Leon Gurvitch - Album "Eldorado" - Booklet

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ungeachtet ihrer Herkunft durch die gemeinsame Freude an fesselnden und lebendigen Live-Sounds zusammenkommen? Vielleicht existiert Eldorado als vage Erinnerung, die sich allen, die sich ihr nähern, entweder entzieht oder öffnet. Diese Gedanken kommen einem beim Hören der elf facettenreichen Werke, die Gurvitch gemeinsam mit anderen für sein Debütalbum aufgenommen hat. Und wenn diese Musiker mit ihren Instrumenten – das Wort Klezmers bedeutet Musikinstrument, wörtlich „Gefäß des Liedes“ – ihre verschlungenen, interaktiven Parts ausbreiten, als hüpften sie unbeschwert über Melodien, Kontrapunkte, Texte, Harmonien und Rhythmen, regen sie zu weiteren Ideen an. Es scheint, als seien die gutmütigen Dämonen des Asmodäus erschienen und tollten herum. Natürlich kann sich die Welt glücklich schätzen, dass Klezmer überhaupt die Zeiten überdauert hat und heute sogar eine besondere Blüte erlebt. Es ist auch ein Glücksfall, dass Beispiele dieses jüdisch geprägten, weltlichen Musikstils sich von ihren historischen Ursprungsorten wie Minsk aus verbreiten. Dort wurde Leon Gurvitch 1979 geboren, zu einer Zeit, in der das ausgerechnet am New England Conservatory in Boston neu entstandene Interesse an dem uralten Themenmix der Klezmermusik aus Polen, Rumänien, der Ukraine und dem Balkan sich langsam in ganz Nordamerika verbreitete. Gurvitchs Faszination für die stilistischen Möglichkeiten von Klezmer entwickelte sich also lange, nachdem die Musik zusammen mit den Menschen und der Kultur, aus der sie entstanden war, durch den Holocaust nahezu verloren gegangen war. Gurvitch erweitert die Grundlagen von Klezmer aus der Perspektive eines modernen Pianisten und erfahrenen, ambitionierten Komponisten. Schon in jungen Jahren wollte Gurvitch ein professioneller Musiker werden und absolvierte ein Studium an der staatlichen Musikhochschule von Weißrussland. „Damals gab es dort noch keine Fakultät für Jazz“, schreibt er über diese frühe Erfahrung, „aber ich interessierte mich schon immer für Jazz, Folklore und Ethnomusik. Oft hörte ich mir amerikanische Jazzplatten an.“ Die Idee für sein Projekt, bei dem er eine Mischung der Klänge, die ihn bewegten, authentisch oder in neuen Arrangements kreieren und präsentieren wollte, entstand im Jahr 2000. Im folgenden Jahr zog er nach Hamburg

und studierte dort ab 2002 an der Hochschule für Musik und Theater. Während der folgenden sechs Jahre konnte er einen erlesenen Kreis von Musikern für sein Projekt gewinnen. Seit 2007 spielt Gurvitchs Ensemble in fester Besetzung: mit der Sängerin Inna Vysotska, dem Saxofonisten Vladimir Karparov, dem Bassisten Omar Rodriguez Calvo und dem Schlagzeuger Dimitris Christides. Gemeinsam entwickelten sie ein Repertoire von etwa 150 Kompositionen und erlangten in der deutschen und europäischen Jazz- und Klezmerszene einen hohen Bekanntheitsgrad. Als die Gruppe 2008 bei dem Festival Hamburger Jazztage auftreten sollte, lud Gurvitch Frank London ein, als Special Guest dabei zu sein. Er kannte Londons auffällige, lyrische und sardonische Trompete von der Musik der „Klezmatics“, der aktivsten und experimentierfreudigsten Band, die Manhattans Lower East Side in den Achtzigerjahren hervorgebracht hatte. Die Gruppe modernisierte die traditionelle jüdische Musik und verschaffte ihr neue Geltung. Gurvitch schrieb „From London to Berlin“ eigens für den Auftritt in Hamburg. Londons nahtlose Einfügung und leidenschaftliche Beteiligung an diesem Werk und sämtlichen anderen Stücken auf Eldorado machen deutlich, dass er die perfekte Wahl war. „Leon ist faszinierend“, sagt Frank London. „Er bringt seine klassische russische Ausbildung sowohl in das Klavierspiel als auch in seine Kompositionen ein. Er hat sehr klare Vorstellungen davon, was er will – bei den Aufnahmen ist sehr viel mehr durchkomponiert, als man erwarten würde. Und die Band ist großartig. Sie ist eines dieser besonderen Ensembles, in denen jeder aus einem anderen Land stammt, aber alle erstaunlich gut zusammenarbeiten und beispielsweise die komplizierten Rhythmen und Tempowechsel mit leichter Hand meistern. Das Projekt mischt in der dritten oder vierten Generation neuer Jazz-Fusionen ganz vorne mit und ich bin gespannt, wohin Leon und seine Band diese Form in den kommenden zehn Jahren bringen werden.“ Die Zukunft ist zwar immer fraglich, aber Gurvitch und sein Ensemble beziehen mit Eldorado in der Gegenwart Stellung. Die Stücke sind angereichert mit ergänzenden und/oder kontrastierenden Episoden, mit funkigen Ostinatos, brillanten Verzierungen, feurigen Soli und einleitenden Misteriosos (wie bei „Hamsin“, das auf einen israelischen


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