmaßnahmen iSd § 2 Z 3 UIG darstellen und dementsprechend Umweltinformationen enthalten,140 dennoch kann der pauschalen Qualifizierung eines Bescheides als Umweltinformation aus folgenden Gründen nicht gefolgt werden: Im bereits angesprochenen Erk des VwGH vom 25. Mai 2016, Ra 2015/10/0104, hat der VwGH vor dem Hintergrund von Art 4 Abs 1 Aarhus-Konvention141 betont, dass so genannte „eigentliche Unterlagen“ nicht selbst als Umweltinformationen anzusehen seien, sondern nur solche Informationen enthielten. Zu den „eigentlichen Unterlagen“ würden bei umweltrelevanten Maßnahmen etwa Bewilligungsbescheide zählen. Gleiches könne für den einleitenden Antrag samt Antragsunterlagen oder für von der Behörde eingeholte Sachverständigengutachten gelten. Bei diesen Unterlagen handle es sich nicht per se um Umweltinformationen, sondern um Dokumente (Aktenbestandteile), die Umweltinformationen enthalten.142 Diese Ausführungen des VwGH führen meines Erachtens zu einem wesentlich differenzierteren bzw sachnäheren Ergebnis und entsprechen im Hinblick auf Bescheide als „Verwaltungsakte“ bzw „Umweltmaßnahmen“ dem Gesetzeswortlaut in § 2 UIG, wonach Umweltinformationen (sämtliche) Informationen über (unter anderem) Umweltmaßnahmen (§ 2 Z 3 UIG) sind. Eine Interpretation dahingehend, dass Umweltmaßnahmen gleichzeitig zur Gänze Umweltinformationen darstellen würden, lässt sich daraus gerade nicht ableiten. Der Verweis im einleitenden Satz von § 2 UIG auf „sämtliche“ Informationen, die zur Verfügung zu stellen sind, ändert daran nichts. Gemeint sind schließlich sämtliche Informationen mit Umweltbezug – im Falle der Z 3 Maßnahmen mit Auswirkungen auf Umweltbestandteile oder -faktoren.143

138 D. Neger/T. Neger, Baubescheide sind Umweltinformationen! Verwaltungsgerichtliche Judikatur bestätigt die Herausgabepflicht von Baubescheiden aufgrund eines Umweltinformationsbegehrens, bbl 2015, 114 (114 ff). 139 LVwG NÖ 22. 10. 2018, LVwG-AV-130/001-2018. 140 In VwGH, Ro 2017/07/0004 (FN 115) wurden jedoch Anerkennungsbescheide gemäß § 19 Abs 7 UVP-G nicht als Umweltmaßnahme iSv § 2 Z 3 UIG angesehen. 141 BGBl III 88/2005 idF BGBl III 58/2014. 142 So auch VwGH, 2000/04/0064 (FN 119): „Sie [gemeint: Bescheide zur Bewilligung von Betriebsanlagen oder Änderungen von Betriebsanlagen] enthalten daher in aller Regel Umweltinformationen im Sinn des § 2 UIG.“ Vgl auch VwGH, Ra 2019/05/0078 (FN 81): „Die Übermittlung von Unterlagen, wie Bescheiden und Plänen, scheidet daher aus, wenn diese solche anderen bzw. weiteren Informationen [gemeint: Informationen, bei denen es sich nicht um Umweltinformationen handelt] enthalten und es nicht aus besonderen Gründen im Einzelfall erforderlich ist, diese Übermittlung vorzunehmen, um dem Informationsanspruch zu entsprechen.“ 143 So Reidt/Schiller (FN 4) § 2 UIG Rz 31, zur Wortfolge „alle Daten“ an der inhaltlich selben Stelle in § 2 Abs 3 deutsches UIG. Vgl auch Götze/Engel, Umweltinformationsgesetz. Kommentar (2017) § 2 Rz 97.

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Als Problem erweist sich in diesem Zusammenhang, dass in der Praxis vielfach keine präzisen Einordnungen vorgenommen werden,144 was bereits bei den Erläuterungen zur Stammfassung des UIG beginnt:145 Einerseits werden darin Bescheide pauschal als „Umweltdaten“ (nunmehr „Umweltinformationen“) bezeichnet, andererseits – so die Ausführungen auf derselben Seite – seien sie jedoch gleichzeitig unter den in der damaligen Z 4 des § 2 (nunmehr in Z 3) enthaltenen Begriff „Verwaltungsakt“ zu subsumieren. Dies führt zu folgendem Zwischenergebnis: Ein Bescheid kann meines Erachtens grundsätzlich nicht (zur Gänze) als Umweltinformation begehrt werden. Es ist vielmehr in einem Begehren auf Mitteilung einer Umweltinformation konkret darzulegen, welche Umweltinformation beantragt wird. Diese Information kann wiederum Gegenstand eines Bescheides sein. Insofern spielt der Umfang des Begehrens eine wesentliche Rolle. Dasselbe kann auch für weitere Aktenbestandteile, wie etwa Projektunterlagen, Anträge, Stellungnahmen oder Gutachten gelten, wobei diese innerhalb der Z 3 von § 2 UIG, im Unterschied zu Bescheiden als „Verwaltungsakte“, in der Judikatur des VwGH überwiegend als Informationen über „Tätigkeiten“ qualifiziert werden. Somit können Pläne und Projektunterlagen zwar Umweltinformationen beinhalten, sie müssen jedoch nicht zur Gänze Umweltinformationen darstellen. Ebenso weist der VwGH in seinem Erk vom 25. Mai 2016, Ra 2015/10/0104, darauf hin, dass ein Begehren auf Ausfolgung der Kopie eines Bescheides eine Frage der Form der Informationserteilung iSd § 5 Abs 4 UIG sei. Dies ist insofern zutreffend, als sowohl aus der RL 2003/4/EG als auch aus der Aarhus-Konvention hervorgeht, dass nicht nur die Zugangsart, beispielsweise durch elektronische Übermittlung oder Einsichtnahme, sondern auch ein bestimmtes Format (etwa als Kopie)146 begehrt werden kann. Insofern wäre eine Pflicht der Behörde denkbar, dass sie Kopien von Bescheiden zur Verfügung zu stellen hat. Jedoch gilt auch hier: Maßgeblich ist, welche Umweltinformation konkret beantragt wurde. Darauf aufbauend stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang sich die Übermittlung einer Bescheidkopie iSv § 5 Abs 4 erster Satz UIG als zweckmäßig erweist. Auf dieser Grundlage kann beispielsweise der Informationserteilung in Form eines Schreibens gegenüber der Übermittlung von Kopien – unter Unkenntlichmachung der nicht vom Informationsbegehren umfassten Passagen – der Vorzug zu geben sein.147 Insofern können auf der Basis von § 5 Abs 4 UIG auch Zweckmäßigkeitsüberlegungen bei der Frage der Übermittlung von Bescheiden eine Rolle spielen. Die Rsp in Deutschland geht im Bereich der „Umweltmaßnahmen“ von einer umfassenden Informationspflicht aus. Dabei werden – im Vergleich zu den vorangehend getroffenen Ausführungen sowie der Judikatur des VwGH relativ undifferenziert – sämtliche mit Tätigkeiten oder Maßnahmen in einem Zusam144 Siehe zB das Erk LVwG Bgld 22. 8. 2016, E 044/02/2016.001/013, in welchem Genehmigungsbescheide als Umweltmaßnamen und damit gleichzeitig als Umweltinformationen qualifiziert werden. 145 ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 13. 146 Vgl Art 3 Abs 4 der RL 2003/4/EG und Art 4 Abs 1 Aarhus-Konvention. 147 So VwGH, Ra 2015/10/0104 (FN 134).

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menhang stehende Angaben als Umweltinformationen angesehen.148 Dazu hat das deutsche Bundesverwaltungsgericht etwa erkannt, dass es nicht der Feststellung der Umweltinformationseigenschaft für jede einzelne Angabe in einem Bescheid bedarf,149 was in der Literatur jedoch nicht unkritisch gesehen wird. Götze/Engel betrachten diesen weiten Ansatz in der Rsp als erhebliche Beschränkung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung150 der Betroffenen.151

3.

Zusammenfassung und Abgrenzung zur Akteneinsicht

Zusammengefasst ergibt sich, dass vor dem Hintergrund des weiten Verständnisses des Umweltinformationsbegriffs insbesondere auf der Grundlage von § 2 Z 3 UIG unterschiedlichste Aktenbestandteile Umweltinformationen enthalten können. Hinsichtlich der Kategorisierung ergeben sich zum Teil komplexe Abgrenzungsfragen. Wesentlich ist jedoch, dass die jeweils beantragten Unterlagen (zum Beispiel Bescheide, Anträge, Gutachten oder Stellungnahmen) nicht zwingend Umweltinformationen darstellen, sondern vielmehr auf der Basis des jeweiligen Begehrens zu prüfen ist, inwieweit diese Unterlagen als Umweltmaßnahmen oder Informationen über Umweltmaßnahmen Umweltinformationen enthalten und in einem dementsprechenden Umfang zur Verfügung zu stellen sind, wobei auch der Form der Informationserteilung maßgebliche Bedeutung zukommt. Dieses Ergebnis grenzt das Umweltinformationsrecht deutlich von der Akteneinsicht ab. Zwar kann freilich nicht ausgeschlossen werden, dass, auch abhängig vom Umfang des Informationsbegehrens, einzelne Akteninhalte, wie etwa Gutachten, zur Gänze zur Verfügung zu stellen sind, was wiederum dem Recht auf Akteneinsicht sehr nahe kommt. Dennoch ist in jedem Einzelfall konkret zu beurteilen, ob und inwieweit eine Umweltinformation begehrt wird, in einem Dokument vorhanden und in weiterer Folge mitzuteilen ist. Einer derartigen mitunter sehr komplexen materiellen Beurteilung bedarf es im Falle der Gewährung von Akteneinsicht nicht.

D.

Umfang der Akteneinsicht und Formen der Informationsbekanntgabe

1.

Umfang der Akteneinsicht

Zentrales Element der Akteneinsicht ist die Einsichtnahme (in erster Linie) vor Ort. Die in § 17 Abs 1 erster Satz AVG grundgelegten subjektiven Rechte von Parteien umfassen jedoch darüber hinaus auch das Anfertigen von Abschriften sowie das Erstellen von Kopien oder Ausdrucken auf eigene Kosten. Wird ein

148 Götze/Engel (FN 143) § 2 Rz 97. 149 BVerwG 24. 9. 2009, 7 C 2.09; BVerwGE 135, 34 Rz 32; BVerwG 23. 2. 2017, 7 C 31.15 = NVwZ 2017, 1775 Rz 55; zitiert nach Reidt/Schiller (FN 4) § 2 UIG Rz 31. 150 Hierzu etwa Gerhold/Richter, Verfassungsrechtliche Grundlagen in Deutschland: Informationelle Selbstbestimmung, in Lachmayer/ von Lewinski (Hrsg), Datenschutz im Rechtsvergleich (2019) 15 ff. 151 Götze/Engel (FN 143) § 2 Rz 97.

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noch Zugriff über das Internet gewährt, ist zudem § 3 E-GovG159 zu beachten. Darüber hinaus stellt sich vor dem Hintergrund, dass die Gesetzesmaterialien zum Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007 lediglich Beispiele zu technisch möglichen Formen anführen, die Frage, ob auch die Akteneinsicht per E-Mail als technisch mögliche Form denkbar wäre. Dies ist grundsätzlich zu bejahen, auch die Akteneinsicht per E-Mail stellt eine technisch mögliche Form iSd § 17 Abs 1 zweiter Satz AVG dar.160 Jedoch bekräftigt gerade dieses Beispiel, dass der zweite Satz den Parteien kein subjektives Recht einräumt: Vor dem Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007 wurde in der Literatur betont, dass sich die Akteneinsicht stets nur auf das (elektronische) Original bezieht.161 Die Behörde war daher nicht verpflichtet, Kopien von Aktenbestandteilen oder des gesamten Akts zu übersenden, was der VwGH auch nach dem Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007 mehrheitlich so judiziert hat.162 Vor diesem Hintergrund kann § 17 Abs 1 zweiter Satz AVG schon kein subjektives Recht auf Übersendung per Post,163 Telefax oder E-Mail enthalten.164 Insofern besteht keinesfalls ein Anspruch einer Partei auf eine derartige Übersendung von Akten(bestandteilen), auch nicht bei einem vollelektronisch geführten Akt. Gleiches gilt für die Übersendung von Akten(teilen) oder Kopien an eine andere Behörde (etwa in der Nähe des Wohnsitzes der Partei).165 Das Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007 hat diesbezüglich keine Änderung gebracht.

Akt ausschließlich elektronisch geführt, ist die Behörde schon auf der Grundlage des ersten Satzes verpflichtet, den Parteien über entsprechende Geräte (Bildschirme) an Ort und Stelle (arg: „bei der Behörde“) Einsicht zu gewähren.152 Nach dem zweiten Satz kann die Behörde, soweit sie die eine Sache betreffenden Akten elektronisch führt – was bedeutet, dass § 17 Abs 1 AVG eine (voll-)elektronische Aktenführung gerade nicht anordnet (arg: „soweit“)153 –, der Partei auf Verlangen die Akteneinsicht in jeder technisch möglichen Form gewähren. Mit der ursprünglichen Version dieses zweiten Satzes, der mit dem Verwaltungsreformgesetz 2001154 Eingang in § 17 Abs 1 AVG gefunden hat, wurde zunächst die Möglichkeit geschaffen, Akteneinsicht in Form einer elektronischen Ferneinsicht zu gestatten.155 Mit dem Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007 erhielt die Bestimmung die heute noch gültige Fassung. Die Gesetzesmaterialien führen nicht mehr nur die elektronische Ferneinsicht insbesondere über das Internet an, sondern auch die Übermittlung von Datenträgern (wohl im Hinblick auf umfassendere Projektunterlagen).156 Auch vor dem Hintergrund, dass es sich dabei ausdrücklich um Beispiele handelt, kann man wohl davon ausgehen, dass durch Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007 eine gewisse Erweiterung der Möglichkeiten zur elektronischen Akteneinsichtnahme vorgenommen wurde. Obwohl der zweite Satz als „Kann-Bestimmung“ ausgestaltet ist, wird in der Literatur157 davon ausgegangen, dass ein subjektives Recht der Partei auf Einsichtnahme in den elektronischen Akt in der von ihr verlangten Form dann besteht, wenn die entsprechenden technischen Voraussetzungen bei der Behörde tatsächlich vorhanden sind. Diese Auslegung deckt sich jedoch meines Erachtens nicht mit dem Wortlaut der Bestimmung (arg: „kann der Partei [...] gewährt werden“ im zweiten Satz gegenüber „können die Parteien [...] Einsicht nehmen“ im ersten Satz, der dementsprechend ein subjektives Recht enthält) und kann auch sonst nicht aus den Gesetzesmaterialien, die ebenfalls in erster Linie auf das „Können“ von Seiten der Behörde abstellen,158 abgeleitet werden. Letztere führen auch lediglich an, dass es unzulässig wäre, eine Partei, die den elektronischen Akt bei der Behörde einzusehen wünscht, auf andere technische Formen der Einsichtnahme zu verweisen. Daraus ist meines Erachtens lediglich abzuleiten, dass der Einsichtnahme vor Ort nach dem ersten Satz der Vorzug zu geben ist. Wird den-

Im Umweltinformationsrecht ist demgegenüber primär entscheidend, was im Einzelfall vom Informationssuchenden verlangt wird. Diesem Begehren ist so weit wie möglich Rechnung zu tragen, ein Abweichen davon nur möglich, wenn es sich als zweckmäßig erweist. Die Beurteilung der Zweckmäßigkeit hat sowohl aus Sicht der Behörde als auch aus Sicht des Informationssuchenden zu erfolgen.166 So kann einerseits ein deutlich höherer Verwaltungsaufwand einen entsprechenden Grund für eine andere Form der Informationserteilung bilden,167 andererseits jedoch auch die Erleichterung des Zugangs zur begehrten Information aus Sicht des Antragstellers.168 In seinem Erk vom 25. Mai 2016, Ra 2015/10/0104, erachtete der VwGH etwa die schriftliche

152 Neudorfer/Steiner, Verwaltungsverfahrensrecht, in Felten et al (Hrsg), Digitale Transformation im Wirtschafts- & Steuerrecht (2019) 129 (140). 153 Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 7. Vgl auch ErläutRV 772 BlgNR 21. GP 40: „Es besteht jedoch keine Verpflichtung der Behörde, Akten vollelektronisch zu führen und eine elektronische Einsicht zu gestatten.“ 154 BGBl I 65/2002. 155 ErläutRV 772 BlgNR 21. GP 40. Hierzu auch Eberhard, e-Verwaltungsverfahrensrecht, JRP 2002, 110 (114 f). 156 ErläutRV 294 BlgNR 23. GP 14 f. 157 Etwa Neudorfer/Steiner (FN 152) 140 und Schulev-Steindl (FN 28) Rz 142. 158 Vgl demgegenüber den Wortlaut in § 9 Abs 1 UVP-G, wonach auf Verlangen Einsicht in einer technisch geeigneten Form zu gewähren ist.

159 E-Government-Gesetz – E-GovG, BGBl I 10/2004 idF BGBl I 169/2020. 160 So auch in Bezug auf § 9 Abs 1 UVP-G 2000 Altenburger/Berger, UVP-G. Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz Kommentar2 (2010) § 9 Rz 11. 161 Lehofer (FN 8) 418. 162 VwGH 15. 12. 2011, 2011/10/0012; 10. 2. 2014, Ro 2014/10/0007; vgl allerdings VwGH 14. 11. 2012, 2012/12/0036. 163 VwGH 20. 11. 1986, 86/02/0091. 164 So Lehofer (FN 8) 418 (allerdings vor dem Verwaltungsverfahrens- und Zustellrechtsänderungsgesetz 2007 veröffentlicht). 165 Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 7. 166 Ennöckl/Maitz (FN 10) § 5 Rz 7. AM N. Raschauer (FN 22) 54, der ausschließlich auf die Sicht des Antragstellers abstellt. 167 Zum deutschen UIG Reidt/Schiller (FN 4) § 3 UIG Rz 17. 168 N. Raschauer (FN 22) 54.

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2.

Formen der Informationserteilung im Umweltinformationsrecht

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Beantwortung von ausdrücklich gestellten Fragen gegenüber der begehrten Übermittlung von Kopien von Aktenbestandteilen, die noch dazu an einzelnen Passagen unkenntlich gemacht werden hätten müssen, als zweckmäßiger.169 Ein Abgehen von der begehrten Form ist jedenfalls mit einer Begründung zu versehen und es darf dadurch auch nicht zu einer Minderung des Informationswerts170 oder einer Erschwerung des Zugangs kommen. Letzterem hat das LVwG Tir dadurch Rechnung getragen, indem es darauf hingewiesen hat, dass der Verweis des informationssuchenden Beschwerdeführers auf die Einsichtnahme in das Wasserbuch vor Ort insofern keine gleichwertige Alternative darstelle, als die Entfernung zwischen dem Sitz der Beschwerdeführerin und dem Ort, an welchem sich die begehrten Informationen befinden, zu groß sei (hier: Hin- und Rückreise hätten ca einen Tag beansprucht).171 Hinzu kommt, was auch im hier skizzierten Fall vor dem LVwG Tir eine Rolle gespielt hat, dass gemäß § 5 Abs 4 UIG der elektronischen Datenübermittlung nach Maßgabe der vorhandenen Mittel der Vorzug zu geben ist. Als wichtigste Mittel sind dabei der E-Mail-Verkehr bzw das Internet anzusehen.172 Art 3 Abs 4 lit b der RL 2003/4/EG verpflichtet in diesem Zusammenhang die Behörden zu einem Bemühen in angemessener Weise „darum, dass die bei ihnen vorhandenen oder für sie bereitgehaltenen Umweltinformationen in unmittelbar reproduzierbaren und über Computer-Telekommunikationsnetze oder andere elektronische Mittel zugänglichen Formen oder Formaten vorliegen“. Aus dieser Bestimmung hat das LVwG Tir abgeleitet, dass die informationspflichtige Stelle zumindest versuchen müsse, digitale Pläne, wenn diese als Umweltinformationen begehrt werden und lediglich in Papierform vorliegen, bei der Stelle, die den Plan angefertigt hat, zu beschaffen bzw wäre aus Sicht des LVwG Tir alternativ dazu – in sehr weiter (meines Erachtens etwas zu weiter) Auslegung der Bemühungspflicht – auch die Ablichtung der Pläne mittels Fotoapparat zumutbar. In der Praxis stehen im Bereich des Umweltinformationsrechts somit verschiedenste Mitteilungsformen offen. Dabei sind insbesondere die schriftliche und mündliche Auskunftserteilung sowie – vor allem für das gegenständliche Thema von Interesse – die Einsichtnahme relevant.173 Letztere kann jedoch grundsätzlich nicht auf einen gesamten Akt abzielen, sondern immer nur auf die konkret begehrte Information. In Bezug auf diese kann es allerdings geboten sein, dass die informationspflichtige Stelle einzelne Aktenbestandteile zur Einsichtnahme vor Ort zur Verfü-

169 Vgl auch oben bei FN 147. 170 Ennöckl/Maitz (FN 10) § 5 Rz 7. 171 LVwG Tir 21. 3. 2017, LVwG-2016/15/2877-4 (vgl in weiterer Folge VwGH 3. 10. 2017, Ro 2017/07/0019). Zur Übermittlung von Aktenbestandteilen in elektronischer Form siehe auch LVwG Bgld 22. 8. 2016, E 044/ 02/2016.001/013. 172 Vgl zum deutschen UIG Reidt/Schiller (FN 4) § 7 UIG Rz 5. 173 AM Ennöckl/Maitz (FN 10) § 2 Rz 4, wo ausgeführt wird, dass das UIG nicht das Recht auf Einsicht in bestimmte Dokumente oder in Verfahrensakte gewähre. Dem steht allerdings die Rsp des VwGH entgegen: „Wie sich aus § 5 Abs. 4 UIG ergibt, kann die Umweltinformation auch durch Einsichtnahme gewährt werden“ (VwGH, Ra 2017/04/0130 [FN 132]; ebenso VwGH, 2012/05/0061 [FN 67] und 2003/05/0146 [FN 119]).

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gung stellt. Wie auch bei der Akteneinsicht besteht kein Anspruch auf Überlassung der Aktenbestandteile an den Informationssuchenden. Etwas anderes gilt für das Anfertigen und Übersenden von Fotokopien durch die informationspflichtige Stelle, was grundsätzlich vor dem Hintergrund, dass Art 4 Abs 3 RL 2003/4/ EG ausdrücklich die Kopie als Format anführt, im Umweltinformationsrecht geboten sein kann, während die Akteneinsicht Derartiges eben nicht ermöglicht.174 Die informationspflichtige Stelle ist somit hinsichtlich der Form der Informationserteilung primär an das Begehren gebunden. Sie hat allerdings unter dem Zweckmäßigkeitsgesichtspunkt auch einen gewissen Ermessensspielraum. Im Hinblick auf die inhaltliche Aufbereitung tritt § 5 Abs 3 UIG hinzu, der festlegt, dass die Umweltinformationen „in möglichst aktueller, exakter, vergleichbarer und allgemein verständlicher Form mitzuteilen“ sind („Grundsatz der Verwertbarkeit“).175 Die Gesetzesmaterialien176 zur Stammfassung des UIG führen hierzu aus, dass „je nach Sachlage eine Interpretation allgemein unbekannter Fachtermini oder Codierungen bzw. Abkürzungen erfolgen“ sollte. Bei der Übermittlung von Messdaten seien etwa auch Grenz- und Richtwerte anzuführen, um die Vergleichbarkeit sicherzustellen.177 Im Bereich der Akteneinsicht sind demgegenüber keine näheren Unterstützungspflichten von Seiten der Behörde vorgesehen. Die Parteien haben etwa keinen Anspruch darauf, den Akt oder die Art der Aktenführung erklärt zu erhalten oder ein Inhaltsverzeichnis eines umfangreicheren Aktes zur Verfügung gestellt zu bekommen, was jedoch insofern nicht zu beanstanden ist, als in einem Verwaltungsverfahren das Recht auf Parteiengehör hinzutritt.178 Dieses gewährleistet unter anderem, dass einer Partei – ohne, wie im Falle der Akteneinsicht, ein diesbezügliches Begehren an die Behörde richten zu müssen – die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens dargelegt werden, wodurch ebenfalls eine (wesentliche) Informationsfunktion im Verfahren erfüllt wird.179

3.

Gegenüberstellung

Anhand der vorangehenden Analyse wird ersichtlich, dass das Umweltinformationsrecht in Bezug auf die Form der Informationsbekanntgabe deutlich umfassendere Möglichkeiten eröffnet, dies allerdings – im Vergleich zur Akteneinsicht eingeschränkt – nur hinsichtlich der begehrten Umweltinformationen und nicht pauschal auf einen gesamten Akt bezogen.180 Insofern kann man sich im Rahmen des Zugangs zu Umweltinformationen auch nicht einen derart umfassenden Überblick über einen Verfahrensakt verschaffen, wie es bei der Akteneinsichtnahme der Fall ist. Das Umweltinformationsrecht gestaltet somit den allge-

174 175 176 177 178 179 180

N. Raschauer (FN 22) 55. N. Raschauer (FN 22) 55 f. ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 16. Ennöckl/Maitz (FN 10) § 5 Rz 6. Lehofer (FN 8) 419. Vgl Lehofer (FN 8) 422 ff. So auch N. Raschauer/Riesz, Umweltinformationsrecht, in Pürgy (Hrsg), Das Recht der Länder II/2 (2012) 97 (114).

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meinen Zugang zu Umweltinformationen näher aus, während das umfassende Recht auf Akteneinsicht iSd § 17 AVG grundsätzlich nur den Parteien eines Verfahrens zusteht.181

4.

Exkurs: Kosten für Ausdrucke und Kopien

Während im Falle der Akteneinsicht Ausdrucke und Kopien von Akten(teilen) auf Kosten der Parteien erstellt werden, sieht die Mehrzahl der umweltinformationsrechtlichen Grundlagen (des Bundes und der Länder) vor, dass Kostenersätze182 für die Bereitstellung von Umweltinformationen durch die Bundes- bzw jeweilige Landesregierung in einer angemessenen Höhe per Verordnung festgelegt werden können.183 Soweit ersichtlich, wurden in diesen Fällen jedoch keine entsprechenden Verordnungen, die eine Voraussetzung für die Einhebung von Kostenersätzen bilden,184 erlassen, was bedeutet, dass den Informationssuchenden keine Kostenersätze für die Bereitstellung von Umweltinformationen etwa in Form von Kopien oder Ausdrucken in Rechnung gestellt werden dürfen.185 Ausnahmen bilden die jeweiligen Regelungen in Niederösterreich, Salzburg und Vorarlberg,186 die es der informationspflichtigen Stelle offenlassen, angemessene Kostenersätze festzulegen. Diese sind ortsüblich bekannt zu machen, zum Beispiel durch Anschlag bei der informationspflichtigen Stelle oder durch Veröffentlichung im Internet,187 bzw nach dem Sbg UUIG188 in einem Verzeichnis zu veröffentlichen. Das NÖ Auskunftsgesetz189 sowie das Vbg Landes-UIG190 legen zudem fest, dass sich der Kostenersatz an den durchschnittlichen Kosten zu orientieren hat, die durch die Bereitstellung im Einzelfall entstehen. Unabhängig davon, ob der eine (Verordnung der Bundesoder Landesregierung) oder der andere Fall (Festlegung durch die informationspflichtige Stelle) vorliegt, sind die Kostenersätze in einem angemessenen Rahmen im Vorhinein zu definieren. Ist dies nicht erfolgt, können behördenseitig keine Kostenersätze von den Informationssuchenden eingehoben werden, während

181 N. Raschauer/Riesz (FN 180) 117; Ennöckl (FN 37) 837. 182 Ein Rahmen für die Festlegung von Kostenersätzen ergibt sich aus EuGH 9. 9. 1999, Rs C-217/97, Kommission/Deutschland, EU:C:1999:395; vgl auch Ennöckl/Maitz (FN 10) § 5 Rz 9. 183 § 5 Abs 5 UIG; § 19 Abs 5 Burgenländisches IPPC-Anlagen-, SEVESO IIIBetriebe- und Umweltinformationsgesetz – Bgld. ISUG, LGBl 8/2007 idF LGBl 26/2021; § 10 Kärntner Informations- und Statistikgesetz – K-ISG, LGBl 70/2005 idF LGBl 50/2019; § 16 Abs 5 Oö. Umweltschutzgesetz 1996 – Oö. USchG, LGBl 84/1996 idF LGBl 96/2019; § 5 Abs 5 Steiermärkisches Umweltinformationsgesetz – StUIG, LGBl 65/2005 idF LGBl 61/2017; § 5 Abs 6 Tiroler Umweltinformationsgesetz 2005 – TUIG 2005, LGBl 89/2005 idF LGBl 138/2019; § 5 Abs 5 Wiener Umweltinformationsgesetz – Wr. UIG, LGBl 15/2001 idF LGBl 62/2018. 184 So auch die Erläuternden Bemerkungen zum Entwurf eines TUIG 2005, GZ 306/5, 14. GP 22. 185 Ennöckl/Maitz (FN 10) § 5 Rz 9. 186 § 11 Abs 5 NÖ Auskunftsgesetz; § 27 Abs 5 Salzburger Umweltschutz- und Umweltinformationsgesetz – Sbg UUIG, LGBl 95/2005 idF LGBl 33/2021; § 5 Abs 5 Vorarlberger Landes-Umweltinformationsgesetz – Vbg LandesUIG, LGBl 56/2005 idF LGBl 37/2018. 187 Motivenbericht zur Änderung des NÖ Auskunftsgesetzes, GZ Ltg.-707/ A-9-2006, 16. GP 14. 188 Siehe FN 186. 189 Siehe in FN 130. 190 Siehe FN 186.

Schramek, Umweltinformationsrecht und Akteneinsicht

Parteien eines Verfahrens mit Umweltbezug, die im Rahmen der Akteneinsicht Kopien anfertigen, die Kosten selbst zu tragen haben. Dass dieser Umstand einer sachlichen Rechtfertigung entbehrt, liegt auf der Hand. Die Lösung kann jedoch nur darin liegen, für die Erstellung von Kopien im Anwendungsbereich des Umweltinformationsrechts Kostenersätze festzulegen. Demgegenüber wäre eine Ausnahme von der Kostentragung im Rahmen der Akteneinsicht für umweltrelevante Unterlagen wohl weniger praktikabel.

E.

Schranken und Verweigerung

1.

Grundsätzliche Gegenüberstellung

Schranken der Akteneinsicht ergeben sich aus den auf der Grundlage von § 17 Abs 3 AVG ausgenommenen Aktenbestandteilen, „insoweit deren Einsichtnahme eine Schädigung berechtigter Interessen einer Partei oder dritter Personen oder eine Gefährdung der Aufgaben der Behörde herbeiführen oder den Zweck des Verfahrens beeinträchtigen würde“. Das UIG zählt demgegenüber vergleichsweise umfassend Mitteilungsschranken (§ 6 Abs 1 UIG) und Ablehnungsgründe (§ 6 Abs 2 UIG) auf. Letztere sind, wie bereits erwähnt, auf „freie Umweltinformationen“ (§ 4 Abs 2 UIG) nicht anwendbar. Überschneidungen zwischen den beiden Bereichen gibt es dennoch: So kann etwa der Schutz von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen, der gemäß § 6 Abs 2 Z 4 UIG ausdrücklich einen Ablehnungsgrund bildet, ein berechtigtes Interesse iSd § 17 Abs 3 AVG sein.191 Jedoch ist im Falle der Akteneinsicht zu beachten, dass ein Geschäftsgeheimnis ein Beweismittel darstellen könnte, auf das sich die letzten Endes ergangene Entscheidung stützt, und Aktenteile, die den Parteien nicht zugänglich gemacht werden, in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht geeignet sind, als Grundlage von Feststellungen der Behörde zu dienen.192 An diesem Beispiel wird wiederum deutlich, dass es sich im einen Fall um ein fundamentales Verfahrensrecht handelt, und im anderen Fall um ein materiellrechtliches Informationszugangsrecht. Daran sind auch die Schranken der Einsichtnahme bzw des Informationszugangs zu messen.

2.

Interessenabwägungen

In beiden Fällen, ausgenommene Aktenbestandteile auf der einen und Mitteilungsschranken sowie Ablehnungsgründe auf der anderen Seite, ist zudem eine Interessenabwägung durchzuführen. Im Falle der Akteneinsicht wird dies daraus abgeleitet, dass keine unbedingten Ausnahmen in § 17 Abs 3 AVG festgelegt sind (arg: „insoweit“).193 Die Behörde hat dabei das Interesse der Partei an der Akteneinsicht im Hinblick auf deren Zweck gegen das Interesse anderer Parteien oder Dritter bzw der in Betracht kommenden öffentlichen Interessen abzuwägen.194 Im Bereich des Umweltinformationsrechts ist die Durchführung einer Inte-

191 192 193 194

Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 10; VwGH 9. 4. 2013, 2011/04/0207. Lehofer (FN 8) 420. Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 9. Kolonovits/Muzak/Stöger (FN 28) Rz 178 f.

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ressenabwägung ausdrücklich angeordnet, wobei im Sinne weitest möglicher Transparenz eine enge Auslegung der Mitteilungsschranken und Ablehnungsgründe angeordnet wird und im Einzelfall das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe der Umweltinformationen zu berücksichtigen ist. Die Gesetzesmaterialien zur UIG-Novelle BGBl I 6/2005 betonen zwar, dass auch in Bezug auf die Mitteilungsschranken eine Interessenabwägung vorzunehmen ist, womit gewährleistet werden soll, dass die teilweise umfassenden Mitteilungsschranken (und Ablehnungsgründe) nicht zu einer eingeschränkten Mitteilungspflicht für die informationspflichtige Stelle führen.195 Nicht ersichtlich ist jedoch, wie ein aus inhaltlicher Sicht relevantes öffentliches Interesse an der Informationserteilung mit verfahrensrechtlichen Fragen, wie sie sich bei einem missbräuchlichen (§ 6 Abs 1 Z 2 UIG) oder zu allgemein gebliebenen Informationsbegehren (§ 6 Abs 1 Z 3 UIG) stellen, abgewogen werden sollen.

3.

Verweigerung

Von Interesse ist außerdem die Frage der Verweigerung der Akteneinsicht gemäß § 17 AVG bzw der Informationsmitteilung nach UIG. Gegenüber den Parteien eines Verwaltungsverfahrens bildet die Verweigerung der Akteneinsicht eine Verfahrensanordnung, die lediglich mit einem Rechtsmittel gegen den das Verfahren abschließenden Bescheid bekämpft werden kann. Für alle anderen Einsichtwerber, denen gegenüber der Bescheid nicht erlassen wird, hat die Behörde die Akteneinsicht durch selbständigen verfahrensrechtlichen Bescheid zu verweigern,196 um dem Rechtsschutzbedürfnis des Einsichtwerbers Rechnung zu tragen. Dies wäre etwa auch bei einem bereits abgeschlossenen Verfahren der Fall.197 Wie bereits dargestellt, bedarf es seit der UIG-Novelle BGBl I 95/2015 im UIG keines separaten Antrags auf Bescheiderlassung mehr und ist ein Informationsbegehren gleichzeitig als Antrag auf Bescheiderlassung im Verweigerungsfall zu verstehen. Es gibt mehrere Fälle, bei deren Vorliegen iSd § 8 Abs 1 UIG die verlangten Umweltinformationen nicht oder nicht im begehrten Umfang mitgeteilt werden: Zu den bereits angesprochenen Mitteilungsschranken und Ablehnungsgründen tritt hinzu, dass die begehrten Informationen keine Umweltinformationen darstellen. Des Weiteren kann keine Mitteilung erfolgen, wenn die jeweilige Information nicht in irgendeiner materiellen Form bei der Behörde abgelegt ist oder für diese bereitgehalten wird.198 Hinsichtlich des letzteren Punkts ergibt sich – wenngleich nicht ausdrücklich als Verweigerungs- bzw Ablehnungsgrund im UIG angeführt – wie bei den Auskunftspflichtgesetzen des Bundes und der Länder199 bereits aus der Natur der Sache, dass die tat-

195 ErläutRV 641 BlgNR 22. GP 9. So auch die ErläutRV zum Entwurf eines TUIG 2005, GZ 306/5, 14. GP 25. 196 Schulev-Steindl (FN 28) Rz 146. 197 Hengstschläger/Leeb (FN 25) § 17 Rz 14. 198 Vgl N. Raschauer (FN 22) 57. 199 Siehe etwa die Erläuterungen zur Stammfassung des Auskunftspflichtgesetzes, ErläutRV 41 BlgNR 17. GP 4, welche „die tatsächliche Unmöglichkeit der Auskunftserteilung“ als Verweigerungsgrund anführen, bei

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sächliche Unmöglichkeit der Auskunftserteilung, etwa auf Grund der Tatsache, dass die Behörde nicht über die begehrte Information verfügt,200 auch einen den umweltinformationsrechtlichen Grundlagen des Bundes und der Länder immanenten Verweigerungsgrund bildet.201 Über all diese Fälle ist somit bescheidmäßig abzusprechen. Nicht nachvollziehbar sind dabei meines Erachtens Ansichten in der Literatur, wonach Anbringen im Falle der unterlassenen Verbesserung nicht in Form eines Bescheides zurückzuweisen, sondern vielmehr als nicht eingebracht und damit quasi als gegenstandslos anzusehen seien.202 Zwar darf gemäß § 6 Abs 1 UIG die Pflicht zur Mitteilung von Umweltinformationen unterbleiben, wenn unter anderem das Informationsbegehren trotz Verbesserungsauftrag nach § 5 Abs 1 UIG nicht ausreichend klar ist, dies entbindet die Behörde aber nicht davon, iSd § 8 Abs 1 UIG über das ursprüngliche Begehren bescheidmäßig abzusprechen, auch wenn es zu unbestimmt bleibt. Dies ist schon aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bzw den Anforderungen eines effektiven Rechtsschutzes203 jedenfalls geboten. Auch im Bereich der Verweigerung der Akteneinsicht bzw der Informationsmitteilung werden die Besonderheiten eines Verfahrensrechts auf der einen und eines materiellrechtlichen Informationszugangsrechts auf der anderen Seite deutlich: So kann etwa die Verweigerung der Akteneinsicht von einer Partei nicht gesondert angefochten werden, während gegen das Unterlassen der (vollständigen) Mitteilung einer Umweltinformation, worüber ein Bescheid zu erlassen ist, die Erhebung einer Beschwerde (Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG) bzw – wenn kein Bescheid erlassen wird – einer Säumnisbeschwerde (Art 130 Abs 1 Z 3 B-VG) offensteht.204

IV. Zusammenfassende Bewertung Im Rahmen des gegenständlichen Beitrags wurde einem verfahrensrechtlichen Informationsrecht, der Akteneinsicht, ein materiellrechtliches Informationsrecht, nämlich jenes auf Umweltinformation, gegenübergestellt. Aus dem unmittelbaren Vergleich hat sich einerseits ergeben, dass die Instrumente jeweils unterschiedliche Funktionen im Rechtssystem erfüllen, andererseits wurden verschiedenste Spannungsverhältnisse aufgezeigt,

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dessen Vorliegen ein Bescheid zu erlassen ist (§ 4 Auskunftspflichtgesetz). Vgl außerdem VwGH 18. 3. 2015, 2013/10/0239. Vgl zur faktischen Unmöglichkeit der Auskunftserteilung auch Gerhartl (FN 13) ÖJZ 2020, 16. Siehe N. Raschauer (FN 22) 64, allerdings noch zur Rechtslage vor der Novelle BGBl I 95/2015. Huemer/Stilgenbauer (FN 43) 101. Anderer und meines Erachtens richtiger Ansicht Ennöckl/Maitz (FN 10) § 6 Rz 5, wonach die informationspflichtige Stelle im Falle der unterlassenen Verbesserung dazu verpflichtet ist, das Ansuchen zurückzuweisen; ebenso und deutlicher bezogen auf die Rechtslage vor BGBl I 95/2015 mit der Pflicht zur Stellung eines separaten Antrags auf Bescheiderlassung N. Raschauer (FN 22) 53 und 66. Vgl Schulev-Steindl (FN 28) Rz 39. Siehe hierzu auch Madner/Hollaus, Offene Fragen zur Umweltinformationsgesetz-Novelle 2015, in Hochreiter (Hrsg), 15 Jahre Aarhus Konvention (2017) 19 (20 ff ).

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das Umweltinformationsrecht, wenngleich dies, wie eingangs dargestellt, fälschlicherweise in den Gesetzesmaterialien zur Stammfassung des UIG suggeriert wird,205 kein generelles Recht auf Akteneinsicht.206 Ein Spannungsverhältnis besteht zudem im Hinblick auf die Kostentragung bei der Erstellung von Kopien vor Ort. Zu guter Letzt hat der Vergleich der Schranken ergeben, dass, wenngleich es auch hier Überschneidungen gibt, jene im Umweltinformationsrecht weitgehender sind. Doch auch diese Unterschiede können darauf zurückgeführt werden, dass Verfahrensrecht und materielles Informationszugangsrecht miteinander verglichen werden und das Verfahrensrecht umfassende Kenntnis über die Entscheidungsgrundlagen ermöglichen muss. Im Hinblick auf die eingangs aufgeworfene Fragestellung, ob das Umweltinformationsrecht die Akteneinsicht überlagert oder gar das Potenzial besitzt, dieses Parteirecht auf Dauer zu verdrängen, ergibt sich Folgendes: Die vorangehenden Gegenüberstellungen haben gezeigt, dass es durchaus in einzelnen Bereichen zu Überlagerungen kommen kann bzw dass auch Bereiche existieren, in denen das Umweltinformationsrecht sogar wesentlich umfassendere Möglichkeiten einräumt. Daraus ergeben sich durchaus gewisse Spannungsverhältnisse. Je nachdem, wie umfassend das Informationsbegehren ausgestaltet ist, kann die Grenze zwischen Akteneinsicht und Umweltinformationsrecht auch verschwimmen. Entscheidend ist jedoch, dass Gegenstand des Umweltinformationsrechts die Mitteilung von Umweltinformationen ist und nicht die Übermittlung von Aktenbestandteilen. Dies wird in der Praxis bereits bei der Formulierung von Informationsbegehren häufig übersehen. Vor diesem Hintergrund hat die vorliegende Untersuchung gezeigt, dass ein derart fundamentales Parteirecht wie jenes auf Akteneinsichtnahme im Hinblick auf seine Bedeutung in einem Verwaltungsverfahren nicht von einem Informationsrecht verdrängt werden kann. Schon allein die Möglichkeit, sich als Partei mit Hilfe der Akteneinsicht einen umfassenden Überblick über einen Verfahrensakt zu verschaffen sowie genaue Kenntnis vom Verfahrensgang und den Entscheidungsgrundlagen zu erlangen,207 kann das Umweltinformationsrecht in diesem Umfang keinesfalls bieten. 205 ErläutRV 645 BlgNR 18. GP 10. 206 Bidner (FN 20) ecolex 1995, 136 f; N. Raschauer/Riesz (FN 180) 117. 207 Kolonovits/Muzak/Stöger (FN 28) Rz 173.

Der Autor: Dr. Christoph Schramek Amt der Tiroler Landesregierung Abteilung Umweltschutz Eduard-Wallnöfer-Platz 3 A-6020 Innsbruck christoph.schramek@tirol.gv.at lesen.lexisnexis.at/autor/Schramek /Christoph

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welche die Behörden bzw informationspflichtigen Stellen bei der praktischen Anwendung mitunter vor gewisse Herausforderungen stellen können. In Bezug auf den Adressatenkreis wurde eingangs deutlich, dass einem Parteirecht ein „Jedermannsrecht“ gegenübersteht. Das Recht auf Mitteilung einer Umweltinformation wird somit unabhängig von einem subjektiven Interesse an einem Verfahren gewährt. Bei den Antragserfordernissen bestehen jeweils geringe formelle Voraussetzungen, jedoch kommt im Umweltinformationsrecht noch hinzu, dass Inhalt und Umfang der begehrten Umweltinformation deutlich dargelegt werden müssen. Demgegenüber entspricht das Fehlen derartiger inhaltlicher Voraussetzungen bei der Akteneinsicht der Natur eines Verfahrensrechts. Vor dem Hintergrund, dass die Mitteilung einer Umweltinformation auch durch Einsichtnahme möglich ist, können sich zudem bei der Interpretation eines Antrags auf Akteneinsicht komplexe Abgrenzungsfragen für die Behörde ergeben, was anhand von Praxisbeispielen veranschaulicht wurde. Dabei stellt es bei der Fülle an einzelfallabhängigen Beurteilungen eine besondere Herausforderung für die Behörde dar, einheitliche Standards anzuwenden und eine konsistente Linie bei der Informationserteilung zu finden. Während der Gegenstand der Akteneinsicht relativ klar umrissen ist, muss im Falle des Umweltinformationsrechts gesondert ermittelt werden, ob ein Begehren auch tatsächlich auf eine Umweltinformation gerichtet ist. Kurzum, die Akteneinsicht bezieht sich auf den gesamten Akt, das Umweltinformationsrecht auf die Mitteilung einer Umweltinformation. Zwar ist der Umweltinformationsbegriff bewusst sehr weit definiert, umso schwieriger fällt jedoch im Einzelfall die konkrete Kategorisierung. Dass auch Umweltinformationen, die für die informationspflichtige Stelle bereitgehalten werden, begehrt werden können, eröffnet weitreichende Möglichkeiten, welche die Akteneinsicht nicht bieten kann. In Bezug auf Akteninhalte ist zudem die Frage entscheidend, ob sich die begehrte Umweltinformation auf ein gesamtes Dokument („Unterlagen, die per se Umweltinformationen sind“) richtet oder auf Dokumente abzielt, die einzelne Umweltinformationen enthalten. Dies gilt insbesondere auch für die Frage des Zurverfügungstellens von Bescheiden. Auch hier wird wiederum eine deutliche Abgrenzung zur Akteneinsicht sichtbar, bei der sich naturgemäß solch diffizile Fragen nicht stellen. In Bezug auf Einzelinformationen kann das Umweltinformationsrecht für Personen ohne Parteistellung in einem Verfahren allerdings Abhilfe bieten. Im Hinblick auf Umfang und Form der Informationsgewährung eröffnet das Umweltinformationsrecht vor dem Hintergrund der Bindung an das konkrete Verlangen für den Informationssuchenden gegenüber der Akteneinsicht wesentlich umfassendere Möglichkeiten und Ansprüche. So kann die Informationserteilung auch im Wege der Einsichtnahme erfolgen, allerdings nur in Bezug auf die jeweils begehrte Umweltinformation. Die Einsichtnahme in den gesamten Akt ist hingegen ausschließlich Sache des Rechts auf Akteneinsicht. Insofern eröffnet

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Rechtsprechungsbericht: Verfassungsgerichtshof und Unionsgerichte Administrativrechtlich relevante Judikatur im Jahr 2021 » ZfV 2021/59

» Beschwerde wegen Verletzung von Richtlinien für das Einschreiten nach § 89 Sicherheitspolizeigesetz; Richtlinienbeschwerde nach Art 130 Abs 2 Z 1 B-VG; Frist für die Einleitung eines Verfahrens, das dem Beschwerdeverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht vorgeschaltet ist » Anerkennung und Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts; Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung; Gründe für die Verweigerung der Anerkennung und Vollstreckung » Assoziation EWG-Türkei; Stillhalteklausel; Familienzusammenführung minderjähriger Kinder türkischer Arbeitnehmer; Absenkung der Altersgrenze; Vorliegen einer „neuen Beschränkung“; Rechtfertigung » Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines Unionsbürgers; Ehe zwischen einem Unionsbürger und einem Drittstaatsangehörigen; Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts eines Drittstaatsangehörigen, das Opfer von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich seitens seines Ehegatten wurde, im Scheidungsfall; Verpflichtung zum Nachweis ausreichender Existenzmittel; Fehlen einer solchen Verpflichtung im Falle der Scheidung einer Ehe zwischen Drittstaatsangehörigen » Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung internationalen Schutzes; Folgentrag; neue Elemente oder Erkenntnisse; Begriff „Umstände, die bereits vor dem rechtskräftigen Abschluss eines Verfahrens über einen früheren Antrag auf internationalen Schutz existierten“; Verschulden des Antragstellers; Rechtskraft; Wiederaufnahme des Verfahrens » Volljähriger Drittstaatsangehöriger, der auf Grund seiner familiären Bindung zu einem Minderjährigen, dem bereits subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, internationalen Schutz beantragt; Begriff „Familienangehöriger“; für die Beurteilung der Minderjährigkeit maßgeblicher Zeitpunkt » Anerkennung von Berufsqualifikationen; in mehreren Mitgliedstaaten erworbene Berufsqualifikationen; Voraussetzungen für den Erwerb; Fehlen eines Ausbildungsnachweises » Ausgleichsleistungen für Fluggäste bei Annullierung von Flügen; Befreiung von der Ausgleichspflicht; Vorliegen außergewöhnlicher Umstände; Streik der Belegschaft des ausführenden Luftfahrtunternehmens; Streik der Belegschaft einer Tochtergesellschaft aus Solidarität mit der Belegschaft der Muttergesellschaft in einem Konzern » Privatschulen; Verwendungserfordernisse für Lehrkräfte; Verwendungserfordernis des Nachweises einer Sprachkompetenz in der deutschen Sprache auf dem Referenzniveau C 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens; Unterscheidung zwischen Privatschulen; Gleichheitsgrundsatz; Rechtfertigung » Zivildienst; Vollziehung von Verwaltungsangelegenheiten im Bereich des Zivildienstes durch das Heerespersonalamt, eine dem Bundesminister für militärische Angelegenheiten organisatorisch untergeordnete, funktionell Zwecken des Bundesheeres dienende Behörde; Trennung der militärischen und der zivilen Gewalt » Arbeitszeitgestaltung; Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“; Pausenzeit, in welcher der Arbeitnehmer binnen zwei Minuten einsatzbereit sein muss; Vorrang des Unionsrechts » Durch Vertrag oder letztwillige Verfügung begründetes schuldrechtliches Veräußerungs- und Belastungsverbot; Drittwirkung nach Eintragung in das Grundbuch; Ausschluss von Lebensgefährten von dieser Möglichkeit; Gleichheitsgrundsatz; Recht auf Achtung des Familienlebens » Gebot der rückwirkenden Anwendung milderer Strafgesetze; Anwendungsbereich; Verjährungsbestimmungen; Gleichbehandlungsgrundsatz

I. Einleitung 59-1 II. Verfassungsrecht, allgemeines Verwaltungsrecht und Verwaltungsverfahren, Unionsverfassungsrecht 59-2 A. Gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Geldbußen und Geldstrafen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 59-2 B. Beschwerde wegen Verletzung von Richtlinien für das Einschreiten nach § 89 Sicherheitspolizeigesetz 59-3 zfv.lexisnexis.at

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ART.-NR.: 59

III. Besonderes Verwaltungsrecht 59-4 A. Asyl- und Fremdenrecht 59-4 B. Gewerbliches Berufsrecht 59-8 C. Reiserecht 59-9 D. Schulrecht 59-10 E. Zivildienstrecht 59-11 IV. Zivil-, Unternehmens- und Strafrecht, einschließlich des Zivil- und Strafprozessrechtes 59-12 A. Arbeitsrecht 59-12 B. Zivilrecht 59-13 C. Strafrecht 59-14

I.

Einleitung

59-1 Den Gegenstand des vierten und damit letzten Rsp-Berichts des Jahres 2021 bilden bedeutende Erk des VfGH und Urteile der Unionsgerichte aus dem bisher abgelaufenen Jahr. Von den jüngeren Urteilen des EuGH sind zum einen jene vom 2. und 9. 9. 2021 hervorzuheben, die sich mit verschiedenen materiellen und formellen Aspekten des Asyl- und Fremdenrechts auseinandersetzen (siehe 59-4–7), zum anderen das Urteil vom 6. 10. 2021, in dem sich der EuGH ein weiteres Mal mit den Fluggastrechten befassen musste, näherhin mit dem Anspruch auf Ausgleichsleistung im Falle der Annullierung eines Flugs infolge des Streiks des zum betreffenden Luftfahrtkonzern gehörenden Personals (siehe 59-9). Was die jüngeren Entscheidungen des VfGH betrifft, sind zwei Erk vom 17. 6. 2021 herauszustellen, in denen er sich mit der von Bundesverfassung wegen gebotenen Trennung von Heeres- und Zivildienstverwaltung (siehe 59-10) bzw mit dem spezifische Sprachkenntnisse der deutschen Sprache betreffenden Verwendungserfordernis für Lehrkräfte in Privatschulen bestimmter Kategorien zu beschäftigen hatte (siehe 59-11).

II.

Verfassungsrecht, allgemeines Verwaltungsrecht und Verwaltungsverfahren, Unionsverfassungsrecht

A.

Gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung von Geldbußen und Geldstrafen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

59-2 In einem am 6. 10. 20211 ergangenen Urteil hat der EuGH Art 5 Abs 1 RB 2005/214/JI2 ausgelegt. Das Vorabentscheidungsersuchen dazu war an ihn vom Kreisgericht Zalaegerszeg in Ungarn im Rahmen eines vom BH Weiz eingeleiteten Verfahrens über die Anerkennung und Vollstreckung eines Bescheids über eine Geldstrafe in Ungarn, die gegen die ungarische Staatsange-

1 2

EuGH 6. 10. 2021, Rs C-136/20, LU, EU:C:2021:804, Rz 16–23 zum Anlassverfahren. RB 2005/214/JI des Rates v 24. 2. 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen, ABl 2005 L 76/16, idF RB 2009/299/JI des Rates v 26. 2. 2009, ABl 2009 L 81/24.

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hörige LU wegen einer von ihr in Österreich begangenen Verwaltungsübertretung verhängt worden war, herangetragen worden. Das vorlegende Gericht wollte erfahren, ob Art 5 Abs 1 RB 2005/214/JI dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats die Anerkennung und Vollstreckung einer rechtskräftigen Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße verweigern kann, wenn sie der Auffassung ist, dass die in Rede stehende Zuwiderhandlung, wie sie von der Behörde des Entscheidungsmitgliedstaats in der Bescheinigung nach Art 4 des RB eingeordnet und beschrieben wird, zu keiner der Kategorien gehört, für die Art 5 Abs 1 keine Überprüfung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit vorsieht.3 Der EuGH unterstreicht einleitend das Ziel des RB 2005/214/ JI – die Sicherstellung der Vollstreckung von Geldstrafen und Geldbußen in den Mitgliedstaaten durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung ohne eine Harmonisierung der nationalen Strafvorschriften. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung bedeute, dass die Mitgliedstaaten nach Art 6 dieses RB grundsätzlich verpflichtet sind, eine Entscheidung über die Zahlung einer Geldstrafe oder Geldbuße, die gemäß Art 4 des RB übermittelt wurde, ohne jede weitere Formalität anzuerkennen und unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu ihrer Vollstreckung zu treffen. Die Gründe für die Verweigerung der Anerkennung oder Vollstreckung einer solchen Entscheidung seien eng auszulegen. Im Ergebnis sei die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats daher grundsätzlich verpflichtet, die übermittelte Entscheidung anzuerkennen und zu vollstrecken, so der EuGH weiter. Sie könne dies abweichend von der allgemeinen Regel nur verweigern, wenn einer der im RB explizit vorgesehenen Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung vorliegt.4 Zur Einordnung der Zuwiderhandlung, die zu der in Rede stehenden Sanktionsentscheidung geführt hat, hält der EuGH sodann fest, Art 5 Abs 1 RB 2005/214/JI zufolge führten die hier genannten Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten) ohne Überprüfung des Vorliegens der beider-

3 4

EuGH, Rs C-136/20 (FN 1) Rz 24 zu den – zusammengefassten – Vorlagefragen. EuGH, Rs C-136/20 (FN 1) Rz 36–40 mit Verweis auf 5. 12. 2019, Rs C-671/18, Centraal Justitieel Incassobureau, EU:C:2019:1054, Rz 29, 31 und 33; 4. 3. 2020, Rs C-183/18, Bank BGŻ BNP Paribas, EU:C:2020:153, Rz 49; und 10. 1. 2019, Rs C-97/18, ET, EU:C:2019:7, Rz 17.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE seitigen Strafbarkeit zur Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, wenn sie im Entscheidungsstaat strafbar sind und „so wie sie in dessen Recht definiert sind“. Die Behörde des Vollstreckungsstaats sei grundsätzlich an die Beurteilung der in Rede stehenden Zuwiderhandlung durch die Behörde des Entscheidungsstaats gebunden. Dies gelte insbesondere hinsichtlich der Frage, ob diese Zuwiderhandlung unter eine der Kategorien von Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten) fällt, die in Art 5 Abs 1 angeführt sind. Ordnet die Behörde des Entscheidungsstaats eine Zuwiderhandlung als unter eine dieser Kategorien fallend ein und übermittelt sie die Entscheidung, mit der die Zuwiderhandlung geahndet wird, gemäß Art 4, sei die Behörde des Vollstreckungsstaats grundsätzlich verpflichtet, diese Entscheidung anzuerkennen und zu vollstrecken, so der EuGH weiter.5 Diese Schlussfolgerung werde durch den systematischen Zusammenhang, in den sich Art 5 Abs 1 RB 2005/214/JI einfügt, bestätigt. Zum einen seien die Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung in Art 7 Abs 1 des RB ausdrücklich vorgesehen. Zum anderen sei nach Art 7 Abs 3 RB die zuständige Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats in den Fällen des Art 7 Abs 1 verpflichtet, auf geeignete Art und Weise die zuständige Behörde des Entscheidungsstaats zu konsultieren und sie gegebenenfalls um die unverzügliche Übermittlung aller erforderlichen zusätzlichen Informationen zu ersuchen, beschließt sie, die Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung zu verweigern. Eine Auslegung des Art 5 Abs 1 dahin, es sei der Behörde des Vollstreckungsstaats erlaubt, die in Rede stehende Zuwiderhandlung anhand ihres nationalen Rechts selbst einzuordnen, liefe im Übrigen dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und den Anforderungen im Zusammenhang mit dem reibungslosen Funktionieren und der Wirksamkeit des durch diesen RB geschaffenen Systems der Amtshilfe zuwider.6 Der EuGH konstatiert nunmehr, die Behörde des Entscheidungsmitgliedstaats habe auf der Grundlage des § 103 Abs 2 KFG 19677 die im Anlassverfahren in Rede stehende Zuwiderhandlung als eine gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweise iSd Art 5 Abs 1 36. Gedankenstrich RB 2005/214/JI eingeordnet. Es liege kein Anhaltspunkt vor, dass die Bescheinigung nach Art 4 des RB der Entscheidung über die Sanktion des Straßenverkehrsdelikts offensichtlich nicht entspricht. Für den EuGH ist auch nicht ersichtlich, dass der vorliegende Fall zu den in Art 7 Abs 1 des RB vorgesehenen Fällen gehört, in denen die Behörden des Vollstreckungsstaats die Anerkennung und Vollstreckung der Sanktionsentscheidung verweigern können. Diese dürften die Anerkennung und Vollstreckung der ihr übermittelten Sanktionsentscheidung daher nicht verweigern, so der EuGH abschließend.8

5 6 7 8

EuGH, Rs C-136/20 (FN 1) Rz 41 ff. EuGH, Rs C-136/20 (FN 1) Rz 44. Kraftfahrgesetz 1967 – KFG 1967, BGBl 267/1967. EuGH, Rs C-136/20 (FN 1) Rz 47 ff.

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B.

Beschwerde wegen Verletzung von Richtlinien für das Einschreiten nach § 89 Sicherheitspolizeigesetz

59-3 Insoweit mit einer Beschwerde an ein LVwG die Verletzung einer gemäß § 31 festgelegten Richtlinie behauptet wird, hat das LVwG sie gemäß § 89 Abs 1 SPG9 der zur Behandlung einer Aufsichtsbeschwerde in dieser Sache zuständigen Behörde zuzuleiten. Nach § 89 Abs 2 haben Menschen, die in einer binnen sechs Wochen, wenn auch beim LVwG, eingebrachten Aufsichtsbeschwerde behaupten, beim Einschreiten eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes, von dem sie betroffen waren, sei eine gemäß § 31 erlassene Richtlinie verletzt worden, Anspruch darauf, dass ihnen die Dienstaufsichtsbehörde den von ihr schließlich in diesem Punkt als erwiesen angenommenen Sachverhalt mitteilt und sich hierbei zur Frage äußert, ob eine Verletzung vorliegt. Wenn dies dem Interesse des Bf dient, einen Vorfall zur Sprache zu bringen, kann die Dienstaufsichtsbehörde gemäß § 89 Abs 3 eine auf die Behauptung einer Richtlinienverletzung beschränkte Beschwerde zum Anlass nehmen, eine außerhalb der Dienstaufsicht erfolgende Aussprache des Bf mit dem von der Beschwerde betroffenen Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu ermöglichen; von einer Mitteilung nach Abs 2 kann insoweit Abstand genommen werden, als der Bf (nieder)schriftlich erklärt, klaglos gestellt worden zu sein. Jeder, dem gemäß Abs 2 mitgeteilt wurde, dass die Verletzung einer Richtlinie nicht festgestellt worden sei, hat nach § 89 Abs 4 das Recht, binnen 14 Tagen die Entscheidung des LVwG zu verlangen, in dessen Sprengel das Organ eingeschritten ist; dasselbe gilt, wenn eine Mitteilung nach Abs 2 nicht binnen drei Monaten nach Einbringung der Aufsichtsbeschwerde ergeht. Das LVwG hat festzustellen, ob eine Richtlinie verletzt worden ist. Mit Erk vom 24. 6. 202110 hat der VfGH einen auf Aufhebung der Wortfolge „binnen sechs Wochen“ in § 89 Abs 2 SPG gerichteten, zulässigen11 Antrag des VwG Wien iSd Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B-VG als unbegründet abgewiesen. Das VwG Wien hatte das – vom VfGH nicht geteilte – Bedenken, die in § 89 Abs 2 SPG festgelegte sechswöchige Frist zur Erhebung einer Richtlinienbeschwerde weiche von der in § 7 Abs 4 VwGVG12 angeordneten vierwöchigen Beschwerdefrist für Verhaltensbeschwerden ab, ohne dass die Abweichung gemäß Art 136 Abs 2 dritter Satz B-VG zur Regelung des Gegenstandes erforderlich sei.13 Im Gegensatz zum VwG Wien, das davon ausgeht, die sechswöchige Frist in § 89 Abs 2 SPG sei an der Frist für Verhaltensbeschwerden nach § 7 Abs 4 VwGVG zu messen, qualifiziert der VfGH die Richtlinienbeschwerde zwar als eine Verhaltensbeschwerde

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Sicherheitspolizeigesetz – SPG, BGBl 566/1991 idF BGBl I 161/2013. VfGH 24. 6. 2021, G 363/2021, Rz 16. VfGH, G 363/2021 (FN 10) Rz 9 ff zur Zulässigkeit. Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG, BGBl I 33/2013. VfGH, G 363/2021 (FN 10) Rz 5 f zu Anlassverfahren und Antragsvorbringen des VwG Wien.

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nach Art 130 Abs 2 Z 1 B-VG, die Frist des § 89 Abs 2 SPG aber nicht als Frist einer Verhaltensbeschwerde.14 Der VfGH erläutert zunächst, die Richtlinienbeschwerde eröffne dem Betroffenen eine besondere Rechtsschutzmöglichkeit, die Verletzung von gemäß § 31 SPG erlassenen Richtlinien für das Einschreiten der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes in einem zweistufigen Verfahren geltend zu machen. Das Verfahren werde durch eine Beschwerde eingeleitet, die der von einer Richtlinienverletzung Betroffene binnen sechs Wochen alternativ beim LVwG oder direkt bei der Dienstaufsichtsbehörde einzubringen hat. Wird sie beim LVwG eingebracht, habe dieses vorerst die Beschwerde der Dienstaufsichtsbehörde zur weiteren Behandlung als Aufsichtsbeschwerde zuzuleiten; insoweit liege zu diesem Zeitpunkt auch keine Entscheidungspflicht des LVwG15 vor. Die Dienstaufsichtsbehörde müsse sodann spätestens binnen drei Monaten mitteilen, ob ihrer Ansicht nach eine Richtlinienverletzung vorliegt. Gesteht die Dienstaufsichtsbehörde eine Verletzung von Richtlinien zu oder erklärt sich der Betroffene für klaglos gestellt, sei das Verfahren beendet.16 Teilt sie hingegen dem Betroffenen mit, dass keine Verletzung einer Richtlinie festgestellt werden konnte, oder erfolgt innerhalb der Frist von drei Monaten keine Mitteilung, könne der Betroffene (Bf) binnen zwei Wochen (im Falle der Säumnis: unbefristet)17 eine Entscheidung über seine Beschwerde vom LVwG verlangen. Prüfungsgegenstand vor dem LVwG sei allein das Organverhalten, nicht die aufsichtsbehördliche Mitteilung über das Nichtvorliegen einer Richtlinienverletzung.18 Nach Ansicht des VfGH ist das Verfahren über eine Richtlinienbeschwerde demnach so konzipiert, dass das LVwG zunächst nur die Verpflichtung trifft, die bei ihm eingebrachte Beschwerde der zuständigen Aufsichtsbehörde zuzuleiten, eine Zuständigkeit zur Entscheidung über die Richtlinienverletzung komme ihm in diesem Verfahrensstadium nicht zu. Erst ab einem Entscheidungsverlangen nach § 89 Abs 4 SPG treffe es die Pflicht zur Entscheidung, ob das Verhalten des Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes eine Richtlinie verletzt hat. Der VfGH geht davon aus, dass der Sicherheitspolizeigesetzgeber mit der Frist des § 89 Abs 2 SPG es dem Betroffenen (nur) ermöglichen bzw erleichtern wollte, eine Beschwerde über eine Richtlinienverletzung gemeinsam mit einer Beschwerde über die Ausübung unmittelbarer sicherheitsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (§ 88 Abs 1 und 4 SPG) zu verfassen und die Richtlinienbeschwerde unter einem mit der Beschwerde über die Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt beim LVwG einzubringen. Es sei verfassungsrechtlich zulässig, wenn der Gesetzgeber wie hier für ein Verfahren, das dem Verfahren vor dem LVwG vorge-

14 VfGH, G 363/2021 (FN 10) Rz 13. 15 In diesem Sinne Wiederin, Sicherheitspolizeirecht (1998) Rz 748; und VwGH 9. 9. 2003, 2002/01/0517. 16 Vgl Wiederin (FN 15) Rz 753. 17 Nach VwSlg 16.689 A/2005 und Hauer/Keplinger, Sicherheitspolizeigesetz4 (2011) § 89 Anm 13. 18 VfGH, G 363/2021 (FN 10) Rz 14.

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schaltet ist, nicht die Frist für Verhaltensbeschwerden gemäß § 7 Abs 4 VwGVG vorsieht, so der VfGH abschließend.19

III. Besonderes Verwaltungsrecht A.

Asyl- und Fremdenrecht

59-4 Die vom belgischen Rat für Ausländerstreitsachen im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und Belgien wegen der Aufrechterhaltung von dessen Aufenthaltsrecht in Belgien dem EuGH vorgelegte Frage nach der Gültigkeit des Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL20 im Lichte der Art 20 und 21 GRC hat der EuGH mit Urteil vom 2. 9. 202121 beantwortet. Das vorlegende Gericht wollte erfahren, ob der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts von Drittstaatsangehörigen, die Opfer von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich seitens ihres Ehegatten mit Unionsbürgerschaft wurden, im Falle der Scheidung von den Voraussetzungen nach Art 13 Abs 2 UAbs 2 UnionsbürgerRL, insbesondere der Hinlänglichkeit der Existenzmittel, abhängig macht, während Art 15 Abs 3 RL 2003/86/EG22 unter den gleichen Umständen diese Voraussetzungen für die Gewährung eines eigenen Aufenthaltstitels für Drittstaatsangehörige, die Opfer von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich seitens ihres Ehegatten mit ebenfalls Drittstaatsangehörigkeit wurden, nicht aufstellt, unter Verstoß gegen die Art 20 und 21 GRC eine unterschiedliche Behandlung zwischen diesen beiden Gruppen von Drittstaatsangehörigen, die Opfer von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich wurden, zulasten der erstgenannten Gruppe eingeführt hat.23 Zunächst hat der EuGH zu beurteilen, ob die Art 20 und 21 GRC einschlägig sind, wenn geprüft werden soll, ob Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL zu einer Diskriminierung von Drittstaatsangehörigen, die Opfer von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich sind und deren Ehegatte Unionsbürger ist, gegenüber denjenigen führen kann, deren Ehegatte ebenfalls Drittstaatsangehöriger ist. Hinsichtlich Art 21 GRC verweist der EuGH, nachdem die Ungleichbehandlung, die mit Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL eingeführt worden sein soll, auf der Staatsangehörigkeit des Ehegatten beruht, der die Gewalthandlungen im häuslichen Bereich begangen hat, darauf, Art 21 Abs 2 GRC entspreche den Erläuterungen zur GRC zufolge Art 18 Abs 1 AEUV und finde entsprechend dieser Bestimmung Anwendung. Allerdings betreffe Art 18 Abs 1 AEUV in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallende Si19 VfGH, G 363/2021 (FN 10) Rz 15 mit Verweis auf VfSlg 19.986/2015. 20 RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 29. 4. 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ABl 2004 L 158/77, berichtigt mit ABl 2004 L 229/35. 21 EuGH (GK) 2. 9. 2021, Rs C-930/19, X, EU:C:2021:657, Rz 12–20 zum Anlassverfahren. 22 RL 2003/86/EG des Rates v 22. 9. 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl 2003 L 251/12. 23 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 21 und 28 zur Vorlagefrage.

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tuationen, in denen ein Angehöriger eines Mitgliedstaats nur auf Grund seiner Staatsangehörigkeit gegenüber den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats diskriminiert wird, sei aber nicht anwendbar im Falle einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen Angehörigen der Mitgliedstaaten und Drittstaatsangehörigen. Da diese Vertragsbestimmung demnach keine Anwendung im Falle einer etwaigen Ungleichbehandlung zwischen zwei Gruppen von Drittstaatsangehörigen wie den beiden in Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL bzw in Art 15 Abs 3 RL 2003/86/EG genannten Gruppen von Opfern von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich finde, sei Art 21 GRC für die Zwecke der beantragten Gültigkeitsprüfung nicht relevant.24 Demgegenüber kenne Art 20 GRC, so der EuGH weiter, keine ausdrückliche Begrenzung seines Anwendungsbereichs und finde daher in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung. Daher sei Art 20 GRC für die beantragte Gültigkeitsprüfung relevant und die Gültigkeit des Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL nur anhand dieser Vertragsbestimmung zu beurteilen.25 Nach stRsp ist der in Art 20 der Charta niedergelegte Gleichbehandlungsgrundsatz ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. Das für die Feststellung einer Verletzung dieses Grundsatzes geltende Erfordernis der Vergleichbarkeit der Situationen sei anhand aller die betreffenden Situationen kennzeichnenden Merkmale zu beurteilen, insbesondere im Hinblick auf den Gegenstand und das Ziel des Rechtsakts, mit dem die Unterscheidung vorgenommen wird; dabei seien die Grundsätze und Ziele des Regelungsbereichs zu berücksichtigen, in den der Rechtsakt fällt. Soweit sich die Situationen nicht miteinander vergleichen ließen, verstoße ihre unterschiedliche Behandlung nicht gegen Art 20 GRC.26 Da Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL und Art 15 Abs 3 RL 2003/86/ EG unterschiedliche Regelungen und Bedingungen festlegen, prüft der EuGH sodann, ob sich mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige, die von dessen Seite Gewalthandlungen im häuslichen Bereich ausgesetzt waren und unter Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL fallen, und mit einem Drittstaatsangehörigen verheiratete Drittstaatsangehörige, die von dessen Seite Gewalthandlungen im häuslichen Bereich ausgesetzt waren und unter Art 15 Abs 3 RL 2003/86/EG fallen, im Hinblick auf die Aufrechterhaltung ihres Aufenthaltsrechts in einem Mitgliedstaat unter Berücksichtigung aller Merkmale, die die beiden Situationen kennzeichnen, in einer vergleichbaren Situation befinden.27 Wenngleich Art 13 Abs 2 UAbs 1 lit c UnionsbürgerRL und Art 15 Abs 3 RL 2003/86/EG den gemeinsamen Zweck der Gewährleistung des Schutzes von Familienangehörigen, die Opfer von Gewalt im häuslichen Bereich wurden, verfolgen, sei, wie bereits dargelegt, die Vergleichbarkeit der Situationen anhand 24 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 50–53 mit Verweis auf 4. 6. 2009, verb Rs C-22/08 und C-23/08, Vatsouras und Koupatantze, EU:C:2009:344, Rz 52. 25 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 54 ff mit Verweis auf (Plenum) 30. 4. 2019, Gutachten 1/17, EU:C:2019:341, Rz 171. 26 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 57 f mit Verweis auf 17. 10. 2013, Rs C-101/12, Schaible, EU:C:2013:661, Rz 76 ; und Gutachten 1/17 (FN 25) Rz 117. 27 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 59–67.

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aller sie kennzeichnenden Merkmale zu beurteilen, so der EuGH weiter.28 Hinsichtlich der Regelungsbereiche, zu denen die UnionsbürgerRL und die RL 2003/86/EG gehören, hält der EuGH fest, die UnionsbürgerRL sei auf der Grundlage der Art 12, 18, 40, 44 und 52 EGV (nunmehr Art 18, 21, 46, 50 und 59 AEUV) erlassen worden, das heißt im Bereich der Freizügigkeit, und diene damit dem in Art 3 EUV genannten Ziel der EU, einen Binnenmarkt zu errichten, der einen Raum ohne Binnengrenzen umfasst, in dem diese Grundfreiheit gemäß den Bestimmungen des AEUV gewährleistet ist. Hingegen sei die RL 2003/86/EG auf der Grundlage des Art 63 Abs 3 lit a EGV (nunmehr Art 79 AEUV) erlassen worden, das heißt im Rahmen der Gemeinsamen Einwanderungspolitik der EU.29 Was die Gegenstände der UnionsbürgerRL und der RL 2003/86/EG betrifft, konstatiert der EuGH, die UnionsbürgerRL betreffe die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen, das Recht auf Daueraufenthalt der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und die Beschränkungen dieser Rechte aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. Denn das Freizügigkeitsund Aufenthaltsrecht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen sei nicht uneingeschränkt gewährleistet, sondern den im AEUV und in den dazu ergangenen Durchführungsvorschriften – wie der UnionsbürgerRL – vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen unterworfen. Die RL 2003/86/EG lege nach gemeinsamen Kriterien materielle Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung, über das Drittstaatsangehörige verfügen, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten aufhalten, fest.30 Im Hinblick auf die Ziele von UnionsbürgerRL und RL 2003/86/ EG unterstreicht der EuGH, die UnionsbürgerRL solle die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, erleichtern und dieses Grundrecht stärken. Demgegenüber ziele die RL 2003/86/EG darauf ab, die Integration Drittstaatsangehöriger in den Mitgliedstaaten zu erleichtern, indem im Wege der Familienzusammenführung ein Familienleben ermöglicht wird.31 Während das den Mitgliedstaaten bei der Anwendung der UnionsbürgerRL eingeräumte Ermessen begrenzt sei, so der EuGH, sei dieses im Rahmen der RL 2003/86/EG weit, soweit es gerade die Bedingungen betrifft, unter denen einem Drittstaatsangehörigen, der im Wege der Familienzusammenführung in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats eingereist

28 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 68 ff. 29 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 71–76. 30 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 77–80 mit Verweis auf (GK) 22. 6. 2021, Rs C-718/19, Ordre des barreaux francophones et germanophone ua, EU:C:2021:505, Rz 45. 31 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 81 ff mit Verweis auf 2. 10. 2019, Rs C-93/18, Bajratari, EU:C:2019:809, Rz 47; und 21. 4. 2016, Rs C-558/14, Khachab, EU:C:2016:285, Rz 26.

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ist und während der Ehe Opfer von Gewalthandlungen im häuslichen Bereich seitens des Zusammenführenden wurde, auf der Grundlage von Art 15 Abs 3 dieser RL ein eigener Aufenthaltstitel im Fall einer Scheidung erteilt werden kann. Zwar verpflichte Art 15 Abs 3 die Mitgliedstaaten zur Erlassung von Vorschriften, die in einem solchen Fall die Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels an den betreffenden Drittstaatsangehörigen gewährleisten. Allerdings bestimme Art 15 Abs 4, die Bedingungen für die Erteilung und die Dauer dieses eigenen Aufenthaltstitels seien im nationalen Recht festzulegen. Der damit den Mitgliedstaaten zuerkannte Handlungsspielraum dürfe von ihnen keinesfalls in einer Weise genutzt werden, die das Ziel dieser RL und ihre praktische Wirksamkeit beeinträchtigen oder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachten würde.32 Der EuGH hält zusammenfassend fest, mit Art 13 Abs 2 UAbs 1 lit c UnionsbürgerRL und Art 15 Abs 3 RL 2003/86/EG werde zwar das gemeinsame Ziel der Gewährleistung des Schutzes von Familienangehörigen, die Opfer von Gewalt im häuslichen Bereich wurden, verfolgt. Die mit diesen RL erlassenen Regelungen gehörten aber zu unterschiedlichen Regelungsbereichen, deren Grundsätze, Gegenstände und Ziele ebenfalls unterschiedlich sind. Auch würden die durch die UnionsbürgerRL Berechtigten einen anderen Status und Rechte anderer Art genießen als jene, auf die sich die durch die RL 2003/86/EG Berechtigten berufen können, und sei das den Mitgliedstaaten bei der Anwendung der in diesen RL festgelegten Bedingungen zuerkannte Ermessen nicht gleich. Im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats würden sich im Ergebnis mit einem Unionsbürger verheiratete Drittstaatsangehörige, die von dessen Seite Gewalthandlungen im häuslichen Bereich ausgesetzt waren und unter die UnionsbürgerRL fallen, und mit einem anderen Drittstaatsangehörigen verheiratete Drittstaatsangehörige, die von dessen Seite Gewalthandlungen im häuslichen Bereich ausgesetzt waren und unter die RL 2003/86/EG fallen, für die etwaige Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nicht in einer vergleichbaren Situation befinden. Im Lichte des Art 20 GRC bejaht der EuGH die Gültigkeit von Art 13 Abs 2 UnionsbürgerRL.33 59-5 Art 13 des Beschlusses 1/80 des EWG/Türkei-Assoziationsrates hat der EuGH mit Urteil vom 2. 9. 202134 ausgelegt. Dieses erging im Rahmen eines vom Landgericht für Ostdänemark im Zuge eines Rechtsstreits zwischen dem türkischen Staatsangehörigen B und dem dänischen Beschwerdeausschuss für Ausländer, der den Antrag von B auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Dänemark zum Zwecke der Familienzusammenführung abgelehnt hatte, eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahrens. 32 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 84–88 mit Verweis auf (GK) 15. 7. 2021, Rs C-709/20, The Department for Communities in Northern Ireland, EU:C:2021:602, Rz 83; und 7. 11. 2018, Rs C-257/17, C und A, EU:C:2018:876, Rz 49 ff. 33 EuGH, Rs C-930/19 (FN 21) Rz 89 ff. 34 EuGH 2. 9. 2021, Rs C-379/20, B, EU:C:2021:660, Rz 8–16 zum Anlassverfahren.

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Das vorlegende Gericht wollte in Erfahrung bringen, ob Art 13 des Beschlusses 1/80 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Maßnahme, mit der das Höchstalter, bis zu dem das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen kann, von 18 auf 15 Jahre herabgesetzt wird, eine „neue Beschränkung“ im Sinne dieser Vorschrift darstellt und, wenn ja, ob diese Maßnahme durch das Ziel, die erfolgreiche Integration der betreffenden Drittstaatsangehörigen zu gewährleisten, gerechtfertigt sein kann.35 Die Stillhalteklausel des Art 13 des Beschlusses 1/80 verbietet nach stRsp die Einführung neuer nationaler Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses im betreffenden Mitgliedstaat galten.36 Der EuGH konstatiert, eine nationale Maßnahme wie die im Anlassverfahren in Rede stehende stelle eine „neue Beschränkung“ iSd Art 13 des Beschlusses 1/80 dar. Die Vorschrift, mit der die Altersgrenze für einen Antrag minderjähriger Kinder auf Familienzusammenführung von 18 auf 15 Jahre herabgesetzt wurde, sei nämlich nach dem Inkrafttreten des Beschlusses 1/80 in Dänemark eingeführt worden. Sie habe bei Familienzusammenführungen die Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme in Dänemark von Kindern sich rechtmäßig dort aufhaltender türkischer Staatsangehöriger im Vergleich zu den bei Inkrafttreten dieses Beschlusses in Dänemark geltenden Voraussetzungen verschärft.37 Gemäß stRsp ist eine solche „neue Beschränkung“ verboten, es sei denn, sie gehört zu den in Art 14 des Beschlusses 1/80 aufgeführten Beschränkungen – was aber im vorliegenden Fall zu verneinen ist – oder entspricht den Vorgaben des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.38 Die im Anlassverfahren in Rede stehende Regelung ist, so der EuGH, im Wesentlichen auf die Gewährleistung einer erfolgreichen Integration von Drittstaatsangehörigen in Dänemark gerichtet und verfolgt damit ein Ziel, das im Hinblick auf Art 13 des Beschlusses 1/80 einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann.39 Hinsichtlich der Eignung der in Rede stehenden nationalen Regelung hält der EuGH fest, mit dieser solle die Integrationsfähigkeit minderjähriger Kinder, die mit ihrer Familie zusammengeführt werden möchten, berücksichtigt werden. Nach der Rsp könne das Alter eines der Kriterien im Zusammenhang mit der persönlichen Situation des Kindes sein, die dessen Integration im betreffenden Mitgliedstaat beeinflussen können. Denn die Integration von Kindern im Aufnahmemitgliedstaat werde 35 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 17 zur Vorlagefrage. 36 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 19 f mit Verweis auf 10. 7. 2019, Rs C-89/18, A, EU:C:2019:580, Rz 23 und 28. 37 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 21 f. 38 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 23 f mit Verweis auf Rs C-89/18 (FN 36) Rz 31. 39 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 25 f mit Verweis auf Rs C-89/18 (FN 36) Rz 34.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE erleichtert, wenn sie dort bereits in sehr jungem Alter ankommen. Im Übrigen habe es der Unionsgesetzgeber mit der – in Dänemark nicht anwendbaren – RL 2003/86/EG40 den Mitgliedstaaten selbst ermöglicht, die Familienzusammenführung minderjähriger Kinder, die ein bestimmtes Alter erreicht haben, zu beschränken. Gemäß Art 4 Abs 6 dieser RL könnten die Mitgliedstaaten vorsehen, dass Anträge betreffend die Familienzusammenführung minderjähriger Kinder vor Vollendung des 15. Lebensjahrs zu stellen sind. Eine nationale Regelung wie die im Anlassverfahren in Rede stehende sei daher geeignet, das von ihr verfolgte Ziel auch zu erreichen.41 Im Zusammenhang mit der Verhältnismäßigkeit einer Altersgrenze, wie sie von der streitigen Regelung festgelegt wird, stellt der EuGH fest, dass das nationale Recht Ausnahmen von dieser Bestimmung vorsehe. Einem minderjährigen Kind, das älter als 15 Jahre ist, könne demnach ein Aufenthaltstitel erteilt werden, sollten Gründe im Zusammenhang mit dem Familienverband oder dem Kindeswohl dies rechtfertigen. Die Situation des Kindes sei dann individuell zu prüfen, dabei seien diese Gründe zu berücksichtigen. Nachdem zahlreichen Kindern, die das 15. Lebensjahr bereits vollendet haben, Aufenthaltstitel erteilt worden seien, könne eine systematische Ablehnung solcher Anträge auf Familienzusammenführung durch die Verwaltung nicht festgestellt werden. Die im Anlassverfahren in Rede stehende nationale Regelung könne daher nicht als unverhältnismäßig angesehen werden; dies habe aber vom vorlegenden Gericht geprüft zu werden.42 Wenngleich – zusammengefasst – eine nationale Regelung, mit der das Höchstalter, bis zu dem das Kind eines türkischen Arbeitnehmers, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, einen Antrag auf Familienzusammenführung stellen kann, von 18 auf 15 Jahre herabgesetzt wird, eine „neue Beschränkung“ iSd Art 13 des Beschlusses 1/80 darstellt, könne eine solche durch das Ziel, die erfolgreiche Integration der betreffenden Drittstaatsangehörigen zu gewährleisten, gerechtfertigt sein, sofern die Einzelheiten ihrer Durchführung nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.43

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59-6 Art 40 VerfahrensRL44 hat der EuGH in einem am 9. 9. 2021 ergangenen Urteil45 ausgelegt. Das Vorabentscheidungsverfahren war vom VwGH im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XY und dem BFA über dessen Ablehnung eines von XY gestellten Antrags auf internationalen Schutz eingeleitet worden. Der VwGH wollte erfahren, ob Art 40 Abs 2 und 3 VerfahrensRL dahin auszulegen ist, dass die Wendung „neue Elemente oder Er-

kenntnisse“, die „zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“, im Sinne dieser Bestimmung nur Elemente oder Erkenntnisse umfasst, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über einen früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, oder ob sie auch Elemente oder Erkenntnisse enthält, die bereits vor Abschluss dieses Verfahrens existierten, aber vom Antragsteller nicht geltend gemacht wurden. Das vorlegende Gericht wollte auch wissen, ob Art 40 Abs 3 dahin auszulegen ist, dass die Prüfung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den früheren Antrag vorgenommen werden kann oder ob ein neues Verfahren eingeleitet werden muss. Endlich wollte der VwGH in Erfahrung bringen, ob Art 40 Abs 4 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat, der keine Sondervorschriften zur Umsetzung dieser Bestimmung erlassen hat, gestattet, in Anwendung der allgemeinen Vorschriften über das nationale Verwaltungsverfahren die Prüfung eines Folgeantrags in der Sache abzulehnen, wenn die neuen Elemente oder Erkenntnisse, auf die dieser Antrag gestützt wird, zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten und in diesem Verfahren durch Verschulden des Antragstellers nicht vorgebracht wurden.46 Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage hält der EuGH einleitend fest, dass Art 40 Abs 2 VerfahrensRL bestimmt, für die Zwecke der gemäß Art 33 Abs 2 lit d dieser RL zu treffenden Entscheidung über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz werde ein Folgeantrag zunächst daraufhin geprüft, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der StatusRL47 als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Nur wenn im Vergleich zum ersten Antrag auf internationalen Schutz tatsächlich solche neuen Elemente oder Erkenntnisse vorliegen, werde gemäß Art 40 Abs 3 die Prüfung der Zulässigkeit des Folgeantrags fortgesetzt, um zu prüfen, ob diese neuen Elemente oder Erkenntnisse erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist.48 Der EuGH konstatiert, dass aus dem Wortlaut des Art 40 VerfahrensRL folgt, ein Element oder eine Erkenntnis sei als neu iSd Art 40 Abs 2 und 3 anzusehen, wenn die Entscheidung über den früheren Antrag erlassen wurde, ohne dass dieses Element oder diese Erkenntnis der für die Bestimmung der Rechtsstellung des Antragstellers zuständigen Behörde zur Kenntnis gebracht wurde. Es werde nicht danach unterschieden, ob die Elemente oder die Erkenntnisse, auf die ein Folgeantrag gestützt wird,

40 Siehe FN 22. 41 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 27–30 mit Verweis auf (GK) 12. 4. 2016, Rs C-561/14, Genc, EU:C:2016:247, Rz 61. 42 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 31–35. 43 EuGH, Rs C-379/20 (FN 34) Rz 36. 44 RL 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v 26. 6. 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes, ABl 2013 L 180/60. 45 EuGH 9. 9. 2021, Rs C-18/20, XY, EU:C:2021:710, Rz 12–29 zum Anlassver fahren.

46 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 30 zu den Vorlagefragen. 47 RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v 13. 12. 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl 2011 L 337/9. 48 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 33 f mit Verweis auf 10. 6. 2021, Rs C-921/19, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid, EU:C:2021:478, Rz 36 f.

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ZfV 4/2021 ART.-NR.: 59

vor oder nach der Erlassung dieser Entscheidung zutage getreten sind.49 Diese Auslegung des Art 40 Abs 2 und 3 VerfahrensRL sieht der EuGH zum einen durch den systematischen Zusammenhang, in den sich diese Bestimmung einfügt, bestätigt. Die Mitgliedstaaten könnten Art 40 Abs 4 zufolge vorsehen, dass der Antrag nur geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in den Abs 2 und 3 genannten Elemente oder Erkenntnisse im früheren Verfahren vorzubringen. Machen die Mitgliedstaaten von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, sei der Antrag als zulässig anzusehen und daher zu prüfen, selbst wenn der Antragsteller zur Stützung des Folgeantrags nur Elemente oder Erkenntnisse vorgebracht hat, die er im Zuge der Prüfung des früheren Antrags hätte vorbringen können und die zwangsläufig vor dem rechtskräftigen Abschluss des früheren Verfahrens existierten.50 Bestätigt werde diese Auslegung des Art 40 Abs 2 und 3 VerfahrensRL zum anderen durch sein Ziel, so der EuGH. Denn das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit eines Folgeantrags ziele darauf ab, es Mitgliedstaaten zu erlauben, jeden Folgeantrag, der gestellt wird, ohne dass neue Beweise oder Argumente vorgebracht werden, als „unzulässig abzuweisen“, um den Grundsatz der rechtskräftig entschiedenen Sache zu achten. Die Prüfung der Frage, ob sich ein Folgeantrag auf neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der StatusRL als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, stützt, sollte sich daher auf die Prüfung beschränken, ob Elemente oder Erkenntnisse zur Stützung dieses Antrags vorliegen, die im Rahmen der Entscheidung über den früheren Antrag nicht geprüft worden sind und auf die diese bestandskräftige Entscheidung nicht gestützt werden konnte. Jede andere Auslegung des Art 40 Abs 2 und 3 ginge über das hinaus, was erforderlich ist, um die Wahrung des Grundsatzes der Rechtskraft sicherzustellen.51 Die Wendung „neue Elemente oder Erkenntnisse“, die „zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind“ iSd Art 40 Abs 2 und 3 VerfahrensRL, umfasst im Ergebnis sowohl Elemente oder Erkenntnisse, die nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens über den früheren Antrag auf internationalen Schutz eingetreten sind, als auch solche, die bereits vor Abschluss des Verfahrens existierten, vom Antragsteller aber nicht geltend gemacht wurden.52 Im Hinblick auf die zweite Vorlagefrage betont der EuGH, Art 40 Abs 2 und 3 VerfahrensRL sehe eine Bearbeitung der Folgeanträge in zwei Etappen vor; in der ersten Etappe werde die Zulässigkeit dieser Anträge geprüft, in der zweiten würden die Anträge in der Sache geprüft. Wenngleich Art 40 Abs 2 bis 4 und Art 42 Abs 2 dieser RL Verfahrensvorschriften für die erste

49 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 35 ff mit Verweis auf Rs C-921/19 (FN 48) Rz 37. 50 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 38 f. 51 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 40–43 mit Verweis auf Rs C-921/19 (FN 48) Rz 49 f. 52 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 44.

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RECHTSPRECHUNGSBERICHTE Etappe der Bearbeitung von Folgeanträgen enthielten, kenne die VerfahrensRL keinen spezifischen verfahrensrechtlichen Rahmen für die Bearbeitung der Anträge in der Sache. Art 40 Abs 3 verlange lediglich, dass die Prüfung zulässiger Folgeanträge in der Sache nach Kapitel II der RL erfolgt. Die Mitgliedstaaten könnten daher Verfahrensvorschriften für die Bearbeitung von Folgeanträgen vorsehen, sofern zum einen die in der VerfahrensRL festgelegten Zulässigkeitsvoraussetzungen eingehalten werden und zum anderen die Bearbeitung in der Sache im Einklang mit den im Kapitel II der RL angeführten Grundsätzen und Garantien erfolgt. Ob die für die Wiederaufnahme des mit einem Bescheid über einen früheren Antrag abgeschlossenen Verfahrens geltenden Vorschriften des österreichischen Rechts die Einhaltung dieser Voraussetzungen gewährleisten und mit diesen Grundsätzen und Garantien im Einklang stehen, habe der VwGH zu prüfen, so der EuGH.53 Der EuGH konstatiert, für die Wiederaufnahme eines Verwaltungsverfahrens iSd § 69 AVG müssten drei Voraussetzungen erfüllt sein. Die zur Stützung des Folgeantrags vorgebrachten neuen Tatsachen oder Beweismittel hätten allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruchs gegenüber dem früheren Bescheid anderslautenden Bescheid herbeiführen müssen. Diese Tatsachen oder Beweismittel hätten in dem Verfahren über den früheren Antrag ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden können. Zudem müsse der Folgeantrag binnen einer Frist von zwei Wochen, die im Wesentlichen mit dem Zeitpunkt beginnt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, jedenfalls aber binnen drei Jahren nach Erlassung des Bescheids über den früheren Antrag eingebracht werden. Während die erste dieser Voraussetzungen nach Ansicht des EuGH im Wesentlichen der zweiten Voraussetzung des Art 40 Abs 3 VerfahrensRL, wonach die neuen Elemente oder Erkenntnisse „erheblich zu der Wahrscheinlichkeit beitragen, dass der Antragsteller nach Maßgabe der [StatusRL] als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist“, entspricht, entspreche die zweite in § 69 AVG festgelegte Voraussetzung der den Mitgliedstaaten durch Art 40 Abs 4 eingeräumten Möglichkeit, vorzusehen, „dass der Antrag nur dann weiter geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in den [Abs] 2 und 3 dargelegten Sachverhalte im früheren Verfahren [...] vorzubringen“. Diese beiden Voraussetzungen scheinen dem EuGH daher den Zulässigkeitsvoraussetzungen für Folgeanträge zu entsprechen.54 Hinsichtlich der dritten in § 69 AVG festgelegten, die Fristen für die Einbringung eines Folgeantrags betreffenden Voraussetzung stellt der EuGH fest, weder sehe Art 40 VerfahrensRL solche Fristen vor noch ermächtige er die Mitgliedstaaten explizit dazu, sie vorzusehen. Die Festlegung solcher Fristen sei demnach verboten. Diese Auslegung sieht der EuGH durch Art 5 dieser RL be53 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 46–49 mit Verweis auf Rs C-921/19 (FN 48) Rz 34. 54 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 51 ff.

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stätigt, dem zufolge die Mitgliedstaaten bei Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes nur insoweit vom Regelungsgehalt der VerfahrensRL abweichen dürfen, als sie für den Antragsteller günstigere Vorschriften vorsehen oder beibehalten, und damit die Anwendung ungünstigerer Vorschriften ausgeschlossen ist. Dies gelte insbesondere für die Festsetzung von Ausschlussfristen zulasten des Antragstellers.55 Der EuGH legt Art 40 Abs 3 VerfahrensRL zusammengefasst dahin aus, die Prüfung eines Folgeantrags auf internationalen Schutz könne in der Sache im Rahmen der Wiederaufnahme des Verfahrens über den ersten Antrag vorgenommen werden, sofern die auf diese Wiederaufnahme anwendbaren Vorschriften mit Kapitel II dieser RL im Einklang stehen und für die Stellung dieses Antrags keine Ausschlussfristen gelten.56 Zur Beantwortung der dritten Vorlagefrage unterstreicht der EuGH einleitend, der VwGH stelle diese Frage für den Fall, dass er nach Abschluss der von ihm vorzunehmenden Prüfung der Ansicht sein sollte, die auf die Wiederaufnahme des Verfahrens über den früheren Antrag zwecks Prüfung eines Folgeantrags anwendbaren österreichischen Vorschriften würden nicht gewährleisteten, dass die Voraussetzungen für die Zulässigkeit dieses Antrags erfüllt seien oder nicht mit den Grundsätzen und Garantien des Kapitels II der VerfahrensRL vereinbar seien. In einem solchen Fall müsste der Folgeantrag von XY nämlich im Rahmen eines neuen Verwaltungsverfahrens geprüft werden, das mangels einer Maßnahme zur Umsetzung von Art 40 Abs 4 der RL in das österreichische Recht unter § 68 AVG fiele. Im Gegensatz zu § 69 AVG mache § 68 die Möglichkeit der Eröffnung eines neuen Verfahrens nicht davon abhängig, dass den Antragsteller kein Verschulden daran trifft, dass er es unterlassen hat, die von ihm zur Stützung des Folgeantrags geltend gemachten Elemente und Erkenntnisse im Verfahren über den früheren Antrag vorzubringen, wenn sie bereits zur Zeit dieses Verfahrens existierten. Der EuGH verneint die Vorlagefrage auf der Grundlage der folgenden Erwägungen:57 Die Mitgliedstaaten könnten dem fakultativen Art 40 Abs 4 VerfahrensRL zufolge vorsehen, dass der Antrag nur geprüft wird, wenn der Antragsteller ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage war, die in Art 40 Abs 2 und 3 dargelegten Sachverhalte im früheren Verfahren vorzubringen. Da die Wirkungen des Art 40 Abs 4 davon abhingen, dass die Mitgliedstaaten spezifische Umsetzungsvorschriften erlassen, sei diese Vorschrift nicht unbedingt und habe demnach keine unmittelbare Wirkung, so der EuGH. Keinesfalls könne eine Richtlinienbestimmung nach stRsp selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf diese Bestimmung als solche vor dem nationalen Gericht nicht möglich ist. Gerade dies wäre aber der Fall, wenn Art 40 Abs 4 dahin auszulegen wäre, dass die Zulässigkeit eines Folgeantrags selbst dann, wenn keine nationale Umsetzungsmaßnahme getroffen wurde, davon abhinge, dass der Antragsteller es ohne sein Verschulden unterlas55 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 54–60. 56 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 61. 57 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 63 f und 68.

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sen hat, die zur Stützung des Folgeantrags vorgebrachten neuen Elemente oder Erkenntnisse, die bereits zur Zeit des Verfahrens über den früheren Antrag existierten, in diesem Verfahren geltend zu machen.58 59-7 Die Auslegung von Art 2 lit j StatusRL59 bildet den Gegenstand eines mit Urteil vom 9. 9. 202160 vom EuGH erledigten Vorabentscheidungsverfahrens. Dieses war im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem afghanischen Staatsangehörigen SE und Deutschland wegen der Weigerung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, ihm die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zum Zwecke der Familienzusammenführung mit seinem Sohn zuzuerkennen, vom deutschen Bundesverwaltungsgericht eingeleitet worden. Das Bundesverwaltungsgericht wollte erfahren, welcher Zeitpunkt in einer Situation, in der ein Asylantragsteller, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, in dem sich sein nicht verheiratetes minderjähriges Kind aufhält, und der aus dem subsidiären Schutzstatus, der diesem Kind zuerkannt worden ist, einen Anspruch auf Asyl gemäß den Vorschriften dieses Mitgliedstaats – wonach die unter Art 2 lit j dritter Gedankenstrich StatusRL fallenden Personen einen solchen Anspruch haben – ableiten will, bei der Entscheidung über seinen Antrag auf internationalen Schutz dafür maßgebend ist, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ im Sinne dieser Bestimmung ist; es wollte auch wissen, ob auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag des Asylantragstellers oder auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen ist. Das vorlegende Gericht wollte ferner in Erfahrung bringen, ob Art 2 lit j dritter Gedankenstrich StatusRL iVm Art 23 Abs 2 dieser RL und Art 7 GRC dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Familienangehöriger“ keine tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens zwischen dem Elternteil der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und seinem Kind verlangt, und ob ein Elternteil als „Familienangehöriger“ anzusehen ist, wenn die Einreise in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht darauf gerichtet war, für das betreffende Kind die elterliche Verantwortung iSd Art 2 lit j dritter Gedankenstrich der RL tatsächlich wahrzunehmen. Endlich wollte das Bundesverwaltungsgericht wissen, ob Art 2 lit j dahin auszulegen ist, dass die Eigenschaft eines Elternteils als Familienangehöriger im Sinne dieser Bestimmung endet, wenn das Kind, dem subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, volljährig wird und damit die elterliche Verantwortung für das Kind endet. Für den Fall, dass dies verneint wird, wollte es ferner in Erfahrung bringen, ob die Eigenschaft dieses Elternteils als Familienangehöriger und die damit verbundenen Rechte über den Zeitpunkt, zu dem das betreffende Kind volljährig wird, hinaus unbegrenzt fortbestehen 58 EuGH, Rs C-18/20 (FN 45) Rz 65 ff mit Verweis auf 26. 2. 1986, Rs 152/84, Marshall, EU:C:1986:84, Rz 48; und (GK) 24. 6. 2019, Rs C-573/17, Popławski, EU:C:2019:530, Rz 65. 59 Siehe FN 47. 60 EuGH 9. 9. 2021, Rs C-768/19, SE, EU:C:2021:709, Rz 15–23 zum Anlassverfahren.

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oder ob diese Rechte zu einem bestimmten Zeitpunkt oder unter bestimmten Voraussetzungen entfallen.61 Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage betont der EuGH, Art 23 Abs 1 und 2 StatusRL verpflichte die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass der Familienverband aufrechterhalten wird und dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Art 24 bis 35 dieser RL angeführten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen vereinbar ist. Zu den im Zusammenhang mit einem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhältigen Familienangehörigen einer solchen Person gehörten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat, Art 2 lit j dritter Gedankenstrich zufolge der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für diese Person verantwortlich ist, wenn sie minderjährig und nicht verheiratet ist. Art 2 lit k lege zwar fest, ein Minderjähriger habe unter 18 Jahre alt zu sein, regle aber weder, auf welchen Zeitpunkt bei der Beurteilung des Vorliegens dieser Voraussetzung abzustellen ist, noch verweise er insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten; diese hätten hinsichtlich der Festlegung des maßgebenden Zeitpunkts für die Beurteilung, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ iSd Art 2 lit j dritter Gedankenstrich ist, demgemäß kein Ermessen, so der EuGH. Die Bestimmungen der StatusRL seien autonom und einheitlich und insbesondere im Lichte der Art 7 und 24 Abs 2 und 3 GRC auszulegen.62 Der EuGH hält fest, ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem über den Asylantrag des Elternteils, der aus dem seinem Kind zuerkannten subsidiären Schutzstatus ein Recht auf subsidiären Schutz ableiten will, entschieden wird, als dem für die Beurteilung der Frage nach der Minderjährigkeit der Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, iSd Art 2 lit j dritter Gedankenstrich maßgeblichen Zeitpunkt wäre weder mit den Zielen der StatusRL noch mit den aus den Art 7 und 24 Abs 2 und 3 GRC erwachsenden Anforderungen vereinbar. Denn die zuständigen nationalen Behörden hätten dann keine Veranlassung, die Anträge der Eltern Minderjähriger mit der Dringlichkeit, die geboten ist, um der Schutzbedürftigkeit der Minderjährigen und den sich aus den Art 7 und 24 Abs 2 und 3 GRC erwachsenden Anforderungen Rechnung zu tragen, vorrangig zu bearbeiten. Zudem würde eine solche Auslegung die Gewährleistung einer gleichen und vorhersehbaren Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, verunmöglichen.63 Im gegebenen Zusammenhang ist für die Beurteilung, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minder-

jährig“ iSd Art 2 lit j dritter Gedankenstrich StatusRL ist, nach Ansicht des EuGH der Zeitpunkt der Antragstellung durch den Familienangehörigen maßgebend. Das Recht des Familienangehörigen auf diese Leistungen (gegebenenfalls einschließlich des Rechts auf Asyl, sofern dies im nationalen Recht vorgesehen ist) müsse daher von dem betreffenden Elternteil geltend gemacht werden, wenn sein Kind als die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, noch minderjährig ist. Zudem müsse die Familie bereits im Herkunftsland bestanden haben und müssten sich die betreffenden Familienangehörigen im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufgehalten haben, bevor die Person volljährig geworden ist. Nur diese Auslegung steht für den EuGH sowohl mit den Zielen der StatusRL als auch mit den Unionsgrundrechten im Einklang.64 Hinsichtlich der Frage, ob auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem der betreffende Elternteil formlos erstmals um Asyl nachgesucht und die zuständige Behörde davon Kenntnis erlangt hat, oder auf jenen, zu dem er förmlich einen Asylantrag gestellt hat, verweist der EuGH auf seine Rsp, der zufolge ein Drittstaatsangehöriger die Eigenschaft einer Person, die internationalen Schutz beantragt, iSd Art 2 lit c VerfahrensRL65 ab dem Zeitpunkt erwirbt, zu dem er einen solchen Antrag „stellt“. Die „Stellung“ eines Antrags auf internationalen Schutz erfordere keine Verwaltungsformalität. Die Erlangung der Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt, könne im Ergebnis nicht von der förmlichen Stellung des Antrags abhängig gemacht werden; es sei ausreichend, dass ein Drittstaatsangehöriger bei einer „anderen Behörde“ iSd Art 6 Abs 1 UAbs 2 VerfahrensRL seine Absicht, internationalen Schutz zu beantragen, bekundet, um ihm die Eigenschaft als Person, die internationalen Schutz beantragt, zu verleihen.66 Der EuGH konstatiert, im Anlassverfahren sei der internationalen Schutz beantragende Elternteil im Januar 2016 nach Deutschland eingereist. Im Februar habe er um Asyl angesucht, am 21. 4. 2016 einen förmlichen Asylantrag gestellt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge habe seinen Asylantrag mit der Begründung abgelehnt, sein Sohn sei am 20. 4. 2016 volljährig geworden. Der EuGH geht davon aus, dass ein Asylantragsteller, der formlos sein Gesuch gestellt hat, als sein Sohn noch minderjährig iSd Art 2 lit k StatusRL war, für die Zwecke dieser Bestimmung grundsätzlich als Familienangehöriger der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, anzusehen ist.67 Im Ergebnis ist für die Beurteilung, ob die Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, „minderjährig“ iSd Art 2 lit j dritter Gedankenstrich StatusRL ist, nach Ansicht des EuGH der Zeitpunkt maßgebend, zu dem der Elternteil – gegebenenfalls formlos – seinen Asylantrag eingereicht hat.68

61 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 24 zu den Vorlagefragen. 62 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 30–38 mit Verweis auf 23. 5. 2019, Rs C-720/ 17, Bilali, EU:C:2019:448, Rz 25; und 16. 7. 2021, verb Rs C-133/19, C-136/19 und C-137/19, État belge, EU:C:2020:577, Rz 30 und 34. 63 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 39 ff mit Verweis auf verb Rs C-133/19, C-136/19 und C-137/19 (FN 62) Rz 36 f und 42.

64 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 42 ff. 65 Siehe FN 44. 66 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 45–49 mit Verweis auf 25. 6. 2020, Rs C-36/ 20 PPU, Ministerio Fiscal, EU:C:2020:495, Rz 92 f. 67 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 50 f. 68 EuGH, Rs C-768/19 (FN 69) Rz 52.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE Zur Beantwortung der zweiten Vorlagefrage betont der EuGH, in Bezug auf den Vater eines Kindes, dem subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, sei der Begriff „Familienangehöriger“ iSd Art 2 lit j dritter Gedankenstrich StatusRL lediglich von drei Voraussetzungen abhängig: Die Familie müsse bereits im Herkunftsland bestanden haben, die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, hätten sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz im selben Mitgliedstaat aufzuhalten und die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, müsse minderjährig und dürfe nicht verheiratet sein. Die tatsächliche Wiederaufnahme des Familienlebens im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats sei keine Voraussetzung. Auch Art 7 GRC verbriefe nur das Recht auf Achtung ihres Familienlebens und lege – wie Art 2 lit j dritter Gedankenstrich – keine besonderen Anforderungen hinsichtlich der Modalitäten der Ausübung dieses Rechts oder der Intensität der betreffenden familiären Beziehungen fest. Die in Rede stehenden Bestimmungen von StatusRL und GRC würden zwar das Recht auf Achtung des Familienlebens schützen, es aber grundsätzlich den Inhabern dieses Rechts überlassen, darüber zu entscheiden, wie sie ihr Familienleben führen wollen.69 Zur Beantwortung der letzten Vorlagefrage verweist der EuGH zum einen darauf, dass nach Art 2 lit j dritter Gedankenstrich iVm Art 23 Abs 2 StatusRL der Vater oder die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, nicht für unbegrenzte Zeit als Familienangehöriger iSd Art 2 lit j zu qualifizieren sind und damit die in den Art 24 bis 35 angeführten Leistungen, namentlich das Recht auf einen Aufenthaltstitel sowie auf Zugang zu einer Beschäftigung und zu Wohnraum, in Anspruch nehmen können. Zum anderen seien die Mitgliedstaaten Art 24 Abs 2 zufolge gehalten, Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen so bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes einen verlängerbaren Aufenthaltstitel auszustellen, es sei denn, zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung stünden dem entgegen.70 Die Gewährung internationalen Schutzes für einen Elternteil als „Familienangehöriger“ der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, iSd Art 2 lit j StatusRL sei ein Recht, das sich zur Aufrechterhaltung des Familienverbands der Betroffenen aus dem seinem Kind verliehenen subsidiären Schutzstatus ableitet, so der EuGH weiter. Unter diesen Umständen könne der einem solchen Elternteil zuerkannte Schutz nicht unter allen Umständen allein wegen des Eintritts der Volljährigkeit des Kindes, dem subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, sofort enden, oder könne dies jedenfalls nicht dazu führen, dass dem betreffenden Elternteil der noch für gewisse Zeit gültige Aufenthaltstitel automatisch entzogen wird. Haben „Familienangehörige“ der Person, der subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist, zu einem 69 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 54–59. 70 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 61 f.

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bestimmten Zeitpunkt die Voraussetzungen dieser Definition erfüllt, müsse das ihnen gewährte subjektive Recht auf die in den Art 24 bis 35 der RL vorgesehenen Leistungen auch nach dem Eintritt der Volljährigkeit dieser Person während der Geltungsdauer des ihnen im Einklang mit Art 24 der RL ausgestellten Aufenthaltstitels fortbestehen. Bei der Festlegung der Laufzeit dieses Aufenthaltstitels könnten die Mitgliedstaaten berücksichtigen, dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nach der Entstehung des subjektiven Rechts ihrer Familienangehörigen volljährig werden wird. Denn Art 24 Abs 2 stehe insbesondere dem nicht entgegen, zwischen der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels der Person, der dieser Schutz zuerkannt worden ist, und der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels ihrer Familienangehörigen zu differenzieren.71

B.

Gewerbliches Berufsrecht

59-8 In einem mit Urteil vom 8. 7. 202172 entschiedenen Vorabentscheidungsverfahren hat sich der EuGH mit der Auslegung der Art 1 und 10 lit b BerufsanerkennungsRL,73 der Art 45 und 49 AEUV und des Art 15 GRC beschäftigt. Das Oberste Verwaltungsgericht von Litauen hatte sein Ersuchen im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BB und dem litauischen Gesundheitsministerium wegen dessen Weigerung, die Berufsqualifikationen von BB anzuerkennen, an den EuGH herangetragen. Das vorlegende Gericht wollte zum einen erfahren, ob die BerufsanerkennungsRL, insbesondere ihre Art 1 und 10 lit b, dahin auszulegen ist, dass sie auf eine Situation Anwendung findet, in der eine Person, die die Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen im Aufnahmemitgliedstaat beantragt, keinen Ausbildungsnachweis über ihre Berufsqualifikationen in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat, und, wenn ja, ob die Bestimmungen des Titels III Kapitel I der RL dahin auszulegen sind, dass die für die Anerkennung von Berufsqualifikationen zuständige Behörde dazu verpflichtet ist, den Inhalt sämtlicher vom Betroffenen eingereichten Unterlagen, die die in mehreren Mitgliedstaaten erworbenen Qualifikationen belegen können, sowie die Frage zu beurteilen, ob die Ausbildung, die sie bescheinigen, den im Aufnahmemitgliedstaat für den Erwerb der Berufsqualifikationen festgelegten Anforderungen entsprechen, und gegebenenfalls Ausgleichsmaßnahmen anzuwenden. Zum anderen wollte es wissen, ob die Art 45 und 49 AEUV sowie Art 15 GRC dahin auszulegen sind, dass in einer Situation, in der der Betroffene nicht im Besitz des Nachweises über die Berufsqualifikation als Apotheker iSd Anhangs V Nr 5.6.2 dieser RL ist, sondern sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmemitgliedstaat erforderliche berufliche Fähigkeiten in Bezug auf diesen Beruf erworben hat, die mit 71 EuGH, Rs C-768/19 (FN 60) Rz 63–66. 72 EuGH 8. 7. 2021, Rs C-166/20, BB, EU:C:2021:554, Rz 9–22 zum Anlassverfahren. 73 RL 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 7. 9. 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl 2005 L 255/22, idF RL 2013/55/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v 20. 11. 2013, ABl 2013 L 354/132.

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einem Antrag auf Anerkennung von Berufsqualifikationen befassten zuständigen Behörden des Aufnahmestaats verpflichtet sind, diese Fähigkeiten zu beurteilen und sie mit denjenigen zu vergleichen, die im Aufnahmemitgliedstaat für den Zugang zum Beruf des Apothekers erforderlich sind.74 Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage betont der EuGH eingangs, dass die gegenseitige Anerkennung von Berufsqualifikationen im Sinne der BerufsanerkennungsRL voraussetzt, dass der Antragsteller über eine Ausbildung verfügt, die ihn im Herkunftsmitgliedstaat dazu qualifiziert, dort einen reglementierten Beruf auszuüben. Dies gelte unabhängig davon, welche Regelung für die Anerkennung von Berufsqualifikationen maßgeblich ist, das heißt die allgemeine oder die automatische Anerkennungsregelung im Sinne dieser RL. Für den EuGH folgt daraus, dass Art 10 der RL dem Aufnahmemitgliedstaat nach seiner lit b nicht vorschreiben kann, die Ausbildungsnachweise eines Antragstellers zu prüfen, wenn dieser nicht die Qualifikationen besitzt, die in seinem Herkunftsmitgliedstaat für die Ausübung des Apothekerberufs erforderlich sind, ohne dem Ziel dieser RL zuwiderzulaufen.75 Die BerufsanerkennungsRL ist im Ergebnis nicht auf eine Situation anwendbar, in der eine Person, die die Anerkennung ihrer Berufsqualifikationen beantragt, keinen Ausbildungsnachweis erworben hat, der sie im Herkunftsmitgliedstaat dazu qualifiziert, dort einen reglementierten Beruf auszuüben.76 Da Art 15 Abs 2 GRC ua die durch die Art 45 und 49 AEUV garantierten Grundfreiheiten aufnimmt und nach Art 52 Abs 2 GRC die Ausübung der durch die GRC anerkannten Rechte, die in den Verträgen geregelt sind, im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen erfolgt, sich die Auslegung von Art 15 Abs 2 GRC im vorliegenden Fall mit jener der Art 45 und 49 AEUV deckt, bezieht sich der EuGH zur Beantwortung der zweiten Vorlagefrage daher auf die Art 45 und 49 AEUV.77 Die mit einem Antrag eines Unionbürgers auf Zulassung zu einem Beruf, dessen Aufnahme nach nationalem Recht vom Besitz eines Diploms oder einer beruflichen Qualifikation oder von Zeiten praktischer Erfahrung abhängt, befassten nationalen Behörden müssen der stRsp zufolge sämtliche Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie die einschlägige Erfahrung des Betroffenen in der Weise berücksichtigen, dass sie die dadurch belegten Fachkenntnisse mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Kenntnissen und Fähigkeiten vergleichen. Diese stRsp bringe nur einen den Grundfreiheiten des AEUV immanenten Grundsatz zum Ausdruck, dem auch nicht dadurch ein Teil seiner rechtlichen Bedeutung genommen werde, dass RL für die gegenseitige Anerkennung von Diplomen erlassen werden. Denn solche RL sollen, wie auch aus 74 EuGH, Rs C-166/20 (FN 72) Rz 23 zu den Vorlagefragen. 75 EuGH, Rs C-166/20 (FN 72) Rz 25–28 mit Verweis auf 16. 4. 2015, Rs C-477/13, Angerer, EU:C:2015:239, Rz 24. 76 EuGH, Rs C-166/20 (FN 72) Rz 29. 77 EuGH, Rs C-166/20 (FN 72) Rz 31 ff mit Verweis auf 8. 5. 2019, Rs C-230/ 18, PI, EU:C:2019:383, Rz 53; und 4. 7. 2013, Rs C-233/12, Gardella, EU:C:2013:449, Rz 39.

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Art 53 Abs 1 AEUV hervorgeht, die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise dadurch erleichtern, dass sie gemeinsame Regeln und Kriterien aufstellen, die so weit wie möglich zur automatischen Anerkennung dieser Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise führen. Dies gelte speziell für die – auf der Grundlage insbesondere von Art 47 Abs 1 EGV (nunmehr Art 53 Abs 1 AEUV) erlassene – BerufsanerkennungsRL.78 Der EuGH bekräftigt nunmehr, in einer Situation wie der des Anlassverfahrens, die nicht in den Anwendungsbereich der BerufsanerkennungsRL fällt, habe der betreffende Aufnahmemitgliedstaat seinen bereits dargelegten Pflichten im Bereich der Anerkennung von Berufsqualifikationen, die auf Situationen anwendbar sind, die sowohl unter Art 45 als auch unter Art 49 AEUV fallen, nachzukommen. Führe die vergleichende Prüfung der Nachweise zur Feststellung, dass die durch den ausländischen Nachweis bescheinigten Kenntnisse und Fähigkeiten den nach den nationalen Vorschriften verlangten entsprechen, müsse er anerkennen, dass dieser Nachweis die in diesen Vorschriften aufgestellten Voraussetzungen erfüllt. Ergibt der Vergleich, dass diese Kenntnisse und Fähigkeiten einander nur teilweise entsprechen, könne er vom Betroffenen den Nachweis, dass er die fehlenden Kenntnisse und Fähigkeiten erworben hat, verlangen. Ergeben sich hingegen wesentliche Unterschiede zwischen der Ausbildung des Antragstellers und der im Aufnahmemitgliedstaat erforderlichen Ausbildung, könnten die zuständigen Behörden Ausgleichsmaßnahmen festlegen, um diese Unterschiede zu beseitigen.79

C.

Reiserecht

59-9 Mit Art 5 Abs 3 FluggastrechteVO80 hatte sich der EuGH in einem vom LG Salzburg eingeleiteten und am 6. 10. 202181 entschiedenen Vorabentscheidungsverfahren zu befassen. Das Ersuchen dazu war im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen CS und dem Luftfahrtunternehmen Eurowings wegen dessen Weigerung, an CS für die Annullierung des von ihm gebuchten Fluges eine Ausgleichszahlung zu leisten, ergangen. Das LG Salzburg wollte – im Wesentlichen – erfahren, ob Art 5 Abs 3 FluggastrechteVO dahin auszulegen ist, dass Streikmaßnahmen zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen und/oder Sozialleistungen der Beschäftigten, die durch den Streikaufruf einer Gewerkschaft von Beschäftigten eines ausführenden Luftfahrtunter-

78 EuGH, Rs C-166/20 (FN 72) Rz 34–37 mit Verweis auf 22. 1. 2002, Rs C-31/00, Dreessen, EU:C:2002:35, Rz 24 ff. 79 EuGH, Rs C-166/20 (FN 72) Rz 38–41 mit Verweis auf 14. 9. 2000, Rs C-238/98, Hocsman, EU:C:2000:440, Rz 21; 6. 10. 2015, Rs C-298/14, Brouillard, EU:C:2015:652, Rz 46, 54 und 57 ff; und 2. 10. 2010, verb Rs C-422/09, C-425/09 und C-426/09, Vandorou ua, EU:C:2010:732, Rz 72. 80 VO (EG) 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates v 11. 2. 2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen, ABl 2004 L 46/1. 81 EuGH 6. 10. 2021, Rs C-613/20, CS, EU:C:2021:820, Rz 7–15 zum Anlassverfahren.

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nehmens aus Solidarität mit einem Streik eingeleitet wurden, der gegen die Muttergesellschaft geführt wird, zu deren Tochtergesellschaften dieses Unternehmen gehört, an denen sich eine für die Durchführung eines Fluges unerlässliche Beschäftigtengruppe dieser Tochtergesellschaft beteiligt und die über die ursprünglich von der zum Streik aufrufenden Gewerkschaft angekündigte Dauer hinaus fortgeführt werden, obwohl inzwischen eine Einigung mit der Muttergesellschaft erzielt wurde, unter den Begriff „außergewöhnliche Umstände“ iSd Art 5 Abs 3 fallen.82 Der EuGH hat die Vorlagefrage auf der Grundlage folgender Erwägungen verneint:83 Für den Fall der Annullierung eines Fluges sieht Art 5 FluggastrechteVO vor, dass betroffenen Fluggästen vom ausführenden Luftfahrtunternehmen ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen gemäß Art 7 Abs 1 der VO eingeräumt wird, sofern sie nicht über diese Annullierung fristgerecht unterrichtet wurden. Das Unternehmen ist allerdings nach Art 5 Abs 3 von dieser Ausgleichsverpflichtung befreit, kann es nachweisen, dass die Annullierung auf „außergewöhnliche Umstände“ zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wären alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden. Der Begriff „außergewöhnliche Umstände“ iSd Art 5 Abs 3 umfasst nach stRsp Vorkommnisse, die ihrer Natur oder Ursache nach nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betreffenden Luftfahrtunternehmens und von ihm nicht tatsächlich beherrschbar sind.84 Seine bisherige Rsp bestätigend qualifiziert der EuGH einen Streik, dessen Ziel sich darauf beschränkt, gegenüber Luftfahrtunternehmen eine Gehaltserhöhung für das Kabinenpersonal durchzusetzen, insbesondere dann als ein Vorkommnis, das Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit ist, wenn es sich um einen rechtmäßigen Streik handelt. Nachdem sich sowohl die Sozialpolitik innerhalb einer Muttergesellschaft als auch die von ihr bestimmte Konzernpolitik auf die Sozialpolitik und -strategie der Tochtergesellschaften dieses Konzerns auswirken können, könne ein Streik, der von der Belegschaft eines ausführenden Luftfahrtunternehmens aus Solidarität mit einem Streik ausgelöst wurde, den die Belegschaft der Muttergesellschaft führt, deren Tochtergesellschaft das ausführende Luftfahrtunternehmen ist, nicht als Ereignis angesehen werden, das nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit dieses Unternehmens ist. Es erscheine weder ungewöhnlich noch unvorhersehbar, dass sich Arbeitskonflikte im Zuge von Tarifverhandlungen auf verschiedene Teile einer Unternehmensgruppe ausweiten.85 Nach Ansicht des EuGH ist ein Streik zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen und/oder Sozialleistungen der Beschäftig-

82 EuGH, Rs C-613/20 (FN 81) Rz 16 f zu den – zusammengefassten – Vorlagefragen. 83 EuGH, Rs C-613/20 (FN 81) Rz 34. 84 EuGH, Rs C-613/20 (FN 81) Rz 18 f mit Verweis auf (GK) 23. 3. 2021, Rs C-28/20, Airhelp, EU:C:2021:226, Rz 23 f. 85 EuGH, Rs C-613/20 (FN 81) Rz 20–23 mit Verweis auf 17. 4. 2018, verb Rs C-195/17, C-197–203/17, C-226/17, C-228/17, C-254/17, C-274/17, C-275/17, C-278–286/17 und C-290–292/17, Krüsemann ua, EU:C:2018:258, Rz 41 f; und Rs C-28/20 (FN 84) Rz 28 ff.

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ten auch dann kein Ereignis, das vom betreffenden Luftfahrtunternehmen in keiner Weise tatsächlich beherrschbar ist, wenn dieser Streik aus Solidarität mit der streikenden Belegschaft der Muttergesellschaft erfolgt, deren Tochtergesellschaft das betroffene Luftfahrtunternehmen ist. Die Tatsache, dass sich Arbeitnehmer auf das Recht auf Streik nach Art 28 GRC berufen und Streikmaßnahmen auslösen, sei nämlich – insbesondere dann, wenn ein solcher Streik angekündigt wurde – als für jeden Arbeitgeber vorhersehbare Tatsache anzusehen. Auch stelle ein nach dem nationalen Recht rechtmäßig angekündigter Streik, der sich nach den abgegebenen Erklärungen auch auf Bereiche erstrecken konnte, die die Tätigkeit eines zunächst nicht vom Streik betroffenen Unternehmens berühren, kein ungewöhnliches und unvorhersehbares Ereignis dar. Dementsprechend sei, wenn eine Gewerkschaft die Beschäftigten einer Muttergesellschaft zum Streik aufruft, vorhersehbar, dass sich die Beschäftigten anderer von dieser Muttergesellschaft geführter Konzernteile diesem Streik aus Solidarität oder mit dem Ziel anschließen, ihre eigenen Interessen durchzusetzen.86 Da für ihn der Ausbruch eines Streiks ein vorhersehbares Ereignis darstellt, verfüge der Arbeitgeber grundsätzlich über die Mittel, sich auf den Streik vorzubereiten und damit dessen Folgen gegebenenfalls abzufangen, so der EuGH weiter. Die Ereignisse würden damit für ihn zu einem gewissen Grad beherrschbar bleiben. Der Begriff „außergewöhnlicher Umstand“ iSd Art 5 Abs 3 FluggastrechteVO sei eng auszulegen. Die Wahl des Ausdrucks „außergewöhnlich“ spreche nämlich für den Willen des Unionsgesetzgebers, in diesen Begriff nur Umstände einzubeziehen, die für das ausführende Luftfahrtunternehmen nicht kontrollierbar sind. Zur Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit der Ausgleichsverpflichtung nach Art 7 Abs 1 könne im Ergebnis ein Streik der Beschäftigten des ausführenden Luftfahrtunternehmens nicht als „außergewöhnlicher Umstand“ iSd Art 5 Abs 3 dieser Verordnung angesehen werden, ist dieser Streik mit Forderungen zur Durchsetzung von Gehaltsforderungen und/oder Sozialleistungen der Beschäftigten dieses Unternehmens verbunden, die im Rahmen des konzerninternen sozialen Dialogs verhandelt werden können.87 Der EuGH verweist noch darauf, der Unionsgesetzgeber habe, indem er im 14. Erwägungsgrund der FluggastrechteVO angibt, außergewöhnliche Umstände könnten insbesondere bei den Betrieb eines ausführenden Luftfahrtunternehmens beeinträchtigenden Streiks eintreten, auf außerhalb der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens liegende Streiks beispielsweise der Fluglotsen oder des Flughafenpersonals Bezug nehmen wollen. Bei einem von den eigenen Beschäftigten eines ausführenden Luftfahrtunternehmens ausgelösten und befolgten Streik handle es aber um ein „internes“ Ereignis dieses Unternehmens. Dies schließe auch

86 EuGH, Rs C-613/20 (FN 81) Rz 24–27 mit Verweis auf 7. 5. 1991, Rs C-338/89, Organisationen Danske Slagterier, EU:C:1991:192, Rz 18; und Rs C-28/20 (FN 84) Rz 32 und 36. 87 EuGH, Rs C-613/20 (FN 81) Rz 28 f mit Verweis auf Rs C-28/20 (FN 84) Rz 35–38.

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einen durch Streikaufruf von Gewerkschaften ausgelösten Streik ein, weil diese im Interesse der Arbeitnehmer dieses Unternehmens auftreten. Dass ein Streik möglicherweise länger als in der Ankündigung angegeben dauert, könne selbst dann nicht als entscheidend angesehen werden, wenn inzwischen mit der Muttergesellschaft eine Einigung erzielt wurde. Diese Einordnung des Streiks im Hinblick auf Art 5 Abs 3 der VO werde auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass er nach nationalem Recht auf Grund des Überschreitens der ursprünglich von der zum Streik aufrufenden Gewerkschaft angekündigten Dauer als rechtswidrig anzusehen ist.88

D.

Schulrecht

59-10 Gemäß § 5 Abs 4 Privatschulgesetz89 haben die an einer Privatschule verwendeten Lehrer die in § 5 Abs 1 angeführten Erfordernisse zu erfüllen. Nach § 5 Abs 1 lit d hat ein Lehrer in der deutschen Sprache Sprachkenntnisse nach zumindest dem Referenzniveau C 1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen entsprechend der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates an die Mitgliedsstaaten Nr R (98) 6 vom 17. 3. 1998 (GER) nachzuweisen. § 5 Abs 1 zweiter Satz zufolge wird das Erfordernis nach lit d auch durch den Nachweis von zumindest gleichwertigen Sprachkenntnissen erfüllt. Nach dem dritten Satz des § 5 Abs 1 gilt lit d nicht für Personen iSd § 1 Z 2 AuslBVO90 idF BGBl II 257/2017 sowie für Schulen, die keine gesetzlich geregelte Schulartbezeichnung führen oder durch deren Besuch nach § 12 Schulpflichtgesetz 198591 die allgemeine Schulpflicht nicht erfüllt werden kann oder die nach dem vom zuständigen Bundesminister erlassenen oder genehmigten Organisationsstatut nicht auf die Erlangung eines Zeugnisses über den erfolgreichen Besuch einer Schulstufe oder einer Schulart (Form bzw Fachrichtung einer Schulart) oder nicht auf den Erwerb der mit der erfolgreichen Ablegung einer Reife-, Reife- und Diplom-, Diplom- oder Abschlussprüfung verbundenen Berechtigungen abzielen. Mit Erk vom 17. 6. 202192 hat der VfGH in einem über mehrere Anträge des BVwG iSd Art 140 Abs 1 Z 1 lit a B-VG, alle gerichtet auf die Aufhebung von § 5 Abs 1 lit d, Abs 1 zweiter und dritter Satz und Abs 4 Privatschulgesetz, eingeleiteten93 Gesetzesprüfungsverfahren § 5 Abs 4 dieses Gesetzes mit Ablauf des 30. 6. 2022 aufgehoben (Art 140 Abs 5 dritter und vierter Satz B-VG) und ausgesprochen, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten (Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG). Gleichzeitig hat er die Anträge, soweit sie sich gegen § 5 Abs 1 lit d und Abs 1

88 EuGH, Rs C-613/20 (FN 81) Rz 30 ff mit Verweis auf Rs C-28/20 (FN 84) Rz 42 und 44 f; und verb Rs C-195/17 ua (FN 85) Rz 46. 89 Privatschulgesetz, BGBl 244/1962 idF BGBl I 35/2019. 90 Ausländerbeschäftigungsverordnung – AuslBVO, BGBl 609/1990. 91 BGBl 76/1985. 92 VfGH 17. 6. 2021, G 391/2020 ua, Rz 110–113. Kundmachung der Aufhebung in BGBl I 135/2021. 93 VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 7–19 zu den Anlassverfahren.

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zweiter und dritter Satz dieses Gesetzes richten, abgewiesen, sie im Übrigen94 zurückgewiesen. Das BVwG hatte das Bedenken, die angefochtenen Vorschriften würden gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Dafür, dass die an einer Privatschule verwendeten Lehrer jedenfalls und unabhängig von der tatsächlichen Unterrichtssprache Sprachkenntnisse in der deutschen Sprache nach zumindest dem Referenzniveau C 1 des GER nachweisen müssten, sei keine sachliche Rechtfertigung erkennbar. Auch bestünde keine vergleichbare Regelung für die Verwendung von Lehrern an öffentlichen Schulen.95 Nach Ansicht des VfGH sind die dem Gesetzgeber durch den Gleichheitsgrundsatz gesetzten Schranken überschritten:96 Der VfGH konstatiert zunächst, nach § 5 Abs 1 lit d, Abs 1 zweiter und dritter Satz iVm Abs 4 Privatschulgesetz sei unabhängig von der tatsächlich verwendeten Unterrichtssprache für Lehrpersonen an Privatschulen, die nicht unter die Ausnahmebestimmung nach § 5 Abs 1 dritter Satz fallen, der Nachweis von Sprachkenntnissen in der deutschen Sprache nach zumindest dem Referenzniveau C 1 des GER zu erbringen. Werde ein entsprechender Nachweis nicht erbracht, habe die Schulbehörde die Verwendung zu untersagen.97 In dem in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Ziel des § 5 Abs 1 lit d Privatschulgesetz – der Gewährleistung eines qualitätsvollen Unterrichts bzw der ausreichenden Sprachkompetenz der Lehrkräfte in der Unterrichtssprache – kann der VfGH in Bezug auf die an Privatschulen verwendeten Lehrer keine sachliche Rechtfertigung für die angefochtene Regelung erkennen.98 Dabei geht er davon aus, gemäß § 5 Abs 1 lit c iVm Abs 4 Privatschulgesetz sei für die an einer Privatschule verwendeten Lehrer die „Lehrbefähigung“ für die betreffende oder eine verwandte Schulart oder eine „sonstige geeignete Befähigung“ – im Ergebnis die Befähigung, die jeweils für die in Aussicht genommene Verwendung der Lehrkraft erforderlich ist – nachzuweisen. Der zu erbringende Befähigungsnachweis sei somit abhängig von der konkreten Schulart und den Unterrichtsgegenständen, die eine Lehrkraft unterrichten soll. Hierfür verweise das Privatschulgesetz auf die für Bundes- und Landeslehrer bestehenden Ernennungs- bzw Anstellungserfordernisse. Soll der Befähigungsnachweis mit einer „sonstigen geeigneten Befähigung“ erbracht werden, habe diese mit den für gesetzlich geregelte Schularten vorgesehenen Erfordernissen vergleichbar zu sein. Eine den Voraussetzungen des § 5 Abs 1 lit c entsprechende Befähigung umfasse auch die für die konkrete Schulart und die konkreten Unterrichtsgegenstände erforderlichen Kenntnisse der jeweils verwendeten Unterrichtssprache. Die für die in Aussicht genommene Verwendung einer Lehrkraft erforderlichen 94 95 96 97 98

VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 73–77 zur Zulässigkeit. VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 20–34 zum Antragsvorbringen. VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 80 f. VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 82–89. VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 90 mit Verweis auf IA 2254/A und AB 1707 BlgNR 25. GP 154 bzw 59.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE Sprachkenntnisse würden bereits durch § 5 Abs 1 lit c sichergestellt, unterstreicht der VfGH. Bei der Anzeige der Bestellung von Lehrkräften iSd § 5 Abs 6 sei daher anzugeben, welche Verwendung in Aussicht genommen wird. Die zuständige Schulbehörde müsse die Verwendung einer Person nach § 5 Abs 1 lit c iVm Abs 6 untersagen, verfügte diese nicht über die für die in Aussicht genommene Verwendung erforderlichen Sprachkenntnisse.99 Dass das Verwendungserfordernis des Nachweises einer Sprachkompetenz in der deutschen Sprache auf dem Referenzniveau C 1 des GER für Lehrkräfte an Privatschulen unabhängig von der tatsächlichen Unterrichts- bzw Arbeitssprache auch das Ziel verfolge, neben qualitätsvoller Unterrichtsarbeit die „nachhaltige Erziehungsarbeit“ von Schulen zu gewährleisten, ist nach Ansicht des VfGH nicht geeignet, das Bedenken der Unsachlichkeit der Regelung in Bezug auf die an Privatschulen verwendeten Lehrer zu entkräften. Denn der Gesetzgeber gehe offenkundig selbst nicht davon aus, dass das in Rede stehende Verwendungserfordernis bei allen Privatschulen zur Gewährleistung der zwischenmenschlichen Kommunikation für eine „nachhaltige Erziehungsarbeit“ erforderlich wäre. § 5 Abs 1 dritter Satz Privatschulgesetz verweise statisch auf § 1 Z 2 AuslBVO idF BGBl II 257/2017 und nehme das ausländische Lehrpersonal an den dort taxativ aufgezählten internationalen Privatschulen (mit internationalem Lehrplan bzw spezifisch fremdsprachigem Bildungsangebot) vom Verwendungserfordernis des § 5 Abs 1 lit d aus. Weshalb gerade die Lehrkräfte dieser internationalen Schulen von dem in Rede stehenden Verwendungserfordernis ausgenommen werden, folge aus den Gesetzesmaterialien nicht.100 Der VfGH verweist darauf, dass mit der AuslBVO-Novelle BGBl II 263/2019 die Aufzählung in § 1 Z 2 AuslBVO um zwei weitere Schulen – die Japanische Internationale Schule in Wien und die International School Carinthia – ergänzt worden sei. Diese seien nunmehr zwar vom Geltungsbereich des AuslBG101 ausgenommen. Auf Grund des statischen Verweises in § 5 Abs 1 dritter Satz Privatschulgesetz auf § 1 Z 2 AuslBVO idF BGBl II 257/2017 sei deren Lehrpersonal jedoch nicht vom Verwendungserfordernis nach § 5 Abs 1 lit d Privatschulgesetz ausgenommen. Der VfGH kann keine sachliche Rechtfertigung erkennen, weshalb nur das ausländische Lehrpersonal an den in § 1 Z 2 AuslBVO idF BGBl II 257/2017 aufgezählten Schulen in der Lage sein soll, auch ohne Deutschkenntnisse auf dem Referenzniveau C 1 eine hinreichende „nachhaltige Erziehungsarbeit“ zu leisten. § 5 Abs 1 lit d, Abs 1 zweiter und dritter Satz iVm Abs 4 Privatschulgesetz würde ohne ersichtlichen Grund zwischen den in § 1 Z 2 AuslBVO idF BGBl II 257/2017 benannten Schulen und anderen vergleichbaren Privatschulen wie insbesondere die Japanische Internationale Schule in Wien und die International School Carinthia, die in

99

VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 91–95 mit Verweis auf VwGH 27. 9. 2018, Ra 2017/10/0101. 100 VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 96–100 mit Verweis auf IA 260/A BlgNR 26. GP 2. 101 Ausländerbeschäftigungsgesetz – AuslBG, BGBl 218/1975.

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§ 1 Z 2 AuslBVO idF BGBl II 263/2019 angeführt sind, differenzieren. Im Hinblick auf den international ausgerichteten Lehrplan und das spezifisch fremdsprachige Bildungsangebot sei auch die International Christian School of Vienna vergleichbar.102 Abschließend unterstreicht der VfGH, auch abgesehen von internationalen Schulen könne in bestimmten Fällen eine Ausnahme von § 5 Abs 1 lit d iVm Abs 4 Privatschulgesetz geboten sein, um spezifisch fremdsprachige Bildungsangebote nicht völlig zu verunmöglichen. § 5 Abs 1 lit d, Abs 1 zweiter und dritter Satz iVm Abs 4 würden es aber ausnahmslos ausschließen, auf solche Konstellationen Rücksicht zu nehmen, in denen für ein spezifisches – insbesondere fremdsprachiges – Bildungsangebot hinreichend fachlich qualifizierte Lehrkräfte, die gleichzeitig Deutschkenntnisse auf zumindest dem Referenzniveau C 1 mitbringen, kaum verfügbar sind. Das Interesse an der Gewährleistung der zwischenmenschlichen Kommunikation für eine „nachhaltige Erziehungsarbeit“ könne es nicht rechtfertigen, dass die angefochtenen Vorschriften eine Interessenabwägung und Berücksichtigung im Einzelfall ausnahmslos ausschließen.103

E.

Zivildienstrecht

59-11 Nach § 34b Abs 1 ZDG104 hat der Zivildienstpflichtige, der einen außerordentlichen Zivildienst gemäß § 21 Abs 1 ZDG leistet, für die Dauer eines solchen Dienstes Anspruch auf Entschädigung oder Fortzahlung der Dienstbezüge, wie er einem Wehrpflichtigen zusteht, der nach § 2 Abs 1 lit a WG 2001105 einen Einsatzpräsenzdienst leistet. „Auf die Entschädigung und die Fortzahlung der Dienstbezüge sind [gemäß § 34b Abs 2] die Bestimmung[en] des 6. Hauptstückes des HGG 2001[106] sowie dessen §§ 50, 51 Abs. 1, 54 Abs. 1 bis 5 und 55 anzuwenden“; dabei tritt an die Stelle der in § 44 Abs 2 Z 1 HGG 2001 genannten militärischen Dienststelle die Zivildienstserviceagentur. § 51 Abs 1 HGG 2011 zufolge obliegt die Zuständigkeit zur Erlassung von Bescheiden nach diesem Bundesgesetz grundsätzlich dem Heerespersonalamt. Mit Erk vom 17. 6. 2021107 hat der VfGH in einem sowohl von Amts wegen108 als auch über Anträge von BVwG und VwGH109 eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren die Zeichenfolge „51 Abs. 1,“ in § 34b Abs 2 ZDG mit Ablauf des 31. 12. 2022 aufgehoben (Art 140 Abs 5 dritter und vierter Satz B-VG) und ausgesprochen, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten (Art 140 Abs 6 erster Satz B-VG).

102 103 104 105 106

VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 102 ff. VfGH, G 391/2020 ua (FN 92) Rz 105 f. Zivildienstgesetz 1986 – ZDG, BGBl 679/1986 idF BGBl I 16/2020. Wehrgesetz 2001 – WG 2001, BGBl I 146/2001 idF BGBl I 111/2010. Heeresgebührengesetz 2001 – HGG 2001, BGBl I 31/2001 idF BGBl I 181/ 2013. 107 VfGH 17. 6. 2021, G 47–75, 184 und 194/2021, Rz 34 ff; Kundmachung der Aufhebung in BGBl I 169/2021. 108 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 1–4 zum Anlassverfahren vor dem VfGH und Rz 12 zum Prüfungsbeschluss. 109 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 5 f und 13 f zum Antragsvorbringen von BVwG und VwGH.

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Einleitend erinnert der VfGH, Wehrpflichtige im Sinne des WG 2001, die zum Wehrdienst tauglich befunden wurden, könnten gemäß § 1 Abs 1 ZDG bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen erklären, Zivildienst leisten zu wollen. Der Zivildienst sei von Verfassung wegen als Ersatzdienst zum Wehrdienst eingerichtet. Nach stRsp räume Art 9a Abs 4 B-VG iVm § 1 ZDG damit dem in § 1 Abs 1 ZDG genannten Personenkreis verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte ein.110 Sodann unterstreicht der VfGH, der Gesetzgeber sei bei der Schaffung des Zivildienstes 1974 davon ausgegangen, mit der bisherigen Rechtslage im Wehrgesetz 1955 werde das „zwar formal respektierte Recht auf Gewissensfreiheit [...] durch die funktionelle und organisatorische Eingliederung des Waffendienstverweigerers in den Apparat des Bundesheeres faktisch wieder eingeschränkt“. Damit habe sich eine Aufspaltung des Zivil- und des Wehrdienstes im Sinne einer gänzlichen Herauslösung des Wehrersatzdienstes aus dem Apparat des Bundesheeres zur effektiven Gewährleistung des Rechtes auf Gewissensfreiheit erforderlich erwiesen. Dies werde in den Gesetzesmaterialien auch damit begründet, dass sich Waffendienstverweigerer durch die Einbindung in den Apparat der militärischen Landesverteidigung einer Stigmatisierung durch den waffentragenden Teil des Bundesheeres ausgesetzt gesehen hätten.111 Angesichts der historischen Entwicklung des ZDG und seiner verfassungsrechtlichen Grundlagen lässt sich nach Ansicht des VfGH § 1 ZDG nicht auf eine – derart enge – Bedeutung beschränken, nach der diese Vorschrift über den Schutz gegen die Verpflichtung zur Gewaltanwendung und über die Gewährleistung, den Zivildienst außerhalb des Bundesheeres zu leisten, hinaus keinerlei Regelung über die Vollziehung der mit dem Zivildienst im engeren Sinne verbundenen Aufgaben enthalte.112 Der Zivildienstpflichtige sei nach § 3 Abs 1 ZDG zu Dienstleistungen heranzuziehen, die der zivilen Landesverteidigung oder sonst dem allgemeinen Besten dienen. Die in Art 9a B-VG enthaltene, strukturelle Aufzählung der militärischen, geistigen, zivilen und wirtschaftlichen Landesverteidigung verdeutliche die verfassungsrechtlich gebotene Gliederung und Gestaltungsnotwendigkeit der umfassenden Landesverteidigung. Mit der Erlassung des Zivildienstgesetzes im Jahr 1974113 und der ZDG-Novelle 1994114 habe der (Verfassungs-)Gesetzgeber nicht wie im Wehrgesetz von 1955115 punktuelle Regelungen für den Wehrersatzdienst treffen, sondern zwei grundsätzlich voneinander getrennte Systeme schaffen wollen, wie auch die Materialien zum Zivildienstgesetz von 1974 zeigen. Die Entflechtung von den Dienst mit der Waffe ablehnenden Personen vom sonstigen Apparat des Bundesheeres sei seit der Einführung des Zivildienstes

110 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 25 mit Verweis auf VfSlg 13.905/1994 und 16.389/2001 sowie VfSlg 8033/1977, 12.902/1991, 13.496/1993, 13.700/1994, 14.203/1995 und 16.389/2001. 111 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 26 mit Verweis auf RV 603 BlgNR 13. GP 13. 112 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 27 f. 113 BGBl 187/1974. 114 BGBl 187/1994. 115 BGBl 181/1955.

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1974 auf einfachgesetzlicher Ebene umfassend umgesetzt und die Vollziehung des Zivildienstgesetzes nahezu gänzlich der Zuständigkeit des Bundesministers für Landesverteidigung entzogen worden.116 Der VfGH betont nunmehr, die österreichische Bundesverfassung trenne den Bereich der zivilen Gewalt und jenen der militärischen Gewalt strikt voneinander. Aus § 1 Abs 1 und 5 ZDG folge die Zuordnung des Zivildienstes zur zivilen Gewalt. Eine Verknüpfung der beiden grundsätzlich getrennten Systeme, die sich nicht schon aus der Wehrpflicht ergebe (insbesondere Stellungsverfahren und Antrag auf Befreiung von der Wehrpflicht), komme daher nur in engen Grenzen in Betracht.117 Der angestrebten Trennung der beiden – unterschiedlichen Gewalten zuzurechnenden – Systeme werde durch eine derart enge Bedeutung des § 1 ZDG wie die zuvor dargelegte nicht Genüge getan, so der VfGH: Den Zielen des (Verfassungs-)Gesetzgebers werde nämlich mit der Vollziehung von Verwaltungsangelegenheiten im Bereich des Zivildienstes durch eine dem Bundesminister für militärische Angelegenheiten organisatorisch untergeordnete, funktionell Zwecken des Bundesheeres dienende Behörde nicht Rechnung getragen. Der seit der ZDGNovelle 1994 im Verfassungsrang bestehenden Vorschrift des § 1 Abs 5 ZDG sei daher die Bedeutung beizumessen, dass (auch) sämtliche im Zusammenhang mit dem Zivildienst stehenden Verwaltungsaufgaben nicht von Behörden besorgt werden dürfen, die – wie das Heerespersonalamt – organisatorisch dem Bundesminister für militärische Landesverteidigung unterstehen.118

IV. Zivil-, Unternehmens- und Strafrecht, einschließlich des Zivil- und Strafprozessrechtes A.

Arbeitsrecht

59-12 Mit einem Urteil vom 9. 9. 2021119 hat der EuGH Art 2 ArbeitszeitRL120 und den Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ausgelegt. Das Vorabentscheidungsersuchen dazu war im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Betriebsfeuerwehrmann XR und dem Unternehmen Dopravní podnik hl. m. Prahy über dessen Weigerung, an XR einen Betrag von 95.335 tschechischen Kronen (ca € 3.600,–) zuzüglich Verzugszinsen als Vergütung für die im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit zwischen November 2005 und Dezember 2008 genommenen Ruhepausen zu zahlen, ergangen.

116 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 29 mit Verweis auf Neisser, Art 9a B-VG, in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (7. Lfg, 2011) Rz 6 f. 117 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 30 f. 118 VfGH, G 47/2021 ua (FN 107) Rz 32 f mit Verweis auf Truppe, Art 79 B-VG, in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (9. Lfg, 2012) Rz 12 zum Begriff der Heeresverwaltung. 119 EuGH 9. 9. 2021, Rs C-107/19, XR, EU:C:2021:722, Rz 11–19 zum Anlassverfahren. 120 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 4. 11. 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl 2003 L 299/9.

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Das Stadtbezirksgericht Prag 9 wollte zum einen wissen, ob Art 2 ArbeitszeitRL dahin auszulegen ist, dass die einem Arbeitnehmer während seiner täglichen Arbeitszeit gewährte Ruhepause, in der er, wenn nötig, binnen zwei Minuten einsatzbereit sein muss, als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ iSd Art 2 einzustufen ist und ob der gelegentliche und unvorhersehbare Charakter sowie die Häufigkeit von Einsatzfahrten während dieser Ruhepause einen Einfluss auf die rechtliche Qualifizierung haben. Zum anderen wollte es erfahren, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht, nachdem seine Entscheidung durch ein übergeordnetes Gericht aufgehoben wurde, nach dem nationalen Verfahrensrecht bei seiner Entscheidung an die Rechtsauffassung dieses übergeordneten Gerichts gebunden ist, wenn diese mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist.121 Zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage stellt der EuGH zunächst klar, XR sei während seiner Ruhepause an seinem Arbeitsplatz nicht ersetzt worden und habe über ein Funkgerät verfügt, mit dem er alarmiert werden konnte, falls er seine Pause für einen plötzlichen Einsatz unterbrechen musste, und konstatiert, dass der Kläger des Anlassverfahrens damit während seiner Pausen einer Bereitschaftsregelung unterlag. Der Begriff „Bereitschaft“ umfasse allgemein sämtliche Zeiträume, in denen der Arbeitnehmer seinem Arbeitgeber zur Verfügung steht, um auf dessen Verlangen eine Arbeitsleistung erbringen zu können.122 Sodann unterstreicht der EuGH, die in der ArbeitszeitRL gebrauchten Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ würden einander ausschließen. Für die Zwecke der Anwendung der RL sei die Bereitschaftszeit eines Arbeitnehmers daher entweder als „Arbeitszeit“ oder als „Ruhezeit“ einzustufen. Als unionsrechtliche Begriffe seien diese Begriffe autonom auszulegen.123 Aus der Rsp zu Bereitschaftszeiten folgt, dass unter den Begriff „Arbeitszeit“ im Sinne der ArbeitszeitRL sämtliche Bereitschaftszeiten einschließlich Rufbereitschaften fallen, während derer dem Arbeitnehmer Einschränkungen solcher Art auferlegt werden, dass sie seine Möglichkeit, während der Bereitschaftszeiten die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen, objektiv gesehen ganz erheblich beeinträchtigen.124 Das vorlegende Gericht habe, so der EuGH, unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu beurteilen, ob die XR während seiner Ruhepause auferlegte Einschränkung, die sich aus der Notwendigkeit ergab, binnen zwei Minuten einsatzbereit zu sein, solcher Art war, dass sie die Möglichkeit dieses Arbeitnehmers, seine Zeit frei zu gestalten, um sich Tätigkeiten seiner Wahl zu widmen,

objektiv gesehen ganz erheblich beschränkte. Dazu gibt der EuGH dem vorlegenden Gericht noch folgende Hinweise:125 Da die Ruhezeiten, die XR gewährt wurden, von kurzer Dauer waren (jeweils 30 Minuten), habe das vorlegende Gericht bei seiner Prüfung, ob die XR im Rahmen dieser Zeiträume auferlegten Einschränkungen solche der zuvor beschriebenen Art waren, gleichwohl nicht die Beschränkungen zu berücksichtigen, die auf jeden Fall bestanden hätten, nachdem sie sich zwangsläufig aus der 30-minütigen Dauer jeder Ruhepause ableiteten, weil diese Beschränkungen unabhängig von jenen sind, die mit seiner Verpflichtung einhergehen, binnen zwei Minuten einsatzbereit zu sein.126 Die im Durchschnitt seltene Inanspruchnahme des Arbeitnehmers während seiner Bereitschaftszeiten könne nicht dazu führen, dass sie als „Ruhezeiten“ iSd Art 2 Nr 2 ArbeitszeitRL anzusehen sind, wenn die dem Arbeitnehmer für die Aufnahme seiner beruflichen Tätigkeit auferlegte Frist hinreichende Auswirkungen hat, um seine Möglichkeit zur freien Gestaltung der Zeit, in der während der Bereitschaftszeiten seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, objektiv gesehen ganz erheblich einzuschränken. Im Übrigen könne die Unvorhersehbarkeit möglicher Unterbrechungen der Ruhepausen eine zusätzliche beschränkende Wirkung in Bezug auf die Möglichkeit des Arbeitnehmers, diese Zeit frei zu gestalten, haben. Denn die sich daraus ergebende Ungewissheit könne diesen Arbeitnehmer in Daueralarmbereitschaft versetzen.127 Die einem Arbeitnehmer während seiner täglichen Arbeitszeit gewährte Ruhepause, in der er, wenn nötig, binnen zwei Minuten einsatzbereit sein muss, ist – zusammengefasst – als „Arbeitszeit“ iSd Art 2 ArbeitszeitRL einzustufen, ergibt sich aus einer Gesamtwürdigung der relevanten Umstände, dass die dem Arbeitnehmer während dieser Ruhepause auferlegten Einschränkungen solcher Art sind, dass sie objektiv gesehen ganz erheblich seine Möglichkeit beschränken, die Zeit, in der seine beruflichen Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, frei zu gestalten und sie seinen eigenen Interessen zu widmen.128 Die zweite Vorlagefrage hat der EuGH auf der Grundlage folgender Erwägungen verneint:129 Der EuGH bekräftigt zunächst, nach dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts sei das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, verpflichtet, wenn es eine nationale Vorschrift nicht unionsrechtskonform auslegen kann, für die volle Wirksamkeit dieser Bestimmungen Sorge zu tragen. Dazu habe es erforderlichenfalls jede entgegenstehende nationale Vorschrift aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen.130 Sodann betont der EuGH, dass das nationale Gericht, das von der ihm nach Art 267 Abs 2 AEUV eingeräumten Möglichkeit Ge-

121 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 20 zu den Vorlagefragen. 122 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 27 mit Verweis auf (GK) 9. 3. 2021, Rs C-344/19, Radiotelevizija Slovenija, EU:C:2021:182, Rz 2. 123 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 28 f mit Verweis auf Rs C-344/19 (FN 122) Rz 29 f. 124 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 30–36 mit Verweis auf Rs C-344/19 (FN 122) Rz 32 f, 35 ff und 48 f.

125 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 37. 126 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 39. 127 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 40 f mit Verweis auf Rs C-344/19 (FN 122) Rz 54. 128 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 43. 129 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 49. 130 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 45 mit Verweis auf Rs C-573/17 (FN 58) Rz 58.

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ART.-NR.: 59

brauch gemacht hat, insoweit durch die Auslegung der fraglichen Vorschriften des Unionsrechts durch den Gerichtshof für die Entscheidung des Anlassverfahrens gebunden sei und gegebenenfalls von der Beurteilung des höheren Gerichts abweichen müsse, ist es angesichts dieser Auslegung der Ansicht, sie entspreche nicht dem Unionsrecht. Das vorlegende Gericht sei daher im vorliegenden Fall gehalten, für die volle Wirksamkeit von Art 267 AEUV zu sorgen, indem es erforderlichenfalls die nationalen Verfahrensvorschriften, die es verpflichten, das nationale Recht in seiner Auslegung durch das Oberste Gericht anzuwenden, unangewendet lässt, wenn diese Auslegung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.131

B.

Zivilrecht

59-13 Nach § 364c ABGB132 verpflichtet „[e]in vertragsmäßiges oder letztwilliges Veräußerungs- oder Belastungsverbot hinsichtlich einer Sache oder eines dinglichen Rechtes [...] nur den ersten Eigentümer, nicht aber seine Erben oder sonstigen Rechtsnachfolger. Gegen Dritte wirkt es dann, wenn es zwischen Ehegatten, eingetragenen Partnern, Eltern und Kindern, Wahl- oder Pflegekindern oder deren Ehegatten oder eingetragenen Partnern begründet und im öffentlichen Buche eingetragen wurde.“ Mit Erk vom 23. 6. 2021133 hat der VfGH einen auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG gestützten, zulässigen134 Antrag auf Aufhebung der Wortfolge „zwischen Ehegatten, eingetragenen Partnern, Eltern und Kindern, Wahl- oder Pflegekindern oder deren Ehegatten oder eingetragenen Partnern“ im zweiten Satz des § 364c ABGB als unbegründet abgewiesen. Die Antragsteller hatten das – vom VfGH nicht geteilte – Bedenken, die angefochtene Wortfolge im zweiten Satz des § 364c ABGB verstoße – wegen des Ausschlusses von Lebensgefährten wie den Antragstellern von der Möglichkeit, Familienbesitz durch die Drittwirksamkeit eines im Grundbuch eingetragenen Veräußerungsund Belastungsverbots zu schützen – gegen den in Art 7 B-VG und Art 2 StGG verbrieften Gleichheitsgrundsatz und gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art 8 iVm Art 14 EMRK.135 Nach stRsp bindet der Gleichheitsgrundsatz auch den Gesetzgeber, indem er ihm insofern inhaltliche Schranken setzt, als er verbietet, sachlich nicht begründbare Regelungen zu treffen. Innerhalb dieser Schranken ist es ihm von Verfassung wegen durch den Gleichheitsgrundsatz jedoch nicht verwehrt, seine politischen Zielvorstellungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verfolgen. Mit dem Maßstab des Gleichheitsgrundsatzes kann allerdings nicht gemessen werden, ob eine Regelung zweckmäßig ist und das Ergebnis in allen Fällen als befriedigend empfunden wird.136

131 EuGH, Rs C-107/19 (FN 119) Rz 46 und 48 mit Verweis auf (GK) 5. 7. 2016, Rs C-614/14, Ognyanov, EU:C:2016:514, Rz 35. 132 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch – ABGB, JGS 946/1811 idF BGBl I 135/2009. 133 VfGH 23. 6. 2021, G 32/2021, Rz 49, zum Anlassverfahren siehe Rz 3 ff. 134 VfGH, G 32/2021 (FN 133) Rz 7–26 zur Zulässigkeit. 135 VfGH, G 32/2021 (FN 133) Rz 5 zum Antragsvorbringen. 136 VfGH, G 32/2021 (FN 133) Rz 40 mit Verweis auf VfSlg 10.455/1985, 11.616/1988, 13.327/1993, 14.039/1995, 14.301/1995, 15.674/1999,

Kröll, VfGH | Unionsgerichte

Nach Ansicht des VfGH ist im gegebenen Zusammenhang zu berücksichtigen, dass es den Antragstellern nicht verwehrt ist, ein schuldrechtliches Veräußerungs- und Belastungsverbot nach § 364c erster Satz ABGB abzuschließen. Ein Eingriff in ein solches könne Dritte unter bestimmten Voraussetzungen auch zum Schadenersatz verpflichten. Es sei ihnen nur verwehrt, dieses Veräußerungs- und Belastungsverbot durch Eintragung im Grundbuch auch mit (genereller) Wirkung gegenüber Dritten auszustatten.137 Mit der Regelung des § 364c zweiter Satz ABGB werde ein Interessenausgleich zwischen dem Erhalt des Familienvermögens einerseits und dem Interesse der Allgemeinheit an der Verkehrsfähigkeit von Liegenschaften andererseits verfolgt, betont der VfGH. Daher solle ein Veräußerungs- und Belastungsverbot mit Drittwirksamkeit nur in engen (personellen) Grenzen erlangt werden können, um die Veräußerbarkeit von Liegenschaftsvermögen nicht in unbilliger Weise zu beschränken. Der Gesetzgeber überschreite seinen rechtspolitischen Gestaltungsspielraum aus diesem Grund auch nicht, wenn er Lebensgefährten von der Möglichkeit ausschließt, ein zwischen ihnen geschlossenes Veräußerungs- und Belastungsverbot im Grundbuch eintragen zu lassen und damit mit Wirkung gegenüber Dritten auszustatten.138 Der VfGH verweist auch darauf, dass das Grundbuchsverfahren dem Grundsatz nach als reines Urkundenverfahren ausgestaltet ist. Einverleibungen und Vormerkungen können § 26 GBG 1955139 zufolge nur auf Grund von Urkunden bewilligt werden, die in der zu ihrer Gültigkeit vorgeschriebenen Form ausgefertigt sind. Dies gelte auch für Veräußerungs- und Belastungsverbote. Anders als bei den in § 364c zweiter Satz ABGB genannten Personen bzw Rechtsverhältnissen könne bei Lebensgefährten bei der Prüfung des Grundbuchsgesuchs nicht auf (öffentliche) Urkunden zurückgegriffen werden, die das Vorliegen einer Lebensgemeinschaft unzweifelhaft bestätigen könnten. Das Bestehen einer solchen müsse vielmehr im Einzelfall anhand einer Reihe von Kriterien beurteilt werden. Eine unsachliche Ungleichbehandlung liegt daher auch insofern nicht vor, so der VfGH.140 Da die Antragsteller zur Untermauerung des von ihnen behaupteten Verstoßes gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens nach Art 8 iVm Art 14 EMRK lediglich ihre im Zusammenhang mit der geltend gemachten Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes vorgebrachten Argumente wiederholen, beschränkt sich der VfGH darauf, auf seine Erwägungen zum behaupteten Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zu verweisen; ein solcher gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens liege nicht vor.141

137 138 139 140

141

15.980/2000, 16.176/2001, 16.407/2001, 16.504/2002, 16.814/2003, 20.224/2017 und 20.343/2019. VfGH, G 32/2021 (FN 133) Rz 41 mit Verweis auf Frössel, Die Beeinträchtigung fremder Forderungsrechte an Liegenschaften (2019) 259 f. VfGH, G 32/2021 (FN 133) Rz 42. Allgemeines Grundbuchsgesetz 1955 – GBG 1955, BGBl 39/1955. VfGH, G 32/2021 (FN 133) Rz 43 f mit Verweis auf Kodek, § 75 GBG 1955, in Kodek (Hrsg), Kommentar zum Grundbuchsrecht2 (2016) Rz 33; und Hagleitner, § 26 GBG, ebendort, Rz 45 f. VfGH, G 32/2021 (FN 133) Rz 48.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE

C.

Strafrecht

59-14 § 58 Abs 3a StGB142 zufolge bleibt „[e]ine nach den [Abs 1–3 des § 58] eingetretene Hemmung der Verjährung [...] wirksam, auch wenn durch eine spätere Änderung des Gesetzes die Tat im Zeitpunkt der Hemmung nach dem neuen Recht bereits verjährt gewesen wäre“. Gemäß Art 12 § 2 StRÄG 2015143 ist „[f]ür Taten, deretwegen am 31. 12. 2015 bereits ein Ermittlungsverfahren anhängig ist, [...] die Verjährungsfrist (§§ 57 Abs. 3, 58) nach der an diesem Tag geltenden Strafdrohung zu berechnen“. Mit Erk vom 23. 6. 2021144 hat der VfGH einen auf Art 140 Abs 1 Z 1 lit d B-VG gestützten, zulässigen145 Antrag auf Aufhebung von § 58 Abs 3a StGB und Art 12 § 2 StRÄG 2015 als unbegründet abgewiesen. Der Antragsteller hatte das – vom VfGH nicht geteilte – Bedenken, die angefochtenen Bestimmungen würden das aus Art 7 EMRK erfließende Gebot der Rückwirkung günstigeren Strafrechts verletzen, nachdem sie die Verjährungsbestimmungen davon ausnehmen, und gegen den in Art 7 B-VG und Art 2 StGG verbrieften Gleichheitsgrundsatz verstoßen.146 Eingangs verweist der VfGH zum einen auf die jüngere Rsp des EGMR, in der dieser Art 7 Abs 1 EMRK nicht nur als Verbot der rückwirkenden Anwendung strafschärfender Gesetze, sondern auch als Gebot der rückwirkenden Anwendung milderer Strafgesetze versteht. Dieser ziehe in seinen Erwägungen zur Entwicklung eines solchen Grundsatzes im Urteil Scoppola/Italien (Nr 2) ua (unter Verweis auf den sich von Art 7 EMRK unterscheidenden Wortlaut) Art 49 Abs 1 GRC heran und begründe das Gebot der Rückwirkung milderer Strafgesetze im Kern damit, dessen Nichtbeachtung liefe darauf hinaus, auf der Grundlage der früheren Rechtslage weiterhin Strafen zu ermöglichen, die der Staat nun im Sinne der neuen Rechtslage als „exzessiv“ erachtet. Zum anderen bezieht sich der VfGH auf die Rsp des EuGH. Dieser habe bereits vor Inkrafttreten der GRC entschieden, es sei ein Grundsatz des Unionsrechts, je nach Fall die günstigere Strafvorschrift und die leichtere Strafe rückwirkend anzuwenden.147 Sodann bekräftigt der VfGH, für seine Rsp sei der vom EGMR Art 7 EMRK zuletzt beigelegte Inhalt maßgeblich.148 Der VfGH unterstreicht nunmehr, dass die Regelungen des Art 7 EMRK über die Rückwirkung nur auf Straftaten und Strafen festlegende Vorschriften anwendbar sind; demgegenüber seien verfah-

142 Strafgesetzbuch 1974 – StGB, BGBl 60/1974 idF BGBl I 112/2015. 143 Strafrechtsänderungsgesetz 2015 – StRÄG 2015, BGBl I 112/2015. 144 VfGH 23. 6. 2021, G 368, 370/2020, Rz 33, zum Anlassverfahren siehe Rz 5 f. 145 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 12–23 zur Zulässigkeit. 146 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 7–10 zum Antragsvorbringen. 147 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 27 mit Verweis auf EGMR (GK) 17. 9. 2009, 10249/03, Scoppola/Italien (Nr 2), Rz 106 und 109 (dazu etwa Breuer, Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des EGMR, ZÖR 2013, 729, und Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention7 [2021] § 24 Rz 160 f); und (GK) 18. 7. 2013, 2312/08 ua, Maktouf ua/Bosnien-Herzegowina, Rz 65 ff; sowie EuGH (GK) 3. 5. 2005, Rs C-387/02 ua, Berlusconi ua, EU:C:2005:270, Rz 68 ff; und 4. 6. 2009, Rs C-142/05, Åklagaren, EU:C:2009:336, Rz 43. 148 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 28 mit Verweis auf VfSlg 19.628/2012, 19.957/2015 und 20.214/2017.

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ART.-NR.: 59

rensrechtliche Vorschriften, die keinen materiell-strafrechtlichen Inhalt aufweisen, nicht von dessen Schutzbereich erfasst.149 Daher ist für den VfGH entscheidend, ob die angefochtenen Bestimmungen als solche des materiellen Strafrechts iSd Art 7 EMRK anzusehen sind. Dabei sei allein die autonome Einordnung im Lichte von Art 7 Abs 1 EMRK maßgeblich. Dass der Gesetzgeber diese die Strafbarkeitsverjährung betreffenden Bestimmungen dem materiellen Strafrecht zugeordnet hat, sei daher irrelevant.150 Der Rsp des EGMR zufolge stehe Art 7 Abs 1 EMRK nicht der Änderung einer Verjährungsbestimmung entgegen, die auf vor dem Inkrafttreten der Novelle begangene Straftaten anzuwenden ist, sofern zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der geänderten Bestimmung Verjährung noch nicht eingetreten war, so der VfGH, der sich dieser Ansicht anschließt. Aus Art 7 Abs 1 EMRK sei kein allgemeines, auch die Verjährungsbestimmungen erfassendes Günstigkeitsprinzip ableitbar, ebenso wenig aus Art 49 Abs 1 GRC.151 Dass die in den angefochtenen Gesetzesbestimmungen enthaltenen Regelungen gegen den Gleichheitsgrundsatz verstießen, weil sie dazu führten, dass ein Täter, der vor dem Inkrafttreten des StRÄG 2015 eine Straftat begangen habe, strafrechtlich verfolgt werde, wenn ein Ermittlungsverfahren am 31. 12. 2015 eingeleitet worden sei, wohingegen ein anderer Täter, der dieselbe Tat am selben Tag begangen habe, straflos bleibe, wenn ein Ermittlungsverfahren erst am 1. 1. 2016 eingeleitet worden sei, kann der VfGH unter Verweis auf seine Rsp nicht finden. Er habe nämlich bereits ganz allgemein festgehalten, dass Übergangsbestimmungen, wonach für alle zur Zeit des Inkrafttretens des Gesetzes anhängigen Verfahren die bisherigen gesetzlichen Bestimmungen gelten, grundsätzlich verfassungsrechtlich unbedenklich sind. Im Übrigen sei es nicht unsachlich, die Hemmung der Verjährung an bestimmte behördliche Schritte zu knüpfen. Es liege in der Natur der Sache, dass es dabei zu gewissen Zufälligkeiten kommen kann. Dies mache die Regelung aber nicht gleichheitswidrig.152 149 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 29 mit Verweis auf VfSlg 19.957/2015 und 20.214/2017; Grabenwarter/Pabel (FN 147) § 24 Rz 147; und Schaunig/ Capelare, Das Rückwirkungsgebot begünstigender Strafgesetze nach Art 7 EMRK im Verwaltungs-, Finanz- und Kriminalstrafrecht, JBl 2019, 82 (150). 150 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 30 mit Verweis auf Letsas, The Truth in Autonomous Concepts: How to Interpret the ECHR, 15 EJIL 2004, 279; und Durl, Keine Rückwirkung günstigeren Verjährungsrechts bei „rechtzeitiger“ Hemmung der Verjährung? JBl 2011, 91. 151 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 31 mit Verweis auf EGMR 22. 6. 2000, 32492/96 ua, Coëme ua/Belgien, Rz 147 ff; Scoppola/Italien (Nr 2) (FN 147) Rz 110; sowie VwSlg 19.107 A/2015 und 19.453 A/2016. 152 VfGH, G 368, 370/2020 (FN 144) Rz 32 mit Verweis auf VfSlg 14.491/1996.

Der Autor: az. Prof. Dr. Thomas Kröll Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht Wirtschaftsuniversität Wien Welthandelsplatz 1/D3 A-1020 Wien thomas.kroell@wu.ac.at lesen.lexisnexis.at/autor/Kröll/ Thomas

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ZfV 4/2021 ART.-NR.: 60

RECHTSPRECHUNGSBERICHTE

Harald Eberhard/Christian Ranacher/Martina Weinhandl unter Mitwirkung von Klaus Wallnöfer

Rechtsprechungsbericht: Landesverwaltungsgerichte, Bundesverwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof Administrativrechtlich relevante Judikatur » ZfV 2021/60

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Allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht: Deckung des Bescheids im Beschluss des Kollegialorgans Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte: mündliche Verhandlung, Versäumen, ordnungsgemäße Ladung Verfahrensrecht des Verwaltungsgerichtshofes: Revisionslegitimation, Beschluss nach § 38a VwGG Verwaltungsstrafrecht: materielle Wahrheit, Amtswegigkeit, Scheinkonkurrenz, Spruch, Verfolgungshandlung Anwendungsfragen des Unionsrechts: Unionsrechtlich indizierter Rechtsschutz für Nachbarn und Umweltorganisationen in umweltrelevanten Verfahren, einstweilige Anordnung » Besonderes Verwaltungsrecht: Baurecht; Datenschutzrecht

I. Einleitung 60-1 II. Allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht: Deckung des Bescheids im Beschluss des Kollegialorgans 60-3 III. Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte: Versäumen einer mündlichen Verhandlung – ordnungsgemäße Ladung 60-6 A. Administrativverfahren 60-6 B. Verwaltungsstrafverfahren 60-7 IV. Verfahrensrecht des VwGH: Revisionslegitimation des Bundesministers bei einer kompetenzrechtlich verfehlten Entscheidung 60-8 V. Verwaltungsstrafrecht 60-10 A. Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit – Amtswegigkeitsprinzip 60-10 B. Scheinkonkurrenz 60-13 C. Spruch des Straferkenntnisses 60-16 D. Taugliche Verfolgungshandlung 60-18 VI. Anwendungsfragen des Unionsrechts 60-19 A. Unionsrechtlich indizierter Rechtsschutz für Nachbarn und Umweltorganisationen in umweltrelevanten Verfahren – Grenzen und Voraussetzungen 60-20 1. Kein Bezug zu Unionsumweltrecht – kein unionsrechtlich gebotener Rechtsschutz 60-21 2. Keine Revisionslegitimation von Umweltorganisationen ohne gesetzliche Einräumung 60-23 3. Formale Voraussetzungen einer Beschwerde durch anerkannte Umweltorganisationen 60-24 B. Sperrwirkung eines Beschlusses nach § 38a VwGG unionsrechtskonform 60-25 C. Revisibilität einer unmittelbar auf Unionsrecht gestützten einstweiligen Anordnung und aufschiebende Wirkung der Amtsrevision 60-26 VII. Besonderes Verwaltungsrecht 60-28 A. Baurecht 60-28 1. Reichweite von Nachbarrechten 60-29 2. Provisorialrechtsschutz für Nachbarbeschwerden 60-31 3. Anzeigeverfahren: Umfassende Prüfpflicht des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Untersagungsgründe 60-32 4. Abweichungen vom Baukonsens 60-33 Eberhard/Ranacher/Weinhandl, LVwG | BVwG | VwGH

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE

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5. Nachträgliche Auflagen 60-35 6. Gefahrenzonenplanung und Baurecht 60-36 7. Untersagung der Benützung als Freizeit- bzw Zweitwohnsitz 60-37 8. Versagung einer Abbruchbewilligung 60-40 B. Datenschutzrecht 60-41 1. Maßgebliche Rechtslage für bei In-Kraft-Treten der DSGVO bereits anhängige Verfahren 60-42 2. Anonymisierung von verwaltungsgerichtlichen Erkenntnissen als Akt der Gerichtsbarkeit 60-43

I.

Einleitung

60-1 Der vorliegende Rsp-Bericht behandelt in seinen ersten Teilen wiederum aktuelle verfahrensrechtliche verwaltungsgerichtliche Judikatur, namentlich aus dem allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht zu den Anforderungen an die Beschlussfassung und Ausfertigung von Bescheiden durch Kollegialorgane (II.), aus dem Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte zu den rechtlichen Folgen des Versäumens einer mündlichen Verhandlung (III.) und aus dem Verfahrensrecht des Verwaltungsgerichtshofes zu Fragen der Revisionslegitimation von Formalparteien (IV. und VI.A.2.) sowie im Kontext unionsrechtlicher Fragestellungen auch zur Sperrwirkung eines Beschlusses nach § 38a VwGG sowie zur Revisibilität einer unmittelbar auf Unionsrecht gestützten einstweiligen Anordnung und zur aufschiebenden Wirkung einer Amtsrevision (VI.B. und C.). In der Rubrik Anwendungsfragen des Unionsrechts (VI.) fortgesetzt wird zudem die Berichterstattung über den Rechtsschutz für Nachbarn und Umweltorganisationen in umweltrelevanten Verfahren, wobei aktuell Grenzen und Voraussetzungen für die Ausübung dieser aus dem Unionsrecht abgeleiteten Gewährleistungen im Vordergrund stehen (VI.A.). Schließlich erfolgt ein umfassendes Update zum Verwaltungsstrafrecht (V.), das im Einzelnen Judikatur zum Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, Deliktskonkurrenzen, zum Spruch des Straferkenntnisses und zur tauglichen Verfolgungshandlung behandelt. 60-2 Aus dem Besonderen Verwaltungsrecht wird nach längerer Zeit der verwaltungsgerichtlichen Judikatur zum Baurecht, einem der in der Praxis wichtigsten Materien des Landesrechts, breiter Raum gewidmet (VII.A.): Neben klassischen baurechtlichen Themen wie der Reichweite von Nachbarrechten, baupolizeilichem Einschreiten bei Abweichungen vom Baukonsens und bei der nachträglichen Erteilung von Auflagen betreffen die darzustellenden Entscheidungen etwa auch die (umfassende) Prüfpflicht des VwG im Anzeigeverfahren, das Verhältnis zwischen Gefahrenzonenplanung und Baurecht oder die Voraussetzungen für eine Abbruchbewilligung. Fortgesetzt wird zudem die Berichterstattung zu den – auch im baurechtlichen Kontext beachtlichen – Beschränkungen für Freizeit- bzw Zweitwohnsitze. Ein kurzes Update zum Datenschutzrecht (VII.B.) mit interessanten Entscheidungen zur maßgeblichen Rechtslage für bei In-KraftTreten der DSGVO bereits anhängige Verfahren und zur Qualifikation der Anonymisierung von verwaltungsgerichtlichen Erk – mangels expliziter gesetzlicher Zuweisung – als Akt der Gerichtsbarkeit rundet den vorliegenden Bericht ab. zfv.lexisnexis.at

II.

Allgemeines Verwaltungsverfahrensrecht: Deckung des Bescheids im Beschluss des Kollegialorgans

60-3 In dieser Reihe wurde kürzlich1 die aktuelle Judikatur des VwGH zur Willensbildung einer Kollegialbehörde dargestellt und näher erläutert. Daran anknüpfend soll nunmehr anhand aktueller Rsp des LVwG NÖ erörtert werden, inwieweit ein Bescheid im Beschluss des Kollegialorgans Deckung finden muss.2 60-4 Beim LVwG NÖ (LVwG NÖ 24. 6. 2021, LVwG-AV-656/001-2021) war ein Verfahren anhängig, in welchem der Spruch des angefochtenen Bescheides nicht der Beschlussfassung des Gemeindevorstands entsprach. Mit dem betreffenden Bescheid wurde der Devolutionsantrag betreffend einen Antrag vom 23. 10. 2018 abgewiesen und der Devolutionsantrag betreffend den Antrag vom 24. 4. 2019 zurückgewiesen. Das LVwG NÖ führte dazu aus, dass für den Fall, dass der Spruch und die Begründung eines Bescheides des Kollegialorgans nicht der vorangegangenen Beschlussfassung des Kollegialorgans entsprechen, dies eine der Unzuständigkeit gleichkommende Rechtswidrigkeit darstelle, weil diesem Bescheid, welcher nach seinem Erscheinungsbild intendiert, dem Kollegialorgan zugerechnet zu werden, kein entsprechender Beschluss dieses Organs zu Grunde liege; ein solcher Bescheid sei in diesem Fall so zu betrachten, als ob er von einer unzuständigen Behörde erlassen worden wäre.3 Der Spruch des angefochtenen Bescheides, gemäß dem eine Abweisung sowie eine Zurückweisung erfolgt sei, sei demnach weder wörtlich noch inhaltlich von dem im Sitzungsprotokoll wiedergegebenen Beschluss des Gemeindevorstands gedeckt, weshalb schon insoweit von einer fehlenden Beschlussdeckung auszugehen sei, so das LVwG NÖ weiter. Darüber hinaus seien auch die tragenden Gründe/die Begründung des angefochtenen Bescheides nicht Gegenstand der Beschlussfassung des Gemeindevorstandes gewesen. Hinsichtlich der Abweisung des Devolutionsantrags ergebe sich die eingehende Begründung des Bescheides nicht aus dem Beschlussprotokoll. Eine Begründung betreffend die Zurückweisung des

1 2 3

Vgl Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2021/33-8. Siehe dazu auch schon Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2015/52-88. Das LVwG NÖ verweist auf VwGH 17. 9. 1991, 91/05/0068; 16. 3. 1995, 94/06/0083, mwN.

Eberhard/Ranacher/Weinhandl, LVwG | BVwG | VwGH


ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE

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Antrags vom 24. 4. 2019 sei dem Beschlussprotokoll – wie auch der Spruch betreffend die Zurückweisung – gänzlich nicht zu entnehmen. Die allfällige Auflage des Bescheidentwurfs „bei den Sitzungsunterlagen“ bereits im Vorfeld der Sitzung des Gemeindevorstands samt der Möglichkeit zur Einsichtnahme durch die Mitglieder des Gemeindevorstands, die sich verfahrensgegenständlich weder aus dem Protokoll noch aus der Einladungsurkunde ergab, wäre aus der Sicht des LVwG NÖ nicht tauglich dafür, um durch eine solche Auflage sicherzustellen, dass der konkrete Bescheidentwurf (einschließlich Spruch und Begründung) Grundlage der kollegialen Willensbildung durch den Gemeindevorstand gewesen ist. Da dem angefochtenen Bescheid kein Beschluss des zuständigen Kollegialorgans zu Grunde lag, hob das LVwG NÖ den angefochtenen Bescheid infolge Unzuständigkeit auf. 60-5 Aus einer weiteren Entscheidung des LVwG NÖ (LVwG NÖ 12. 8. 2021, LVwG-AV-741/001-2021) geht hervor, dass ein Rechtsmittel der Bf zwar Gegenstand der Beratungen des Gemeindevorstandes in seiner Sitzung war. Diese Beratungen betrafen jedoch nur die weitere Vorgangsweise im Berufungsverfahren, nicht aber eine Erledigung der Berufung durch den angefochtenen Bescheid. Der Sitzung lag auch kein Beschlussentwurf des angefochtenen Bescheides zu Grunde. Dementsprechend lag kein Beschluss des angefochtenen Bescheides durch den Gemeindevorstand vor. Das LVwG NÖ gab der Beschwerde in weiterer Folge statt und hob den angefochtenen Bescheid wegen Unzuständigkeit der belangten Behörde auf.

III. Verfahrensrecht der Verwaltungsgerichte: Versäumen einer mündlichen Verhandlung – ordnungsgemäße Ladung A.

Administrativverfahren

60-6 Mit Beschluss des LVwG Tir (LVwG Tir 9. 1. 2019, LVwG2018/31/0774-17) wurde der Antrag der revisionswerbenden Partei auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung einer mündlichen Verhandlung vor dem LVwG Tir (in einer Bauangelegenheit) als unzulässig zurückgewiesen. Begründend führte das LVwG Tir im Wesentlichen aus, die Zustellung des Ladungsbeschlusses zur mündlichen Verhandlung an die bf Partei habe sich nicht hinreichend rekonstruieren lassen. Weder sei der diesbezügliche RSb-Rückschein beim LVwG Tir eingelangt noch sei das Schriftstück mit dem Vermerk „Nicht behoben“ an das LVwG Tir retourniert worden. Recherchen des LVwG Tir beim Post-Kundenservice hätten ergeben, dass die tatsächliche Übernahme des Ladungsbeschlusses seitens der Post nicht habe festgestellt werden können. In Verbindung mit diesen Ergebnissen des Ermittlungsverfahrens seien die Erklärungen des vermeintlichen Empfängers des Ladungsbeschlusses (Geschäftsführer der revisionswerbenden Partei), wonach er diesen ebenso wenig wie eine diesbezügliche Hinterlegungsanzeige erhalten habe sowie dass die revisionswerbende Partei erst mit ZustelEberhard/Ranacher/Weinhandl, LVwG | BVwG | VwGH

lung des die zu Grunde liegende Bausache erledigenden Erk des LVwG Tir von der versäumten Verhandlung Kenntnis erhalten habe, glaubwürdig und nachvollziehbar. Es sei daher davon auszugehen, dass hinsichtlich des Ladungsbeschlusses ein Zustellmangel vorliege. Rechtlich führte das LVwG Tir hierzu aus, nach gängiger Rsp sei eine Frist nur dann als „versäumt“ anzusehen, wenn der Lauf der Frist für eine Prozesshandlung durch den gesetzlich vorgesehenen Akt ausgelöst worden und die Frist ungenützt verstrichen sei. Sei der Fristenlauf gar nicht ausgelöst worden, etwa, weil eine Zustellung nicht rechtswirksam erfolgt sei, könne die Frist auch nicht versäumt werden, sodass „nach überwiegender Rechtsprechung und Lehre“ eine Wiedereinsetzung nicht in Betracht komme. Sollte dennoch das Verfahren, wie im Gegenstandsfall durch Erk des LVwG Tir, beendet werden, liege diesbezüglich ein „Verfahrensmangel bzw. Nichtigkeit“ vor, welche mit Revision bekämpft werden könne. Der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei in der gegenständlichen Fallkonstellation daher nicht zulässig, weshalb der Antrag der revisionswerbenden Partei als unzulässig zurückzuweisen gewesen sei. Gegen diesen Beschluss wandte sich diese Partei revisionswerbend an den VwGH. Mit Beschluss vom 3. 7. 2020, Ra 2019/06/0036, wies er die erhobene Revision zurück und führte dabei aus, zur Rechtslage nach In-Kraft-Treten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 20124 habe der VwGH5 bereits ausgesprochen, dass die zu § 71 AVG6 ergangene Rsp infolge der gleichartigen Rechtslage auf die Bestimmung des § 33 VwGVG7 übertragbar sei und die Versäumung einer mündlichen Verhandlung nach § 71 Abs 1 AVG dann nicht eintritt, wenn die Partei nicht oder nicht ordnungsgemäß geladen worden sei.8 Liege eine ordnungsgemäße Ladung einer Partei für einen vom VwG festgelegten Verhandlungstermin nicht vor, und führe dies zu einem Nichterscheinen dieser Partei bei der dennoch durchgeführten mündlichen Verhandlung, so sei dieser Fehler mit Revision gegen eine in der Folge in der Sache ergangene Entscheidung des VwG bekämpfbar und vermag dies, jedenfalls im Anwendungsbereich der Art 6 EMRK sowie Art 47 GRC und wenn ein weiterer Verhandlungstermin unter Einbeziehung der betreffenden Partei nicht stattgefunden habe, die nachfolgende Entscheidung des VwG mit einem wesentlichen Verfahrensfehler zu belasten.9 Die Versäumung einer Verhandlung trete also iSd § 33 Abs 1 VwGVG nicht ein, wenn die Partei – wie vorliegend – nicht oder nicht ordnungsgemäß zur Verhandlung geladen worden sei, weshalb in einer derartigen Fallkonstellation ein Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß der genannten Gesetzesbestimmung nicht in Betracht komme.

4 5 6 7 8 9

BGBl I 51/2012. Vgl VwGH 26. 6. 2019, Ra 2019/20/0137. Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 – AVG, BGBl 51/1991 idF BGBl I 58/2018. Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz – VwGVG, BGBl I 33/2013 idF BGBl I 109/2021. VwGH 26. 9. 2012, 2010/04/0095. Vgl etwa VwGH 28. 10. 2019, Ra 2019/16/0129, 0130.

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B.

Verwaltungsstrafverfahren

60-7 Bei der mündlichen Verhandlung vor dem LVwG Wien war jene Person, über die eine bestimmte Strafe verhängt wurde, nicht anwesend. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung war an eine zum Ladungszeitpunkt nach dem ZMR-Auszug nicht mehr aktuelle Adresse der bestraften Person ergangen und sie wurde vor der Durchführung der Verhandlung an das LVwG Wien mit dem Vermerk „nicht behoben, zurück“ retourniert. Bei der Verhandlung anwesend war ein Vertreter des Arbeitsinspektorates für Bauarbeiten. Nach Ende der Verhandlung verkündete das LVwG Wien das Erk und hielt im Verhandlungsprotokoll folgenden Passus fest: „Die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses mit ausführlicher Begründung wird der Partei zugestellt werden.“ Die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erk wurde dem Revisionswerber entsprechend der Ankündigung in der Niederschrift der mündlichen Verhandlung zu Handen seiner Rechtsvertreterin zugestellt. Gegen dieses Erk des LVwG Wien (LVwG Wien 2. 11. 2020, VGW042/030/8613/2018-12) wandte sich der Revisionswerber an den VwGH. Mit Erk vom 12. 5. 2021, Ra 2021/02/0059, hob der VwGH die Entscheidung des LVwG Wien wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften auf. Das LVwG Wien habe eine mündliche Verhandlung anberaumt und die Ladung des Revisionswerbers an eine bestimmte Adresse verfügt, die jedoch von jener des Straferkenntnisses abwich. Nachdem das Schriftstück nicht innerhalb der Abholfrist vom Revisionswerber behoben worden sei, sei dieses an das LVwG rückübermittelt worden. Eine anschließend vom LVwG Wien durchgeführte Behördenanfrage aus dem ZMR zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung habe ergeben, dass der Revisionswerber mehreren Wochen nicht mehr an jener Adresse gemeldet war, an die die Ladung adressiert war und an welche der Zustellversuch unternommen wurde. Eine neuerliche Ladung des Revisionswerbers sei nicht verfügt worden. Vielmehr sei die mündliche Verhandlung durchgeführt worden. § 45 Abs 2 VwGVG sehe – so der VwGH – für das Verfahren der VwG in Verwaltungsstrafsachen ausdrücklich vor, dass es weder die Durchführung der Verhandlung noch die Fällung des Erk hindere, wenn eine Partei trotz ordnungsgemäßer Ladung nicht erschienen sei. Der VwGH habe bereits zu § 51f Abs 2 VStG,10 der inhaltlich dem § 45 Abs 2 VwGVG entspreche, ausgesprochen, dass eine Verhandlung in Abwesenheit einer Partei nur zulässig sei, wenn die Ladung fehlerfrei erfolgt sei. Jeglicher Mangel der Ladung hindere die Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit der Partei.11 Diese Rsp sei – so der VwGH weiter – auf § 45 Abs 2 VwGVG übertragbar. Für den Fall, dass eine mündliche Verhandlung durchgeführt worden sei, obwohl einer Partei die Ladung zur Verhandlung nicht wirksam zugestellt worden sei, sei dies dem rechtswidrigen Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung gleichzuhalten.12 Im gegen10 IdF vor der Novelle BGBl I 33/2013. 11 VwGH 26. 5. 2009, 2008/02/0353, mwN. 12 Vgl VwGH 13. 2. 2020, Ra 2018/01/0040, mwN.

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ständlichen Fall sei der Revisionswerber nicht ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen worden, weil die Ladung nicht an eine aktuelle Abgabestelle des Revisionswerbers zugestellt worden sei. Die Durchführung der Verhandlung in Abwesenheit des Revisionswerbers sei daher gemäß § 45 Abs 2 VwGVG nicht zulässig gewesen. Das Unterbleiben einer ordnungsgemäß anberaumten Verhandlung im vorliegenden Strafverfahren stelle jedenfalls – ohne dass es auf die Relevanz dieses Verfahrensmangels ankäme – eine zur Aufhebung der Entscheidung führende Rechtsverletzung dar.13 Indem das LVwG Wien eine mündliche Verhandlung in Abwesenheit des nicht ordnungsgemäß geladenen Revisionswerbers durchführte, hat es das angefochtene Erk mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb der VwGH dieses gemäß § 42 Abs 2 Z 3 lit c VwGG aufhob.

IV. Verfahrensrecht des VwGH: Revisionslegitimation des Bundesministers bei einer kompetenzrechtlich verfehlten Entscheidung 60-8 Aktuelle Entscheidungen zum Verfahrensrecht des VwGH, namentlich zur Revisionslegitimation von Umweltorganisationen, zur Sperrwirkung eines Beschlusses nach § 38a VwGG und zur Revisibilität einer unmittelbar auf Unionsrecht gestützten einstweiligen Anordnung, werden auf Grund der jeweils starken unionsrechtlichen Bezüge in der Rubrik Anwendungsfragen des Unionsrechts14 behandelt. Die im Folgenden15 dargestellte Entscheidung betrifft die Revisionslegitimation oberster Organe. 60-9 Im Zusammenhang mit dem steiermärkischen Abfallrecht hatte sich der VwGH im Beschluss vom 29. 7. 2021, Ra 2021/05/0021, mit Fragen der Revisionslegitimation zu beschäftigen. Anlassfall war die vom Bürgermeister der Stadt Graz angeordnete Untersagung der Sammlung von Altspeisefetten und -ölen aus privaten Haushalten im Stadtgebiet durch die mitbeteiligte Partei gemäß § 17 StAWG.16 Im Rahmen des Beschwerdeverfahrens hatte das VwG nun zu bewerten, ob es sich bei Altspeisefetten und -ölen um nicht gefährliche Abfälle bzw Siedlungsabfälle handle, die eine Andienungspflicht der Gemeinde gemäß § 6 Abs 1 StAWG auslösen und eine Untersagung gemäß § 17 StAWG rechtfertigen. Bei dieser Einordnung ist zu beachten, dass die Abfallwirtschaft hinsichtlich gefährlicher Abfälle gemäß Art 10 Abs 1 Z 12 B-VG17 in den Zuständigkeitsbereich des Bundes fällt. Hinsichtlich anderer Abfälle kommt dem Bund nur so weit die Kompetenz zu, als ein Bedürfnis nach Erlassung einheitlicher Vorschriften vorhanden ist. Diese Bedarfskompetenz

13 Vgl VwGH 23. 1. 2013, 2010/15/0196, sowie 11. 6. 2018, Ra 2018/11/0074; 3. 7. 2020, Ra 2019/06/0036, jeweils mwN. 14 Siehe unten 60-23, 25 und 26 f. 15 Für seine engagierte und sachkundige Mitarbeit an diesem Abschnitt sei Maximilian Ponader herzlich gedankt. 16 Steiermärkisches Abfallwirtschaftsgesetz 2004 – StAWG 2004, LGBl 65/2004 idF LGBl 149/2016. 17 Bundes-Verfassungsgesetz – B-VG, BGBl 1/1930 idF BGBl I 14/2019.

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wurde nach Ansicht des VwG im Falle von Altspeisefetten und -ölen vom Bund in § 16 Abs 6 AWG 200218 wahrgenommen. Da § 16 Abs 6 AWG 2002 ausdrücklich eine Übergabe von Altspeisefetten und -ölen an alle berechtigten Abfallsammler und -behandler vorsehe, könne nicht gleichzeitig eine Andienungspflicht der Gemeinde iSd § 6 Abs 1 StAWG bestehen. In diesem Zusammenhang sei zudem die salvatorische Klausel in § 3 StAWG zu berücksichtigen. Das VwG kam daher zum Schluss, dass Altspeisefette und -öle nicht in den Anwendungsbereich des StAWG fallen und somit die Untersagung auf Basis von § 17 StAWG nicht zulässig war, weshalb der Antrag des Umweltamtes als unzulässig zurückgewiesen wurde.19 Gegen die zurückweisende Entscheidung erhob die BM für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie die vorliegende Revision. Dabei stützte die BM ihre Revisionslegitimation auf § 87c Abs 3 AWG 2002. Diese Bestimmung normiert, dass die BM für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft in Angelegenheiten des AWG sowie darauf beruhenden Verordnungen gegen Erk und Beschlüsse eines VwG eine Revision erheben kann. Voraussetzung für die Anwendung der Bestimmung ist dabei, dass das Erk bzw der Beschluss in „Angelegenheiten des AWG“ ergangen ist. Hierzu führte die revisionswerbende Partei aus, dass der Bund in § 16 Abs 6 AWG 2002 seine gemäß Art 10 Abs 1 Z 12 B-VG zukommende Bedarfskompetenz nur in Teilaspekten ausgeübt hat. Die Bestimmung schreibt zwar eine getrennte Sammlung für Altspeisefette vor, die Details der Sammlung wurden allerdings weiterhin dem Landesgesetzgeber überlassen. Die Revisionslegitimation ergebe sich daraus, dass dem Bund durch das VwG eine umfassende Inanspruchnahme der Bedarfskompetenz für Altspeisefette und -öle im AWG unterstellt wurde und dies für die gegenständliche Entscheidung maßgeblich war. Auch wenn die Entscheidung des VwG formal zum StAWG ergangen sei, seien Bestimmungen des AWG 2002 ausgelegt worden, weshalb das Erk dennoch „in Angelegenheiten des AWG“ gemäß § 87c Abs 3 AWG 2002 ergangen ist. Art 133 Abs 6 B-VG sieht neben der Parteirevision (Z 1) und der Amtsrevision (Z 2) auch eine Revisionslegitimation des zuständigen BM in Sachen des Art 132 Abs 1 Z 2 B-VG (Z 3) vor. In anderen als den im Abs 6 genannten Fällen kann eine Revision nur dann erhoben werden, wenn dies durch den einfachen Gesetzgeber vorgesehen ist (Art 133 Abs 8 B-VG). § 87c Abs 3 AWG 2002 sieht eine solche Revisionslegitimation des BM vor, allerdings nur dann, wenn die zu bekämpfende Entscheidung des VwG in den Angelegenheiten des AWG 2002 ergangen ist. „Sache“ des Beschwerdeverfahrens sind nach Ansicht des VwGH jene Angelegenheiten, die den Inhalt des Spruchs des Ausgangsbescheides gebildet haben. Im konkreten Fall hatte das VwG über die Untersagung gemäß § 17 StAWG zu entscheiden. Daher handelte es sich – so der VwGH – bei der „Sache“ des Verfahrens nicht um Angelegenheiten des AWG 2002, sondern vielmehr des StAWG. 18 Abfallwirtschaftsgesetz 2002 – AWG 2002, BGBl I 203/2002 idF BGBl I 24/2020. 19 LVwG Stmk 30. 11. 2020, 46.34-1169/2020.

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Daran vermag auch die Heranziehung von Bestimmungen des AWG 2002 als Auslegungshilfe nichts zu ändern. Zudem sehe das StAWG keine auf Grundlage des Art 133 Abs 8 B-VG geschaffene Revisionslegitimation der BM vor. Auch das Stützen der Revisionslegitimation auf Art 133 Abs 6 Z 3 B-VG scheide aus, weil es sich bei den Angelegenheiten der Abfallwirtschaftsgesetze nicht um solche iSd Art 132 Abs 1 Z 2 B-VG handle. Unproblematisch sah der VwGH auch das von der BM ausgeführte Argument, dass im Falle der Verneinung der Revisionslegitimation der Bund keine Möglichkeit habe, eine ihm unterstellte Inanspruchnahme einer Bedarfskompetenz zu bekämpfen. Eine verfehlte kompetenzrechtliche Argumentation einer Landesbehörde bei Vollziehung eines Landesgesetzes löse nämlich grundsätzlich keine Legitimation des sachlich betroffenen BM aus. Dies gelte insbesondere für die Auslegung von salvatorischen Klauseln in Landesgesetzen, die die Nichtanwendung eines Landesgesetzes entweder vom Eingreifen einer Bundeskompetenz oder von der tatsächlichen Ausübung einer Bundeskompetenz abhängig machen. Allein eine mögliche „Fehlvorstellung“ der Organe der Landesvollziehung (oder des zuständigen VwG) von der Reichweite eines Bundeskompetenztatbestandes oder der Auslegung einer bundesrechtlichen Norm begründe auch in diesen Fällen keine Revisionslegitimation des betroffenen BM. Zudem wäre auch die allfällige Einräumung einer Revisionslegitimation gemäß Art 133 Abs 8 B-VG dem Landesgesetzgeber vorbehalten. Insbesondere auch aus diesem Grund scheide die von der Revisionswerberin intendierte Auslegung des § 87c Abs 3 AWG 2002 aus. Der revisionswerbenden Partei mangelte es daher an der Revisionslegitimation, weshalb die Revision gemäß § 34 Abs 1 und Abs 3 VwGG zurückgewiesen wurde.

V.

Verwaltungsstrafrecht

A.

Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit – Amtswegigkeitsprinzip

60-10 Gemäß § 38 VwGVG gelten im Verwaltungsstrafverfahren vor den VwG gemäß § 25 Abs 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom VwG von Amts wegen unabhängig von Parteivorbringen und -anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Betreffend die Kognitionsbefugnis der VwG besagt die stRsp des VwGH,20 dass gemäß Art 130 Abs 4 erster Satz B-VG21 in Verwaltungsstrafsachen das VwG immer in der Sache selbst entscheidet, woraus folgt, dass in Verwaltungsstrafverfahren dem VwG in jedem Fall auch die Befugnis und Verpflichtung zu allenfalls erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zukommt. Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die VwG verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rück20 Vgl VwGH 15. 12. 2014, Ro 2014/17/0121, mwN. 21 Vgl auch § 50 VwGVG.

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sicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zu Grunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die VwG, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.22 In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können. Die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das VwG nicht ihrer aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst – soweit das möglich ist – für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen.23 Die Mitwirkungspflicht der Partei hat insbesondere dort Bedeutung, wo ein Sachverhalt nur im Zusammenwirken mit der Partei geklärt werden kann.24 60-11 In jenem Fall, der dem Erk des VwGH vom 14. 6. 2021, Ra 2021/17/0048,25 zu Grunde lag, wurde dem Mitbeteiligten als unternehmensrechtlichem Geschäftsführer einer GmbH von der belangten Behörde angelastet, mit drei Eingriffsgegenständen, die aus jeweils drei näher konkretisierten Geräten (Monitor, Terminal und „Payment Kiosk“) bestanden haben, verbotene Ausspielungen zugänglich gemacht und sich an solchen Ausspielungen unternehmerisch beteiligt zu haben. Bei einem „CashCenter“ handelt es sich um eine Komponente eines Glücksspielgeräts, die nicht als selbstständiger Eingriffsgegenstand einer Bestrafung gemäß § 52 Abs 1 Z 1 GSpG26 iVm § 52 Abs 2 GSpG zu Grunde gelegt werden darf.27 Im Rahmen des Verwaltungsstrafverfahrens war in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob mehrere Gegenstände gemeinsam verwendet wurden, um jeweils eine einzige Ausspielung durchzuführen, sodass in diesem Zusammenhang von einem einzigen Eingriffsgegenstand auszugehen war, der lediglich eine Bestrafung gemäß § 52 Abs 1 Z 1 iVm Abs 2 GSpG nach sich ziehen konnte.28 Das LVwG NÖ (LVwG NÖ 12. 2. 2021, LVwG-S 973/001-2020) war daher im Rahmen seiner amtswegigen Ermittlungspflicht gehalten, zu ermitteln, ob mit den jeweils angelasteten drei Gegenständen gemeinsam im Sinne eines Eingriffsgegenstandes einer der Tatbestände des § 52 Abs 1 Z 1 GSpG verwirklicht worden war. In den Verwaltungsakten lag eine Niederschrift einer Zeugin betreffend ihre Wahrnehmungen hinsichtlich des Aufladens am „Cash-Kiosk“ und Bespie22 23 24 25 26 27 28

Vgl Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze II2 § 25 VStG E 4. Vgl insgesamt erneut VwGH, Ro 2014/17/0121 (FN 20) mwN. VwGH 20. 9. 1999, 98/21/0137. Vgl dazu auch VwGH 21. 6. 2021, Ra 2021/17/0058. Glücksspielgesetz – GSpG, BGBl 620/1989 idF BGBl I 99/2020. Vgl VwGH 18. 7. 2018, Ra 2017/17/0822, mwN. VwGH 11. 9. 2018, Ra 2018/17/0151, mwN.

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lens der übrigen Gegenstände. Diese Zeugin wurde vom LVwG NÖ jedoch – ohne nähere Begründung – in der mündlichen Verhandlung nicht vernommen, vielmehr traf es die Feststellung, nicht feststellen zu können, ob Prepaidkarten aufgeladen und ob Prepaidkarten für Spiele verwendet worden seien. Bei Einvernahme der Zeugin könne jedoch – so der VwGH – nicht ausgeschlossen werden, dass das LVwG NÖ zu anderen Feststellungen und in der Folge zu einer anderen rechtlichen Beurteilung gelangt wäre. Das angefochtene Erk war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs 2 Z 3 lit b und c VwGG aufzuheben. 60-12 Nach der stRsp des VwGH ist die Einziehung nach § 54 GSpG unabhängig von einer Bestrafung eines Beschuldigten und hängt gemäß § 54 Abs 1 GSpG von der Verwirklichung eines objektiven Tatbilds nach § 52 Abs 1 GSpG ab. Die Behörde oder das VwG ist daher verpflichtet, nach Durchführung eines amtswegigen Ermittlungsverfahrens nähere Feststellungen zum Vorliegen der Verwirklichung des objektiven Tatbildes nach § 52 Abs 1 GSpG zu treffen.29 In dem Revisionsfall, welcher dem Erk des VwGH vom 12. 7. 2021, Ra 2020/17/0022, zu Grunde lag, hat das LVwG NÖ (LVwG NÖ 21. 1. 2020, LVwG-S-1027/001-2018) den Einziehungsbescheid jedoch ohne Durchführung eines solchen Ermittlungsverfahrens und ohne nähere diesbezügliche Feststellungen im Wesentlichen mit der Begründung aufgehoben, dass die Beschlagnahme mit seinem Erk vom 9. 7. 2018 aufgehoben worden sei. Das LVwG NÖ habe dabei – so der VwGH – offenbar angenommen, eine Einziehung setze begrifflich die Rechtswidrigkeit einer Beschlagnahme nach § 53 GSpG voraus. Nach der stRsp des VwGH sei eine Beschlagnahme nach § 53 Abs 1 GSpG jedoch bereits dann zulässig, wenn ein ausreichend substantiierter Verdacht vorliege, dass mit Glücksspielgeräten oder sonstigen Eingriffsgegenständen, mit denen in das Glücksspielmonopol des Bundes eingegriffen werde, fortgesetzt oder wiederholt gegen Bestimmungen des § 52 Abs 1 GSpG verstoßen werde. Nicht erforderlich sei dabei, dass die Übertretung des Gesetzes zum Zeitpunkt der Beschlagnahme bereits erwiesen sei. Der nach § 53 Abs 1 GSpG erforderliche Verdacht beziehe sich auf den Umstand, dass mit Glücksspielautomaten oder Glücksspielapparaten fortgesetzt in das Glücksspielmonopol eingegriffen wurde oder werde. Dieser Verdacht müsse – im Fall der Erhebung einer Beschwerde gegen den Beschlagnahmebescheid – im Zeitpunkt der Entscheidung des VwG über diese Beschwerde vorliegen.30 Demgegenüber hänge die Einziehung nach § 54 GSpG, welche unabhängig von einer Bestrafung eines Beschuldigten sei, von der (tatsächlichen) Verwirklichung eines objektiven Tatbildes nach § 52 Abs 1 GSpG ab, weshalb das VwG im Einziehungsverfahren nach dem GSpG die Verpflichtung treffe, nach Durchführung eines amtswegigen Ermittlungsverfahren nähere Feststel29 Vgl VwGH 14. 9. 2020, Ra 2020/17/0033; 24. 9. 2020, Ra 2019/17/0041, jeweils mwN. 30 Vgl zum Ganzen etwa VwGH 24. 9. 2020, Ra 2020/17/0082, mwN.

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lungen zum Vorliegen der Verwirklichung des objektiven Tatbildes zu treffen. Der Umstand, dass sich eine gemäß § 53 Abs 1 GSpG angeordnete Beschlagnahme als rechtswidrig erweise oder erwiesen habe, führe daher nicht dazu, dass eine gemäß § 54 Abs 2 GSpG verfügte Einziehung desselben Gegenstandes rechtswidrig wäre, haben doch beide Sicherungsmaßnahmen unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen. So könne sich beispielsweise die Beschlagnahme von Glücksspielgeräten im hierfür maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt mangels Vorliegens eines ausreichend substantiierten Verdachtes im oben genannten Sinn als rechtswidrig erweisen und die sodann verfügte Einziehung dieser Geräte auf Grund der Ergebnisse des weiteren Ermittlungsverfahrens, weil ein Tatbild des § 52 Abs 1 GSpG in objektiver Hinsicht verwirklicht ist, dennoch gerechtfertigt sein. Im gegenständlichen Revisionsfall habe das LVwG NÖ im angefochtenen Erk in Verkennung der Rechtslage nähere Feststellungen zur Verwirklichung eines Tatbildes des § 52 Abs 1 GSpG nicht getroffen. Schon im Hinblick darauf erwies sich das angefochtene Erk als inhaltlich rechtswidrig (sekundärer Feststellungsmangel), weshalb dieses gemäß § 42 Abs 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

B.

Scheinkonkurrenz

60-13 Gemäß dem Doppelbestrafungsverbot31 nach Art 4 Abs 1 des 7. ZPEMRK darf niemand wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden. Nach der Rsp des VfGH liegt eine verfassungsrechtlich unzulässige Doppel- oder Mehrfachbestrafung iSd Art 4 Abs 1 7. ZPEMRK nur dann vor, wenn eine Strafdrohung oder Strafverfolgung wegen einer strafbaren Handlung bereits Gegenstand eines Strafverfahrens war und dabei der herangezogene Deliktstypus den Unrechts- und Schuldgehalt eines Täterverhaltens vollständig erschöpft. Ein weiter gehendes Strafbedürfnis entfällt daher in dieser Konstellation, weil das eine Delikt den Unrechtsgehalt des anderen Delikts in jeder Beziehung mitumfasst. Strafverfolgungen bzw Verurteilungen wegen mehrerer Delikte, deren Straftatbestände einander wegen wechselseitiger Subsidiarität, Spezialität oder Konsumtion ausschließen, bilden verfassungswidrige Doppelbestrafungen, wenn und weil dadurch ein und dieselbe strafbare Handlung strafrechtlich mehrfach geahndet wird.32 Nach dem in § 22 Abs 2 VStG verankerten Kumulationsprinzip33 sind mehrere Strafen nebeneinander zu verhängen, wenn eine Tat unter mehrere einander nicht ausschließende Strafdrohungen fällt. 31 Vgl dazu beispielsweise auch Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2017/48-28. 32 VfSlg 20.246/2017 mwN (im dort zu Grunde liegenden Fall prüfte der VfGH, ob sich die herangezogenen Straftatbestände in ihren wesentlichen Merkmalen unterscheiden) und VwGH 25. 3. 2010, 2008/09/0203, mwN. 33 Vgl dazu auch Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2019/ 36-15 ff.

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60-14 Beim VwGH war eine Amtsrevision der LPD Stmk gegen das Erk des LVwG Stmk vom 15. 10. 2020, LVwG 30.33-682/20205, betreffend Übertretung des KFG34 anhängig. Die LPD Stmk hat dem Bf im angefochtenen Bescheid zwei verschiedene Verwaltungsübertretungen angelastet. Demgegenüber ist das LVwG Stmk diesbezüglich von einer unzulässigen Doppelbestrafung ausgegangen und hat den auf die Verletzung des § 104 Abs 9 KFG iVm § 103 Abs 1 Z 1 KFG gestützten Strafausspruch behoben sowie das Verwaltungsstrafverfahren insoweit eingestellt. Der VwGH (VwGH 29. 3. 2021, Ra 2020/02/0298) hatte im Revisionsverfahren daher zu prüfen, ob die beiden von der LPD Stmk herangezogenen Strafdrohungen einander ausschließen bzw insoweit eine Scheinkonkurrenz gegeben war. Denn im Falle einer solchen Scheinkonkurrenz, also wenn der gesamte Unrechtsgehalt eines Delikts von jenem eines anderen, ebenfalls verwirklichten in jeder Beziehung mitumfasst ist, ist es unzulässig, dem Täter ein und denselben Unwert mehrmals zuzurechnen.35 Die Scheinkonkurrenz führt – so der VwGH weiter – zu einem Zurücktreten eines Tatbestandes hinter einen anderen, wenn sich aus konkreten Umständen des Tatgeschehens dessen Vorrang ergibt.36 Der Begriff „Scheinkonkurrenz“ bringt zum Ausdruck, dass in Wahrheit keine Konkurrenz von Strafbestimmungen vorliegt, sondern eben nur eine Bestimmung, nach der bestraft werden kann.37 Zu den Fällen der Scheinkonkurrenz zählen die Subsidiarität, die Spezialität und die Konsumtion.38 Konsumtion liegt nach der Judikatur des VwGH vor, wenn die wertabwägende Auslegung der formal (durch eine Handlung oder durch mehrere Handlungen) erfüllten zwei Tatbestände zeigt, dass durch die Unterstellung der Tat(en) unter den einen der deliktische Gesamtunwert des zu beurteilenden Sachverhalts bereits für sich allein abgegolten ist. Voraussetzung ist, dass durch die Bestrafung wegen des einen Delikts tatsächlich der gesamte Unrechtsgehalt des Täterverhaltens erfasst wird.39 In anderen Zusammenhängen hat der VwGH darauf Bezug genommen, ob die Verwirklichung eines Straftatbestandes „geradezu typischerweise“ zu einem anderen Tatbestand führt bzw damit verbunden ist.40 Gegen das Vorliegen einer Konsumtion (und somit gegen ein Miterfassen des Unwerts eines Delikts von der Strafdrohung gegen ein anderes Delikt) spricht nach der Judikatur des VwGH, wenn die Delikte in keinem typischen Zusammenhang stehen bzw das eine Delikt nicht notwendig oder doch nicht in der Regel mit dem anderen Delikt verbunden ist.41 Spezialität ist dann gegeben, wenn mehrere Deliktstypen, die auf die Handlung des Täters zutreffen, zueinander im Verhältnis von Gattung und Art stehen, das heißt

34 35 36 37 38 39 40 41

Kraftfahrgesetz 1967 – KFG 1967, BGBl 267/1967 idF BGBl I 48/2021. N. Raschauer/Wessely, VStG2 (2016) § 22 Rz 28. Vgl näher VwGH 13. 12. 2019, Ra 2019/02/0020, mwN. VwGH 20. 1. 2016, Ra 2015/17/0068. VwGH 2. 9. 2019, Ra 2018/02/0123, mwN; 3. 3. 2020, Ro 2019/04/0012. Vgl erneut VwGH, Ra 2018/02/0123 (FN 38) mwN. VwGH 28. 8. 2007, 2007/17/0004; 25. 6. 2020, Ra 2020/02/0046, 0047. VwGH 28. 6. 2005, 2004/11/0028, 0222.

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der eine Deliktstyp bereits sämtliche Merkmale des anderen enthält und noch ein oder mehrere Merkmale dazu.42 Im vorliegenden Fall hat das LVwG Stmk festgestellt, dass auf der Brückenwaage ein tatsächliches Gesamtgewicht des Lkw mit Anhängewagen von 47.820 kg gemessen worden sei. Der Bf sei der Zulassungsbesitzer des Lkw sowie des Anhängewagens. Subsumiere man – so der VwGH – dieses Verhalten unter die hier fraglichen Bestimmungen des KFG, habe der Bf zunächst die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 4 Abs 7a KFG erfüllt: Demnach dürfe nämlich bei Kraftwagen mit Anhängern die Summe der Gesamtgewichte 44.000 kg nicht überschreiten. Gemäß § 104 Abs 9 KFG sei es jedoch ua zulässig, diese Summe der Gesamtgewichte beim Ziehen von Anhängern zu überschreiten, wenn hierfür eine Bewilligung des LH vorliege. Anhänger dürften in weiterer Folge gemäß § 104 Abs 2 lit f KFG mit Kraftwagen nur gezogen werden, wenn bei Bewilligungen gemäß Abs 9 erteilte Auflagen erfüllt würden. Der Bf habe auch die objektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 103 Abs 1 Z 1 KFG iVm § 104 Abs 9 KFG erfüllt, weil er keine solche Bewilligung des LH erwirkt habe. Jede Person, die – als Lenker oder Zulassungsbesitzer – das Ziehen eines Anhängers mit Überschreitung des zulässigen Gesamtgewichtes zulasse, ohne zuvor eine solche Ausnahmebewilligung erwirkt zu haben, verwirkliche stets beide Delikte. Insofern liege im vorliegenden Fall zwischen diesen beiden Delikten ein typischer oder notwendiger Zusammenhang vor. Liege jedoch eine Ausnahmebewilligung vor, sei es dem Lenker/Zulassungsbesitzer erlaubt, das zulässige Gesamtgewicht zu überschreiten, er verwirkliche daher keine dieser Übertretungen. Die zweite Anlastung des Straferkenntnisses umfasse somit – so der VwGH weiter – zwingend die erste, weil eine verbotene Überschreitung der Summe der Gesamtgewichte bei Erteilung einer Bewilligung nicht vorliegen könne, weil die Überschreitung in diesem Fall erlaubt sei. Der Vorwurf der Überschreitung des Gesamtgewichtes habe dabei im Vergleich zur Verletzung der Nichteinholung einer Ausnahmebewilligung den höheren Unrechtsgehalt, weil das verbotene Verhalten, nämlich die Überschreitung des Gesamtgewichtes, tatsächlich gesetzt worden sei. Der Besitzer einer entsprechenden Ausnahmebewilligung verwirkliche nur dann eine Übertretung des KFG im Zusammenhang mit der Überschreitung des Gesamtgewichtes, wenn er eine in der Bewilligung vorgeschriebene Auflage nicht einhalte. In diesem Fall wäre er aber gemäß den spezielleren Bestimmungen des § 104 Abs 2 lit f iVm § 104 Abs 9 KFG zu bestrafen, nicht aber gemäß § 4 Abs 7a KFG, weil er ja gerade über eine Bewilligung verfüge. Die beiden gegenständlich angelasteten Verwaltungsstraftatbestände (§ 103 Abs 1 Z 1 KFG iVm § 4 Abs 7a KFG sowie § 103 Abs 1 Z 1 KFG iVm § 104 Abs 9 KFG) stünden daher zueinander im Verhältnis der Konsumtion. Verwaltungsstrafrechtlich sanktioniert sei die Überschreitung des zulässigen Gesamtgewichtes, weil Überschreitungen des Gesamtgewichtes etwa zu Beschädigungen an den Straßen oder Verkehrsbehinderungen führen können. Eine derartige Überschreitung sei jedoch mit der Erteilung einer Genehmigung

zulässig. Mit der Bestrafung nach § 4 Abs 7a KFG werde somit der gesamte Unrechtsgehalt des Täterverhaltens erfasst.43 Für eine Bestrafung nach § 104 Abs 9 KFG bleibe kein Raum. Umgekehrt sei der Bewilligungsinhaber gemäß § 104 Abs 9 KFG nach dieser speziellen Vorschrift iVm § 104 Abs 2 lit f KFG zu bestrafen, sollte er die Auflagen dieser Bewilligung nicht einhalten, nicht aber auch nach § 4 Abs 7a KFG wegen der Überschreitung des zulässigen Gesamtgewichtes. Das LVwG Stmk hat somit zu Recht von einer Bestrafung des Bf wegen der Übertretung des § 104 Abs 9 KFG abgesehen und das Verwaltungsstrafverfahren eingestellt. Die dagegen erhobene Amtsrevision war daher als unbegründet abzuweisen.

42 VwGH 24. 2. 2005, 2004/07/0022, mwN.

43 VwGH, Ra 2018/02/0123 (FN 38) mwN.

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60-15 Mit Straferkenntnis der KommAustria wurde dem ErstBf als für die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften gemäß § 9 Abs 2 VStG bestellter verantwortlicher Beauftragter für Übertretungen des ORF nach § 38 Abs 1 Z 2 ORF-G zur Last gelegt, er habe zu verantworten, dass jedenfalls von 9. 11. 2017 bis zumindest 29. 5. 2018 die unter einer näher genannten Webseite abrufbare Online-Berichterstattung „HD-TV-Umstellung: Die wichtigsten Informationen“ Schleichwerbung zugunsten von „sTV“ enthalten habe und somit dem Erkennbarkeitsgebot des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G und dem Irreführungsverbot nach § 13 Abs 3 Z 6 ORF-G widersprochen worden sei. Der ErstBf habe dadurch „§ 38 Abs. 1 Z 2 iVm § 13 Abs. 1 Satz 1 iVm § 13 Abs. 3 Z 6 iVm § 1a Z 7 ORF-G iVm § 9 Abs. 2 VStG“ verletzt, weshalb über ihn eine Geldstrafe in der Höhe von € 4.000,– (Ersatzfreiheitsstrafe von zwei Tagen) verhängt wurde. Ferner wurde ausgesprochen, dass der ORF als ZweitBf für die verhängte Geldstrafe sowie die Verfahrenskosten gemäß § 9 Abs 7 VStG zur ungeteilten Hand hafte. Mit Erk vom 14. 3. 2019, W271 2211503-1/9E und W271 2211664-1/9E, gab das BVwG der von den bf Parteien erhobenen Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung insofern statt, als es die verhängte Geldstrafe auf € 3.500,– herabsetzte und den Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens entsprechend reduzierte. In der dagegen erhobenen Revision wendeten sich die bf Parteien gegen die Subsumtion des verfahrensgegenständlichen Sachverhalts unter die Tatbestände des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G und § 13 Abs 3 Z 6 ORF-G. In seinem Erk vom 23. 6. 2021, Ro 2019/03/0020, führte der VwGH näher aus, dass es sich bei Verstößen gegen das Erkennbarkeitsgebot des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G und gegen das Irreführungsverbot des § 13 Abs 3 Z 6 ORF-G um zwei unterschiedliche, jeweils getrennt voneinander erfüllbare Tatbestände handle. Das BVwG habe – wie bereits die KommAustria – die Erfüllung beider Tatbestände bejaht. Neben dem speziellen Verbot der Schleichwerbung in Programmen und Sendungen gemäß § 13 Abs 1 zweiter Satz ORF-G beinhalte § 13 Abs 1 ORF-G – so der VwGH weiter – in seinem ersten Satz ein allgemein geltendes Erkennbarkeitsgebot von kommerzieller Kommunikation. Dieses Erkennbarkeitsgebot gelte für alle Formen der kom-

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merziellen Kommunikation in allen Inhaltsangeboten des ORF und sei somit auch für Online-Angebote zu beachten. Schleichwerbung, welche bereits nach ihrer Definition den Werbezweck nicht offenlegt und eine Werbemaßnahme so „tarnt“, dass sie dem Durchschnittszuseher als solche nicht erkennbar werde, verstoße damit jedenfalls gegen das Erkennbarkeitsgebot des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G. Entgegen dem Revisionsvorbringen werde § 13 Abs 1 zweiter Satz ORF-G dadurch auch nicht „seines Inhalts beraubt“, zumal der zweite Satz des § 13 Abs 1 ORF-G ein spezielles Verbot der Schleich- und Subliminalwerbung in Programmen und Sendungen enthalte und insofern das allgemein geltende Erkennbarkeitsgebot des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G bei Erfüllung des § 13 Abs 1 zweiter Satz ORF-G hinter diese Bestimmung zurücktrete. Das BVwG habe den gegenständlichen Sachverhalt sohin zutreffend unter § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G subsumiert. Der VwGH führte weiter aus, dass – soweit sich die bf Parteien jedoch gegen die zusätzliche Subsumtion des Sachverhalts unter den Tatbestand des § 13 Abs 3 Z 6 ORF-G wandten und insofern eine unzulässige Doppelbestrafung rügten – die Revision im Recht sei. Verfahrensgegenständlich liege ein Scheinkonkurrenzverhältnis vor. Die gegenständliche kommerzielle Kommunikation als solche sei nicht leicht erkennbar, weshalb zutreffend ein Verstoß gegen das Erkennbarkeitsgebot des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G angenommen worden sei. Diese mangelnde Erkennbarkeit der kommerziellen Kommunikation habe im gegenständlichen Fall – zumal der Werbezweck nicht offengelegt wurde und auch nicht offensichtlich war – zwangsläufig auch zu einer Irreführung geführt. Im zu Grunde liegenden Fall sei sohin die Irreführung die (bloße) Konsequenz der mangelnden Erkennbarkeit der werblichen Berichterstattung gewesen. Die Irreführung habe somit ausschließlich in der Nichterkennbarkeit der kommerziellen Kommunikation bestanden. Wäre die gegenständliche Online-Berichterstattung hingegen iSd § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G durch eine entsprechende Kennzeichnung als kommerzielle Kommunikation erkennbar gewesen, wäre fallbezogen auch eine Irreführung nicht eingetreten. Für den zu Grunde liegenden Revisionsfall ergab sich aus der Sicht des VwGH somit, dass durch die Unterstellung des vorliegenden Sachverhalts unter den Tatbestand des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G (Verstoß gegen das Erkennbarkeitsgebot) der gesamte Unrechtswert des Täterverhaltens erfasst wurde. Für eine zusätzliche Anlastung einer Übertretung des § 13 Abs 3 Z 6 ORF-G blieb sohin kein Raum. Vielmehr trat der Tatbestand des Irreführungsverbots hinter den Tatbestand des Erkennbarkeitsgebots zurück. Indem das BVwG dem ErstBf neben einer Übertretung des § 13 Abs 1 erster Satz ORF-G zusätzlich die Verwirklichung des Tatbestands des § 13 Abs 3 Z 6 ORF-G anlastet, hat es sein Erk mit Rechtswidrigkeit belastet.

C.

Spruch des Straferkenntnisses

60-16 Gemäß § 44a VStG hat der Spruch eines Straferkenntnisses, wenn er nicht auf Einstellung lautet, die als erwiesen angenommene Tat (Z 1), die Verwaltungsvorschrift, die durch die Tat verletzt worden ist (Z 2), die verhängte Strafe und die angewenEberhard/Ranacher/Weinhandl, LVwG | BVwG | VwGH

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dete Gesetzesbestimmung (Z 3), den etwaigen Ausspruch über privatrechtliche Ansprüche (Z 4) und im Fall eines Straferkenntnisses die Entscheidung über die Kosten (Z 5) zu enthalten. Nach der Rsp des VwGH muss der Spruch eines Straferkenntnisses so gefasst sein, dass die Subsumtion der als erwiesen angenommenen Tat unter die verletzte Verwaltungsvorschrift eindeutig und vollständig erfolgt, also aus der Tathandlung sogleich auf das Vorliegen der angelasteten Übertretung geschlossen werden kann. Die Person, über die eine Verwaltungsstrafe verhängt wird, hat zudem ein subjektives Recht darauf, dass ihm die als erwiesen angenommene Tat und die verletzte Verwaltungsvorschrift richtig und vollständig vorgehalten werden. Die Identität der Tat muss unverwechselbar feststehen.44 Besteht ein Widerspruch zwischen Spruch und Begründung, bei dem es sich nicht bloß um eine terminologische Abweichung, deren Wirkung sich im Sprachlichen erschöpft, handelt, sondern bei dem die Wahl unterschiedlicher Begriffe vielmehr eine Unterschiedlichkeit in der rechtlichen Wertung durch Subsumtion unter je ein anderes Tatbild zum Ausdruck bringt, führt dies zu einer inhaltlichen Rechtswidrigkeit.45 60-17 Mit Straferkenntnis der LPD OÖ wurde der Bf als Lokalbetreiber einer näher bezeichneten Tankstelle der zweifachen Übertretung des § 52 Abs 1 Z 1 drittes Tatbild iVm § 2 Abs 1 und 4 GSpG schuldig erkannt, weil er die Aufstellung und den Betrieb von zwei näher bezeichneten Glücksspielgeräten geduldet habe. Es wurden über ihn zwei Geldstrafen in der Höhe von jeweils € 3.000,– (samt Ersatzfreiheitsstrafen) verhängt. Mit Erk vom 22. 8. 2019, LVwG-411456/30/Gf/CJ, gab das LVwG OÖ im dritten Rechtsgang der dagegen vom Bf erhobenen Beschwerde insoweit statt, als es die verhängten Geldstrafen auf € 2.000,– pro Glücksspielgerät herabsetzte und die Strafsanktionsnorm im Spruch mit „§ 52 Abs. 2 erster Strafrahmen GSpG“ richtigstellte. Im Übrigen wies es die Beschwerde „im Ergebnis“ als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Das LVwG OÖ sprach aus, dass der Bf keinen Beitrag zu den Kosten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu leisten habe, und reduzierte den Beitrag zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens (Spruchpunkt II.). Begründend führte das LVwG OÖ – soweit hier wesentlich – aus, der Bf habe nicht „in Abrede gestellt, dass er zum Tatzeitpunkt als Geschäftsführer jener GmbH fungierte, die sich im Tatzeitraum durch die Zurverfügungstellung von zwei Glücksspielautomaten an verbotenen Ausspielungen i.S.d. Spruches des angefochtenen Straferkenntnisses als Unternehmerin beteiligte, sodass er damit den Tatbestand des § 52 Abs. 1 Z. 1 vierte Alternative GSpG erfüllt“ habe. Der gegen dieses Erk erhobenen außerordentliche Revision gab der VwGH (VwGH 3. 2. 2021, Ra 2019/17/0105) Folge und hob die Entscheidung des LVwG OÖ wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf. Der VwGH führte dabei aus, im Erk des LVwG OÖ würden dem Bf unterschiedliche Tathandlungen vorgeworfen. Im durch die Abweisung der Beschwerde durch das LVwG OÖ insoweit 44 Vgl zB VwGH 22. 1. 2020, Ra 2018/17/0170; 24. 6. 2020, Ra 2018/17/0226, jeweils mwN. 45 Vgl VwGH 4. 5. 2020, Ra 2019/16/0214, mwN.

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übernommenen Spruch des Straferkenntnisses der LPD OÖ würde dem Bf ausdrücklich das unternehmerische Zugänglichmachen von verbotenen Ausspielungen (§ 52 Abs 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG) vorgeworfen, weil er als Lokalbetreiber die Aufstellung und den Betrieb von zwei näher bezeichneten Glücksspielgeräten geduldet habe. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung laste das LVwG OÖ dem Bf demgegenüber die unternehmerische Beteiligung an verbotenen Ausspielungen (§ 52 Abs 1 Z 1 viertes Tatbild GSpG) durch eine – nicht näher bezeichnete – „GmbH“, als deren Geschäftsführer der Bf im Tatzeitraum fungiert habe, durch Zurverfügungstellen von zwei Glücksspielgeräten an. Damit sei dem angefochtenen Erk angesichts dieser unlösbar widersprüchlichen Tatanlastungen nicht unverwechselbar zu entnehmen, welche Tathandlung dem Bf konkret vorgeworfen wurde und unter welches Tatbild diese Tathandlung nach Ansicht des LVwG OÖ zu subsumieren wäre. Das angefochtene Erk entspreche somit nicht den Anforderungen des § 44a Z 1 und 2 VStG und sei dadurch mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet.46

60-19 Im Folgenden ist erneut über die fortschreitende Ausdifferenzierung der verwaltungsgerichtlichen Judikatur zum unionsrechtlich indizierten Rechtsschutz für Nachbarn und Umweltorganisationen in umweltrelevanten Verfahren zu berichten (A.). Zudem hat sich der VwGH jüngst zur Unionsrechtskonformität der Sperrwirkung eines Beschlusses nach § 38a VwGG (B.) sowie zur selbstständigen Anfechtbarkeit einer unmittelbar auf Unionsrecht gestützten einstweiligen Anordnung eines VwG samt Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der dagegen gerichteten Revision geäußert (C.).

D.

A.

Taugliche Verfolgungshandlung

60-18 § 31 Abs 1 VStG sieht vor, dass die Verfolgung einer Person unzulässig ist, wenn gegen sie binnen einer Frist von einem Jahr keine Verfolgungshandlung vorgenommen worden ist. Eine Verfolgungshandlung ist gemäß § 32 Abs 2 VStG jede von einer Behörde gegen eine bestimmte Person als Beschuldigten gerichtete Amtshandlung (Ladung, Vorführungsbefehl, Vernehmung, Ersuchen um Vernehmung, Beratung, Strafverfügung und dergleichen), und zwar auch dann, wenn die Behörde zu dieser Amtshandlung nicht zuständig war, die Amtshandlung ihr Ziel nicht erreicht oder der Beschuldigte davon keine Kenntnis erlangt hat.47 Der VwGH hielt in seinem Erk vom 7. 1. 2021, Ra 2020/17/0021,48 anlässlich einer Amtsrevision LPD Stmk gegen ein Erk des LVwG Stmk (LVwG Stmk 10. 1. 2020, LVwG 30.9-335/2019-8) fest, dass es für die Qualifikation einer behördlichen Handlung als taugliche Verfolgungshandlung iSd § 32 Abs 2 VStG nur darauf ankomme, dass der behördliche Wille nach außen trete, und nicht darauf, dass (auch) eine ordnungsgemäße Zustellung innerhalb der Verjährungsfrist stattfinde.49 Im Revisionsfall sei die Aufforderung zur Rechtfertigung als eine die Verjährungsfrist nach § 31 Abs 1 VStG unterbrechende Verfolgungshandlung gegenüber der Mitbeteiligten zu sehen, mit der der Wille der Behörde ausreichend nach außen getreten sei, näher konkretisierte Verwaltungsübertretungen gegenüber der Mitbeteiligten als Beschuldigten zu prüfen. In-

dem das LVwG Stmk jedoch davon ausging, dass es für die Wirksamkeit einer Verfolgungshandlung zur Wahrung der Verfolgungsverjährungsfrist des § 31 Abs 1 VStG auf die ordnungsgemäße „Zustellung dieser Verfolgungshandlung“ ankomme, hat es – so der VwGH – sein Erk mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

VI. Anwendungsfragen des Unionsrechts

1. 2. 3.

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Kein Bezug zu Unionsumweltrecht – kein unionsrechtlich gebotener Rechtsschutz 60-21 Keine Revisionslegitimation von Umweltorganisationen ohne gesetzliche Einräumung 60-23 Formale Voraussetzungen einer Beschwerde durch anerkannte Umweltorganisationen 60-24

60-20 Nachdem auf Grund einschlägiger Judikatur des EuGH zur Beteiligung der betroffenen Öffentlichkeit in umweltrelevanten Verfahren zunächst die verwaltungsgerichtliche Rsp, insbesondere jene des VwGH, und schließlich auch der Bundes- und die Landesgesetzgeber die zur Effektuierung dieser maßgeblich aus der Aarhus-Konvention iVm Art 47 GRC abgeleiteten unionsrechtlichen Gewährleistungen erforderlichen prozessualen Rechtspositionen anerkannt bzw näher ausgestaltet haben,50 werden in der Rsp des VwGH und der LVwG nun sukzessive auch die Grenzen und die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme dieser aus dem Unionsrecht abgeleiteten Rechte deutlich.

1. 46 Mit ähnlicher Begründung hob der VwGH (VwGH 17. 3. 2021, Ra 2019/17/0113) ein Erk des LVwG NÖ (LVwG NÖ 23. 1. 2019, LVwG-S-1837/004-2016) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf. 47 Wesentlich ist daher, dass es gemäß § 32 Abs 2 VStG für die Gültigkeit der Verfolgungshandlung ausdrücklich nicht darauf ankommt, dass die Amtshandlung ihr Ziel erreicht oder dass der Beschuldigte davon Kenntnis erlangt (vgl etwa VwGH 30. 1. 2019, Ro 2018/03/0055; 6. 3. 2014, 2012/17/0444; sowie 16. 12. 2008, 2008/09/0285, jeweils mwN). 48 Vgl ähnlich auch VwGH 15. 2. 2021, Ra 2019/17/0079, und 22. 3. 2021, Ra 2019/17/0114. 49 Vgl erneut VwGH, 2008/09/0285 (FN 47); 20. 9. 1996, 96/17/0320.

Unionsrechtlich indizierter Rechtsschutz für Nachbarn und Umweltorganisationen in umweltrelevanten Verfahren – Grenzen und Voraussetzungen

Kein Bezug zu Unionsumweltrecht – kein unionsrechtlich gebotener Rechtsschutz

60-21 So hat der VwGH die jüngst erfolgte Präzisierung seiner Judikatur zur unionsrechtlich indizierten Parteistellung und Be-

50 Siehe dazu auch die fortlaufende Berichterstattung in den vorangegangenen Heften; zu Umweltorganisationen zuletzt Eberhard/Ranacher/ Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2021/33-18 ff, 2021/38-16 ff und 2021/48-29 ff und 35; zu Nachbarn zuletzt Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2019/36-26 ff.

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schwerdelegitimation in umweltrelevanten Verfahren dahingehend, wonach Umweltorganisationen darauf beschränkt sind, im Verfahren die Beachtung solcher nationalen Rechtsvorschriften überprüfen zu lassen, die der Umsetzung von Unionsumweltrecht dienen,51 in einem Fall betreffend die Genehmigung eines Gewinnungsbetriebsplans nach dem Mineralrohstoffgesetz (MinroG)52 nunmehr auch in Bezug auf Nachbarn als „Teil der betroffenen Öffentlichkeit“ bestätigt (VwGH 21. 6. 2021, Ra 2018/04/0078 ua). Ausgangspunkt war die von der Bezirkshauptmannschaft Imst erteilte die Genehmigung für einen Gewinnungsbetriebsplan zur Erweiterung eines näher bezeichneten Hartgesteinsabbaus samt Errichtung von Bergbauanlagen, gegen den eine Reihe von Nachbarn Beschwerde an das LVwG Tir erhoben hatte, die – insbesondere mangels Eingriff in subjektive öffentliche Rechte der Bf – allesamt als unbegründet abgewiesen wurden.53 In den dagegen erhobenen außerordentlichen Revisionen wurde nun im Wesentlichen argumentiert, dass sich die eingeschränkte Parteistellung der Nachbarn gemäß § 116 Abs 3 Z 3 MinroG54 angesichts aktueller Rsp des EuGH55 zur AarhusKonvention als unionsrechtswidrig erweise und es den Nachbarn insbesondere möglich sein müsse, den Einwand, ein Gewinnungsbetriebsplan entspreche nicht den Anforderungen des § 116 Abs 1 Z 5 MinroG, weil nach bestem Stand der Technik vermeidbare Emissionen nicht unterblieben, zu erheben. Wie nämlich der VwGH in stRsp zum Umfang des Mitsprachrechts der Nachbarn im Verfahren betreffend die Genehmigung eines Gewinnungsbetriebsplanes festhält (und vorliegend erneut bestätigt), wird mit dem Vorbringen, es sei nicht vorgesorgt worden, dass nach bestem Stand der Technik vermeidbare Emissionen unterbleiben, keine Verletzung subjektiv-öffentlicher Nachbarrechte aufgezeigt.56 Dass abweichend davon im vorliegenden Fall – mit Blick auf die Aarhus-Konvention – den Nachbarn weiter gehende Parteienrechte einzuräumen gewesen wären, vermochte der VwGH indes nicht zu erkennen. Zwar mögen – wie der Gerichtshof einleitend unter Bezugnahme auf seine „Gruber-Rechtsprechung“57 51 Vgl insbesondere VwGH 11. 5. 2021, Ra 2020/07/0058; dazu Eberhard/ Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2021/48-35. 52 Mineralrohstoffgesetz – MinroG, BGBl I 38/1999 idF BGBl I 95/2016. 53 LVwG Tir 18. 12. 2017, LVwG-2017/15/0819-13 ua. 54 Als Nachbarn gelten danach Personen, die durch die Genehmigung des Gewinnungsbetriebsplanes gefährdet oder belästigt oder deren Eigentum oder sonstige dingliche Rechte gefährdet werden könnten. 55 Konkret in EuGH 20. 12. 2017, Rs C-664/15, Protect Natur-, Arten- und Landschaftsschutz Umweltorganisation, EU:C:2017:987; dazu Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2018/16-32. 56 Hinweis auf VwGH 30. 6. 2004, 2002/04/0027, sowie zur entsprechenden Regelung in der GewO 1994 VwGH 27. 6. 2004, 2002/04/0195, und auf Stolzlechner/Wendl/Bergthaler, Die gewerbliche Betriebsanlage4 (2016) Rz 259. 57 VwGH 22. 6. 2015, 2015/04/0002; wonach Nachbarn auf Grund der ihnen von der GewO 1994 im Verfahren zur Genehmigung einer Betriebsanlage eingeräumten subjektiven Rechte „als Teil der betroffenen Öffentlichkeit“ die Anforderung eines ausreichenden Interesses nach den Kriterien des nationalen Rechts erfüllen, um gegen eine Entscheidung, dass kein UVP-Verfahren durchzuführen ist, einen Rechtsbehelf einlegen zu können (dazu Eberhard/Pürgy/ Ranacher, Rsp-Bericht, ZfV 2015/70-31). Zum Ausgangspunkt dieser Rsp, dem Urteil EuGH 16. 4. 2015, Rs C-570/13, Karoline Gruber, EU:C:2015:231, siehe Eberhard/Pürgy/Ranacher, Rsp-Bericht, ZfV 2015/70-26 ff.

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RECHTSPRECHUNGSBERICHTE festhielt – Nachbarn im Rahmen der ihnen eingeräumten subjektiven Rechte (hier: gemäß § 116 Abs 3 MinroG) „als Teil der betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne der Aarhus-Konvention anzusehen sein.58 Wie der VwGH jedoch mit Blick auf die aus der Aarhus-Konvention abgeleitete Parteistellung von Umweltorganisationen schon ausgesprochen habe, seien diese darauf beschränkt, im Verfahren die Beachtung der aus dem Unionsumweltrecht hervorgegangenen Rechtsvorschriften überprüfen zu lassen. Art 9 Abs 3 Aarhus-Konvention verpflichtet die Mitgliedstaaten iVm Art 47 GRC dazu, für Mitglieder der Öffentlichkeit im Sinne dieser Bestimmung der Aarhus-Konvention einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Recht der Union garantierten Rechte, insbesondere der Vorschriften des Umweltrechts, zu gewährleisten.59 Wie der VwGH jedoch bereits klargestellt habe, komme es in diesem Zusammenhang entscheidend darauf an, ob im jeweiligen Fall „(auch) der Schutz von Normen des Unionsumweltrechts auf dem Spiel [steht]“.60 Auch wenn dafür bereits eine inzidente Anwendung des Unionsumweltrechts als ausreichend angesehen werde,61 vermöge die Revision – ausgehend von den Feststellungen des VwG – nicht aufzuzeigen und sei auch nicht ersichtlich, inwieweit im gegenständlichen Verfahren zur Genehmigung eines Gewinnungsbetriebsplans der Schutz von Normen des Unionsumweltrechts auf dem Spiel stünde. Damit sei aber dem Vorbringen, dass im vorliegenden Fall im Lichte der Aarhus-Konvention eine „großzügigere Berücksichtigung der Einwendungen der Nachbarn“ geboten gewesen wäre, der Boden entzogen und die Revision schon aus diesem Grund zurückzuweisen. 60-22 In ganz ähnlicher Weise hat kürzlich das in einem naturschutzrechtlichen Verfahren betreffend die Bewilligung eines Chaletdorfes von einer Umweltorganisation im Beschwerdeweg angerufene LVwG Tir die inhaltliche Prüfung des angefochtenen Bescheids auf jenes Vorbringen in der Beschwerde beschränkt, das auf die Überprüfung der Einhaltung von Unionsumweltrecht bzw in seiner Umsetzung erlassener innerstaatlicher Rechtsvorschriften abzielte (LVwG Tir 5. 7. 2021, LVwG-2019/44/1099-16): Es ergebe sich, so das LVwG Tir seine Begründung einleitend, aus der einschlägigen Judikatur des VwGH und des EuGH,62 dass bei einer unionsrechtskonformen Auslegung Umweltorganisationen in Naturschutzverfahren ein beschränktes Mitspracherecht (nur) insoweit zukomme, als unionsrechtlich deter58 Hinweis auf Schnedl, Umweltrecht (2020) Rz 100, und Weichsel-Goby/ Kuncio, Öffentlichkeitsbeteiligung und Rechtsschutz in Umweltverfahren, in Schulev-Steindl/Schnedl/Weichsel-Goby (Hrsg), Partizipation im Umweltrecht (2019) 150 (158). 59 Hinweis auf VwGH 25. 4. 2019, Ra 2018/07/0410, mwN; dazu Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2019/25-27 ff. 60 Hinweis auf VwGH 18. 12. 2020, Ra 2019/10/0081; dazu Eberhard/Ranacher/ Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2021/38-17f. 61 Hinweis wiederum auf das Erk VwGH Ra 2019/10/0081 (FN 60), in dem es um die inzidente Anwendung des Artenschutzrechts der FFH-RL und der VogelschutzRL im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens nach dem Steiermärkischen Naturschutzgesetz ging. 62 Hinweis auf VwGH 28. 3. 2018, Ra 2015/07/0152 (dazu Eberhard/Ranacher/ Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2018/16-35) und EuGH, Rs C-664/15 (FN 55).

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE minierte Naturschutzvorschriften vollzogen würden. Auch im vorliegenden Verfahren beschränke sich der Prüfungsumfang des LVwG daher auf die unionsrechtlich festgelegten Tatbestände. Gemäß § 27 VwGVG habe das VwG den angefochtenen Bescheid nur auf Grund der Beschwerde zu überprüfen. Das VwG könne daher etwa nicht auf Grund der Beschwerde einer auf bestimmte Rechte beschränkten Partei eine Aufhebung oder Abänderung des angefochtenen Bescheides auf Grund anderer Rechte vornehmen.63 Im Ergebnis behandelte das LVwG Tirol daher nur das auf bestimmte unionsrechtlich determinierte und – im Hinblick auf das Auftreten eines nach der VogelschutzRL64 geschützten Vogels65 – im Anlassfall einschlägige artenschutzrechtliche Verbotstatbestände gerichtete Beschwerdevorbringen.66 Demgegenüber ging es auf die Frage, ob durch das Projekt der weitere Bestand geschützter Vögel in diesem Lebensraum erheblich beeinträchtigt oder unmöglich wird,67 schon deshalb nicht ein, weil die VogelschutzRL kein Verbot von Eingriffen in konkrete lokale Lebensräume, die keine Schutzgebiete nach Art 4 dieser Richtlinie darstellen, enthalte, sodass der betreffende Verbotstatbestand vorliegend nicht als Umsetzung der VogelschutzRL anzusehen sei. Auch im Hinblick auf die in der Beschwerde relevierten Eingriffe in eine – mangels Ausweisung eines Natura-2000-Gebietes iSd Art 4 der FFH-RL68 – nach nationalem Recht geschützte69 Berg-Mähwiese bzw in ein nach nationalem Recht70 geschütztes Feuchtgebiet sah das LVwG Tir keine hinreichenden unionsrechtlichen Anknüpfungspunkte, die es ihm ermöglicht hätten, sich damit auf Grund der Beschwerde der Umweltorganisation auseinanderzusetzen.

2.

Keine Revisionslegitimation von Umweltorganisationen ohne gesetzliche Einräumung

60-23 Bereits im letzten Heft wurde darüber berichtet, dass der VwGH entsprechend seiner stRsp zur Stellung von Formalparteien auch Umweltorganisationen im Interesse der Durchsetzung unionsrechtlich begründeter prozessualer Rechtspositionen, konkret ihres Rechts zur Anfechtung behördlicher Entscheidungen zwecks Wahrung des Unionsumweltrechts, Revisionslegitimation iSd Art 133 Abs 6 Z 1 B-VG zuerkennt.71 Die 63 Hinweis auf VwGH 26. 3. 2015, Ra 2014/07/0077, dazu Eberhard/Ranacher/ Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2016/6-11 ff, und zur grundlegenden Leitentscheidung VwGH 17. 12. 2014, Ro 2014/03/0066, Eberhard/Pürgy/Ranacher, Rsp-Bericht, ZfV 2015/10-55 ff. 64 RL 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v 30. 11. 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, ABl 2010 L 20/7 idF RL 2013/17/EU, ABl 2013 L 158/193. 65 Des Neuntöters. 66 Konkret in Bezug auf § 25 Abs 1 lit a bis e und g Tiroler Naturschutzgesetz 2005 – TNSchG 2005, LGBl 26/2005 idF LGBl 80/2020. 67 § 25 Abs 1 lit f TNSchG 2005. 68 RL 92/43/EWG des Rates v 21. 5. 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wild lebenden Tiere und Pflanzen, ABl 1992 L 206/ 7 idF RL 2013/17/EU, ABl 2013 L 158/193. 69 Konkret nach Anlage 4, Z 17 der Tiroler Naturschutzverordnung 2006, LGBl 39/2006. 70 § 9 TNSchG 2005. 71 VwGH 1. 6. 2021, Ra 2020/10/0035; dazu Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2021/48-33.

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ART.-NR.: 60

Kehrseite dieser Rsp machte nun ein Zurückweisungsbeschluss des VwGH in einem jagdrechtlichen Fall deutlich (VwGH 9. 8. 2021 Ra 2021/03/0128). Im Anlassfall betreffend die Bewilligung des Abschusses von zwei Auerhähnen nach den einschlägigen Bestimmungen des Oö. Jagdgesetzes72 hatte die Revisionswerberin als anerkannte Umweltorganisation zwar Parteistellung73 und das Recht, gegen solche Bewilligungsbescheide Beschwerde an das LVwG zu erheben;74 die Kompetenz zur Erhebung einer Revision an den VwGH räumten die betreffenden landesgesetzlichen Vorschriften75 jedoch nicht ein. Folglich war eine Revisionslegitimation der Umweltorganisation ausschließlich zur Geltendmachung prozessualer Rechte gegeben,76 wofür vorliegend kein Anhaltspunkt bestand, sodass die Revision als unzulässig zurückzuweisen war. Aus dem Zurückweisungsbeschluss des VwGH geht nicht hervor, ob sich die revisionswerbende Umweltorganisation zur Begründung ihrer (inhaltlichen) Revisionslegitimation auch auf Unionsrecht berufen hat. Die Zurückweisung erweist sich freilich auch unter diesem Gesichtspunkt als unbedenklich, weil die spezifischen Garantien des Art 9 Abs 2 Aarhus-Konvention betreffend die gerichtliche Überprüfung von behördlichen Entscheidungen in umweltrelevanten Verfahren bereits durch die gesetzliche Einräumung eines Beschwerderechts von Umweltorganisationen an das LVwG erfüllt sind.

3.

Formale Voraussetzungen einer Beschwerde durch anerkannte Umweltorganisationen

60-24 Der VwGH hat – wie in dieser Reihe berichtet – bereits grundsätzlich ausgesprochen, dass der Gesetzgeber für die Zuerkennung von Parteistellung und Beschwerdelegitimation an Umweltorganisationen auf die inhaltliche und räumliche Reichweite ihrer bescheidmäßigen Anerkennung abstellen darf.77 Ein Zurückweisungsbeschluss des LVwG OÖ in einem jagdrechtlichen Verfahren illustriert dabei nicht nur die praktische Bedeutung dieser Voraussetzung für die Beschwerdelegitimation von Umweltorganisationen, sondern auch wichtige Fragen der Vertretungsbefugnis (LVwG OÖ 15. 12. 2020, LVwG-551898/12/Fi/ FK – 551899/2). Vorliegend war von zwei Umweltorganisationen gegen den gemäß § 49 Abs 2 iVm Abs 3 Oö. Jagdgesetz behördlich angeordneten Zwangsabschuss von Graureihern Beschwerde an das LVwG OÖ erhoben worden. Beschwerdelegitimiert sind gemäß § 91a Abs 3 Oö. Jagdgesetz so genannte „berechtigte Umweltorganisationen“; diese haben das Recht, gegen Bescheide gemäß § 48 Abs 5 und 7 sowie § 49 Abs 3 Oö. Jagdgesetz Beschwerde an das LVwG zu erheben, und zwar wegen der Verletzung von Vorschriften dieses Landesgesetzes, soweit sie Be-

72 73 74 75

§ 48 Abs 3 bis 6 Oö. Jagdgesetz, LGBl 32/1964 idF LGBl 41/2020. § 91a Abs 2 Oö. Jagdgesetz. § 91a Abs 3 Oö. Jagdgesetz. Das Erfordernis einer gesetzlichen Regelung folgt bekanntlich aus Art 133 Abs 8 B-VG. 76 Hinweis auf VwGH 26. 4. 2017, Ro 2017/03/0010. 77 VwGH 20. 9. 2020, Ra 2019/10/0070; siehe Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2021/33-18 ff.

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stimmungen der VogelschutzRL oder der FFH-RL umsetzen. Als berechtigte Umweltorganisationen gelten ua Vereine, die gemäß § 19 Abs 7 UVP-G 200078 zur Ausübung von Parteienrechten in Oberösterreich befugt sind.79 Konkret hatte einerseits Bird Life – Landesgruppe Oberösterreich Beschwerde erhoben; als Umweltorganisation anerkannt war jedoch im Entscheidungszeitpunkt80 lediglich „Bird Life Österreich“.81 Das LVwG OÖ schloss daraus, dass die oberösterreichische Landesgruppe nicht von der Beschwerdelegitimation von „Bird Life Österreich“ umfasst sei. Dies ergebe sich schon daraus, dass etwa die „Landesgruppe Kärnten“ von „Bird Life Österreich“ zusätzlich zu „Bird Life Österreich“ gemäß § 19 Abs 7 UVP-G 2000 bescheidmäßig anerkannt worden sei,82 was nicht notwendig wäre, wenn die Landesgruppen von der Beschwerdelegitimation von „Bird Life Österreich“ ohnehin miteingeschlossen wären. Zum anderen sei eine eigene Beschwerdelegitimation der „Landesgruppe Oberösterreich“ auch nicht behauptet, sondern vielmehr mittels Vollmacht vom 4. 12. 2020 eine Vertretungsbefugnis von Mag. P für „Bird Life Österreich“ ab 4. 12. 2020 eingeräumt worden. „Bird Life Österreich“ wäre nun zwar – wie dargestellt – grundsätzlich zu einer Beschwerde gegen den vorliegenden Bescheid legitimiert. Allerdings scheint erstens in der Beschwerde ausdrücklich „Bird Life – Landesgruppe Oberösterreich“ als Bf auf und hatte Mag. P zweitens gar keine Vertretungsbefugnis, um für „Bird Life Österreich“ eine wirksame Beschwerde zu erheben. Juristische Personen handelten grundsätzlich durch die nach ihren Organisationsvorschriften zuständigen Organe als ihre Vertreter.83 Im vorliegenden Fall eines Vereins wäre dies der Obmann bzw konkret der Präsident. Die betreffende, in der Beschwerde auftretende Person sei weder Obmann noch Präsident des Vereins „Bird Life Österreich“, sondern vielmehr und ausschließlich Landesleiter-Stellvertreter von „Bird Life – Landesgruppe Oberösterreich“. Eine Vertretungsbefugnis könnte sich zwar aus einer wirksamen Vollmacht ergeben. Die am 4. 12. 2020 übermittelte und mit 4. 12. 2020 datierte Vollmacht reiche jedoch dafür nicht aus, weil diese einerseits nur auf die Vertretung in der öffentlichen mündlichen Verhandlung laute und andererseits jedenfalls im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung84 noch nicht bestanden habe. Eine ursprünglich vollmachtslos vorgenommene fristgebundene Verfahrenshandlung – hier die Beschwerde durch Mag. P – könne zudem durch

78 Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz 2000 – UVP-G 2000, BGBl 697/1993 idF BGBl I 80/2018. 79 § 91a Abs 1 Oö. Jagdgesetz. 80 Gemäß der auf der Internetseite des Bundesministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Energie, Mobilität, Innovation und Technologie abrufbaren Liste der anerkannten Umweltorganisationen gemäß § 19 Abs 7 UVP-G 2000 (Stand: 7. 12. 2020). 81 Anerkennungsbescheid BMLFUW-UW.1.4.2/0020-V/1/2007 v 14. 6. 2007; Überprüfungsbescheid BMNT-UW.1.4.2/0215-I/1/2019 v 20. 12. 2019. 82 Anerkennungsbescheid 2020-0.790.317 v 3. 12. 2020 gemäß der vom BMK im Internet veröffentlichten Liste (FN 80). 83 Hinweis auf Aicher, § 26 ABGB, in Rummel (Hrsg), ABGB3 Rz 25. 84 27. 10. 2020.

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eine nachträglich und außerhalb der Frist erfolgte Vollmachtserteilung nicht saniert werden.85 Die Beschwerde der zweiten und grundsätzlich beschwerdelegitimierten, weil gemäß § 19 Abs 7 UVP-G 2000 anerkannten86 Umweltorganisation, des Naturschutzbunds Oberösterreich, scheiterte an der fehlenden Vertretungsbefugnis der als ihr Vertreter in der Beschwerde auftretenden Person. Die Beschwerde war daher dieser selbst zuzurechnen und folglich mangels Parteistellung im Verfahren bzw sonstiger einfachgesetzlich vorgesehener Beschwerdelegitimation ebenso als unzulässig zurückzuweisen. Ein diesbezüglicher Verbesserungsauftrag schied, wie das LVwG OÖ ergänzend feststellte, von vornherein aus, weil das Fehlen einer Vollmacht kein verbesserungsfähiges Formgebrechen iSd § 13 Abs 3 AVG darstelle, zumal nach der Judikatur nur der Mangel des Nachweises, nicht aber der Mangel der Bevollmächtigung selbst behebbar sei.87 Zudem sei im Hinblick auf die Nachreichung einer Vollmacht außerhalb der Beschwerdefrist auf die bereits vorstehend zitierte Judikatur88 zu verweisen.

B.

Sperrwirkung eines Beschlusses nach § 38a VwGG unionsrechtskonform

60-25 Der VwGH hatte aus Anlass einer einen Beschluss nach § 38a VwGG89 missachtenden Entscheidung des LVwG OÖ (LVwG OÖ 17. 11. 2020, LVwG-413737/11/Gf/RoK)90 Gelegenheit klarzustellen, dass dessen Sperrwirkung dem Gebot der unmittelbaren Anwendung von Unionsrecht durch die innerstaatlichen Gerichte nicht entgegensteht (VwGH 26. 5. 2021, Ra 2021/17/0017).91 Wie der VwGH dabei grundlegend ausführt, tritt gemäß § 38a Abs 3 Z 1 lit a VwGG mit Ablauf des Tages der Kundmachung eines Beschlusses nach § 38a Abs 1 VwGG folgende (Sperr-)Wirkung ein: In Rechtssachen, in denen ein VwG die im Beschluss genannten Rechtsvorschriften anzuwenden und eine darin genannte Rechtsfrage zu beurteilen habe, dürfe das VwG nur noch solche Handlungen vornehmen oder Anordnungen und Entscheidungen treffen, die durch das Erk des VwGH nicht beeinflusst werden können oder welche die Frage nicht abschließend regeln und kei-

85 Hinweis auf VwGH 23. 6. 2003, 2003/17/0096. Zur im Prinzip vergleichbaren Konstellation der nicht möglichen nachträglichen Genehmigung der Einbringung eines Rechtsmittels durch das zuständige Kollegialorgan einer juristischen Person vgl rezent Eberhard/Ranacher/Weinhandl, RspBericht, ZfV 2021/48-13. 86 Anerkennungsbescheid BMLFUW-UW.1.4.2/0121-V/1/2008 v 18. 12. 2008; Überprüfungsbescheid BMNT-UW.1.4.2/0177-I/1/2019 v 22. 11. 2019; wiederum gemäß der vom BMK im Internet veröffentlichten Liste (FN 80). 87 Hinweis auf VwGH 19. 2. 2014, 2011/10/0014. 88 Siehe FN 85. 89 VwGH 27. 4. 2020, Ra 2020/17/0013, BGBl I 55/2020. 90 In dieser setzte das LVwG OÖ die von der belangten Behörde über den Mitbeteiligten verhängten Geldstrafen auf jeweils € 3.000,– sowie die Ersatzfreiheitsstrafen auf jeweils 33 Stunden pro Glücksspielgerät herab und wies die Beschwerde gegen das Straferkenntnis im Übrigen unter Konkretisierung der Strafsanktionsnorm (§ 52 Abs 2 dritter Strafrahmen GSpG) als unbegründet ab 91 Der VwGH äußerte sich in seinem Erk – dem VfGH 8. 10. 2020, V 505/2020, folgend – auch zu Fragen der ordnungsgemäßen Kundmachung eines nicht als Verordnung zu qualifizierenden Beschlusses nach § 38a VwGG, was aber im gegebenen Zusammenhang nicht weiter relevant ist.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE nen Aufschub gestatten.92 Diese Wirkung bestehe gemäß § 38a Abs 4 zweiter Satz VwGG bis zum Ablauf des Tages, an dem die Rechtssätze der Entscheidung des VwGH über die gleichartigen Rechtsfragen kundgemacht wurde.93 Für die Beurteilung, ob die Entscheidung eines VwG gegen die Sperrwirkung des § 38a Abs 3 VwGG verstoße, sei jener Zeitpunkt maßgebend, in dem die Entscheidung iSd § 38a Abs 3 Z 1 lit a VwGG „getroffen“ wurde. Maßgeblich sei das Datum der Entscheidung des VwG.94 Das LVwG OÖ habe seine Entscheidung vom 17. 11. 2020 nach der Kundmachung des Beschlusses des VwGH gemäß § 38a Abs 1 VwGG vom 27. 4. 2020 getroffen. Dabei habe das LVwG OÖ § 52 Abs 2 dritter Strafsatz GSpG,95 somit eine jener Rechtsvorschriften angewandt, die im Beschluss des VwGH vom 27. 4. 2020 nach § 38a VwGG angeführt seien. Das LVwG OÖ hatte daher eine in diesem Beschluss nach § 38a VwGG genannte Rechtsfrage zu beurteilen. Eine die Sache des Verfahrens erledigende Entscheidung, wie sie das LVwG OÖ im vorliegenden Fall getroffen habe, sei aber nicht als zulässige Handlung, Anordnung oder Entscheidung iSd § 38a Abs 3 Z 1 lit a VwGG anzusehen.96 Anders als das LVwG OÖ meine, stehe die Sperrwirkung eines Beschlusses nach § 38a VwGG dem unionsrechtlichen Gebot der unmittelbaren Anwendbarkeit von Unionsrecht durch die innerstaatlichen Gerichte nicht entgegen. § 38a Abs 3 VwGG bewirke, dass vor dem LVwG OÖ anhängige Verfahren betreffend die im Beschluss des VwGH nach § 38a Abs 1 VwGG genannten Rechtsvorschriften und Rechtsfragen – mit Ausnahme der Fälle des § 38a Abs 3 Z 1 lit a VwGG – bis zur Kundmachung der Rechtssätze durch den VwGH nach § 38a Abs 4 VwGG unterbrochen sind. Ein Beschluss nach § 38a VwGG bewirke jedoch nicht, dass das LVwG OÖ im Rahmen seiner Zuständigkeit innerstaatliche gesetzliche Vorschriften zu Grunde zu legen habe, die offenkundig einer unmittelbar anwendbaren Bestimmung des Unionsrechtes widersprechen. Soweit das LVwG OÖ weiters einen Verstoß des § 38a Abs 3 VwGG gegen Art 6 EMRK und Art 47 GRC behauptet, weil die Sperrwirkung des Beschlusses nach § 38a VwGG in Verwaltungsstrafsachen mit den „Anforderungen an eine Entscheidung binnen angemessener Frist“ nicht vereinbar sei, sei darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen des § 38a VwGG – im Interesse des Bf – der Verfahrensökonomie und der Sicherstellung der (Unions-)Rechtskonformität der Entscheidungen der VwG dienen. Ein Verstoß des § 38a Abs 3 VwGG gegen Art 6 EMRK oder Art 47 GRC liege insoweit nicht vor.

C.

Revisibilität einer unmittelbar auf Unionsrecht gestützten einstweiligen Anordnung und aufschiebende Wirkung der Amtsrevision

60-26 Die spezifischen unionsrechtlichen Anforderungen an den vorläufigen Rechtsschutz vor den VwG einschließlich ge92 Siehe § 38 Abs 3 Z 1 lit a VwGG. 93 Hinweis auf das zur ähnlichen Regelung des § 86a VfGG ergangene Erk des VfGH VfSlg 20.147/2017. 94 Erneut Hinweis auf VfSlg 20.147/2017. 95 Glücksspielgesetz – GSpG, BGBl 620/1989 idF BGBl I 13/2014. 96 Hinweis auf VwGH 4. 9. 2003, 2003/17/0124.

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gebenenfalls unmittelbar auf Unionsrecht zu stützender einstweiliger Anordnungen waren bereits wiederholt Gegenstand der Berichterstattung in dieser Reihe.97 In einem Beschluss, in dem einer Revision gegen eine vom BFG zwecks vorläufiger Zuerkennung der Familienbeihilfe ohne indexierungsbedingte Abzüge98 erlassenen „vorläufigen Anordnung“99 die aufschiebende Wirkung zuerkannt wurde, hat der VwGH nicht nur an seine diesbezügliche Vorjudikatur angeknüpft,100 sondern auch klargestellt, dass eine solche unmittelbar auf Unionsrecht gestützte einstweilige Anordnung eines VwG selbstständig vor dem VwGH anfechtbar ist und daher auch zum Gegenstand einer Amtsrevision gemacht werden kann (VwGH 1. 2. 2021, Ra 2020/16/0173). Dabei hielt der Gerichtshof ganz grundsätzlich fest, dass es sich unter Zugrundelegung des durch die Bundesverfassung, insbesondere durch Art 133 Abs 1 Z 1, Abs 4 und 9 B-VG, und durch das VwGG normierten Rechtsschutzsystems bei der „vorläufigen Anordnung“ um einen Beschluss eines VwG, dessen Anfechtbarkeit vor dem VwGH nicht ausgeschlossen ist. Insbesondere handle es sich hierbei auch nicht um einen „verfahrensleitenden Beschluss“ iSd § 25a Abs 3 VwGG, weil dem angefochtenen Beschluss nicht bloß prozessleitende Funktion zukomme,101 indem er die vor dem VwG belangte Behörde zur Mitwirkung am Verfahren anhalten würde, sondern weil dieser ua auf die Liquidierung (Auszahlung) der im Beschwerdeverfahren strittigen Differenzbeträge abziele und damit ua zu einer Geldleistung an die Mitbeteiligte verpflichte, die erst mittelbare Folge eines erfolgreichen Ausganges des Beschwerdeverfahrens wäre. Auch sei dem Unionsrecht kein Grund zu entnehmen, weshalb der verfassungsgesetzlich vorgegebene Rechtsschutz durch den VwGH gegen einen – nicht bloß verfahrensleitenden – Beschluss zurückgedrängt sein sollte. Es sei daher im vorliegenden Fall von der Revisibilität der angefochtenen einstweiligen Anordnung und damit von der Anwendbarkeit des § 30 VwGG in vollem Umfang auszugehen. 60-27 Als nicht minder interessant erweist sich vorliegend der Umstand, dass der VwGH der gegen die als revisibel erkannte einstweilige Anordnung vom zuständigen Finanzamt102 erhobenen Amtsrevision die aufschiebende Wirkung zuerkannt hat. Auch wenn nach der stRsp des VwGH, an die der Gerichtshof hier anknüpft, bei Amtsrevisionen die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 30 Abs 2 VwGG zulässig ist, wobei als „unverhältnismäßiger Nachteil für den Revisionswerber“ dabei eine unverhältnismäßige Beeinträchtigung der von der Amtspartei zu

97

Siehe zuletzt Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2019/ 26-37 ff, mit weiteren Hinweisen. 98 Siehe dazu § 8a Familienlastenausgleichsgesetz – FLAG 1967, BGBl 376/1967 idF BGBl I 83/2018. Bei der Leistungsbezieherin handelte es sich um eine in der Tschechischen Republik mit ihren Kindern wohnhafte tschechische Staatsangehörige. Auch die Kinder sind tschechische Staatsbürger. 99 BFG 14. 10. 2020, RV/7103708/2020. 100 Zur Leitentscheidung VwGH 29. 10. 2014, Ro 2014/04/0069, siehe Eberhard/Pürgy/Ranacher, Rsp-Bericht, ZfV 2015/39-17 ff. 101 Hinweis auf VwGH 24. 3. 2015, Ro 2014/05/0089 = VwSlg 19.081/A, mwN. 102 Ursprünglich Finanzamt Waldviertel, nunmehr Finanzamt Österreich.

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vertretenden öffentlichen Interessen als Folge einer Umsetzung des angefochtenen Erk in die Wirklichkeit zu verstehen ist,103 dürfte das in der Praxis doch nicht so häufig vorkommen. Die Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung begründete der VwGH vorliegend wie folgt: Bei der Entscheidung über einen Aufschiebungsantrag habe der VwGH grundsätzlich nicht die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung zu prüfen, sondern allein die Auswirkungen eines möglichen Vollzuges deren Inhaltes. Ausnahmsweise werde allerdings eine offenkundige Rechtswidrigkeit als relevant angesehen. Weiters sei eine zumindest grobe Vorabprüfung der Erfolgsaussichten zu einem gewissen Maß aus unionsrechtlichen Gründen im Zusammenhang mit einstweiligen Verfügungen erforderlich.104 Das BFG gründe die angefochtene vorläufige Anordnung auf die aus der Rsp des EuGH ersichtlichen Voraussetzungen für einstweilige Anordnungen. Zu diesen Voraussetzungen, die kumulativ vorliegen müssen, zähle ua, dass die Notwendigkeit der Anordnung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht sei und feststehe, dass sie in dem Sinne dringlich sei, dass sie zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Interessen des Antragstellers bereits vor der Entscheidung zur Hauptsache erlassen werde und ihre Wirkungen entfalten müsse.105 Der Richter der einstweiligen Anordnung nehme gegebenenfalls auch eine Abwägung der bestehenden Interessen vor.106 Ua darin unterschieden sich die Voraussetzungen für eine (einstweilige) Gewährung von (ungekürzten) Familienleistungen im Wege einer einstweiligen Anordnung von jenen für deren endgültige Gewährung im Rahmen des Familienbeihilfensystems, weil bei Letzterer auf eine Notwendigkeit der Leistungen zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens, fallbezogen auf eine individuelle dringende Bedürftigkeit, nicht abgestellt werde. Im angefochtenen Beschluss habe das BFG dieses Kriterium der Dringlichkeit der Entscheidung zur Abwehr eines schweren, irreparablen Schadens (auch) mit einem Interesse der Europäischen Union an der Wirksamkeit des Unionsrechts – dessen Auslegung jedoch noch Gegenstand eines eigenen Ersuchens an den EuGH ist107 – begründet. Das BFG habe jedoch – abgesehen von Feststellungen zum Verwaltungsgeschehen – keine näheren Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen insbesondere der beiden Kinder, getroffen, anhand derer beurteilt werden könnte, ob die mit dem angefochtenen Beschluss einstweilen angeordnete Auszah103 Insoweit treten diese öffentlichen Interessen im Falle einer Amtsrevision bei der vorzunehmenden Interessenabwägung an die Stelle jener Interessenlage, die sonst bei einem „privaten“ Revisionswerber als Interesse an dem Aufschub des sofortigen Vollzuges der angefochtenen Entscheidung in die Abwägung einfließt; der VwGH verweist hier auf VwGH 15. 3. 2019, Ra 2018/16/0109, mwN. 104 Hinweis auf die in Mayer/Muzak, Kommentar zum B-VG5 (2015), in Anmerkung F II.2. zu § 30 VwGG wiedergegebene Judikatur. 105 Siehe dazu bereits auch siehe Eberhard/Pürgy/Ranacher, Rsp-Bericht, ZfV 2015/39-21. 106 Hinweis auf EuGH 31. 7. 2003, Rs C-208/03 P-R, Le Pen, EU:C:2005:429, Rz 77; vgl auch EuGH 21. 2. 1991, verb Rs C-143/88 und C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG, EU:C:1991:65, Rz 33 zweiter Anstrich. 107 BFG 21. 10. 2020, RE/7100004/2020, beim EuGH anhängig als Rs C-574/20.

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lung der strittigen Differenzbeträge zur Verhinderung eines schweren und nicht wiedergutzumachenden Schadens im Interesse der Mitbeteiligten geboten sei. Auch sei den vorgelegten Verwaltungsakten keine Glaubhaftmachung solcher Umstände seitens der Mitbeteiligten oder überhaupt ein Begehren auf Erlassung einer einstweiligen Anordnung zu entnehmen.108 Dagegen sei der zitierten Rsp des EuGH nicht zu entnehmen, dass ein allfälliges Interesse der Europäischen Union an einem Anwendungsvorrang der den Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens bildenden unionsrechtlichen Bestimmungen in die Glaubhaftmachung eines unwiederbringlichen Schadens für die Parteien des gerichtlichen Verfahrens einzufließen hätte. Somit sei im Verfahren bislang kein dem geltend gemachten Interesse des Finanzamtes widerstreitendes Interesse der Mitbeteiligten behauptet oder dargelegt worden, sodass dessen Antrag, der Amtsrevision aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, gemäß § 30 Abs 2 VwGG stattzugeben sei.

VII. Besonderes Verwaltungsrecht A. 1. 2. 3.

4. 5. 6. 7. 8.

Baurecht Reichweite von Nachbarrechten 60-29 Provisorialrechtsschutz für Nachbarbeschwerden 60-31 Anzeigeverfahren: Umfassende Prüfpflicht des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Untersagungsgründe 60-32 Abweichungen vom Baukonsens 60-33 Nachträgliche Auflagen 60-35 Gefahrenzonenplanung und Baurecht 60-36 Untersagung der Benützung als Freizeit- bzw Zweitwohnsitz 60-37 Versagung einer Abbruchbewilligung 60-40

60-28 Nach etwas längerer Zeit109 werden nachfolgend aktuelle Entscheidungen aus dem Baurecht dargestellt, die sich in der gesamten Bandbreite dieser praktisch sehr bedeutsamen Materie des Landesrechts bewegen. Wieder aufgegriffen wird in diesem Zusammenhang auch die Thematik der zuletzt im raumordnungsrechtlichen Kontext behandelten110 Beschränkungen für Freizeit- bzw Zweitwohnsitze, die in Bezug auf konkrete Bauvor-

108 Schließlich seien auch der Stellungnahme der Mitbeteiligten zum Antrag der Amtsrevision, dieser aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, keine Umstände in tatsächlicher Hinsicht zu entnehmen, aus denen ihr dringendes Interesse an der Auszahlung der strittigen Differenzbeträge vor Entscheidung in der Hauptsache (hier: über die Revision gegen die einstweilige Anordnung) abgeleitet werden könnte. 109 Vgl zuletzt allgemein Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2017/22-40 ff, im Kontext der Pflicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2018/ 16-13, sowie im Kontext vollstreckungsrechtlicher Konstellationen Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2019/25-17 ff. 110 Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2020/37-26 ff.

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haben bzw die Nutzung von Objekten stets auch baurechtlich beachtlich sind.111

1.

Reichweite von Nachbarrechten

60-29 Die geplante Bauführung einer Tiefgarage beschäftigte das LVwG Bgld (LVwG Bgld 10. 5. 2021, E GB5/09/2020.010/015). Ausgangspunkt des Verfahrens war ein Bauansuchen für die Errichtung einer Tiefgarage und Parkdecks für 96 Kraftfahrzeuge, die unterirdisch unmittelbar an das Nachbargrundstück heranreichen sollte. Der direkt angrenzende Nachbar erhob in der mündlichen Verhandlung (und allen weiteren Schriftsätzen) Einwendungen, wonach die Bauführung bis zu der an sein Grundstück liegenden Grundstücksgrenze unzulässig sei. Es seien die Mindestabstände nach dem Bgld BauG 1997 einzuhalten. Sowohl der Bürgermeister als auch der im Berufungsweg angerufene Gemeinderat erteilten die Baubewilligung. Das LVwG Bgld gab der dagegen erhobenen Beschwerde Folge und änderte den Bescheid dahingehend ab, dass das Bauansuchen abgewiesen wird. Begründend führte das LVwG Bgld aus, dass der „mit Abstandsvorschriften verbundene Schutzzweck [...] nicht auf bestimmte in § 3 Bgld BauG 1997112 genannte baupolizeiliche Interessen eingeschränkt“ sei. Ausführlich setzte sich das LVwG Bgld dabei mit der Frage auseinander, ob der Nachbar zulässigerweise die Unterschreitung des Mindestabstandes auch bei unterirdischer Bauführung als subjektives Recht geltend machen konnte: Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die doppelte Beschränkung von Nachbarrechten im Bauverfahren – einerseits auf subjektive Rechte und auf rechtzeitige Einwendung.113 Zentral für diese Überlegungen war, dass dem Bgld BauG 1997 keine Aufzählung der Vorschriften zu entnehmen sei, auf welche Einwendungen der Anrainer (Nachbarn) gestützt werden könnten.114 Die Bestimmung über die Abstände von Grundstücksgrenzen diene auch dem Interesse der Nachbarschaft.115 Freilich können sich Nachbarn nur insoweit darauf berufen, als es um den Abstand zu ihrem Grundstück handelt.116 Dieser Voraussetzung sei mit der Einwendung, der Nachbar sei mit dem Anbau der Garage an die Grundstücksgrenze nicht einverstanden, entsprochen worden.117 Der Nachbar habe ein Recht auf Einhaltung der – für das vom geplanten Bauvorhaben betroffene Grundstück festgelegten – halboffenen Bauweise in Bezug auf die seitliche (gemeinsame) Grundgrenze.118 Hinsichtlich der Frage, ob Nachbarschaftsrechte auch zulässigerweise gegenüber unterirdischer Bauführung geltend gemacht werden könnten, führte das LVwG Bgld aus, dass das Bgld BauG 1997 hinsicht111 Siehe dazu konkret auch Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2020/37-29 ff. 112 Burgenländisches Baugesetz 1997 – Bgld. BauG 1997, LGBl 10/1998 idF LGBl 25/2020. 113 Das LVwG Bgld verweist dazu auf VwGH 18. 3. 2004, 2002/05/1004, und 16. 4. 1998, 98/05/0047. 114 Siehe bereits VwSlg 15.637 A/2001 und VwGH 10. 10. 2014, 2012/06/0020. 115 VwGH 26. 4. 2000, 2000/05/0009. 116 VwGH 9. 6. 1994, 91/06/0040, und 28. 2. 2017, Ro 2014/06/0004. 117 VwSlg 17.112 A/2007. 118 VwGH 23. 9. 2010, 2010/06/0132.

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lich der Beurteilung der zulässigen Bebauungsweise nicht zwischen Hoch- und Tiefbauten (im Sinne einer ober- bzw unterirdischen Bauführung) unterscheide. Insoweit die Geltendmachung von Nachbarschaftsrechten in der Rsp bei unterirdischer Bauweise ausgeschlossen bzw eingeschränkt würde, gehe dies jeweils auf entsprechende ausdrückliche gesetzliche Vorschriften zurück.119 Da dem Bgld BauG 1997 eine solche Einschränkung der Nachbarschaftsrechte nicht zu entnehmen sei, könne im beschwerdegegenständlichen Fall zulässigerweise die Einwendung der Unterschreitung des Mindestabstandes auch gegenüber den unterirdischen Teilen der Bauführung geltend gemacht werden. 60-30 Bereits im zweiten Rechtsgang hatte der VwGH sich mit einem geplanten Ausbau des Dachgeschosses in einem Wiener Wohnhaus auseinanderzusetzen. Nach Behebung im ersten Rechtszug120 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit auf Grund eines Verstoßes des ursprünglichen Bauvorhabens gegen die Wr BauO121 hatte der VwGH diesmal vorwiegend die Reichweite der vorgebrachten Nachbarrechte zu prüfen (VwGH 4. 12. 2020, Ra 2019/05/0294). Der VwGH knüpfte dazu an seine Rsp zur doppelten Einschränkung von Nachbarschaftsrechten im Bauverfahren an: „Nach ständiger hg. Judikatur ist das Mitspracherecht der Nachbarn im Baubewilligungsverfahren in zweifacher Weise beschränkt: Es besteht einerseits nur insoweit, als den Nachbarn nach den in Betracht kommenden baurechtlichen Vorschriften subjektiv-öffentliche Rechte zukommen, und andererseits nur in jenem Umfang, in dem die Nachbarn solche Rechte im Verfahren durch die rechtzeitige Erhebung entsprechender Einwendungen wirksam geltend gemacht haben.“122 Hinsichtlich der zulässig vorgebrachten Revisionsgründe lagen diese Voraussetzungen nicht vor: Einerseits können sich Vorbringen der Nachbarn nicht gegen den bereits bestehenden, von den geplanten baulichen Maßnahmen gar nicht betroffenen Baukonsens richten. Der Nachbar könne sich nur gegen die im konkreten Baubewilligungsverfahren gegenständlichen Baumaßnahmen wenden.123 Andererseits könnten Nachbarrechte nur insoweit geltend gemacht werden, als diese ihrem Schutz dienen.124 Hinsichtlich der Einwendungen bezüglich der geplanten Dachgauben stellte bereits das LVwG Wien im bekämpften Erk fest, dass diese sich nicht unmittelbar am linken Rand der Straßenfront befindet, sondern etwa um die Breite eines Fensters von diesem linken Rand – und damit von der der Liegenschaft der Revisionswerberinnen zuge119 Pallitsch/Pallitsch, Bgld. Baurecht2 (2006) Rz 140 ff; siehe zB VwGH 20. 1. 2015, 2012/05/0058, zur Wr BauO; übersichtlich auch Hauer, Der Nachbar im Baurecht6 (2008) 305. 120 VwGH 25. 9. 2018, Ra 2018/05/0025. 121 Bauordnung für Wien – BO für Wien, LGBl 11/1930 idF LGBl 71/2018. 122 Hinweis auf VwGH 15. 5. 2020, Ra 2019/05/0073, mwN. 123 Hinweis auf VwGH 3. 5. 2011, 2009/05/0154. Zur vergleichbaren Judikatur im gewerblichen Betriebsanlagenverfahren siehe aktuell etwa VwGH 28. 4. 2021, Ra 2021/04/0082, mwN, wonach Gegenstand eines Änderungsgenehmigungsverfahrens nach § 81 GewO 1994 nur die Änderung einer genehmigten Betriebsanlage ist, nicht jedoch die geänderte Betriebsanlage insgesamt. 124 Hinweis auf VwGH 22. 1. 2019, Ro 2018/05/0001; 26. 9. 2017, Ro 2015/05/0002.

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wandten Seitenfront – abgerückt sei. Dieser Bauteil bleibe hinter der den Revisionswerberinnen zugewandten Seitenfront zurück. Eine Verletzung von Nachbarrechten der Revisionswerberinnen komme bezüglich dieses Bauteils daher nicht in Frage.125 Dass dieser Bauteil für die Revisionswerberinnen seitlich in Erscheinung trete, ändere daran nichts.126

2.

Provisorialrechtsschutz für Nachbarbeschwerden

60-31 Ein Tiroler Ausgangsfall gab dem VwGH Gelegenheit zur Klarstellung betreffend den Beurteilungsmaßstab für den provisorialen Rechtsschutz für Nachbarbeschwerden im Bauverfahren (VwGH 16. 9. 2020, Ra 2019/06/0243). Gegen eine vom Stadtmagistrat Innsbruck erteilte Baubewilligung zur Errichtung einer Wohnhausanlage erhoben Nachbarn Beschwerde und verbanden diese mit dem Antrag auf aufschiebende Wirkung. Diese wurde vom LVwG Tir mit dem revisionsgegenständlichen Erk zuerkannt.127 Die Bauwerber rügten in der dagegen erhobenen Revision auf das Wesentlichste zusammengefasst, das LVwG Tir hätte sich unzulässigerweise im Provisorialverfahren inhaltlich mit dem Baubescheid auseinandergesetzt. Der VwGH folgte dieser Argumentation nicht: Das LVwG Tir habe nicht über die Rechtmäßigkeit des Baubewilligungsbescheides abgesprochen. Sache des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens vor dem LVwG Tir war die Entscheidung über die aufschiebende Wirkung der Nachbarbeschwerde gegen den Baubewilligungsbescheid.128 Dabei sei es in die nach § 65 Abs 2 Tir BauO 2018129 gebotene Interessenabwägung130 eingetreten. Das LVwG Tir habe auch die zur Beurteilung eines sich für die bf Nachbarn für das Provisorialverfahren allfällig ergebenden unverhältnismäßigen Nachteiles aus dem Baubewilligungsbescheid potentiell ergebenden Gefährdungen einzubeziehen. Das LVwG Tir habe dabei nur die sich aus dem vorliegenden Sachverhalt (zu dem auch das Fehlen geeigneter Vorschreibungen zur Vermeidung von Gefährdungen zähle) für die Beurteilung der Erforderlichkeit eines vorläufigen Rechtsschutzes ergebenden Schlussfolgerungen gezogen. Dies setze insoweit eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Baubewilligungsbescheid voraus; der von den revisionswerbenden Parteien angesprochene Rechtssatz in der Rsp des VwGH, wonach im Provisorialverfahren die Rechtmäßigkeit des (in der Sache) angefochtenen Bescheides nicht zu prüfen ist, stehe dem nicht entgegen. 125 Hinweis auf VwGH 29. 1. 2013, 2012/05/0160, mwN; siehe auch VwGH, Ro 2018/05/0001 (FN 124) mHa; 30. 5. 2000, 96/05/0121. 126 Hinweis auf VwGH 21. 12. 2010, 2009/05/0089. 127 LVwG Tir 2. 9. 2019, LVwG-2019/48/1183-11. 128 Zur Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung im Bauverfahren auf Grund von Nachbarbeschwerden allgemein VwGH 12. 5. 1995, AW 95/05/0018; 5. 10. 2005, AW 2005/05/0096; 13. 5. 2015, Ra 2015/06/0038. 129 Tiroler Bauordnung 2018 – TBO 2018, LGBl 28/2018 idF LGBl 144/2018. 130 Wurde diese Interessenabwägung auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rsp entwickelten Grundsätze vorgenommen, so ist eine solche einzelfallbezogene Beurteilung im Allgemeinen nicht revisibel (zB VwGH 30. 7. 2019, Ra 2019/05/0114, mwN); grundsätzlich zu Interessenabwägungsentscheidungen siehe etwa zuletzt Eberhard/Ranacher/Weinhandl, RspBericht, ZfV 2019/7-20 und ZfV 2020/28-54 ff, jeweils mwN.

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3.

Anzeigeverfahren: Umfassende Prüfpflicht des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Untersagungsgründe

60-32 In einem weiteren Tiroler Ausgangsverfahren hatte sich der VwGH mit der Reichweite der Prüfungsbefugnis des LVwG bei der Untersagung eines angezeigten Bauvorhabens auseinanderzusetzen (VwGH 1. 7. 2020, Ro 2017/06/0030). Der Stadtmagistrat Innsbruck als zuständige Baubehörde hatte die angezeigte Errichtung von drei mittels Schotterrasen befestigten Pkw-Stellplätzen untersagt. Das mittels Beschwerde angerufene LVwG Tir behob diesen Bescheid mit der Begründung, die Baubehörde habe die Befestigung der Pkw-Stellplätze mit Schotterrasen als Bodenversiegelung gewertet, im Sinne der für das Baugrundstück relevanten örtlichen Bauvorschriften die Unzulässigkeit des Bauvorhabens festgestellt und die Ausführung untersagt. Nach dem im Beschwerdeverfahren eingeholten nachvollziehbaren, schlüssigen und glaubhaften Gutachten liege aber mit der Errichtung eines Schotterrasens keine Versiegelung der Oberfläche vor.131 Der VwGH behob dieses Erk, weil das LVwG Tir ausschließlich den von der Behörde herangezogenen Untersagungsgrund betrachtet und die Prüfung der Übereinstimmung des angezeigten Vorhabens mit den übrigen bau- und raumordnungsrechtlichen Vorschriften gänzlich unterlassen habe. Im Beschwerdeverfahren sei der äußerste Rahmen für die Prüfungsbefugnis des LVwG die Sache des bekämpften Bescheides,132 vorliegend also die Frage der Untersagung der Ausführung eines Bauvorhabens insgesamt, also hinsichtlich jedes denkbaren Untersagungsgrundes (vgl § 30 Abs 2 iVm § 23 Abs 3 Tir BauO 2011).133 Das LVwG Tir war daher nicht berechtigt, den bei ihm angefochtenen Bescheid schon wegen des Nichtvorliegens der von der Behörde herangezogenen Untersagungsgründe ersatzlos aufzuheben. Diese Aussagen des VwGH dürfen aber freilich nicht so verstanden werden, dass dem LVwG generell eine unbegrenzte Prüfungsbefugnis der objektiven Rechtmäßigkeit zukommt bzw dieses dazu verpflichtet wäre. Vielmehr muss betont werden, dass sich in der besonderen Konstellation der Kontrolle einer behördlichen Untersagung eines angezeigten Bauvorhabens das LVwG nicht auf die Kontrolle des spezifisch von der Baubehörde herangezogenen Untersagungsgrundes beschränken darf. Dies liefe auf eine Kontrolle bloß des spezifischen Rechtsgrundes und der diesem zu Grunde liegenden Tatsachen hinaus. Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ist hier aber, ob die Untersagung des angezeigten Vorhabens insgesamt zu Recht erfolgt ist.

4.

Abweichungen vom Baukonsens

60-33 Ein baupolizeiliches Verfahren bot dem VwGH Gelegenheit, seine Rsp zum Charakter des Baubewilligungsverfahrens als Projektgenehmigungsverfahren zu bestätigen und Ausführungen zur Frage des Konkretisierungsgrades der maß131 LVwG Tir 27. 7. 2017, LVwG-2017/38/1347-8. 132 Hinweis auf VwGH 5. 9. 2019, Ra 2019/12/0041, mwN. 133 Tiroler Bauordnung 2011 – TBO 2011, LGBl 57/2011 idF LGBl 32/2017.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE geblichen Projektunterlagen zu treffen (VwGH 15. 3. 2021, Ra 2020/05/0011). Verfahrensgegenständlich war ein Einzelhaus mit Doppelcarport, für dessen Errichtung bereits 2013 die Baubewilligung rechtskräftig erteilt wurde. Im Einreichplan wurde das Dach in rötlicher Farbe dargestellt und in der Baubeschreibung die Verwendung von Betondachsteinen angeführt. Die tatsächliche Ausführung erfolgte dann allerdings mit Dachziegeln aus Ton in der „Glasur Amadeus Schwarz“. Nach Einholung eines lichttechnischen und eines medizinischen Gutachtens, wobei zumindest für eine Nachbarstraße eine Gesundheitsgefährdung infolge der Reflexion festgestellt wurde, erteilte der Bürgermeister den baupolizeilichen Auftrag, den rechtmäßigen Zustand herzustellen (sohin die Dacheindeckung auszutauschen, dass diese keine grelle oder reflektierende Farbe mehr aufweise und im Einklang mit dem Bebauungsplan stünde). Der vom Gemeinderat im Berufungsweg noch bestätigte Bescheid wurde vom LVwG OÖ behoben.134 Begründend führte das LVwG OÖ aus, der baupolizeiliche Auftrag unterstelle der Baubeschreibung und der Darstellung im Einreichplan einen zu hohen Konkretisierungsgrad. Nicht jedwede farb- und materienspezifische Abweichung in der Ausführung eines Bauvorhabens würde eine Baukonsenswidrigkeit begründen. Der VwGH folgte dieser Begründung nicht und behob das Erk des LVwG OÖ: Das Baubewilligungsverfahren sei ein Projektgenehmigungsverfahren. Gegenstand des Verfahrens sei die Beurteilung des in den Einreichplänen und sonstigen Projektunterlagen dargestellten Projektes, für das der in den Einreichplänen und den Baubeschreibungen zum Ausdruck gebrachte Bauwille des Bauwerbers entscheidend ist. Die Übereinstimmung des Vorhabens mit den gesetzlichen Bestimmungen sei anhand des konkret eingereichten Projektes (Baubeschreibung, Pläne etc) zu prüfen.135 Ausschlaggebend im Baubewilligungsverfahren sei der Bauwille des Bauwerbers, der einen anderen Bau als den eingereichten nicht umfasse.136 Überhaupt habe der Bauplan alles zu enthalten, was für die Beurteilung des Bauvorhabens nach den Vorschriften der Oö. BauO 1994 notwendig sei. Dies betreffe das Ortsbild, und nach dem im Verfahren maßgeblichen Bebauungsplan sei die Verwendung von „stark reflektierenden“ Farben bei der Dacheindeckung nicht zulässig. Da das LVwG OÖ keine entsprechende Beurteilung des Einflusses der Abweichungen auf die gesundheitlichen Verhältnisse und auf das Orts- oder Landschaftsbild und der Wesentlichkeit der Veränderung des äußeren Aussehens des Gebäudes vorgenommen habe, behob der VwGH dessen Erk. 60-34 Das LVwG Tir hatte die Rechtmäßigkeit einer Untersagung der weiteren Ausführung eines Bauvorhabens zu überprüfen (LVwG Tir 19. 6. 2020, LVwG-2020/32/0876-9). Dem Bauvorhaben zu Grunde lagen eine rechtskräftige Baubewilligung sowie eine rechtskräftige verkehrsrechtliche Bewilligung. Beide Be134 LVwG OÖ 1. 10. 2019, LVwG-152125/7/WP - 152126/2. 135 Hinweis auf VwGH 28. 5. 2013, 2012/05/0208. 136 Hinweis auf VwSlg 18.735 A/2013.

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willigungen wurden unter Vorschreibung mehrerer Auflagen erteilt. Der Baubeginn wurde gesetzmäßig angezeigt. Da die mehrere Meter tiefe Baugrube mit keinen Sicherungsmaßnahmen ausgestattet war, erließ der zuständige Bürgermeister zunächst eine vorläufige Baueinstellung und untersagte in der Folge mit Bescheid die weitere Ausführung des Bauvorhabens bis zur Vorlage eines statischen Nachweises der Baugrubensicherung und der Erfüllung der straßenpolizeilichen Auflagen – jeweils entsprechend der verkehrsrechtlichen Bewilligung. Der Bf brachte vor, zur Begründung der Untersagung der weiteren Bauausführung wären ausschließlich behaupteterweise nicht eingehaltene Punkte aus dem straßenrechtlichen Verfahren angeführt worden. Die Nichteinhaltung von straßenrechtlichen Auflagen könne jedoch niemals dazu führen, dass ein Bau einzustellen ist, weil das Straßenrecht gänzlich andere Interessen verfolgt als das Baurecht. Mängel, die tatsächlich die Ausführung des Bauvorhabens betreffen, wären im bekämpften Bescheid keine festgestellt worden. Das LVwG Tir führte zunächst – wohl ob der während des Beschwerdeverfahrens mittlerweile wiederum verfüllten Baugrube – aus, dass in einem Baueinstellungsverfahren ein während des Beschwerdeverfahrens geänderter Sachverhalt rechtlich unerheblich sei, weil im Rechtsmittelverfahren zu prüfen sei, ob die belangten Behörde unter Zugrundelegung des damals vorgelegenen Sachverhaltes zu Recht die Voraussetzungen für eine Baueinstellung als gegeben angesehen habe oder nicht.137 In der Sache stimmte das LVwG Tir zwar dem Beschwerdevorbringen grundsätzlich zu, dass die Nichteinhaltung verkehrsrechtlich vorgeschriebener Auflagen keine Baueinstellung nach der Tir BauO 2018138 zu tragen vermöge. Allerdings stelle die nicht ordentlich durchgeführte Sicherung der Baugrube zugleich einen wesentlichen Mangel bei der Ausführung des Bauvorhabens nach den Bestimmungen der Tir BauO 2018 dar. Dies schloss das LVwG Tir aus einer systematischen Zusammenschau, insbesondere aus der in § 37 Tir BauO 2018 vorgesehenen Möglichkeit einer Vorabbewilligung der Sicherung der Baugrube. Daher bestätigte das LVwG Tir insgesamt die Baueinstellung, änderte jedoch den Spruch entsprechend ab.

5.

Nachträgliche Auflagen

60-35 Mit den Voraussetzungen einer Rechtskraftdurchbrechung auf Grund von Schallemissionen einer Schießanlage hatte sich das LVwG OÖ auseinanderzusetzen (LVwG OÖ 23. 7. 2020, LVwG152685/2/VG). Betreffend die Schießanlage bestand ein älterer baurechtlich rechtskräftiger Bestand. Bereits seit 2003 ergingen dazu Lärmbeschwerden aus dem Bereich der 300 m von der Schießanlage entfernten Wohnbebauung. Nach Einholung mehrerer Gutachten schrieb der Magistrat der Landeshauptstadt Linz mehrere nachträgliche Auflagen wegen unzumutbarer Belästigung der Nachbarschaft vor, mit denen im Wesentlichen die Betriebszeiten der Schießanlage eingeschränkt wurden. 137 ZB VwGH 30. 8. 1994, 94/05/0067; 20. 5. 2003, 2001/05/0144. 138 Tiroler Bauordnung 2018 – TBO 2018, LGBl 28/2018 idF LGBl 60/2020.

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Das LVwG OÖ gab der vom die Schießanlage betreibenden Verein dagegen erhobenen Beschwerde Folge und behob diesen Bescheid. Begründend führte das LVwG OÖ aus, dass die in § 46 Oö. BauO 1994139 vorgesehene Möglichkeit der Rechtskraftdurchbrechung grundsätzlich restriktiv auszulegen sei. Die Verwaltungsbehörde habe sich bei der nachträglichen Vorschreibung von Auflagen ausschließlich auf den Tatbestand „unzumutbare Belästigung der Nachbarschaft“ gestützt. Es gebe keinen Hinweis, den Begriff der Nachbarschaft im Verfahren nach § 46 Oö. BauO 1994 anders als auszulegen, als dies die Legaldefinition nach § 31 Abs 1 Z 2 Oö. BauO 1994 vorsehe. Anrainer in einer Entfernung von 300 m zur verfahrensgegenständlichen baulichen Anlage zählen daher nicht zu der verfahrensgegenständlich geschützten Nachbarschaft und es war eben ausschließlich die Belästigung dieser Nachbarschaft Gegenstand des beschwerdeverfangenen Bescheides. Das LVwG OÖ wies jedoch darauf hin, dass eine mögliche nachträgliche Vorschreibung von Auflagen und Bedingungen wegen Gefährdung für das Leben und die körperliche Sicherheit von Menschen nach § 46 Abs 1 Oö. BauO 1994 nicht auf die Nachbarschaft eingeschränkt wäre.

NÖ ROG 1976 richte sich eindeutig nur an den Verordnungsgeber, also an den Gemeinderat, allenfalls an die LReg als Aufsichtsbehörde,144 nicht aber an den Bürgermeister als Baubehörde im Baubewilligungsverfahren. Der Bürgermeister könne mangels gesetzlicher Grundlage im Baubewilligungsverfahren nicht gleichsam „durch die Hintertüre“ die Kriterien, die für die Erlassung einer Verordnung (oder auch eines Gesetzes) gelten, ins Baubewilligungsverfahren gewissermaßen „hereinziehen“ und selbst beurteilen.

6.

60-38 Im Erk VwGH 28. 6. 2021, Ra 2021/06/0056, bestätigte der Gerichtshof erneut seine diesbezüglich tendenziell restriktive ständige Rsp: Für das Bestehen eines Freizeitwohnsitzes iSd § 13 Abs 1 Tir ROG 2016145 komme es darauf an, dass der Wohnsitz im Wesentlichen nur zum Aufenthalt während des Urlaubs, der Ferien, des Wochenendes oder sonst nur zeitweilig zu Erholungszwecken verwendet werde. Wie der VwGH zu wortgleichen Vorgängerbestimmungen146 wiederholt ausgesprochen habe, könne insofern von einem anderen Wohnsitz als einem Freizeitwohnsitz dann nicht gesprochen werden, wenn kein deutliches Übergewicht hinsichtlich der beruflichen und familiären Lebensbeziehungen des Einschreiters feststellbar sei; dies gelte auch, wenn er dort gelegentlich seinen Beruf betreffende Tätigkeiten ausüben sollte.147 Das Zulässigkeitsvorbringen der vorliegenden Revision biete keinen Anlass, von dieser bestehenden Rsp abzugehen. Mit dem angefochtenen Erk hatte das LVwG Tir die Beschwerde eines deutschen Anwaltsehepaars gegen die Untersagung der Benützung einer näher bezeichneten Wohnung als Freizeitwohnsitz gemäß § 46 Abs 6 lit g Tir BauO 2018148 als unbegründet abgewiesen.149 Fallbezogen hatte das LVwG

Gefahrenzonenplanung und Baurecht

60-36 Auf Grund des Feststellungsantrages wegen eines beim LG St. Pölten behängenden Amtshaftungsverfahrens hatte der VwGH zu klären, ob die Baubewilligung für ein Atelier- und Einfamilienhaus im Jahr 2010 rechtswidrig erteilt worden war (VwGH 29. 1. 2021, Fe 2020/05/0001). Die Baubewilligung war nach Ortsaugenschein und sachverständiger Prüfung hinsichtlich Bau- und Brandschutz sowie Übereinstimmung mit den Bestimmungen der NÖ BauO 1996140 erteilt worden. Die Vorprüfung des Bauvorhabens hatte am 10. 11. 2010 stattgefunden, als der Gemeinde (der Beklagten im Amtshaftungsverfahren) ein noch nicht ministeriell genehmigter Gefahrenzonenplan nach dem ForstG 1975 bereits vorgelegen war, der Teile der gegenständlichen Liegenschaft als rote Gefahrenzone ausgewiesen habe. Nach dem Vorbringen des Klägers im Ausgangsverfahren hätte die Baubewilligung daher nicht erteilt werden dürfen und hätte der nunmehrige Kläger die Liegenschaft niemals erworben bzw den Kauf rückabgewickelt. Der VwGH wies den Feststellungsantrag ab: Ein Gefahrenzonenplan nach § 11 ForstG 1975141 beruhe weder auf den Bestimmungen des NÖ ROG 1976 noch der NÖ BauO 1996.142 Nach § 15 Abs 3 NÖ ROG 1976143 dürften näher genannte Flächen, darunter auch von Hochwasser bedrohte Flächen, nicht als Bauland gewidmet werden. Bereits nach dem Wortlaut scheide es aus, dass diese Bestimmung bei einer konkreten Baubewilligung für ein Bauvorhaben im Einzelfall zum Tragen komme, weil durch eine Baubewilligung keine Widmung als Bauland erfolge. § 15 Abs 3 139 140 141 142 143

Oö. Bauordnung 1994 – Oö. BauO 1994, LGBl 66/1994 idF LGBl 44/2019. NÖ Bauordnung 1996 – NÖ BauO 1996, LGBl 8200-0 idF LGBl 8000-25. Forstgesetz 1975 – ForstG 1975, BGBl 440/1975 idF BGBl I 59/2002. Hinweis auf VwGH 19. 12. 2000, 98/05/0147. NÖ Raumordnungsgesetz 1976 – NÖ ROG 1976, LGBl 8000-0 idF LGBl 8000-23.

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7.

Untersagung der Benützung als Freizeit- bzw Zweitwohnsitz

60-37 Zwei rezente verwaltungsgerichtliche Erk zur Rechtslage in Tirol veranschaulichen die im Kontext der Beschränkungen für Freizeit- bzw Zweitwohnsitze häufig zu lösende Frage der Abgrenzung zwischen (verbotenem) Freizeitwohnsitz und (zulässigem) Arbeitswohnsitz. Ausgangspunkt waren in beiden Fällen baupolizeiliche Bescheide, welche die weitere Benützung der gegenständlichen Objekte als Freizeitwohnsitz untersagten.

144 Erneut Hinweis auf VwGH, 98/05/0147 (FN 142). 145 Gemäß § 13 Abs 1 Tiroler Raumordnungsgesetz 2016 – TROG 2016, LGBl 101/2016, sind Freizeitwohnsitze Gebäude, Wohnungen oder sonstige Teile von Gebäuden, die nicht der Befriedigung eines ganzjährigen, mit dem Mittelpunkt der Lebensbeziehungen verbundenen Wohnbedürfnisses dienen, sondern zum Aufenthalt während des Urlaubes, der Ferien, des Wochenendes oder sonst nur zeitweilig zu Erholungszwecken verwendet werden. 146 § 12 Abs 1 TROG 2001 bzw (nach der Wiederverlautbarung) § 12 Abs 1 TROG 2006. 147 Hinweis auf VwGH 26. 6. 2009, 2008/02/0044; 26. 11. 2010, 2009/02/0345; und 27. 6. 2014, 2012/02/0171; sowie sinngemäß vergleichbar zu § 16 Vorarlberger Raumplanungsgesetz VwGH 30. 9. 2015, Ra 2014/06/0026. 148 Tiroler Bauordnung 2018 – TBO 2018, LGBl 28/2018 idF LGBl 65/2020. 149 LVwG Tir 25. 11. 2020, LVwG-2020/31/1003-4.

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Tir nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung festgestellt, dass die in Rede stehende Wohnung nach der durchgeführten Gesamtbetrachtung nicht der Befriedigung eines ganzjährigen, mit dem Mittelpunkt der Lebensbeziehungen verbundenen Wohnbedürfnisses diene. Vielmehr könne bei einem in Deutschland wohnhaften und als Rechtsanwälte tätigen Ehepaar, das übers Wochenende nach Tirol komme,150 kein Überwiegen der Lebensbeziehungen in Tirol erkannt werden. Auch wenn die revisionswerbenden Parteien nach ihren Angaben gelegentlich von der in Rede stehenden Wohnung aus berufliche Tätigkeiten verrichteten, mache dies den Wohnsitz nicht zu einem anderen als einem Freizeitwohnsitz. 60-39 Ganz auf dieser Linie liegt das unmittelbar auf die soeben dargestellte Entscheidung des VwGH Bezug nehmende Erk des LVwG Tir vom 6. 10. 2021 LVwG-2021/22/1811-6. Im Anlassfall war dem Bf ebenfalls gemäß § 46 Abs 6 lit g Tir BauO 2018 mit Bescheid die weitere Benützung eines Wohnhauses als Freizeitwohnsitz untersagt worden. Das LVwG Tir bestätigte diesen Untersagungsbescheid: Dass der Bf das gegenständliche Anwesen lediglich als Freizeitwohnsitz und nicht als dauernden Arbeitswohnsitz verwende, steht für das LVwG Tir unzweifelhaft fest. Zunächst sei er über viele Jahre überhaupt nicht an der gegenständlichen Adresse gemeldet gewesen; erst gegen Ende 2020 und dies nur auf Grund des entsprechenden behördlichen Hinweises habe er einen Nebenwohnsitz angemeldet. Seinen Hauptwohnsitz habe er in Deutschland. Auch die weiteren, völlig unstrittigen Feststellungen der belangten Behörde, wie das Fehlen der Eintragung in die zentrale Europa-Wählerevidenz, die Zulassung des/der Kfz in Deutschland, die Bezahlung der Freizeitwohnsitzpauschale für den Zeitraum 2014 bis 2019 oder das Fehlen einer Gewerbeberechtigung in Österreich, sprächen gegen das Vorliegen eines Arbeitswohnsitzes in Österreich. Zudem stehe fest, dass der Bf im beruflichen Umfeld hauptsächlich von seinem Hauptwohnsitz bzw dem Sitz seiner Firma in Deutschland aus fungiere. Seine beruflichen Tätigkeiten im Rahmen seiner Aufenthalte am Wohnsitz in Tirol könnten daran selbst dann nichts ändern, wenn diese – wie von ihm behauptet – ca 90 Tage im Jahr betragen würden. Auf Grund des gegebenen deutlichen Überwiegens der beruflichen Tätigkeit in Deutschland sei nämlich das diesbezügliche Vorbringen schon aus diesem Grund nicht geeignet, das verfahrensgegenständliche Gebäude als Arbeitswohnsitz qualifizieren zu können. Zusammengefasst ergebe sich sohin in gebotener Gesamtbetrachtung sowie im Lichte der höchstgerichtlichen Rsp, dass die belangte Behörde zutreffend zum Ergebnis gelangt sei, dass die verfahrensgegenständliche Wohnung den Bf nicht zur Befriedigung eines ganzjährigen, mit dem Mittelpunkt der Lebens150 Der Erstrevisionswerber sei Gesellschafter einer näher bezeichneten Kanzlei in München, die Zweitrevisionswerberin arbeite nach ihren Angaben in einer Münchner Anwaltskanzlei. Das Kraftfahrzeug der revisionswerbenden Parteien sei in Deutschland zugelassen und insgesamt habe das durchgeführte Ermittlungsverfahren ergeben, dass ihr beruflicher Schwerpunkt klar in München liege.

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beziehungen verbundenen Wohnbedürfnisses diene, sondern von diesen als Freizeitwohnsitz gemäß der Legaldefinition in § 13 Abs 1 Tir ROG 2016 genutzt werde.

8.

Versagung einer Abbruchbewilligung

60-40 Das LVwG Vlbg musste in einem Verfahren die Voraussetzungen für die Untersagung eines angezeigten Bauabbruchs beurteilen (LVwG Vlbg 11. 5. 2021, LVwG-318/77/2020-R18). Dem Verfahren zu Grunde lag die bescheidmäßige Untersagung eines rechtmäßig angezeigten Abbruchs eines nicht unter Denkmalschutz stehenden Hauses. Der Bf brachte vor, das Gebäude stehe weder unter Denkmalschutz noch sei es sonst erhaltenswert. Ihm komme keine besondere Qualität zu, vielmehr sei es ein heruntergekommenes und verwahrlostestes Gebäude, das das örtliche Erscheinungsbild störe. Zudem sei bei der Beurteilung der Zulässigkeit des Abbruchs die wirtschaftliche Zumutbarkeit der Erhaltung und Instandhaltung für den Eigentümer zu prüfen. Das LVwG Vlbg folgte den Begründungen des Bf nicht und bestätigte die Untersagung des Abbruchs. Nach Einholung zweier Gutachten von Sachverständigen für Raumplanung, Landschaftsschutz und Baugestaltung sowie für Ortsbildschutz stellte das LVwG Vlbg fest, das verfahrensgegenständliche Gebäude übernehme eine Art „Torfunktion“ in der Straße und bilde den Auftakt des Straßenzugs. Im Sinne der ortsspezifischen Charakteristika sei das Objekt nicht im Einzelnen zu betrachten, sondern im Gesamt-Ensemble zu sehen. Das Objekt entfalte eine starke Identität für das betroffene Viertel, welches insgesamt eine erhaltenswerte Charakteristik aufweise, bzw präge das Ortsbild. Daher sei der Abbruch unzulässig, weil die erhaltenswerte Charakteristik erheblich beeinträchtigt werde.151 Dazu genüge es schließlich bereits, wenn der Ortsteil, dem das Bauwerk zuzuordnen sei, über ein Mindestmaß an gemeinsamer Charakteristik verfüge.152 Das Vorhandensein einzelner störender Objekte kann noch nicht dazu führen, dass jeder weitere Eingriff in das Ortsbild als zulässig angesehen werden müsste.153 Zur wirtschaftlichen Zumutbarkeit der Erhaltung und Instandhaltung führte das LVwG Vlbg aus, dass auf Grund des klaren Wortlautes des § 33 Abs 2 und 3 iVm § 17 Abs 3 Vlbg BauG154 keine Prüfung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit für den Eigentümer im Zuge der Zulässigkeitsprüfung eines Abbruches durchzuführen sei.155 Die im gegenständlichen Verfahren anzuwendenden Vorschriften des Vlbg BauG würden nämlich keine Berücksichtigung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit vorsehen, es komme ausschließlich auf die Anforderungen betreffend den Schutz des Orts- und Landschaftsbildes an.

151 152 153 154 155

Siehe Germann/Fleisch, Das Vorarlberger Baugesetz4 (2020) 134 f. Hinweis auf VwSlg 13.612 A/1992. Hinweis auf VwGH 16. 10. 1986, 85/06/0167; VwSlg 9966 A/1979 mwN. Vorarlberger Baugesetz – Vlbg BauG, LGBl 52/2001 idF LGBl 91/2020. Das LVwG Vbg setzte sich diesbezüglich ausführlich mit der Rsp zur Prüfung der wirtschaftlichen Zumutbarkeit eines Abbruchs auseinander (VwSlg 13.056 A/1989, VfSlg 7759/1976).

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Ob dieser absolute Ausschluss der Berücksichtigung vermögenswerter Privatinteressen (bei der Gestion über privates Eigentum) einer verfassungsrechtlichen Prüfung standhält, bleibt abzuwarten.

B. 1. 2.

Datenschutzrecht Maßgebliche Rechtslage für bei In-Kraft-Treten der DSGVO bereits anhängige Verfahren 60-42 Anonymisierung von verwaltungsgerichtlichen Erkenntnissen als Akt der Gerichtsbarkeit 60-43

60-41 Nachdem an dieser Stelle bereits mehrfach das materielle Datenschutzrecht im Mittelpunkt stand,156 sollen in der vorliegenden Ausgabe157 zwei bedeutende formellrechtliche Fragestellungen aufgearbeitet werden. Der VwGH befasste sich einerseits in Ra 2019/04/0054 mit der im Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen Rechtslage für bei In-Kraft-Treten der DSGVO bereits anhängige Verfahren. Andererseits erweckte er mit Ra 2019/04/0106 das Rechtsschutzsystem gegen Datenschutzverletzungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aus seinem „Dornröschenschlaf“.158

1.

Maßgebliche Rechtslage für bei In-Kraft-Treten der DSGVO bereits anhängige Verfahren

60-42 Mit In-Kraft-Treten der DSGVO159 bzw des dazugehörigen DSG160 am 25. 5. 2018 stellten sich für den Rechtsanwender mitunter komplexe Fragen betreffend die im jeweiligen Verfahren anzuwendende Rechtslage. Für das verwaltungsgerichtliche Verfahren lassen sich in diesem Kontext vier denkbare Fallkonstellationen identifizieren: 1. Die Datenschutzverletzung ereignet sich vor dem 25. 5. 2018, das dazugehörige Rechtsmittelverfahren wird vor dem 25. 5. 2018 abgeschlossen. 2. Die Datenschutzverletzung ereignet sich vor dem 25. 5. 2018, das dazugehörige Rechtsmittelverfahren ist am 25. 5. 2018 bereits anhängig. 3. Die Datenschutzverletzung ereignet sich vor dem 25. 5. 2018, das dazugehörige Rechtsmittelverfahren wird erst nach dem 25. 5. 2018 eingeleitet.

156 Vgl dazu etwa Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2020/836 ff; Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2019/36-48 ff. 157 Für seine engagierte und sachkundige Mitarbeit an diesem Abschnitt sei Daniel Peter Schmidt herzlich gedankt. 158 Von einem solchen darf angesichts eines einzigen einschlägigen sowie öffentlich abrufbaren Erk (VwG Wien 9. 9. 2019, VwG-102/013/3668/2019) durchaus gesprochen werden. 159 VO (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates v 27. 4. 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), ABl 2016 L 119/1 (im Folgenden: DSGVO). 160 Datenschutzgesetz – DSG, BGBl I 165/1999 idF BGBl I 14/2019.

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4.

Die Datenschutzverletzung ereignet sich nach dem 25. 5. 2018, wodurch das dazugehörige Rechtsmittelverfahren auch erst nach dem 25. 5. 2018 eingeleitet werden kann. Weder zusätzlichen Regelungsbedarf noch Kopfzerbrechen erfordern die Fallkonstellationen 1 und 4. Evidenterweise ist im ersten Fall die alte Rechtslage (DSG 2000) maßgeblich, während im vierten Fall die neue Rechtslage (DSGVO bzw DSG) zur Anwendung kommen. Für die verbliebenen Fallkonstellationen 2 und 3 gilt, dass die DSGVO selbst keine Übergangsbestimmungen enthält.161 § 69 Abs 4 iVm Abs 5 DSG normiert jedoch folgende Übergangsbestimmungen: Für am 25. 5. 2018 bereits anhängige Verfahren vor den ordentlichen Gerichten bzw der Datenschutzbehörde ist gemäß § 69 Abs 4 DSG die neue Rechtslage im jeweiligen Entscheidungszeitpunkt maßgeblich (Fallkonstellation 2). Vergleichbares gilt gemäß § 69 Abs 5 DSG für Datenschutzverletzungen, die sich vor dem 25. 5. 2018 ereignet haben, wobei das dazugehörige Rechtsmittelverfahren erst danach eingeleitet wird (Fallkonstellation 3). Als Zwischenergebnis darf an dieser Stelle konstatiert werden, dass die verbliebene Fallkonstellation 2 (noch) nicht abschließend beantwortet werden kann, weil der nationale Gesetzgeber in § 69 Abs 4 DSG die VwG nicht berücksichtigt hat. Diese Fragestellung bildete schlussendlich den Anlassfall für VwGH 23. 2. 2021, Ra 2019/04/0054. Dabei ereignete sich die behauptete Verletzung im Recht auf Geheimhaltung durch eine mehr als vier Jahre vor In-Kraft-Treten der DSGVO und des DSG erfolgte Datenübermittlung. Das BVwG als zuständige Rechtsmittelinstanz wendete in seinem Erk vom 14. 3. 2019 – der dazugehörige Bescheid der Datenschutzbehörde datiert mit 11. 7. 2016 – unter Verweis auf § 69 Abs 4 iVm Abs 5 DSG die neue Rechtslage an.162 Dieser Umstand wurde dabei im Revisionsverfahren nicht vom Rechtsmittelwerber, sondern vielmehr von der belangten Behörde bemängelt. Der VwGH hielt hierzu fest, dass grundsätzlich im Sinne der stRsp das geltende Recht im Zeitpunkt der Erlassung des Erk anzuwenden ist.163 Abweichendes gilt nur im Fall entsprechender gesetzlicher Übergangsbestimmungen. Nachdem der vorliegende Sachverhalt auch nicht über den Zeitpunkt des In-KraftTretens der DSGVO hinaus andauerte, entschied der VwGH unter Berücksichtigung der Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes die Maßgeblichkeit des DSG 2000 zu bejahen. Ausgehend davon hat das BVwG zu Unrecht die DSGVO als für die materielle Beurteilung einschlägige Rechtserkenntnisquelle herangezogen. Zusammengefasst ist somit für nicht von § 69 Abs 4 bzw Abs 5 DSG erfasste Aspekte der Fallkonstellation 2 ein Rückgriff auf die

161 Vgl Art 99 DSGVO, der lediglich Regelungen zum Zeitpunkt des In-KraftTretens enthält. 162 BVwG 14. 3. 2019, W256 2131983-1/15E. 163 VwGH 25. 6. 2019, Ra 2018/10/010, mwN.

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ZfV 4/2021 RECHTSPRECHUNGSBERICHTE geltende Rechtslage im Zeitpunkt der Datenschutzverletzung selbst geboten.

2.

Anonymisierung von verwaltungsgerichtlichen Erkenntnissen als Akt der Gerichtsbarkeit

60-43 Das Rechtsschutzsystem gegen Datenschutzverletzungen beruht auf einer – noch nicht vollständig entwickelten – Trias, wobei die jeweils handelnde Staatsgewalt hierfür den zentralen Anknüpfungspunkt bildet. Während Datenschutzverletzungen der Exekutive mittels Datenschutzbeschwerde an die Datenschutzbehörde herangetragen werden können,164 stehen für Datenschutzverletzungen der Judikative remonstrative Rechtsmittel zur Verfügung.165 Welche sachliche Zuständigkeit Datenschutzverletzungen der Legislative in ihrer Kontrollfunktion begründen, bedarf hingegen noch einer – erst bevorstehenden – höchstgerichtlichen Klarstellung.166 Das zu besprechende Judikat – VwGH 9. 8. 2021, Ra 2019/ 04/0106 – adressiert nun Datenschutzverletzungen der dritten Gewalt, in concreto Datenschutzverletzungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Der hierfür iSd Art 55 Abs 3 DSGVO mit Art 130 Abs 2a B-VG und damit zusammenhängenden einfachgesetzlichen Bestimmungen geschaffene Rechtsmittelweg167 erlangte bislang keinerlei größere praktische Bedeutung.168 Dies war vordergründig auf die begrenzte Anzahl denkbarer Anlassfälle zurückzuführen.169 Auch im gegenständlichen Fall – angesiedelt an der Schnittstelle zwischen judizieller Tätigkeit und Justizverwaltung – entschied sich der Bf für die Erhebung einer Datenschutzbeschwerde, weil er sich in seinem Recht auf Geheimhaltung verletzt erachtete. Zuvor hatte das LVwG Sbg auf dessen Homepage ein Erk vom 17. 7. 2015 veröffentlicht bzw zum Download bereitgehalten, in welchem die vom Magistrat der Stadt Salzburg vergebene Aktenzahl, die das Geburtsdatum des Bf enthält, wiedergegeben wurde. Der Bf vertrat die Ansicht, dass angesichts dieser Umstände Rückschlüsse auf seine Person möglich seien. Die Datenschutzbehörde bejahte am 6. 9. 2016 das materiell-rechtliche Begehren des Bf und damit eine Verletzung von § 1 Abs 1 DSG. Demnach gebiete Art 4 Z 5 DSGVO iVm § 20 Abs 2 S.LVwGG eine Pseudonymisierung von schutzwürdigen personenbezogenen Daten iSd § 4 Z 1 DSG 2000 – dazu zählt auch das Geburtsdatum –, was im vorliegenden Fall unterblieben sei. Ihre sachliche Zuständigkeit begründete die Datenschutz-

164 § 24 DSG, BGBl I 165/1999 idF BGBl I 120/2017, iVm § 31 Abs 1 DSG, BGBl I 165/1999 idF BGBl I 120/2017. 165 Vgl Art 130 Abs 2a B-VG sowie damit im Zusammenhang stehende einfachgesetzliche Ausführungsbestimmungen. 166 Eberhard/Ranacher/Weinhandl, Rsp-Bericht, ZfV 2021/33-21 ff. 167 Hierzu näher Schmidt, Datenschutzverletzungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, ZfV 2021, 124 (127 f). 168 Eberhard, Art 130 Abs 2a B-VG, in Korinek/Holoubek et al (Hrsg), Österreichisches Bundesverfassungsrecht (in Druck) Rz 8. 169 Im bisher einzigen öffentlich abrufbaren Erk zu Art 130 Abs 2a B-VG (LVwG Wien 9. 9. 2019, VwG-102/013/3668/2019) werden unter Verweis auf Art 2 Abs 2 lit d DSGVO Verwaltungsstrafsachen als zulässiger Beschwerdegegenstand iSd Art 130 Abs 2a B-VG ausgeschlossen.

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behörde mit Verweis auf Art 87 Abs 2 B-VG iVm § 8 Abs 2 und 4 sowie § 20 S.LVwGG. Demnach folge aus diesen Bestimmungen rechtlich zwingend, dass die Entscheidungsdokumentation iSd § 20 S.LVwGG der Justizverwaltung zuzurechnen sei. Mit anderen Worten obliege es alleine der Präsidentin des LVwG als Justizverwaltungsorgan und der ihr dabei unterstehenden weisungsgebundenen Evidenzstelle, die Entscheidungsdokumentation zu gewährleisten. Das BVwG wies am 10. 7. 2019 die dagegen von der Präsidentin des LVwG Salzburg erhobenen Beschwerde iSd Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG ab und verneinte zugleich das Vorliegen einer Rechtsfrage gemäß Art 133 Abs 4 B-VG. Begründend wurde dabei auf die – auch nach dem In-Kraft-Treten der DSGVO – weiterhin bestehende Zuständigkeit der Datenschutzbehörde gemäß § 18 DSG iVm Art 51 und 55 DSGVO verwiesen. Auf dem Weg einer außerordentlichen Revision trug das LVwG Salzburg schließlich die Rechtsfrage, ob der (Pseudo-)Anonymisierungsprozess von verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen einen Teil der judiziellen Tätigkeit des Gerichts bildet, an den VwGH heran. Darauf aufbauend wäre die Frage nach der sachlichen Zuständigkeit der Datenschutzbehörde als Rechtsmittel-instanz zu beantworten. Mit Verweis auf das zuvor170 besprochene Judikat – VwGH 23. 2. 2021, Ra 2019/04/0054 – wurde eingangs bekräftigt, dass zur Beurteilung eines konkreten vor In-Kraft-Treten der DSGVO und des DSG bereits abgeschlossenen Zeitraums die währenddessen geltende Rechtslage anzuwenden ist. Für den gegenständlichen Fall impliziert dies die Maßgeblichkeit des DSG 2000 idF BGBl I 83/2013 bzw des S.LVwGG idF LGBl 16/2013 sowie ab 1. 3. 2016 idF LGBl 18/2016. In weiterer Folge nahm der VwGH eine Dreiteilung der an ihn herangetragenen Rechtsfrage vor. So untersuchte er, in wessen Zuständigkeit die ausschließlich den Richtern dienende Entscheidungsdokumentation, die darauffolgende Entscheidungsveröffentlichung sowie die dabei erforderliche Anonymisierung verortet werden kann. Abhängig von ihrer Einordnung, entweder als judizielle Tätigkeit oder als Tätigkeit der Justizverwaltung, gilt es daran anknüpfend entweder die Zuständigkeit der Judikative iSd Art 130 Abs 2a B-VG oder der Exekutive iSd § 24 iVm § 31 Abs 1 DSG als Rechtsmittelinstanz zu bejahen. Angesichts der in Art 134 Abs 7 B-VG normierten Verweisung auf Art 87 Abs 2 B-VG nahm der VwGH hierfür an der dazu ergangenen Rsp Anleihe. Weitestgehend unstrittig ist die Zuständigkeit der Evidenzstelle für die (interne) Entscheidungsdokumentation gemäß § 20 Abs 1 Satz 2 S.LVwGG. Angesichts der Tatsache, dass die Evidenzstelle gemäß § 20 Abs 1 Satz 1 S.LVwGG vom Präsidenten des LVwGG geleitet wird, folgt hieraus iVm § 8 Abs 4 S.LVwGG ein Tätigwerden im Rahmen der Justizverwaltung. Demgegenüber enthielt das S.LVwGG zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des fraglichen Erk weder Regelungen zur Entscheidungsveröffentlichung noch zu deren Anonymisierung. Diese Lücke schloss der Landesgesetzgeber mit LGBl 18/2016 in § 20 S.LVwGG (Geschäftsstelle

170 Siehe oben 60-42.

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und Evidenz) jedoch nur mit Hinblick auf die Entscheidungsveröffentlichung.171 Zutreffend weist der VwGH darauf hin, dass daraus nicht zwangsläufig auch eine Zuständigkeit der Evidenzstelle für die mit der Entscheidungsveröffentlichung zusammenhängende (ungeregelte) Anonymisierung abgeleitet werden könne. An dieser Stelle sei jedoch bereits angemerkt, dass mit der Novelle LGBl 82/2018 die Entscheidungsveröffentlichung schließlich in den in Ausführung zu Art 130 Abs 2a B-VG ergangenen § 21a S.LVwGG verschoben wurde. Als Telos der Entscheidungsveröffentlichung identifizierte der VwGH die Gewährleistung von Rechtssicherheit172 und Transparenz. Um jedoch auch im Zuge des Veröffentlichungsprozesses die Persönlichkeitsrechte der am Verfahren beteiligten Personen zu wahren, bedarf es der Anonymisierung personenbezogener Daten. Das hierzu berufene Organ muss eine sachgerechte Abwägung zwischen ebendiesen Rechten und dem Interesse der Öffentlichkeit treffen können. Dies vermag laut VwGH unter Bezugnahme auf VfSlg 13.581/1993 (Gewährung der Akteneinsicht an Dritte als judizielle Tätigkeit) am ehesten das eigentliche Entscheidungsorgan – also der jeweils zuständige Einzelrichter oder Richtersenat – zu gewährleisten. Daraus folgt, dass es sich – so der VwGH – beim Verfahrensgegenstand – der Veröffentlichung eines unzureichend anonymisierten Erk – um einen Akt der Gerichtsbarkeit handle, der gemäß Art 130 Abs 2a B-VG im remonstrativen Rechtsmittelweg bekämpft werden könne. Für Art 130 Abs 2a B-VG und seine einfachgesetzlichen Ausführungsbestimmungen stellt das vorliegende Erk eine Initialzündung dar. Es bleibt zu hoffen, dass hierzu in der Lehre diskutierte Streitfragen173 somit (alsbald) einer höchstgerichtlichen Klärung zugeführt werden können. Offen bleibt nach dem Erk des VwGH insbesondere auch, inwieweit der VwGH mit seiner Bezugnahme auf Judikatur des VfGH174 betreffend die Reichweite der Akten171 Vgl im Unterschied dazu beispielhaft § 15 Abs 5 OGHG bzw § 43 Abs 8 VwGG. 172 VfSlg 12.409/1990. 173 Vgl hierzu Eberhard (FN 168) Art 130 Abs 2a B-VG; Kneihs, Art 130 B-VG, in Kneihs/Lienbacher (Hrsg), Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht (24. Lfg, 2020); Schmidt (FN 167) ZfV 2021, 124. 174 Auch im zitierten Judikat VfSlg 13.581/1993 erfolgt in diesem Zusammenhang eine nur kursorische Stellungnahme: „Der Verfassungsgerichtshof teilt die von den Verfahrensparteien übereinstimmend (unter Bezugnahme auf das rechtswissenschaftliche Schrifttum) vertretene Auffassung, daß die in § 219 Abs 2 ZPO geregelte Angelegenheit nicht in

einsicht eine verfassungsrechtliche Determinierung des einfachen Organisationsgesetzgebers bei der Frage erkennt, ob die Anonymisierung der judiziellen Tätigkeit oder der Justizverwaltung zugewiesen wird, mit anderen Worten, ob und welchen Spielraum der Organisationsgesetzgeber dabei besitzt. Auf Basis der konkreten Rechtslage im Salzburger Landesrecht musste diese Frage vom VwGH nicht weiter vertieft werden. Gleichwohl ist sie von allgemeinem Interesse, weil im Zusammenhang mit der Zuständigkeit nach Art 130 Abs 2a B-VG ein gewisses Indiz dafür besteht, einschlägige Rechtswidrigkeiten im Zusammenhang mit der Anonymisierung einer nach dieser Verfassungsbestimmung vorgesehenen remonstrativen Kontrolle durch das die Anonymisierung vornehmende (oder unterlassende) Gericht, nicht aber einer solchen durch die Datenschutzbehörde zu unterwerfen. Letzterer Weg, nämlich die explizite Zuweisung dieser Akte zur Justizverwaltung (mit dem Ergebnis der Zuständigkeit der Datenschutzbehörde), wird etwa durch eine derzeit im Legislativprozess befindliche Änderung175 des Tiroler Landesverwaltungsgerichtsgesetzes176 beschritten. Es ist daher bei Gesamtschau nicht ausgeschlossen, dass es (zumindest vorübergehend) einen nach Bundesländern differenziert ausfallenden Rechtsschutz in dieser Frage geben wird. Die weitere Entwicklung bleibt jedenfalls mit Spannung abzuwarten.

den Bereich der Justizverwaltung fällt, sondern eine solche der gerichtlichen Rechtsprechung bildet. Eine nähere Begründung dieser Ansicht erscheint dem Gerichtshof jedoch als entbehrlich, weil man selbst auf dem Boden der gegenteiligen Rechtsmeinung in der hier zu entscheidenden Frage zum gleichen Ergebnis gelangte.“ 175 Art 8 des 3. Tiroler COVID-19-Anpassungsgesetzes (RV 643/21). Dazu die Erläuternden Bemerkungen: „Damit ist gleichzeitig klargestellt, dass es sich bei den in Rede stehenden Aufgaben um solche der Justizverwaltung handelt, weil die Leitung der Evidenzstelle nach § 21 Abs. 2 regelmäßig dem Präsidenten als Justizverwaltungsorgan obliegt.“ 176 LGBI 148/2012 idF LGBl 8/2021.

Der Autor: Hofrat Dr. Christian Ranacher, MAS Amt der Tiroler Landesregierung Vorstand der Abteilung Verfassungsdienst Eduard Wallnöfer Platz 3 A-6020 Innsbruck christian.ranacher@tirol.gv.at lesen.lexisnexis.at/autor/Ranacher/Christian

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Univ.-Prof. Dr. Harald Eberhard Institut für Österreichisches und Europäisches Öffentliches Recht Wirtschaftsuniversität Wien Welthandelsplatz 1/D3 A-1020 Wien harald.eberhard@wu.ac.at lesen.lexisnexis.at/autor/Eberhard/Harald

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Die Autorin: Dr. Martina Weinhandl Richterin am Bundesverwaltungsgericht Erdbergstraße 192–196 A-1030 Wien martina.weinhandl@bvwg.gv.at lesen.lexisnexis.at/autor/ Weinhandl/Martina

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FACHLITERATUR Rill-Schäffer-Kommentar Bundesverfassungsrecht. Herausgegeben von Benjamin Kneihs und Georg Lienbacher. Redaktion: Michael Bajlicz und Lorenz Kern. Verlag Österreich, Wien. 26. Lieferung, 2021. 396 Seiten, € 179,–. » ZfV 2021/61

Die 26. Lieferung enthält Austauschseiten zur Titelei mit ihren Verzeichnissen und zum Sachverzeichnis. Neu bearbeitet werden sieben Artikel des B-VG, ein Artikel der EMRK und das BVG Neutralität, die in der Folge näher besprochen werden. Die in dieser Lieferung behandelten Art 23i und 23j B-VG erweitern das ohnehin komplexe nationale Integrationsverfassungsrecht um zwei besondere nationale Mitwirkungsrechte an neuen und erweiterten Funktionen der EU. Art 23i B-VG (Kommentierung: Alexander Egger) regelt die Mitwirkung des Nationalrates und des Bundesrates an besonderen Initiativen und Vorschlägen (Abs 1 und 2) und Beschlüssen (Abs 3 und 4) der Rechtsetzung des Europäischen Rates. Es handelt sich um vereinfachte Verfahren, die nicht durch die in Art 50 Abs 4 B-VG geregelten oder durch andere Staatsverträge abgeschlossen werden, aber dennoch eine Mitwirkung nationaler Parlamente vorsehen. Die Kommentierung weist zu Recht darauf hin, dass es im Hinblick auf bereits geltende Vorschriften keinen Bedarf für diese verfassungsrechtliche Sonderregelungen gegeben hätte (Rz 5) und die legistische Qualität dieses Teils des BundesVerfassungsgesetzes dadurch weiter verschlechtert werde. Zweifelhaft erscheint auch, ob die zusätzliche Komplexität des Entscheidungsprozesses der EU den gewünschten Erfolg einer erweiterten Transparenz und Demokratisierung der Entscheidungen der EU erreicht oder eher das Gegenteil der Fall ist (Rz 1). Art 23j B-VG (Kommentierung: Andreas Th. Müller) regelt die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU. Hier wird – legistisch besser – für die nationalen Mitwirkungsrechte die sinngemäße Anwendung von Art 50 Abs 4 und Art 23e Abs 3 B-VG sowie von dem für die Entsendung von Einheiten oder Personen in das Ausland verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahren angeordnet. Bei bestimmten Beschlüssen des Rates der EU ist das Stimmrecht des österreichischen Mitgliedes im Einvernehmen zwischen Bundeskanzler und Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten auszuüben (Abs 3). Mit ausführlichen Hinweisen auf die zahlreiche Literatur qualifiziert die Kommentierung diese Verfassungsbestimmung richtig als gravierende Änderung und teilweise Derogation des BVG Neutralität. Näher ausgeführt wird diese Konsequenz in der umfassenden Kommentierung des BVG Neutralität durch denselben Autor, wobei beide Kommentierungen eine innere Einheit bilden. In der Folge erläutert die Kommentierung die Elemente der GASP/GSVP und weist dabei ausdrücklich auf die jeweiligen neutralitätsrelevanten Spielräume für Österreich hin (Rz 12 und 13 ff ), die sich aus der dafür zfv.lexisnexis.at

maßgebenden „Irischen Klausel“ ergeben (Rz 16). Wichtig sind auch die Hinweise auf die besonderen Verfahrensvorschriften für diese Politikbereiche in den Abs 1 dritter Satz und Abs 2 bis 4 des Art 23j, die in den Rz 18–23 ausführlich erläutert werden. Art 24 B-VG (Kommentierung: András Jakab) regelt – etwas unsystematisch im Abschnitt „Nationalrat“ (Rz 2) –, dass die Gesetzgebung des Bundes vom „Nationalrat gemeinsam mit dem Bundesrat“ ausgeübt wird. Die Kommentierung hält diese Positionierung für eine Bestätigung der Dominanz des Nationalrates in der Bundesgesetzgebung (Rz 2 f). Es ist aber auch die gegenteilige Deutung denkbar, dass dadurch von Anfang an das Zweikammersystem als Merkmal der bundesstaatlichen Gesetzgebung betont werden sollte, wobei freilich deutlich genug der Nationalrat als „Erste Kammer“ der Gesetzgebung verkündet wird. Richtig erkennt die Kommentierung, dass diese Verfassungsbestimmung die parlamentarische Gesetzgebung als oberste Stufe der Rechtsetzung begründet, weil der Begriff „Gesetzgebung“ im BundesVerfassungsgesetz auch die Verfassungsgesetzgebung bezeichnet. Art 24 B-VG hat dadurch eine hohe rechtstheoretische Bedeutung, weil sich in dieser Verfassungsbestimmung alle drei grundlegenden Verfassungsprinzipien konkretisieren: Der Rechtsstaat ist ein legalistisches System, die Demokratie ist durch das Parlament eine repräsentative und der Bundesstaat ist durch die Mitwirkung der Länder an der Bundesgesetzgebung charakterisiert. Durch das von der Kommentierung ausführlich kritisierte Wort „gemeinsam“ (Rz 3) wird der Bundesrat – unabhängig von seinen drastisch reduzierten Mitwirkungsfunktionen – organisatorisch als Zweite Kammer des Gesetzgebungsorgans „Parlament“ eingerichtet und damit ein unabdingbares Wesensmerkmal der Bundesstaatlichkeit begründet (vgl Pernthaler, Österreichisches Bundesstaatsrecht [2004] 352, 358). Diese Qualität als Zweite Kammer des Parlaments verhilft dem Bundesrat – offenbar unter dem Einfluss europäischer Vorbilder – zu weitreichenden paritätischen Funktionen in der Mitwirkung nationaler Parlamente an der EU (Art 23e, 23f, 23g, 23h, 23i, 23j, 50 Abs 4 und 5 B-VG). Richtig erkennt die Kommentierung die rechtliche Kompetenzschwäche des Bundesrates und zitiert dazu lückenlos die maßgeblichen Verfassungsbestimmungen (Rz 6). Unzutreffend ist es, dem Art 24 B-VG jeglichen eigenständigen normativen Charakter abzusprechen (Rz 9). Es handelt sich vielmehr um eine programmatische Rechtsvorschrift höheren Ranges, vergleichbar den Art 1 und 2 B-VG. Art 76 B-VG (Kommentierung: Sebastian Schmid) regelt die staatsrechtliche Verantwortlichkeit der Mitglieder der Bundesregierung. Wenngleich diese Bestimmung nur im Zusammenhalt mit Art 142 B-VG gedeutet werden kann, worauf die Kommentierung in allen Erläuterungen ausdrücklich hinweist, kommt ihr unter Beachtung des rechtssystematischen Standortes ein eigenständiges Gewicht zu (Rz 1): Es soll damit klargestellt werden, dass die besonderen und weitreichenden Machtbefugnisse der Regierungsorgane voraussetzen, dass sie von Menschen mit


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besonderer Verantwortung getragen werden sollen. Denn das kunstvolle formale System des Verfassungsstaates und Rechtssystems funktioniert nicht mechanistisch (von selbst), sondern nur, wenn es getragen wird von Menschen, die moralisch, klug und solidarisch handeln (Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip. Ein neuer Schlüssel zur Lehre vom modernen Rechtsstaat [1984]). Die Kommentierung verweist daher zu Recht auf die „philosophisch-moralische Grundsatzentscheidung aufgeklärter Rechtsordnungen“, die hinter der Vorstellung einer individuellen Verantwortung der Regierungsorgane steht (Rz 9). Dies zu betonen ist deshalb so wichtig, weil die Doppelnatur des „impeachment“ als politisches und strafrechtliches Verfahrens (Rz 6, 16 und 18) in beiden Ebenen neben formaler Gesetzmäßigkeit ein besonders wertbewusstes Handeln der beurteilenden Organe voraussetzt. Dies zeigt sich deutlich an der einzig praktisch wirksamen Form der staatsrechtlichen Verantwortlichkeit, der Anklage des Landeshauptmannes gemäß Art 142 Abs 2 lit e B-VG: Wird dieses Instrument als Mittel parteipolitischer Auseinandersetzung gebraucht – wie es vor allem in der Ersten Republik der Fall war –, so führt es zu einer „Verpolitisierung der Justiz“ (so Schambeck, Die Ministerverantwortlichkeit [1971] 55), die der VfGH kaum ohne Schaden überstehen würde. Auch daraus ist die strenge Rechtsgebundenheit des Anklagebeschlusses im Sinne einer Anklage der StPO zu verstehen, die der VfGH als Voraussetzung seines Verfahrens sehr streng handhabt (Rz 19) und die auch die besondere Grundrechtsbindung dieses Beschlusses bewirkt (Rz 16). Zu beachten ist ebenso, dass die Gesetzwidrigkeit eines Aktes der Regierungsmitglieder durch zahlreiche andere Kontroll- und Rechtsschutzeinrichtungen beseitigt werden kann, sodass das „unzulängliche und wenig wirksame Instrument der Staatsgerichtsbarkeit“ (so Kelsen, VVdSTRL 5 [1929] 52) heute eigentlich überholt erscheint (Rz 15). Art 92 B-VG (Kommentierung: Matthias Neumayr) regelt – im Rahmen des Abschnittes „B. Ordentliche Gerichtsbarkeit“ den Obersten Gerichtshof. Diese Verfassungsbestimmung ordnet nur die Einrichtung als oberste Instanz (Abs 1) und Unvereinbarkeitsbestimmungen (Abs 2), während die eigentliche Organisation und die Funktionen dieses Organs gemäß Art 83 B-VG durch das Bundesgesetz über den Obersten Gerichtshof (OGHG) erfolgt, das die Kommentierung eingehend in allen Teilen zur Erläuterung ergänzend darstellt (Rz 14–32). Abs 1 darf nicht so verstanden werden, dass der Ausdruck „in Zivil- und Strafrechtssachen“ die Funktion des OGH als oberste Instanz abschließend umschreibt, nachdem hierfür die bundesgesetzliche Regelung zuständig ist, die auch anderes anordnet (Rz 6). Richtig ist vielmehr, dass der OGH als oberste Instanz der „ordentlichen Gerichtsbarkeit“ eingerichtet ist und sich daraus seine spezifische Funktion als „richterliches Leitorgan“ ergibt. Diese Funktion soll – statt einer allgemeinen Leitungsaufsicht, die verfassungswidrig wäre (Rz 29) – unter Beachtung der richterlichen Unabhängigkeit die Rechtseinheit, Rechtssicherheit und Rechtsentwicklung in der Judikatur und damit auch die Angemessenheit der Dauer und des Aufwandes gerichtlicher Verfahren und des

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Rechtsverkehrs insgesamt sichern (Rz 4). Der Einzelne hat keinen Anspruch darauf, dass seine Sache durch den OGH behandelt wird, weil Art 92 B-VG als Organisationsnorm und nicht als subjektives Recht (Rechtsweggarantie) verstanden wird (Rz 4). Um die Funktionsfähigkeit des OGH zu sichern, kann es daher Zugangsbeschränkungen geben, die allerdings nicht so weit gehen dürfen, dass „ein Kernbestand an Zuständigkeiten“ und damit die Leitfunktion in Frage gestellt wäre (Rz 12). Die weitreichenden Beschränkungen des OGH als oberste Instanz in Zivilrechtssachen (Rz 31–35) hält die Kommentierung für legistisch problematisch, aber verfassungsrechtlich in Übereinstimmung mit der Judikatur noch für vertretbar, weil sie den Maßstäben der Leitfunktion und des Gleichheitsgrundsatzes entsprechen (Rz 34 ff ). Die allgemeine Zweistufigkeit des Strafverfahrens sei – auch im Hinblick auf Art 2 7. ZPEMRK – verfassungsrechtlich unbedenklich (Rz 9, 38). Eingehend erläutert die Kommentierung auch die Funktion des OGH als Organ des Grundrechtsschutzes (Rz 23–26) und die Pflicht zur Anrufung des EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Rz 27). Die weitreichenden Unvereinbarkeitsregelungen des Abs 2 erläutert die Kommentierung mit dem Verfassungsgrundsatz der Trennung der Justiz von Funktionen der Legislative und Administration, der der Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit diene (Rz 40–44). Art 127c B-VG (Kommentierung: Martin Lenzbauer) ermächtigt den Landesverfassungsgeber, für die Einrichtung „Landesrechnungshof“, die auf der Verfassungsautonomie der Länder beruht, Kompetenzen der Streitschlichtung an den VfGH zu übertragen (Z 1) und mit der Prüfung von Gemeinden bestimmter Größe zu beauftragen (Z 2 und 3), was den Ländern zuvor gemäß Art 119a Abs 2 B-VG verwehrt war (Rz 2). Ein Schwerpunkt der Kommentierung liegt in der Klärung des Begriffes „Landesrechnungshof“ (Rz 4–10), die deshalb notwendig erschien, weil die Bundesverfassung mit ihrer Ermächtigung offenbar eine Einrichtung beauftragen wollte, die rechtlich dem Rechnungshof des Bundes „gleichartig“ oder jedenfalls in den wichtigsten Elementen „vergleichbar“ sein sollte (Rz 4). Wesentlich erscheint zunächst die besondere organisatorische Stellung des Landesrechnungshofes: Er sollte ein von der Vollziehung unabhängiges Hilfsorgan des Landtages (der Legislative) mit monokratischer Führung und politischen sowie wirtschaftlichen Unvereinbarkeiten seiner Mitglieder sein (Rz 6). Dem Leitungsorgan soll auch die Diensthoheit – auf Grund der Ermächtigung des Art 21 Abs 3 B-VG – zukommen (Rz 7 f). Funktionell soll dem Landesrechnungshof eine umfassende Gebarungskontrolle – auch gegenüber Unternehmen im Landeseinfluss – zukommen, für die die Kommentierung der Bundesverfassung eine Reihe zwingender inhaltlicher Kriterien entnimmt, die auch für den Landesrechnungshof maßgebend sein sollen (Rz 9 f). Die Prüfung von Klein- und Großgemeinden ist als spiegelbildliche Komplementärzuständigkeit zum Rechnungshof konstruiert, um eine Doppelprüfung so weit als möglich zu vermeiden (Rz 13 f). Unter dem Stichwort „Schranken der Bundesverfassung“ untersucht die Kommenzfv.lexisnexis.at

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tierung die Kompetenzgrundlage der Gebarungskontrolle des Landes (Rz 16 f) und spezielle Grundrechtsfragen (Eigentum, Gleichheit, Datenschutz) der Kontrollbefugnisse des Landesrechnungshofes (Rz 19 ff ). Besonders hervorgehoben wird von der Kommentierung, dass der Landesrechnungshof nicht mit der Funktion einer Gemeindeaufsicht betraut werden darf, weil diese den Landesverwaltungsbehörden übertragen ist und der Landesrechnungshof dadurch seine organisatorische Unabhängigkeit verliere (Rz 22 f). In einem letzten Abschnitt gibt die Kommentierung einen Überblick über besondere Koordinationspflichten und sonstige Regelungen der Länder über die Landesrechnungshöfe (Rz 25 ff ). Art 59 EMRK (Kommentierung: András Jakab) regelt als Schlussklausel Unterzeichnung und Ratifikation. Da nur europäische Staaten Mitglieder des Europarates werden können, lehnte der Generalsekretär die Mitgliedschaft von Surinam in der EMRK als Nachfolgestaat Hollands ab (Rz 1). Für die geplante Mitgliedschaft der EU (Art 6 Abs 2 EUV) wurde ein eigener Abs 2 in die Schlussklausel eingefügt, der jedoch im Hinblick auf ein negatives Gutachten des EuGH unwirksam blieb (Rz 2). Die EMRK ist ursprünglich am 3. September 1953 und für Österreich am 3. September 1958 in Kraft getreten (Rz 3). Da die beiden Vertragssprachen Englisch und Französisch in gleicher Weise authentisch sind, gibt es zwischen ihnen keine rechtliche Vorrangregel (Rz 4). Art 145 B-VG (Kommentierung: Andreas Th. Müller) regelt die Kompetenz des VfGH zur Entscheidung über „Verletzungen des Völkerrechts“. Da diese Bestimmung inhaltlich auf ein „besonderes Bundesgesetz“ verweist, ist sie unanwendbar, solange dieses Gesetz nicht erlassen ist (Rz 16 ff ). Allerdings hält die Kommentierung die Bestimmung schon derzeit für anwendbar, um eine dem Art 145 B-VG widersprechende Rechtslage als verfassungswidrig zu beurteilen. Dies sei deshalb der Fall, weil durch einfache Gesetze (StPO und StGB) ausschließlich die Strafgerichte und nicht der VfGH zur Entscheidung berufen werden (Rz 19 ff ). Schwierig erscheint die gesetzliche Durchführung der Bestimmung schon deshalb, weil nicht klar ist, ob mit dieser Zuständigkeit eine umfassende Überprüfung des österreichischen Rechts auf Völkerrechtswidrigkeit oder nur spezielle strafgerichtliche Sanktionen gegenüber Privaten begründet werden sollen (Rz 3–7). Die Kommentierung entscheidet sich – aus rechtssystematischen (Rz 10) und historischen Erwägungen (Rz 11) – für die (heute auch herrschende) enge Auslegung, dass damit eine Kompetenz des VfGH als Sonder- und Spezialstrafgericht geregelt sei (Rz 13). Da der VfGH aber als Sonderstrafgericht für alle Delikte mit völkerrechtlichem Ursprung oder Anknüpfungspunkt denkbar ungeeignet sei (Rz 21), müsste der Verfassungsgesetzgeber entweder die derzeitige einfachgesetzliche Rechtslage durch eine Ausnahmeregelung decken oder – was die Kommentierung dringend empfiehlt – Art 145 B-VG als „verunglückte, aber gut gemeinte“ Vorschrift ersatzlos aufheben (Rz 22). Das BVG Neutralität (Kommentierung: Andreas Th. Müller) ist wegen seiner besonderen politischen Bedeutung und der Dynamik seiner Auslegung (Rz 24–38) eine der meistbearbeiteten zfv.lexisnexis.at

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Vorschriften der Bundesverfassung (Literaturverzeichnis über drei Seiten, in Kleindruck zusätzlich 200 Hinweise in FN 234!). Wenngleich es erste Vorstellungen über eine Neutralität Österreichs bereits im und nach dem Ersten Weltkrieg gab, ist die eigentliche geschichtliche Wurzel des Neutralitätsgesetzes – im Hinblick auf seine Genese und seinen Inhalt – der Staatsvertrag von Wien (Rz 1 ff ). In der Folge erläutert die Kommentierung den rechtlichen Inhalt der eigentlichen Neutralitätserklärung in Abs 1 in Form einer Analyse der einzelnen Begriffsmerkmale der „immerwährenden, freiwilligen und bewaffneten Neutralität“, die das besondere Wesen der „österreichischen Neutralität“ ausmachen (Rz 4–14). Wesentlich ist vor allem der Hinweis, dass der Begriff „Neutralität“ eine dynamische Verweisung auf das Völkerrecht enthält, das zwar Wandlungen des Neutralitätsbegriffes kennt (Rz 24–31), aber dennoch die Kernelemente des Rechtsstatus eines dauernd neutralen Staates prägt (Rz 7), die auch in der gebotenen „engen Auslegung des Neutralitätsgesetzes“ (Rz 37) völkerrechtlich maßgebend bleiben. Die primäre Pflicht ist die Nichtteilnahme und Unparteilichkeit in bewaffneten Konflikten von Staaten (nicht in Bürgerkriegen). Dazu kommen die schon im Normtext begründete „bewaffnete Neutralität“ in Form der umfassenden Landesverteidigung (Art 9a B-VG), die Bündnisfreiheit und das Verbot militärischer Stützpunkte auf seinem Gebiet. Modifiziert wird dieser ursprüngliche Rechtsinhalt des BVG Neutralität durch den EU-Beitritt und die Entwicklung der GASP und der GSVP (Rz 32), die verfassungsrechtlich zunächst durch Art 23f B-VG, später vor allem durch Art 23j B-VG abgesichert wurden. Das Ergebnis dieser „Absicherung“ wird als materielle Derogation und „Entkernung des BVG Neutralität“ qualifiziert (Rz 43 f). Auch der völkerrechtliche Inhalt der Neutralitätserklärung ist im Rahmen der Mitwirkung an der GASP/GSVP mangels Protestes oder irgendeiner vergleichbaren Erklärung der Staaten nach dem Grundsatz von Treu und Glauben unwirksam geworden (Rz 38). Dies gilt allerdings nicht außerhalb des Handelns der EU, sodass auch eine völkerrechtliche Verpflichtung aus der Neutralitätserklärung verbleibt, die Österreich auch gegenüber der EU im Rahmen des Einstimmigkeitsprinzips und der „irischen Klausel“ gewisse Verpflichtungen auferlegt (Rz 39). Trotz der Formulierung „immerwährend“ ist auch die dauernde Neutralität verfassungsrechtlich und völkerrechtlich korrekt beendbar (Rz 39–42). Im Rahmen einer „Gesamtbewertung“ kommt die Kommentierung daher zum Ergebnis, dass die Beendigung der Neutralität angesichts ihrer weitgehenden „Entkernung“ eine sinnvolle Bereinigung der Rechtslage wäre, die aber politisch kaum durchsetzbar und in ihrem praktischen Wert angesichts der in Österreich vorherrschenden „Neutralitätsnostalgie“ nicht zu überschätzen sei. Zusammenfassend ist die Kommentierung in Verbindung mit der vom gleichen Autor geleisteten Bearbeitung des Art 23j B-VG vor allem auch wegen ihrer völkerrechtlichen Expertise als besonders informativer Beitrag im Rang einer qualifizierten wissenschaftlichen Monographie zu bewerten. Peter Pernthaler


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100 Jahre Republik Österreich: Kontinuität – Brüche – Kompromisse. Herausgegeben von Harald Eberhard, Michael Holoubek, Thomas Kröll, Georg Lienbacher und Stefan Storr. Verlag Österreich, Wien 2021. IX, 446 Seiten, gebunden, € 98,–. » ZfV 2021/62

Der vorliegende Band entstand aus einem Symposion des Instituts für Österreichisches und Europäisches Öffentliche Recht (IOER) der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), dessen Mitglieder auch die Herausgeber und den größten Teil der Autoren und Autorinnen der Beiträge des Buches stellen. Die diesen vorgegebenen Schwerpunkte, die dem Untertitel des Buches entsprechen, sollten die historische Entwicklung der jeweiligen „Grundfragen von Staat und Verfassung“ und Ausblicke auf deren zukünftige Entwicklung geben (Vorwort, V). Die Themen der Beiträge entsprechen weitgehend den verfassungs- und europarechtlichen Wirkungsbereichen des Instituts, weisen aber in ihrer Bearbeitung deutliche entwicklungsgeschichtliche Bezüge auf. Eine Sonderstellung nimmt in dieser Hinsicht der wissenschaftstheoretisch hochqualifizierte Beitrag von Christoph Bezemek ein, der die Themenstellung „Theorie des öffentlichen Rechts“ dazu benutzt, eine umfassende und tiefgründige Theorie des modernen Staates zu entwickeln, von der er annimmt, dass sie auch auf die Republik Österreich anwendbar sei. Zweifel in dieser Hinsicht erweckt die schwergewichtig mit englischsprachiger Literatur und absatzweisen Zitaten daraus argumentierende Untersuchung, was weniger mit dem Tagungsthema als mit der vom Autor empfohlenen „Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode“ begründbar scheint. Das zweite, weit über den Gegenstand der Tagung hinausreichende Referat, jenes über die europäische Integration (Thomas Jäger), analysiert eingehend die Kontinuität und die Brüche in der Entwicklung der europäischen Integration, in der die Rsp des EuGH und einzelner nationaler Verfassungsgerichte, keinesfalls aber Österreich oder sein VfGH eine bestimmende Rolle spielen. Alle weiteren Beiträge widmen sich verschiedenen Schwerpunkten der Entwicklung des Verfassungsrechts, auch wenn dies im Titel der jeweiligen Beiträge nicht immer zum Ausdruck kommt. Zwei Referate behandeln die Verfassung als Ganzes. Das von Clemens Jabloner sieht die österreichische Verfassungsentwicklung – auch in der Zukunft – unter den Schwerpunkten „Verfassungspragmatismus“ und „liberale Demokratie“ insgesamt positiv, aber als ununterbrochene Aufgabe des Einzelnen, für die Werte der Freiheit und des sozialen Ausgleichs einzutreten. Das andere Referat von Ewald Wiederin behandelt unter dem Titel „Verfassungsbild“ die historische Entwicklung der äußeren Form und des Stils der Verfassung und einzelne, daraus entstehende Sonderprobleme wie die verfassungsrechtliche Grundordnung, die „Bereinigung“ der Verfassung, die Bundesstaatsreform und die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Die übrigen Referate bearbeiten die Entwicklung konkreter Grundprinzipien der Verfassung: Die Demokratie behandelt Reinhard Klaushofer, der eingehend die einzelnen „Elemente des de-

mokratischen Grundprinzips“ untersucht. Den Bundesstaat bearbeitet Georg Lienbacher mit einer besonderen Analyse der Landeshauptleutekonferenz als „Bruch im verfassungsrechtlichen und politischen System des Bundesstaates“. Den Rechtsstaat behandelt Harald Eberhard mit dem Schwerpunkt: Der VfGH als „Innenarchitekt“ der Verfassung. Die Gewaltenteilung untersucht Anna Gamper unter besonderer Berücksichtigung der neuen Rolle des VfGH. Wichtige Teilelemente der Verfassungsentwicklung behandeln die Referate Grundrechte (Michael Holoubek), Schule und Bildung (Thomas Kröll), Wirtschaftsrecht (Stefan Storr), Verwaltung und Verwaltungsrecht (Arno Kahl). Von den Verfassungsorganen wird nur die schon in der Monarchie begründete Verwaltungsgerichtsbarkeit thematisiert (Katharina Pabel), nicht aber die Verfassungsgerichtsbarkeit als die besonders originelle und zukunftsweisende Neuschöpfung der österreichischen Verfassung. Allerdings wird die besondere Bedeutung des VfGH jeweils in den einzelnen Referaten eingehend konkretisiert. Im Ganzen bietet der Sammelband auf Grund der hohen Qualität der Einzelbeiträge eine Fülle neuer Aspekte und Informationen zur wechselvollen historischen Entwicklung der republikanischen Verfassungsentwicklung. Peter Pernthaler

Kommentar zum Bundesverfassungsrecht – B-VG und Grundrechte. Herausgegeben von Arno Kahl, Lamiss Khakzadeh und Sebastian Schmid. Jan Sramek Verlag, Wien 2021. XLIV, 2036 Seiten, € 248,–. » ZfV 2021/63

Auch wenn das B-VG vor kurzem 100 Jahre alt geworden ist, muss sich ein zu diesem Zeitpunkt erscheinender neuer Kommentar zum Bundesverfassungsrecht dennoch die Frage gefallen lassen, welchen Mehrwert er bringt. Die Herausgeber wissen um diese Frage und geben daher gleich am Beginn des Vorworts Auskunft darüber, welche Ziele der neue Kommentar verfolgt. Es geht um einen wissenschaftlich fundierten Zugang zum Bundesverfassungsrecht, beruhend auf zwei Leitlinien: Das Werk soll einerseits einen einbändigen „Handkommentar“ darstellen (was bei knapp über 2.000 Seiten nur noch mit Dünndruckpapier gelungen ist) und andererseits soll gesteigerte Aufmerksamkeit auf die Rechtsfragen gelegt werden, die in der täglichen Befassung mit dem Bundesverfassungsrecht besondere Relevanz haben. Im Kontinuum zwischen Kurzkommentaren und den beiden Großkommentaren nimmt der „KKS-Kommentar“ nicht nur in preislicher Hinsicht eine Mittelstellung ein. Im Gegensatz etwa zum etablierten Kommentar von (nunmehr) Muzak oder dem kürzlich neu erschienen „Rechtsprechungskommentar“ von Grabenwarter/Frank ist er ein Gemeinschaftswerk mehrerer Autoren. Das führt dazu, dass die einzelnen Kommentatoren auf Grund des jeweils überschaubaren Arbeitsbereichs etwas mehr in die zfv.lexisnexis.at

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Tiefe arbeiten konnten, insbesondere dahingehend, dass in zahlreichen (leider nicht allen) Kommentierungen neben der Judikatur insbesondere des VfGH auch ausgewählte Literatur in größerem Ausmaß in den Text eingearbeitet wurde. Sehr oft sind die Autoren auch bereits ausgewiesene Kenner der Kernthemen im Zusammenhang mit den von ihnen bearbeiteten Bestimmungen. Das merkt man dem Werk auch an: Die Qualität der Kommentierungen ist insgesamt hoch. Dennoch sind durchaus Unterschiede in der Bearbeitungstiefe festzustellen: Beispiele dafür finden sich etwa in den Bestimmungen zu den obersten Organen der Bundesverwaltung einerseits und in den Zuständigkeiten des VfGH andererseits. In dieser Mittelstellung hinsichtlich der Bearbeitungstiefe und in den jeweils individuellen, aber dennoch einem einheitlichen Aufbau verpflichteten (siehe in diesem Zusammenhang als nützliche Innovation die „Kurzinhaltsangabe“ aller Novellen nach dem Normtext einer Bestimmung) Kommentierungen liegt aus Sicht des Rezensenten der Mehrwert des Kommentars. Die relativ große Anzahl an Bearbeitern und ihre berufliche Herkunft geben zugleich Zeugnis für die vielen Bereiche, in denen die Verfassung eine zentrale Rolle in der juristischen Tätigkeit einnimmt: Einige Autoren sind bereits Lehrstuhlinhaber oder erfahrene Mitarbeiter aus allen drei Staatsgewalten, ein nicht unbeträchtlicher Teil der Mitarbeiter besteht jedoch aus Wissenschaftlern im zeitlichen Nahebereich kurz vor oder nach der Habilitation bzw in vergleichbaren Karrierestufen in der Praxis (Gerichtsbarkeit, Parlamentsverwaltung, Verwaltung). Die Autoren kommen aus fast allen Bundesländern. Der Untertitel des Kommentars lautet „B-VG und Grundrechte“, was die aufgenommenen Gesetze ziemlich genau beschreibt. Nebengesetze wie das F-VG 1948, das Bezügebegrenzungs-BVG, das Neutralitäts-BVG oder Staatszielbestimmungen wie das BVG Nachhaltigkeit finden sich nicht, die in der Rechtsanwendung und auch der Wissenschaft besonders zentralen Grundrechtsquellen finden sich aber allesamt: Besonders hervorzuheben sind unter dem Titel der Vollständigkeit der Dokumentation des österreichischen Grundrechtsbestands zum einen das BVG Kinderrechte (prägnant und mit zahlreichen Verweisen auf die einfachgesetzliche Rechtslage: A. Wimmer) und zum anderen das 7. ZPMRK. Aus Letzterem sei an dieser Stelle insbesondere Art 4 (Giese) erwähnt, in dem nicht nur eine umfassende Übersicht über die Rsp von EGMR, VfGH und auch VwGH geboten wird (Rz 8, aber auch Rz 9 und 10), sondern auch eine sehr gelungene Gegenüberstellung der – bekanntlich divergierenden – Rechtsprechungslinien von EGMR und VfGH (Rz 16 und 17; weiters auch Rz 18 und 19). Insoweit werden die Herausgeber der bereits erwähnten Ankündigung gerecht, primär diejenigen Bestimmungen abzudecken, die in der täglichen Befassung mit dem Bundesverfassungsrecht besondere Relevanz haben. Es ist schwierig, innerhalb eines angemessenen Rahmens bei einem Werk dieses Umfangs auf alle Kommentierungen eingehen zu können. Der Rezensent hat daher eine Auswahl getroffen, die sowohl die Aktualität als auch die praktische und wissenschaftliche Verwendbarkeit des Werks gut nachvollziehbar zfv.lexisnexis.at

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macht: Er hat einige Verfassungsbestimmungen ausgewählt, die in den letzten Monaten im Zusammenhang mit der COVID-19Pandemie eine gewisse Prominenz erlangt haben, und möchte kurz auf einschlägige Aspekte eingehen. An erster Stelle soll daher Art 10 Abs 1 Z 12 B-VG (Gesundheitswesen; Lukan) stehen, in dessen Kommentierung der Rückgriff sowohl auf sehr aktuelle (zum Beispiel VfSlg 20.323/2019 zur Ärzteliste) als auch auf schon ältere, aber wichtige (zum Beispiel VfSlg 547/1926: gefärbte Wursthüllen) Rsp und Literatur positiv hervorsticht (Rz 4). Sehr prominent tritt auch der Schutz vor ansteckenden Krankheiten als Inhalt dieses Kompetenztatbestandes in Erscheinung (Rz 4, erster Punkt). Auch die Abgrenzung zu anderen Kompetenztatbeständen ist gut ausgeführt (Rz 2 und 3), wobei diese mit der – kurzen – Judikaturübersicht in Rz 5 zusammen gelesen werden sollte. Beginnend mit den – auch zitierten – Erk vom 14. 7. 2020 zu den ersten COVID-19-Maßnahmenverordnungen (BGBl II 2020/96 und 98) forderte der VfGH auch in der Pandemie klar die Begründung von Verordnungen ein. Dass diese Rsp durchaus auf bestehende Entscheidungen aufbaut, zeigen Ranacher/Sonntag in ihrer Kommentierung des Art 18 B-VG (Rz 20) sehr deutlich. Zwar einem anderen Themenkomplex zugehörig, aber ebenfalls sehr instruktiv ausgeführt sind die Überlegungen und Nachweise zur gehörigen Kundmachung von Verordnungen (Rz 22), die auch auf die trotz der Komplexität der Bestimmung ausgesprochen klar verständlich geschriebene Kommentierung des Art 89 B-VG durch Zußner verweisen. Von Zußner stammt auch die Kommentierung zum Recht auf den gesetzlichen Richter (Art 83 [Abs 2] B-VG), in der sich umfassende Judikaturnachweise zur Klarheit gesetzlicher Zuständigkeitsregeln finden (Rz 13), ein Thema, das der VfGH – nach Abschluss des Kommentars – erst jüngst wieder im Zusammenhang mit § 7 Abs 1a Epidemiegesetz aufgegriffen hat (VfGH 10. 3. 2021, G 380/2020 ua). Die bereits erwähnten VfGH-Erk vom 14. 7. 2020 (insbesondere V 363/2020) haben bekanntlich auch eine neue (bzw zumindest deutlich weiterentwickelte) Judikaturlinie zur unmittelbaren Betroffenheit bei bereits außer Kraft getretenen Verordnungen mit sich gebracht, diese wird in der Kommentierung des Art 139 B-VG durch Bußjäger (Rz 17) auch ausdrücklich hervorgehoben. Mit den „Lockdowns“ gingen bekanntlich auch Eingriffe in das Recht auf Freizügigkeit gemäß Art 4 StGG einher, Khakzadeh (Rz 11) zitiert in ihrer Kommentierung auch die entsprechende Qualifikation dieser Maßnahmen durch das soeben erwähnte Erk des VfGH in V 363/2020. Die Autorin geht sowohl in dieser Kommentierung (Rz 6) als auch in ihrer Kommentierung des Art 2 4. ZPMRK (Rz 6) näher auf die Abgrenzung zwischen Freizügigkeit und persönlicher Freiheit ein, die auch im Zusammenhang mit den Lockdown-Maßnahmen diskutiert wurde. Um bei den Erkenntnissen vom 14. 7. 2020 zu bleiben: In diesen, insbesondere in G 202/2020, hatte der VfGH auch zur Frage Stellung zu nehmen, inwieweit die damit verbundenen Eigentumsbeschränkungen ohne Entschädigung zulässig waren (was er unter Hinweis auf das umfangreiche Maßnahmenpaket der Bundesregierung bejahte). Dieses Erk findet sich in der Kommentierung des


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Art 5 StGG (Klaushofer; kommentiert Art 1 1. ZPMRK mit) nicht, sehr wohl bietet der Autor aber eine Übersicht über die unterschiedlichen Konzepte des Eigentumseingriffs des VfGH und des EGMR und die Thematik der Entschädigung (Rz 9–15). Das PersFrBVG (Czech), das gemeinsam mit Art 5 EMRK kommentiert wird, spielt nicht nur in Hinblick auf die Absonderung von mit ansteckenden Krankheiten infizierten Personen eine Rolle (Art 2, Rz 20), sondern auch außerhalb einer Pandemie insbesondere im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten (in Österreich: Unterbringungsgesetz und Heimaufenthaltsgesetz). Die Kommentierung (Art 2, Rz 21) beschränkt sich hier auf eine Darstellung der EGMR-Rsp, diese wird dafür sehr gut verständlich dargestellt. Diese kurze Übersicht „aufs Exempel“ zeigt aus Sicht des Rezensenten eines: Die Frage nach dem Mehrwert des Kommentars kann klar bejaht werden. Er ist aktuell, seine Kommentierungen sind – trotz teilweise unterschiedlicher Tiefe – durchgehend gehaltvoll und sowohl für die Wissenschaft als auch für die Praxis gut verwendbar. Der Herausgeberin und den Herausgebern sowie den Autorinnen und Autoren ist zu gratulieren, dass sie sich der Aufgabe der Bearbeitung eines weiteren Kommentars zum B-VG gewidmet haben. Auch wenn es jetzt doch schon sehr viele gibt, der neue Kommentar wird sich sicherlich seinen Platz in der Standardliteratur des österreichischen Verfassungsrechts finden. Karl Stöger

Handbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Herausgegeben von Johannes Fischer, Katharina Pabel und Nicolas Raschauer. Jan Sramek Verlag, 2. Auflage, Wien 2019. XXXVIII, 750 Seiten, € 168.– » ZfV 2021/64

Die 2. Auflage des Handbuchs der Verwaltungsgerichtsbarkeit dient – wie die Herausgeber im Vorwort festhalten – dazu, den seit Erscheinen der 1. Auflage im Jahr 2014 eingetretenen Entwicklungen und insbesondere der durch die Rsp erfolgten Klärung offener Fragen Rechnung zu tragen. Das Handbuch folgt dabei weitgehend der mit der 1. Auflage festgelegten thematischen Gliederung; lediglich der bisherige Beitrag betreffend die Auflösung (fast) aller Sonderbehörden wurde durch einen – ebenfalls von Nicolas Raschauer verfassten – Beitrag über die Liechtensteinische Verwaltungsgerichtsbarkeit ersetzt. Auch die Autorenschaft ist großteils unverändert geblieben; neben einer Mitarbeit von Sandra Buchinger am Kapitel Organisation, Besetzung und Zuständigkeit der LVwG ist insbesondere auf die neue Autorenschaft von Patrick Segalla bezüglich des Dienstrechtes der Verwaltungsrichter hinzuweisen, die eine weitgehende Neufassung dieses Kapitels nach sich zog. Die jeweiligen Themensetzungen der Beiträge des Handbuchs bringen es mit sich, dass der Bedarf nach einer Aktualisie-

rung bzw Adaptierung unterschiedlich ausfällt. Eher gering war dies etwa bei den Beiträgen über die historische Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Österreich (siehe allerdings die Bezugnahme auf das Erk des BVwG zur 3. Piste im Zusammenhang mit dem demokratischen Prinzip), über die VwG und Gemeinden (siehe jedoch zum Primat der Sachentscheidung Rn 13) sowie über das BFG (siehe hier jedoch die Ausführungen zur Zuständigkeit in Rn 3 f); umfassender fiel der Anpassungsbedarf in den Beiträgen aus, bei denen Änderungen der Rechtsgrundlagen eine Ergänzung erforderlich gemacht haben bzw für welche die Rsp des VwGH und des VfGH zu verfahrensrechtlichen und organisationsrechtlichen Fragestellungen eine größere Rolle spielt. Nur beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit sei zu einzelnen Beiträgen insbesondere auf folgende Neuerungen hingewiesen: In den allgemeinen Kapiteln finden sich zu den VwG im System der österreichischen Bundesverfassung Ausführungen zum Primat der Sachentscheidung (Rn 7) sowie zum Beschwerdepunkt (Rn 26); zur österreichischen Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Kontext sei auf die Ausführungen zum Rechtstypenzwang (Rn 6), zu den Sachverständigen (Rn 32) und insbesondere zur Parteifähigkeit in Umweltangelegenheiten (Rn 58 ff ) verwiesen. Hinsichtlich des Systemüberblicks zum Modell „9 + 2“ ist neben den Ausführungen zu den besonderen Zuständigkeitszuordnungen an die VwG (Rn 53 ff ) vor allem auf das Resümee hinzuweisen, das – neben einer grundsätzlich positiven Einordnung der ersten sechs Jahre – auch wertvolle Verbesserungsvorschläge etwa hinsichtlich Zuständigkeitsbereinigungen oder verfahrensrechtlicher Art enthält (Rn 65 ff ). Hinsichtlich der Beiträge über Organisation, Besetzung und Zuständigkeit der LVwG, des BVwG und des VwGH ist neben den – im Beitrag zu den LVwG enthaltenen – Ausführungen zu den Laienrichtern (Rn 31) und zur Zuweisung der Geschäftsfälle (Rn 86) insbesondere die Darstellung der seitens der Rsp erfolgten Klarstellungen zu den Zuständigkeitsabgrenzungen (LVwG: Rn 105 ff; BVwG: Rn 73 ff ) bedeutsam. Im Kapitel über die Beschwerdelegitimation finden sich neue Darlegungen im Zusammenhang mit der Parteistellung (Rn 10) oder der Revisionslegitimation (Rn 40), im Kapitel über den Beschwerdegegenstand etwa zur Beschwerdevorentscheidung (Rn 8) sowie zur neu vorgesehenen Möglichkeit zur Begründung von Zuständigkeiten in sonstigen Angelegenheiten (Rn 39). Beim Verfahren vor den VwG sticht die adaptierte Behandlung des Prüfungsumfangs (Rn 46), der mündlichen Verhandlung (Rn 48 ff ) sowie der Tatsachenkognition (Rn 66 ff ) hervor, im Verfahrensrecht vor dem VwGH die neuen Ausführungen zur Einbringung von Schriftsätzen (Rn 36, 86) sowie zu den Zulässigkeitsgründen (Rn 66, 105), wobei letztere Thematik auch im Beitrag über den Rechtsschutz gegen Entscheidungen der VwG behandelt wird (Rn 7 f). Nicht nur an diesem zuletzt angeführten Beispiel zeigt sich, dass mit der Aufteilung der Beiträge nach Themenblöcken mitunter eine mehrfache Behandlung eines Themas einhergeht (weitere Beispiele wären die Ausführungen zu den Rechtspflezfv.lexisnexis.at

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ZfV 4/2021 FACHLITER ATUR

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gern im Beitrag über die VwG im System der Bundesverfassung in Rn 36 sowie im Beitrag zur Organisation der LVwG in Rn 74 f, die Ausführungen zur Verfahrenshilfe im Kapitel über die Verwaltungsgerichtsbarkeit im europäischen Kontext in Rn 28 und im Kapitel zum Verfahren vor den VwG in Rn 7 sowie die Behandlung des neu geschaffenen § 25a Abs 4a VwGG im Kapitel Beschwerdelegitimation in Rn 42 und im Kapitel Rechtsschutz gegen Entscheidungen der VwG in Rn 13). Dieser Umstand soll nicht als Mangel begriffen werden, ist doch die Erörterung eines Themas in unterschiedlichen Kontexten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln oftmals gewinnbringend. Wenn in diesem Zusammen-

hang allerdings ein Wunsch geäußert werden darf, dann wären mitunter vermehrte Binnenverweise innerhalb des vorliegenden Werkes hilfreich. Das vermag aber nichts daran zu ändern, dass es sich bei der vorliegenden 2. Auflage des Handbuchs der Verwaltungsgerichtsbarkeit um eine überaus gelungene Fortführung des mit der 1. Auflage eingeschlagenen Weges handelt, die zahlreiche neue und vor allem für die Praxis wertvolle Ausführungen zu den elementaren Grundsatzfragen der Verwaltungsgerichtsbarkeit enthält. Clemens Mayr

Die Rezensenten: em. o.Univ.-Prof. Dr. Peter Pernthaler, Universität Innsbruck, Innrain 52d, 10. Stock, A-6020 Innsbruck, peter.pernthaler@uibk.ac.at Univ.-Prof. Dr. Karl Stöger, MJur (Oxon), Universität Wien, Schottenbastei 10-16, A-1010 Wien, karl.stoeger@univie.ac.at Hofrat Dr. Clemens Mayr, VwGH, Judenplatz 11, A-1010 Wien, clemens.mayr@vwgh.gv.at

Frohe Weihnachten und ein gesundes neues Jahr 2022! LexisNexis wünscht Ihnen fröhliche Feiertage und ein glückliches, gesundes und erfolgreiches neues Jahr. Vielen Dank für Ihre Treue in besonderen Zeiten.

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Handbuch Pharmarecht

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Das Handbuch Pharmarecht bildet in übersichtlichen und klar strukturierten Kapiteln die zentralen Rechtsgebiete ab und zeichnet ein umfangreiches Bild der hochkomplexen Materie, die aufgrund zahlreicher europäischer und internaঞonaler Regelungen von Jahr zu Jahr an Bedeutung gewinnt.

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Zu Recht voraus.

4/2021 S. 415–522, ART.-NR. 53–64 Dezember 2021

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Herausgeber: Thomas Kröll/Georg Lienbacher/Erich Pürgy

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LexisNexis, 1030 Wien, Marxergasse 25, ISSN 1017-3463

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