Leon Gurvitch - Album "Eldorado" - Booklet

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Leon Gurvitch Project w/Frank London


Eldorado ist der Legende nach eine sagenumwobene Goldstadt am Guatavita-See in den Bergen Zentralkolumbiens. Aber als Titel des vorliegenden Debütalbums des Leon Gurvitch Project mit dem Trompeter Frank London löst „Eldorado“ vielfältige Assoziationen aus, die alle die Bedeutsamkeit der präsentierten Musik und den Hörgenuss steigern. Eldorado könnte für die weißrussische Hauptstadt Minsk stehen, wo der Pianist und Komponist Gurvitch geboren wurde, seine klassische Ausbildung erhielt und seine Liebe zu Klezmer- sowie russischer und orientalischer Folklore entdeckte – oder auch für Berlin, wo er Frank London aus New York kennenlernte, der dort in der radikalen jüdischen Musikszene eine zentrale Rolle spielt und mit dem er seither zusammenarbeitet. Es könnte auch eine mythische Kreuzung sein, an der eigentümliche Intonationen aus der Post-Bebop-Ära und stimmungsvolle afrokaribische, „Latin“ Melodien auf die beschwingten Freylekhs der mittel- und osteuropäischen Aschkenasim treffen. Vielleicht ist es ja der angesagte Ort, an dem virtuose Instrumentalisten die Freiheiten des Jazz genießen, oder der Gipfelpunkt von Komposition und inspirierter Improvisation, den alle Musiker bei jedem öffentlichen Auftritt anstreben und den das Publikum sicher ist, entdeckt zu haben, wenn es sich von der Musik durchdrungen und im Innersten berührt fühlt. Gibt es Eldorado wirklich oder ist es einfach nur eine von vielen imagistischen Ideen, die ihren Ursprung in der Musik haben, die Gurvitch, London und die anderen bedeutenden Künstlerinnen und Künstler dieses außergewöhnlich stimmigen Ensembles zum Leben erwecken? Weisen diese Anklänge an eine Metropole des Reichtums und der Schönheit tatsächlich auf einen realen (oder sogar geografischen) Ort hin, an dem Menschen


ungeachtet ihrer Herkunft durch die gemeinsame Freude an fesselnden und lebendigen Live-Sounds zusammenkommen? Vielleicht existiert Eldorado als vage Erinnerung, die sich allen, die sich ihr nähern, entweder entzieht oder öffnet. Diese Gedanken kommen einem beim Hören der elf facettenreichen Werke, die Gurvitch gemeinsam mit anderen für sein Debütalbum aufgenommen hat. Und wenn diese Musiker mit ihren Instrumenten – das Wort Klezmers bedeutet Musikinstrument, wörtlich „Gefäß des Liedes“ – ihre verschlungenen, interaktiven Parts ausbreiten, als hüpften sie unbeschwert über Melodien, Kontrapunkte, Texte, Harmonien und Rhythmen, regen sie zu weiteren Ideen an. Es scheint, als seien die gutmütigen Dämonen des Asmodäus erschienen und tollten herum. Natürlich kann sich die Welt glücklich schätzen, dass Klezmer überhaupt die Zeiten überdauert hat und heute sogar eine besondere Blüte erlebt. Es ist auch ein Glücksfall, dass Beispiele dieses jüdisch geprägten, weltlichen Musikstils sich von ihren historischen Ursprungsorten wie Minsk aus verbreiten. Dort wurde Leon Gurvitch 1979 geboren, zu einer Zeit, in der das ausgerechnet am New England Conservatory in Boston neu entstandene Interesse an dem uralten Themenmix der Klezmermusik aus Polen, Rumänien, der Ukraine und dem Balkan sich langsam in ganz Nordamerika verbreitete. Gurvitchs Faszination für die stilistischen Möglichkeiten von Klezmer entwickelte sich also lange, nachdem die Musik zusammen mit den Menschen und der Kultur, aus der sie entstanden war, durch den Holocaust nahezu verloren gegangen war. Gurvitch erweitert die Grundlagen von Klezmer aus der Perspektive eines modernen Pianisten und erfahrenen, ambitionierten Komponisten. Schon in jungen Jahren wollte Gurvitch ein professioneller Musiker werden und absolvierte ein Studium an der staatlichen Musikhochschule von Weißrussland. „Damals gab es dort noch keine Fakultät für Jazz“, schreibt er über diese frühe Erfahrung, „aber ich interessierte mich schon immer für Jazz, Folklore und Ethnomusik. Oft hörte ich mir amerikanische Jazzplatten an.“ Die Idee für sein Projekt, bei dem er eine Mischung der Klänge, die ihn bewegten, authentisch oder in neuen Arrangements kreieren und präsentieren wollte, entstand im Jahr 2000. Im folgenden Jahr zog er nach Hamburg

und studierte dort ab 2002 an der Hochschule für Musik und Theater. Während der folgenden sechs Jahre konnte er einen erlesenen Kreis von Musikern für sein Projekt gewinnen. Seit 2007 spielt Gurvitchs Ensemble in fester Besetzung: mit der Sängerin Inna Vysotska, dem Saxofonisten Vladimir Karparov, dem Bassisten Omar Rodriguez Calvo und dem Schlagzeuger Dimitris Christides. Gemeinsam entwickelten sie ein Repertoire von etwa 150 Kompositionen und erlangten in der deutschen und europäischen Jazz- und Klezmerszene einen hohen Bekanntheitsgrad. Als die Gruppe 2008 bei dem Festival Hamburger Jazztage auftreten sollte, lud Gurvitch Frank London ein, als Special Guest dabei zu sein. Er kannte Londons auffällige, lyrische und sardonische Trompete von der Musik der „Klezmatics“, der aktivsten und experimentierfreudigsten Band, die Manhattans Lower East Side in den Achtzigerjahren hervorgebracht hatte. Die Gruppe modernisierte die traditionelle jüdische Musik und verschaffte ihr neue Geltung. Gurvitch schrieb „From London to Berlin“ eigens für den Auftritt in Hamburg. Londons nahtlose Einfügung und leidenschaftliche Beteiligung an diesem Werk und sämtlichen anderen Stücken auf Eldorado machen deutlich, dass er die perfekte Wahl war. „Leon ist faszinierend“, sagt Frank London. „Er bringt seine klassische russische Ausbildung sowohl in das Klavierspiel als auch in seine Kompositionen ein. Er hat sehr klare Vorstellungen davon, was er will – bei den Aufnahmen ist sehr viel mehr durchkomponiert, als man erwarten würde. Und die Band ist großartig. Sie ist eines dieser besonderen Ensembles, in denen jeder aus einem anderen Land stammt, aber alle erstaunlich gut zusammenarbeiten und beispielsweise die komplizierten Rhythmen und Tempowechsel mit leichter Hand meistern. Das Projekt mischt in der dritten oder vierten Generation neuer Jazz-Fusionen ganz vorne mit und ich bin gespannt, wohin Leon und seine Band diese Form in den kommenden zehn Jahren bringen werden.“ Die Zukunft ist zwar immer fraglich, aber Gurvitch und sein Ensemble beziehen mit Eldorado in der Gegenwart Stellung. Die Stücke sind angereichert mit ergänzenden und/oder kontrastierenden Episoden, mit funkigen Ostinatos, brillanten Verzierungen, feurigen Soli und einleitenden Misteriosos (wie bei „Hamsin“, das auf einen israelischen


Wüstenwind Bezug nimmt), mit Kabaretteinlagen aus der Ära der Weimarer Republik im Stil Kurt Weills, sehnsuchtsvoller Melodica (von Gurvitch), geschmeidigen Basslinien (die dem in Kuba geborenen Rodriguez Calvo zu verdanken sind), einer Mischung aus Melancholie und Widerstandskraft („Kdusha“, das an die „Kristallnacht“ erinnern soll) und betörenden Texten („Talisman“: Come closer and closer/Be free to go into the magic of this world). Achten Sie auf Londons gedehnte, gebeugte, verwischte und hämmernde Noten und Phrasen, auf Karparovs feurige Klarinette bei „Baruch Elokeinu“, sein obligates rauchiges Tenorsaxofon zu Vysotskas melismatischem Scat-Gesang bei „Talisman“, sein galoppierendes Sopransaxofon bei „Die Hexe“, auf Gurvitchs subtiles Spiel auf dem Fender Rhodes und seinen weit ausholenden Klavierhöhepunkt bei dem an das Sefardische angelehnten Stück „Fiestele“ und Christides’ bunte Schlagzeugtupfer, die sich durch das gesamte Album ziehen. Wenn man weiß, dass die CD nicht nur das Debüt einer Band, sondern auch das ihres Bandleaders ist, versetzt einen die ausgereifte und in sich geschlossene Verbindung unterschiedlicher Menschen und Stile zu einem überzeugenden Ganzen umso mehr in Erstaunen. „Ich sehe mich nicht als reinen Jazzmusiker“, sagt Leon Gurvitch. „Jazz als Genre hatte großen Einfluss auf mich, besonders die Musik von Ellington und Brubeck. Andererseits bin ich stark von Ravel, Schostakowitsch und Strawinsky beeinflusst. Und nicht zuletzt ist meine Musik auch von meinen russisch-jüdischen Wurzeln geprägt, in Form von Folklore, die ich versuche neu zu verstehen und in Musik umzusetzen.“ Es stimmt, dass all diese Elemente in seiner Musik wiederzufinden sind, aber die erfolgreiche Realisierung des Projekts weist auf noch etwas hin: Das Leon Gurvitch Project featuring Frank London hat ein seit Langem weithin ersehntes Ziel erreicht: Es vermittelt uns ein Bild von – und geleitet uns nach – Eldorado. Howard Mandel, © 2010 Howard Mandel ist Präsident der American Jazz Journalists Association, Autor von Future Jazz und Herausgeber der Billboard Illustrated Encyclopedia of Jazz and Blues. Er lebt und arbeitet in New York als Schriftsteller, Redakteur, Autor und Produzent für National Public Radio. Mehr als 30 Jahre lang berichtete er in Zeitungen, Zeitschriften und dem Internet über Jazz, Blues und neue, ungewöhnliche Musik. Er unterrichtet unter anderem an der New York University und fungiert als Berater für verschiedene Kunstorganisationen.


Omar Rodriguez Calvo

Leon Gurvitch

Vladimir Karparov

Inna Vysotska

Dimitris Christides


Eldorado is the fabled lost city of gold, legendarily at the site of Lake Guatavita in the mountains of central Colombia. But as the title for this debut album by the Leon Gurvitch Project with trumpeter Frank London, „Eldorado“ conveys multiple connotations, each enriching the meaning and enjoyment of the music here. Eldorado might be thought of as Minsk, capital of Belarus, where pianist-composer Gurvitch was born and gained his classical education as well as his love of klezmer, Russian and Oriental ethnic „folk“ musics -- or Berlin, where he first met Frank London (a New Yorker central to the „downtown“ scene of radical Jewish music) for concerts leading to their ongoing collaboration. It could be at a mythic crossroads where quirky post-bebop voicings and moody Afro-Caribbean „Latin“ airs blow through the joyful, propulsive freylekhs of Central/Eastern Europe‘s Ashkenazi. It may be the hot spot where virtuosic instrumentalists embrace the freedoms of jazz, or on the high plain of artful writing and inspired improvisation that all musicians aspire to each time they perform and that listeners are sure they‘ve discovered when music penetrates to thrill their souls. Is there an Eldorado, or is it simply one of the many imagistic ideas that flow from the music Gurvitch, London and the other notables of this extraordinarily cohesive ensemble conjure? Do these sonic intimations of a metropolis of wealth and beauty actually result in a real (if not geographical) place where people regardless of their backgrounds are united by the pleasures they take from compelling, live and lively sounds? Perhaps Eldorado exists as somewhere vaguely remembered, just beyond reach or just about to be arrived at and made accessible to all who approach.

These thoughts are generated by the 11 multi-faceted works Gurvitch et al lay down in their recording debut. Still more possibilities may occur, because as these musicians -klezmers, meaning „vessels of song”, to be sure -- spin out their interwoven, interactive parts, sparks fire in the mind as if leaping from the melodies, countermelodies, lyrics, harmonies and rhythms. It‘s like the good-natured demons of Asmodeus have come to cavort. The world is, of course, lucky klezmer survives at all much less thrives today, and we‘re luckier still that exemplars of this Jewish-identified secular style emerge from its historic homes, places like Minsk. Leon Gurvitch was born there in 1979, around the same time that revival of interest in klezmer‘s age-old mix of themes out of Poland, Romania, Ukraine and the Balkan States began to percolate in North America, emerging from the unlikely environs of New England Conservatory (Boston). So Gurvitch‘s fascination with klezmer‘s tropes and possibilities developed well after the music, along with the rest of the population and culture from which it arose, was almost lost in the Holocaust. He expands upon klezmer‘s basics from the perspective of a piano modernist and a skilled, ambitious composer. Serious about his studies from an early age, Gurvitch graduated from the Belarusian State Academy of Music. „There was no jazz department there yet,“ he writes of his early experience, „but I always had an interest in jazz, folklore and ethnic music. I listened to records of American jazz musicians a lot.“ He conceived his project of creating and presenting all-original or newly arranged pieces blending aspects of the sounds that moved him in 2000, and relocated to Hamburg, where he entered it‘s Music Academy, in 2001. Over the next six years, he enlisted a coterie of fine musicians into his Project, convening vocalist Inna Vysotska, reeds specialist Vladimir Karparov, bassist Omar Rodriguez Calvo and drummer Dimitris Christides in 2007. They‘ve developed a repertoire of some 150 compositions, and become prominent on German and European jazz and klezmer circuits. When the Project was scheduled at the festival Hamburger Jazztage in 2008, Gurvitch invited Frank London to join as a special guest. He knew London‘s big, brash, lyrical


and sardonic horn from the music of the Klezmatics, the most active and adventurous band to emerge from Manhattans Lower East Side in the 1980s, reasserting and updating music of Jewish heritage. Leon wrote „From London to Berlin“ especially for the Hamburger engagement. From London‘s complete integration and fervent participation in that work and indeed all the tracks of Eldorado, it‘s clear he was the perfect choice. „Leon is amazing,“ London says. „He brings his formal Russian training to both the piano and his compositions. He has very clear ideas about what he wants -- a lot more of the record is composed than you might expect. And the band is great, one of those special ensembles in which everyone‘s from a different country but collaborate amazingly well, handling the complicated rhythms and tempo changes, for instance, easily. The Project is at the fore of the third or fourth generation of new Jewish jazz fusions, and I‘m curious where they‘ll take this form in the next ten or so years.“ While the future is always the question, Gurvitch and company make their Eldorado statements right now. The songs are graced by interlocking and/or contrasting episodes, funky ostinatos, brilliant flourishes and blazing solos, mysterioso introductions (as on „Hamsin, referring to an Israeli desert wind), Weimar Republic-era Kurt Weill cabaret settings, yearning melodica (by Gurvitch), elastic bass lines (thanks to Cuban-born Rodriguez Calvo), melancholy mixed with resistence („Kdusha,“ recalling Kristallnacht) and beguiling lyrics („Talisman“: Come closer and closer/Be free to go into the magic of this world). Hear London stretch, bend, smear, hammer his notes and nail his phrases; Karparov‘s smouldering clarinet on „Baruch Elokeinu,“ smokey tenor sax obligatto to Vysotska‘s melismatic scat vocal on „Talisman“ and his racing soprano sax on „Die Hexe“; Gurvitch‘s subtle touch on Fender Rhodes and grandly sweeping piano climax on the Sephardic-related „Fiestele“ and the colorful percussive touches of Christides throughout. Knowing that this record is the debut of not only a band but its leader, be astonished at its mature and coherent weaving of diverse people and styles into a persuasive whole.

„I don‘t consider myself to be purely a jazz musician,“ Leon Gurvitch says. „Jazz is a genre that‘s had great impact on me, particularly the music of Ellington and Brubeck. On the other side, I am very much influenced by Ravel, Shostakovich and Stravinsky. Last but not least, my music is influenced by my Russian-Jewish roots in the form of folklore which I try to reconsider and implement in my music.“ True, those elements are all discernable in the music he‘s created, but the successful realization of his Project suggests something more. The Leon Gurvitch Project featuring Frank London has attained a long and widely desired goal. They envision and lead us into Eldorado. Howard Mandel, © 2010

Howard Mandel is president of the Jazz Journalists Association, the author of Future Jazz and senior editor of The Billboard Illustrated Encyclopedia of Jazz and Blues. He is a New York-based writer, editor, author, and producer for National Public Radio. For more than 30 years, he covered jazz, blues and new and unusual musics for newspapers, magazines and websites. He teaches at New York University and elsewhere and consults for various arts organizations.



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