Clean Meat

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SAUBERES FLEISCH (CLEAN MEAT)

Wie tierfreies Fleisch unser Essen und die Welt revolutionieren wird

Paul Shapiro

Mit einem Vorwort von Yuval Noah Harari, Autor von Eine kurze Geschichte der Menschheit

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SAUBERES FLEISH Paul Shapiro Copyright deutsche Ausgabe© 2019 –Jim Humble Verlag Das Neue Licht/Jim Humble Verlag Postbus 1120, 6040 KC Roermond, Nederland

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Erste Auflage: Januar 2019

ISBN: 9789088791833 Aus dem Amerikanischen von Anja Schmidtke (Wenn nicht anders angegeben, wurden alle Zitate frei übersetzt von Anja Schmidtke) Englische original Ausgabe durch Gallery Books, An Imprint of Simon & Schuster, Inc., 1230 Avenue of the Americas, New York, NY 10020 Copyright © 2018 by Paul Shapiro Cover: Jason Gabbert Bearbeitung: Leo Koehof

Die Vervielfältigung und/oder (digitale) Speicherung von Teilen dieser Ausgabe bzw. deren Veröffentlichung durch Druck, Mikrofilm, Bildaufnahmen oder auf sonstige Weise, sei es chemisch, elektronisch oder mechanisch, bedarf immer der vorherigen, schriftlichen und ausdrücklichen Zustimmung des Verlegers.


Für alle, die ein scheinbar unlösbares Problem sehen und beginnen, unermüdlich an seiner Lösung zu arbeiten, voller Zuversicht im Sinne Nelson Mandelas:

„Es scheint immer unmöglich, bis es getan ist.“


INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung von Koert van Mensvoort ........................................................................... 5 Vorwort von Yurval Noah Harari ................................................................................. 9 1. Die zweite Kultivierung.......................................................................................... 13 2. Wissenschaft zur Rettung ....................................................................................... 34 3. (Google) Suche nach einer Lösung......................................................................... 59 4. Am Anfang war das Leder...................................................................................... 91 5. Eine Reise nach Amerika ..................................................................................... 109 6. Project Jake........................................................................................................... 143 7. Es braut sich etwas zusammen ............................................................................. 172 8. Ein Vorgeschmack auf die Zukunft ...................................................................... 205 Danksagung .............................................................................................................. 222 Nachwort Ira van Eelen ............................................................................................ 225 Über den Autor ......................................................................................................... 229


EINLEITUNG

Liebe FleischesserInnen, liebe VegetarierInnen. Wir müssen über die Zukunft von Fleisch reden. Den meisten Menschen ist heute das Problem des Klimawandels bewusst, aber deutlich weniger wissen, dass die Fleischproduktion einen erheblichen Anteil an den Treibhausgasen hat, die unseren Planeten aufheizen. Seit unserer Zeit als Jäger und Sammler in den Savannen vor Tausenden von Jahren ist Fleisch Bestandteil unserer Ernährung, aber essen wir nicht eigentlich zu viel davon? Wir holzen Regenwälder ab, um Soja anzubauen, um damit Tiere zu füttern, die wir zur Fleischproduktion mästen. Während in einigen Regionen der Welt die Menschen weiterhin nicht genug zu essen haben. Von den Problemen mit Tiererkrankungen und Tierschutz in der heutigen Bioindustrie will ich gar nicht erst anfangen. Mit Blick auf die Zukunft gibt es vier Möglichkeiten, um mit diesem Problem umzugehen. 1. Wir können so tun, als wäre alles in Ordnung, die Tatsachen leugnen und Fleisch weiter so produzieren und konsumieren wie heute. Dann, etwa um 2050, wenn die Weltbevölkerung wie prognostiziert neun Milliarden Menschen beträgt, werden wir einen zweiten Planeten brauchen. 2. Eine weitere Option ist, dass wir alle Vegetarier werden. Ich bewundere Menschen, die auf Fleisch verzichten: Es ist die nachhaltigste Entscheidung. Ich selbst habe es bisher nicht geschafft, komplett vegetarisch zu leben. Irgendwie, irgendwo meldet sich da immer noch der Höhlenmensch in mir, den es nach Fleisch verlangt. Ich bin da zwiegespalten und möchte gerne alle Optionen auf dem Tisch haben. 3. Die dritte Option ist, mehr Insekten zur Eiweißversorgung zu essen. Viel anders als Shrimps sind sie ohnehin nicht. Vor allem auf der westlichen Halbkugel könnten wir mehr Insekten essen, um unseren Eiweißbedarf zu decken. 4. Die vierte Option ist die neueste und Thema dieses Buches. Was wäre, wenn wir Fleisch züchten könnten, ohne auch nur ein Tier dafür schlachten zu müssen? Es würde unsere Einstellung als Verbraucher gegenüber Tieren verändern.

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Es mag wie Science-Fiction klingen, wird tatsächlich aber gerade zu ScienceFaction. Clean Meat oder sauberes Fleisch, Kulturfleisch, In-vitro-Fleisch, Laborfleisch, Schmeat oder Frankenmeat – je nachdem, ob sie begeistert oder angeekelt sind, erfinden Menschen unterschiedlichste Namen für das Verfahren, mit dem Tierzellen außerhalb des Tieres zu Muskelgewebe herangezüchtet werden. Die Idee ist nicht neu. Schon 1931 sagte Winston Churchill voraus: „Wir werden die Absurdität hinter uns lassen, ein ganzes Huhn zu züchten, nur um dessen Brust oder Flügel zu essen, indem wir diese Teile separat mit einem geeigneten Medium züchten.“ Das erste Patent wurde vor über 20 Jahren von Willem van Eelen eingereicht. 2011, als ich mit einem kleinen Team begann, an dem Thema zu arbeiten und die möglichen Auswirkungen auf unsere Esskultur zu untersuchen, konnte ich dem Team beim Projektstart mitteilen, dass inzwischen doppelt so viele Menschen an dieser neuen Art von Fleisch arbeiteten. 2013 präsentierte Prof. Mark Post den weltweit ersten Burger aus dem Labor. Damals kostete er noch 250.000 Euro. Der Preis mag unmöglich klingen, aber vergessen wir nicht, dass auch die ersten Flachbildfernseher wahnsinnig teuer waren. Aktuell liefern sich verschiedene Unternehmen in den USA, Israel und den Niederlanden ein Wettrennen darum, diesen Preis nach unten zu treiben und Clean Meat auf den Markt zu bringen. Fleisch ist ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft, und das Unternehmen, das es schafft, einen Teil dieses Marktes für sich zu beanspruchen, wird sehr viel Geld verdienen. Daher wird Risikokapital in Start-ups gepumpt, die inzwischen bereits saubere Fleischklöße, Würstchen, Nuggets und sogar Foie Gras herstellen. Einige Unternehmen hoffen, schon dieses Jahr Clean Meat auf den Markt zu bringen. Mit genügend Forschungsgeldern lassen sich technische Hürden einfacher nehmen. Mehrere Unternehmen geben an, pflanzliche Alternativen für das offenkundig tierunfreundliche fötale Kälberserum entwickelt zu haben, das beim ersten Burger noch zur Ernährung der Zellen gebraucht wurde. Sobald die Technologie ausgereift ist, wird sie aus dem Labor in die Fabrik kommen, wo die Produktion zu einem Preis möglich ist, den die Verbraucher bereit sind zu zahlen. Bevor wir Clean Meat im Supermarkt kaufen können, sind aber noch weitere Hürden zu überwinden. Unterm Mikroskop sieht sauberes Fleisch genauso aus wie herkömmliches Fleischgewebe. Dennoch muss das neuartige Lebensmittel vom Gesetzgeber erst umfassend auf Lebensmittelsicherheit geprüft und zugelassen werden (Novel Food), bevor es an die Verbraucher in Europa verkauft werden darf. Diese bürokratischen Prozesse brauchen bekanntermaßen Zeit. Eine weitere, vielleicht sogar noch größere Hürde ist unsere gesellschaftliche Akzeptanz: Sind

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wir dazu bereit, das neue Fleisch zu konsumieren? Trotz der klaren Vorteile für Umwelt- und Tierschutz finden viele Menschen es unattraktiv, ihre Essgewohnheiten zu ändern. Sie sehen Bilder von Wissenschaftlern in Laborkitteln, die mit Petrischalen hantieren, und denken: Das ist neu, seltsam und unnatürlich. Das werde ich nicht essen! Die Vorstellung, Clean Meat sei unnatürlich, rührt an eines der größten Missverständnisse unserer Zeit: dass die Natur statisch und unveränderlich sei statt dynamisch und schöpferisch. Viele Dinge, die wir heute natürlich nennen, waren früher einmal künstlich. Der erste Mensch, der eine Kuh molk, war geradezu ein Perverser: Wie überaus unnatürlich, einer Kuh ihre Milch zu stehlen! Vor einigen tausend Jahren war die Landwirtschaft (die Biotechnologie jener Zeit) eine Erfindung, die unsere Lebensweise als Jäger und Sammler ersetzte und es dem Menschen ermöglichte, sich in Dörfern niederzulassen. Ironischerweise ist das Kochen selbst eine der ersten Erfindungen des Menschen – andere Tiere kochen ihre Nahrung nicht. Vor etwa 200.000 Jahren bändigten wir als erfindungsreiches, scheinbar unnatürliches Tier das Feuer und fingen an, unsere Nahrung vor dem Essen zu kochen. Dadurch konnten wir mehr Kalorien in weniger Zeit aufnehmen, ein größeres Gehirn entwickeln und zum modernen Menschen werden. Was als neuartige Methode begann, ist Teil unserer menschlichen Natur geworden. Der Mensch ist von Natur aus künstlich. Wir nutzen Technologie vom ersten Tag unseres Menschseins an. Fleisch zu züchten ist nicht so viel anders als Bier zu brauen oder Käse herzustellen. Der größte Unterschied ist das Neue: Wir müssen uns erst daran gewöhnen. Aber bevor wir es ganz annehmen können, müssen wir darüber sprechen. Ist es möglich? Ist es nachhaltig? Ist es bezahlbar? Ist es sicher? Dieses Buch ist ein wichtiger Beitrag zu diesem Gespräch. Es ist das erste Buch, das in prägnanter Weise den gesamten Clean-Meat-Bereich beschreibt, der sich gerade rasant entwickelt. Die LeserInnen werden erfahren, dass Clean Meat nicht nur sauberer in Sachen Nachhaltigkeit und Tierschutz ist, sondern auch als Produkt an sich. Altmodisches Schlachtfleisch enthält oft Salmonellen, eine Mikrobe, die im Darm von Tieren lebt und für uns gesundheitsschädlich sein kann, wenn wir das Fleisch nicht richtig garen. Clean Meat hat keinen Darm und daher auch keine Salmonellen. Möglicherweise ist es sicherer und gesünder als heutiges Fleisch: besser als das Original. So, wie die ersten Automobile einst als pferdelose Kutschen beschrieben wurden, werden neue Technologien immer erst einmal durch den Rückspiegel der Vergangenheit betrachtet, und mit der Zeit bringen sie uns neue Produkte, neue

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Lebensweisen und in diesem Fall sogar neue Esskulturen. Vielleicht wird sich Schlachtfleisch eines Tages so altmodisch anfühlen wie Pferdekutschen. Paul Shapiro verschafft uns einen anderen Blick auf das Fleisch von morgen, aber auch auf das Fleisch von heute. Koert van Mensvoort Gründer des Next Nature Network und Autor von The In Vitro Meat Cookbook

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VORWORT von Yuval Noah Harari

Die meisten Großtiere dieser Welt leben heute in industriellen Nutztieranlagen. Wir stellen uns vor, dass Löwen, Elefanten und Pinguine die Welt bevölkern und frei durch weite Savannen und Meere streifen. In TV-Dokus, Disney-Filmen und Kindermärchen mag das so sein, aber in der wahren Welt außerhalb des Fernsehens schon lange nicht mehr. Heute leben auf dieser Welt 40.000 Löwen und eine Milliarde domestizierte Schweine, 500.000 Elefanten und 1,5 Milliarden domestizierte Rinder, 50 Millionen Pinguine und 50 Milliarden Hühner. 2009 kam eine Zählung in Europa auf insgesamt 1,6 Milliarden Wildvögel. Im selben Jahr züchtete die europäische Fleischund Eierindustrie fast sieben Milliarden Hühner. Ein Großteil der Wirbeltiere auf unserem Planeten lebt nicht mehr frei, sondern ist im Besitz und unter der Kontrolle eines Tieres namens Homo sapiens. Milliarden von Tieren in Mastbetrieben werden nicht als Lebewesen, die Schmerz und Leid empfinden können, sondern als Maschinen zur Produktion von Fleisch, Milch und Eiern behandelt. Oft in fabrikartigen Anlagen massenproduziert, wird sogar ihr Körper dem industriellen Bedarf angepasst. Ihr gesamtes Leben verbringen die Tiere als Rädchen im Getriebe einer gigantischen Produktionskette, wobei Länge und Qualität ihrer Existenz von den Gewinnen und Verlusten der Agrarkonzerne abhängen. Gemessen an der Menge an Leid, die die industrielle Nutztierhaltung verursacht, ist sie wohl eines der schlimmsten Verbrechen der Geschichte. Wissenschaftliche Forschungen und technologische Erfindungen haben das Leben der Nutztiere eher noch weiter verschlechtert. In traditionellen Gesellschaften wie dem Alten Ägypten, dem Römischen Reich oder dem mittelalterlichen China hatte der Mensch nur ansatzweise ein Verständnis von Biochemie, Genetik, Zoologie und Epidemiologie. Seine manipulativen Möglichkeiten waren deshalb begrenzt. Im Mittelalter liefen die Hühner frei zwischen den Häusern im Dorf herum, pickten Samen und Würmer aus Abfallhaufen und bauten Nester in der Scheune. Hätte ein ambitionierter Bauer versucht, 1.000 Hühner in einen überfüllten Stall zu sperren, dann hätte das wahrscheinlich zu einer Vogelgrippeepidemie geführt, die sämtliche Hühner und viele Dorfbewohner dahingerafft hätte. Kein Priester, Schamane oder Medizinmann hätte das verhindern können.

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Als die moderne Wissenschaft dann den Geheimnissen von Viren und Antibiotika auf die Spur kam, fing der Mensch an, Tiere extremen Lebensbedingungen auszusetzen. Impfungen, Medikamente, Hormone, Pestizide, zentrale Klimaanlagen, Futterautomaten und jede Menge anderer technischer Spielereien machen es jetzt möglich, Tausende Hühner oder andere Tiere in winzige Ställe zu pferchen und mit beispielloser Effizienz (aber auch beispiellosem Elend) Fleisch und Eier zu produzieren. Im 21. Jahrhundert werden uns Wissenschaft und Technologie noch viel mehr Macht über unsere Mitgeschöpfe verleihen. Vier Milliarden Jahre lang wurde das Leben auf der Erde durch natürliche Selektion geregelt. Schon bald wird es durch intelligentes menschliches Design geregelt werden. Aber Technologie ist niemals deterministisch. Wir können dieselben technologischen Durchbrüche nutzen, um ganz unterschiedliche Gesellschaften und Gegebenheiten zu erschaffen. Im 20. Jahrhundert etwa stand es dem Menschen frei, die Technologie der industriellen Revolution (Züge, Elektrizität, Radio, Telefon) zu nutzen, um kommunistische Diktaturen, faschistische Regimes oder liberale Demokratien zu erschaffen. Ganz ähnlich könnte im 21. Jahrhundert die Biotechnologie auf vielerlei Weisen genutzt werden. Einerseits könnten wir damit Kühe, Schweine und Hühner designen, die noch schneller wachsen und noch mehr Fleisch produzieren, ohne dabei einen Gedanken an das Leid zu verschwenden, das wir diesen Tieren zufügen. Andererseits könnten wir die Biotechnologie auch nutzen, um sauberes Fleisch zu erzeugen – echtes Fleisch, aus Tierzellen gezüchtet, ohne dafür ganze Lebewesen mästen und schlachten zu müssen. Wenn wir diesem Weg folgen, dann kann die Biotechnologie durchaus vom Untergang der Nutztiere zu ihrer Erlösung werden. Mit ihr könnte das Fleisch produziert werden, nach dem so vielen Menschen der Sinn steht, ohne dabei die Umwelt so enorm zu belasten, da es wesentlich effizienter ist, Fleisch zu züchten, statt zuerst Tiere zu züchten, um sie später zu genau diesem Fleisch zu machen. Sauberes Fleisch ist keine Science-Fiction. Wie Sie in diesem Buch erfahren werden, wurde der weltweit erste gezüchtete Hamburger 2013 produziert und gegessen. Gut, er kostete 330.000 Dollar, finanziell unterstützt von Google-Mitbegründer Sergey Brin. Aber es hat zum Beispiel auch Milliarden Dollar gekostet, das erste menschliche Genom zu scannen – heute geht das schon für wenige 100 Dollar. So haben denn auch die Menschen, die den ersten sauberen Burger produzierten, bereits 2017, nur vier Jahre nach der ersten Kostprobe, ihr Verfahren so optimiert, dass die Kosten jetzt nur noch einen Bruchteil des ersten Burgers betragen.

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Auch die Konkurrenz schläft nicht, unter anderem ein amerikanisches Unternehmen, das 2016 den weltweit ersten gezüchteten Fleischkloß zum vergleichsweisen Schnäppchenpreis von nur 1.200 Dollar herstellte. 2017 produzierte dasselbe Unternehmen das erste saubere Chicken-Sandwich und Ente à l‘Orange zu einem sogar noch günstigeren Preis und plant, in naher Zukunft mit Produkten auf den Markt zu gehen. Mit angemessenen Forschungen und Investitionen könnten wir innerhalb von zehn oder 20 Jahren im industriellen Maßstab sauberes Fleisch produzieren, was billiger sein wird, als Rinder und Hühner zu züchten. Wenn man ein Steak möchte, kann man auch einfach ein Steak züchten, ohne ein ganzes Rind dafür zu mästen und zu schlachten. Die umgestaltende Natur dieser Technologie kann kaum hoch genug bewertet werden. Sobald der Preis für sauberes Fleisch niedrig genug ist, wird es nicht nur ethisch, sondern auch wirtschaftlich und ökologisch sinnvoll sein, Schlachthof-Fleisch durch sauberes Fleisch zu ersetzen. Die Nutztierhaltung ist eine der Hauptursachen der globalen Erwärmung; die Vereinten Nationen vergleichen die Treibhausgasemissionen der Nutztierwirtschaft mit den Treibhausgasemissionen des kompletten Transportsektors. Auch vom Klima abgesehen ist die Nutztierindustrie einer der Hauptkonsumenten von Antibiotika und Giftstoffen und einer der größten Verschmutzer von Luft, Land und Meer. Es mag einfach sein, mit dem Finger auf die Erdöl- und Kohleindustrie zu zeigen, wenn wir uns über die vom Homo sapiens verursachten Umweltprobleme beklagen, aber die konventionelle Fleischindustrie steht ihr als Umweltsünder in nichts nach. So wie wir saubere Energie brauchen, um fossile Brennstoffe zu ersetzen, brauchen wir auch sauberes Fleisch, um Tierfabriken zu ersetzen. Die Umstellung auf sauberes Fleisch wird unerlässlich sein, um den Planeten vor verheerenden Klimaänderungen und Umweltbeeinträchtigungen zu schützen. In diesem faszinierenden, hoffnungsvollen Buch zeigt Paul Shapiro, wie vielversprechend die neue Methode der Lebensmittel- und Kleidungsproduktion namens zellulare Agrikultur ist. Dank dieser Methode könnte der Mensch schon bald die Züchtung und Schlachtung von Milliarden Nutztieren abschaffen. In nicht allzu ferner Zukunft blicken wir vielleicht mit demselben Entsetzen auf die Nutztierwirtschaft zurück wie heute auf die Sklaverei: ein dunkles Kapitel in der Geschichte der Menschheit, das wir zum Glück hinter uns gelassen haben.

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Im 21. Jahrhundert wird die Technologie uns unglaubliche Fähigkeiten zur Schöpfung und Zerstörung verleihen. Aber die Technologie wird uns nicht sagen, was wir mit ihr anfangen sollen. Wenn wir uns daran begeben, diese schöne neue Welt zu erschaffen, sollten wir dabei das Wohlergehen aller empfindungsfähigen Lebewesen berücksichtigen, nicht nur das des Homo sapiens. Wir können die Wunder des Bioengineerings nutzen, um Himmel oder Hölle zu erschaffen. Es liegt an uns allen, weise zu entscheiden.

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1. DIE ZWEITE KULTIVIERUNG

Es war ein schwüler Augusttag im Jahr 2014, als ich durch das Brooklyn Army Terminal schlenderte, einen ehemaligen Bahnhof aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs in New Yorks angesagtestem Bezirk, der inzwischen Standort mehrerer Dutzend Startups geworden ist. Alte Eisenbahnwaggons, die zwei Generationen überdauert hatten, standen reglos auf ihren Gleisen, umgeben von brandneuen, aber meist leeren Büroflächen. Konnte dieser Ort, an dem die Zeit stillzustehen schien, wirklich der Hauptsitz eines Biotechnologieunternehmens sein, das gemeinsam mit weiteren Start-ups Vorreiter einer Technologie ist, die verspricht, unser jetziges Nahrungsmittelsystem auf den Kopf zu stellen? Als jemand, der seine Karriere dem Ziel verschrieben hat, unser Agrarsystem nachhaltiger zu machen, vor allem durch meine Arbeit in der Humane Society of the United States, habe ich viele Food-Start-ups besucht, die behaupten, ihre Produkte würden den Planeten retten, viele der uns heute plagenden Krankheiten verhindern und dabei noch genügend Nahrung für die wachsende Weltbevölkerung produzieren. Doch sie liegen nahezu alle in der kalifornischen Bay Area nahe am reichen Silicon Valley, das sie hervorgebracht hat und weiter anspornt, eine bessere Zukunft zu gestalten. Brooklyn schien mir eher Hipster-Paradies als Biotech-Himmel zu sein, aber genau hierher hatte mich Andras Forgacs eingeladen, um seinem neuen Unternehmen Modern Meadow einen Besuch abzustatten. Als mein Blick über das Gelände schweifte, kamen mir weder „modern“ noch „meadow (Wiese)“ in den Sinn. Der ehemalige militärische Verladebahnhof wurde in den frühen 1980er-Jahren von New York City gekauft und seitdem in Büroflächen umgewandelt. Am Bahnhof, mittlerweile Standort von mehreren Dutzend Mietern, sind überwiegend Start-ups zu Hause. Eines davon, Modern Meadow, sorgt weltweit für Schlagzeilen. Nachdem ich eine Viertelstunde das Terminal abgesucht hatte und an mehreren Biotechnologie-Start-ups vorbeigekommen war, fand ich schließlich den Eingang des Labors. Forgacs, Mitte 30, begrüßte mich freundlich lächelnd in den bescheidenen, aber makellosen Geschäftsräumen. Damals arbeiteten etwa ein Dutzend Angestellte für ihn. Ich fragte mich, ob ich da wirklich Zeuge von etwas Großem werden würde.

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Nachdem ich eingetreten war, plauderten Forgacs und ich über das Modern MeadowVerfahren: die Kultivierung von Rinderzellen zur Züchtung von Rindfleisch und Leder außerhalb von Rindern. Sprich: die Produktion von Echtleder, ohne dafür das Rind schlachten zu müssen, von dem es stammt. Die Firma war 2011 als erstes kommerzielles Unternehmen zur Laborzüchtung von Fleisch und Leder gegründet worden, und ich hatte gelesen, Forgacs könne (theoretisch) den kompletten Rindfleischbedarf der Welt aus einer einzigen, mikroskopisch kleinen Zelle züchten. Falls diese Technologie perfektioniert und standardisiert werden kann, sind ihre Implikationen natürlich enorm, da sie es uns potentiell ermöglicht, weiterhin Tierprodukte zu essen und zu tragen, ohne dabei das Leid, den Abfall und die Umweltschäden unseres heutigen Agrarsystems zu verursachen. Auch wenn Modern Meadow das erste zur Vermarktung dieser Produkte gegründete Unternehmen ist, ist Forgacs in seinen Bemühungen nicht allein. Seitdem wurden mehrere andere Unternehmen (einschließlich aller in diesem Buch vorgestellten) mit dem Ziel gegründet, gezüchtete Tierprodukte der breiten Masse zugänglich zu machen. Wir schlenderten an den leise summenden Reaktoren vorbei, in denen die Kultivierung stattfindet, als Forgacs mich plötzlich mit einer einfachen Frage schockierte. „Wollen Sie mal probieren?“ Ich hatte mich auf eine Besichtigung, nicht auf eine Verkostung eingestellt, und nach mehr als 20 Jahren veganer Ernährung war der Gedanke an den Verzehr von Fleisch auch nicht gerade verlockend. Auch war mir bewusst, dass zu diesem Zeitpunkt weitaus mehr Menschen im Weltraum gewesen waren als Laborfleisch gegessen hatten. Bis zur Existenz von Modern Meadow hatten nur ein paar Akademiker Fleisch in vitro gezüchtet, und vielleicht weniger als ein paar Dutzend Menschen weltweit hatten es gegessen – jemals. „Ich habe schon sehr, sehr lange kein Fleisch mehr gegessen und bin mir nicht sicher, ob mein Urteil da wirklich aussagekräftig wäre“, brachte ich halb scherzhaft über die Lippen, in der Hoffnung, mich damit erfolgreich herausgeredet zu haben.

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Außerdem dachte ich an die Kosten der Speise, wusste ich doch aus Berichten, dass kleinste Mengen dieses Rindfleischs ein Vermögen wert sein mussten. „Hat nicht der Burger, der gerade erst in Europa serviert wurde, von Kopf bis Fuß 330.000 Dollar gekostet?“, spielte ich auf den berühmt gewordenen (von GoogleMitbegründer Sergey Brin gesponserten) ersten gezüchteten Hamburger an, der ein Jahr zuvor auf einer Pressekonferenz in London zubereitet und gegessen worden war. „Keine Sorge“, versicherte mir Forgacs. „Sie sind unser Gast. Außerdem ist es ja nur eine kleine Probe – ein Steak-Chip sozusagen. Der hat wirklich nur um die 100 Dollar in der Produktion gekostet. Und das wird in Kürze noch stark runtergehen.“ Ich hatte sicherlich schon eine Menge Steak-Pommes in meinem Leben gegessen, aber Steak-Chips waren eine ganz andere Hausnummer. Forgacs wollte nicht einfach nur gezüchtete Versionen von Lebensmitteln herstellen, die wir schon mögen, zum Beispiel Burger, sondern er wollte auch ganz neue kulinarische Erlebnisse erfinden. Die Idee zum Steak-Chip (stellen Sie sich das praktisch wie Kartoffelchips aus Fleisch vor) war ihm aus der Erkenntnis gekommen, dass es viel billiger sein würde, dünne Fleischblättchen herzustellen statt komplexerer Fleischstücke. So wie man sich an der Tankstelle einen Streifen Beef Jerky als Snack mitnimmt, würde man da nicht auch mal eine Tüte Steak-Chips ausprobieren? „Proteinreich, fettarm und super praktisch. Also ich würde das wollen“, sagte Forgacs grinsend. Zuerst zögerlich, wurde mir dann aber schnell die Gelegenheit klar, einer der ersten Menschen überhaupt zu sein, die ein Lebensmittel probierten, das für so viel Wirbel (und Kontroversen) sorgte, und beschloss, das großzügige Angebot meines Gastgebers anzunehmen. Forgacs holte den Steak-Chip aus seinem Behältnis. Ich lächelte, hielt ihn vor mich hin und fragte mich, wie mein Körper wohl auf den ersten Bissen Fleisch seit über 20 Jahren reagieren würde. Ich hatte weniger ethische Bedenken, das Fleisch zu essen, aber trotzdem war es ein merkwürdiges Gefühl, kurz vor dem Abgrund zu stehen, Tierfleisch zu mir zu nehmen, und dann auch noch Fleisch, das so neuartig war. Meinen Entschluss, dem Fleischverzehr dauerhaft zu entsagen, hatte ich nicht getroffen, weil ich keines mochte; ich hatte es als Kind immer gern gegessen und mag auch weiterhin den pflanzlichen Fleischersatz, der auch bei Allesessern heutzutage immer beliebter wird. Vielmehr wurde ich 1993 Veganer, als ich als junger Teenager von den Folgen einer fleischlastigen Ernährung erfuhr. Menschen brauchen keine Tiere zu

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essen, um gesund zu sein, und die Fleischindustrie verursacht viele Tierschutz- und Umweltschutzprobleme. Ich dachte mir also, warum tue ich nicht einfach, was ich tun kann, um diesen Schaden zu verringern, und streiche Tiere aus meinem Speiseplan? Weiter unten in der Nahrungskette zu essen ermöglicht es auch, mehr Nahrungsmittel zu produzieren, weil zur Fütterung von Nutztieren sehr viele Ressourcen (wie Getreide und Wasser) benötigt werden. Diese Effizienz wird immer wichtiger, da die Weltbevölkerung weiter stark ansteigt. Meine Liebe zu Tieren führte mich schließlich auf eine berufliche Laufbahn im Tierschutz, wo ich mich in Gesetzes- und Firmenkampagnen engagiere, um Nutztiere besser zu schützen und auch die Anzahl der Tiere zu verringern, die für unser Essen gezüchtet und geschlachtet werden, indem ich Menschen helfe, mehr Gefallen an pflanzlichen Lebensmitteln zu finden. Über das Konzept, Fleisch im Labor zu züchten, hatte ich schon einige Jahre gelesen und diskutiert und es immer für eine vielversprechende Lösung eines quälenden Problems gehalten, es aber nur rein theoretisch und nie als Produkt für mich selbst gesehen, eher für andere, die auf Fleisch nicht verzichten wollen. Doch hier stand ich nun, kurz davor, wieder echtes Tierfleisch (wenn auch in der schlachtfreien Version) in meine Ernährung aufzunehmen, sei es auch nur für einen Tag. Der Chip sah aus wie ein dünner Streifen Trockenfleisch. Beim Betrachten sinnierte ich, wie (technologisch und symbolisch) bemerkenswert dieses kleine Stück getrocknetes Rindfleisch doch war. Vielleicht hielt ich ja hier die Antwort auf all die Probleme in der Hand, die die Nutztierwirtschaft der Menschheit und unserer Heimat Erde bereitet? Ich führte das Fleisch zum Mund, atmete einmal durch und legte es mir auf die Zunge. Ich hatte Berichte von Langzeit-Vegetariern gelesen, die alle möglichen Empfindungen überkamen, als sie erstmals seit Jahren wieder Fleisch aßen: Vom Endorphinrausch über Euphorie bis hin zu Übelkeit, Magenschmerzen und Erbrechen war alles dabei. Ich merkte allerdings nichts davon. Ich kaute den Steak-Chip, er schmeckte gut und erinnerte mich ans Grillen. Fragen schossen mir durch den Kopf: Würde ich jetzt krank werden? War ich noch Vegetarier? War das überhaupt von Belang? Tatsächlich ist es nicht wirklich von Belang, ob Vegetarier oder Veganer Fleisch essen werden, das gezüchtet statt geschlachtet wurde. Sie sind nämlich gar nicht die Zielgruppe. Denn die eigentliche Frage (die mir im Büro von Modern Meadow durch

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den Kopf ging und die ein Thema dieses Buches ist) lautet, ob Fleischesser diese neue Methode zur Erzeugung von Rind-, Hühner- und Schweinefleisch (und unzähligen anderen Tierprodukten) akzeptieren werden, die zu so einem wesentlichen Bestandteil unserer Ernährung geworden sind. Würde unsere Gesellschaft zumindest in Erwägung ziehen, zum Einstieg erst einmal In-Vitro-Leder von Modern Meadow zu tragen? (Mittlerweile konzentriert sich das Unternehmen ausschließlich auf die Züchtung von Leder, während andere sich der Züchtung von Fleisch verschrieben haben.) Und selbst wenn wir solche Lebensmittel und Kleidung akzeptieren würden, könnten Modern Meadow und andere Zuchtunternehmen ihre Produkte überhaupt noch rechtzeitig auf den Markt bringen, um die Schäden zu beheben, die heute von der Nutztierwirtschaft angerichtet werden? Kurz gesagt: War dieser bescheidene, wenn auch kostspielige, Steak-Chip ein Vorgeschmack auf die Zukunft unseres Essens? Unsere Spezies steckt in der Krise: Die Weltbevölkerung wächst unaufhörlich, aber wie sollen wir Milliarden mehr Menschen auf einem Planeten ernähren, der bereits jetzt an der Verknappung natürlicher Ressourcen leidet? Die Anzahl der Menschen hat sich seit 1960 verdoppelt, aber unser Konsum von Tierprodukten hat sich verfünffacht, und die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass er weiter steigen wird. Aber es wird noch komplizierter, denn während bisher ärmere Länder wie China und Indien (die gleichzeitig auch die bevölkerungsreichsten der Welt sind) inzwischen wohlhabender werden, verlangen dort immer mehr Bürger, die sich bisher überwiegend pflanzlich ernährt hatten, eine konventionellere amerikanische Ernährung, die reich an Fleisch, Eiern und Milchprodukten ist – Erzeugnisse, die bisher den Reichen vorbehalten waren, die sie sich jetzt aber leisten können. Viele Nachhaltigkeitsexperten stellen fest: Wenn man betrachtet, wie ineffizient es ist, Tiere statt Pflanzen für unsere Ernährung zu züchten, kann die Erde eine derart steigende Nachfrage an Tierprodukten einfach nicht decken. Der Klimawandel wird zu heftig sein, die Entwaldung zu gravierend, der Wasserverbrauch zu massiv und die Tierquälerei zu unerträglich. Prognosen zeigen, dass bis 2050 neun bis zehn Milliarden Menschen die Erde bevölkern werden. Sollten die meisten die Mittel haben, so verschwenderisch zu essen wie die Abendländer (besonders die Amerikaner) heute, ist schwer vorstellbar, wie wir die riesigen Landflächen und großen Mengen anderer Ressourcen aufbringen sollen, die dann benötigt werden, um dieser Nachfrage nachzukommen. Allein für den amerikanischen Gaumen werden pro Jahr mehr als neun Milliarden Tiere als Nahrungsmittel gezüchtet und geschlachtet, ohne Meerestiere wie Fische, die in Pfund und nicht als individuelle Tiere gezählt werden. Anders ausgedrückt werden allein in Amerika in nur einem Jahr mehr Tiere als Nahrungsmittel benutzt als es Menschen auf der Erde

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gibt. Und fast alle diese Tiere sind lebenslang in Fabriken eingesperrt, die mehr an Vernichtungslager als an Landwirtschaftsbetriebe erinnern. Die grüne Revolution (in der dank der Agrarforschung ein enormer Anstieg der Ernteerträge erzielt wurde) hat die Fähigkeit des Menschen drastisch erhöht, mehr Lebensmittel mit weniger Ressourcen herzustellen, aber die Zeit, die wir uns mit der Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität erkauft haben, läuft jetzt ab, und wir müssen durch Innovationen den Weg aus der von uns selbst herbeigeführten Agrarkrise finden. Um die Dimension des Problems zu veranschaulichen, stellen Sie sich vor, durch die Geflügelabteilung Ihres örtlichen Supermarktes zu schlendern. Stellen Sie sich neben jedem Huhn, das Sie sehen, mehr als 1.000 Kanister mit jeweils einer Gallone (3,78 Liter) Wasser vor. Stellen Sie sich nun vor, dass Sie von jedem Wasserkanister einen Verschluss nach dem anderen abdrehen und alles in den Abfluss gießen. Ungefähr so viel Wasser braucht es, um ein einziges Huhn aus dem Ei ins Regal zu bekommen. Mit anderen Worten: Wenn Sie auf eine einzige Hühnchen-Familienmahlzeit verzichten, sparen Sie mehr Wasser, als wenn Sie sechs Monate lang aufs Duschen verzichten. Kalifornien und andere dürregeplagte Regionen begnügen sich momentan vielleicht noch damit, das Rasensprengen einzuschränken oder kürzeres Duschen zu empfehlen, aber wenn die Wassernachfrage weiter steigt, kann keine noch so große Selbstbeschränkung die Wassermengen aufwiegen, die notwendig sind, um unser Nutztierwirtschaftssystem zu unterhalten, geschweige denn noch weiter zu vergrößern. Und es geht nicht nur um das Hühnerfleisch. Es wird immer schwieriger werden, die hinter jedem einzelnen Ei steckenden 189 Liter Wasser zu ignorieren, mit dem Sie Ihre Badewanne problemlos bis zum Rand füllen könnten. Oder die 3.402 Liter Wasser, die pro 3,78 Liter Kuhmilch benötigt werden (da reden wir jetzt schon von mehreren Badewannen Wasser). Zum Vergleich sparen Sie 3.213 Liter Wasser, wenn Sie 3,78 Liter Sojamilch statt Kuhmilch kaufen. Diese horrenden Ineffizienzen bleiben bestehen, egal ob regional, Bio, gentechnikfrei oder sonstige Schlagwörter, mit denen Tierprodukte oft beworben werden. Fakten wie diese verdeutlichen mehr denn je, dass wir, wenn wir bei unserem steigenden Bevölkerungswachstum weiter Fleisch, Milch und Eier ungefähr in den heutigen Mengen konsumieren wollen, effizienter werden müssen – wesentlich effizienter.

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Heute schickt sich eine Gruppe aus Wissenschaftlern und Unternehmern an, genau das zu erreichen. Ihr Ziel: echtes Fleisch zu züchten, damit Allesesser weiter Rindfleisch, Hühnchen, Fisch und Schweinefleisch genießen können, ohne dafür Tiere züchten und schlachten zu müssen. Wenn diese Start-ups Erfolg haben, tragen sie möglicherweise mehr als jede andere Innovation dazu bei, unser dysfunktionales Nahrungsmittelsystem auf den Kopf zu stellen, und gehen dabei gleichzeitig viele unserer größten heutigen Probleme an – von Umweltzerstörung über Tierleid bis hin zu lebensmittelbedingten Erkrankungen und vielleicht sogar Herzerkrankungen. Diese jungen Unternehmen setzen alles daran, eine Welt Wirklichkeit werden zu lassen, in der wir uns sozusagen überall das Fleisch herauspicken können: in der wir massenweise Fleisch und andere Tierprodukte genießen können, ohne dabei Umwelt, Tieren und Gesundheit zu schaden. __________________ Forgacs und sein Modern Meadow-Team sind nicht die Ersten, die daran gedacht haben, Tierprodukte zu züchten, ohne dafür ganze Tiere zu mästen. Neben vielen einfallsreichen Science-Fiction-Autoren (am bekanntesten vielleicht Margaret Atwood mit ihrem Roman Oryx und Crake und noch davor Star Trek) haben schon zahlreiche Vordenker auch außerhalb von Wissenschaft oder Science-Fiction vorhergesagt, dass ein solcher Wandel unvermeidlich ist. Einer von ihnen wurde sogar zu einer der bedeutendsten Persönlichkeiten der abendländischen Geschichte. „Wir werden die Absurdität hinter uns lassen, ein ganzes Huhn zu züchten, nur um dessen Brust oder Flügel zu essen, indem wir diese Teile separat mit einem geeigneten Medium züchten“, prognostizierte Winston Churchill 1931 in einem Essay mit dem Titel „Fifty Years Hence“ („In 50 Jahren“). Mit seinem Zeitfenster lag er zwar ein paar Jahrzehnte daneben, aber seine Weitsicht war bemerkenswert, war sie doch im Wesentlichen ein Vorahnung der Technologie, die später Modern Meadow seine Steak-Chips ermöglichen würde. „Die neuen Lebensmittel werden von Anfang an praktisch nicht von den natürlichen Produkten unterscheidbar sein“, fuhr der spätere Premierminister fort, „und etwaige Veränderungen werden so graduell sein, dass sie nicht zu bemerken sind.“ Churchill sagte einen großen Umbruch bei den Methoden voraus, wie der Mensch seit Jahrtausenden zu seinem Protein gelangt. Nicht unähnlich der Art und Weise, wie Autos die Fortbewegung zu Pferd weitgehend in die Geschichtsbücher verbannten, sah er einen technologischen Fortschritt voraus, der seiner Auffassung nach unsere Beziehung zu einer ganzen Kategorie von Tieren völlig verwandeln würde.

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Dabei war Churchill nicht einmal der Erste, der solche Vorhersagen traf. Schon 1894 behauptete der damals berühmte französische Chemieprofessor Pierre-EugèneMarcellin Berthelot, dass der Mensch bis zum Jahr 2000 Fleisch essen würde, das in Labors hergestellt würde, statt von geschlachteten Tieren zu stammen. Als ein Journalist nachhakte, wie es denn mit der Machbarkeit einer solchen Fleischproduktion aussähe, antwortete Berthelot: „Warum nicht, wenn es sich als billiger und besser erweist, dieselben Materialien herzustellen, anstatt sie zu züchten?“ Wie Churchill lag Berthelot mit seinem Timing zwar daneben, aber vielleicht gar nicht einmal so sehr. Der Mensch hat schon immer Wege gesucht, um sein Essen zu verbessern. Den Großteil seiner Existenz hat der Homo sapiens vom Sammeln und Jagen gelebt. Vor 10.000 Jahren begannen einige, den Speer aus der Hand zu legen und erst Pflanzen und später auch Tiere zu domestizieren, was einer regelrechten landwirtschaftlichen Revolution gleichkam. Kurz darauf begannen wir zu kultivieren, angefangen bei Erzeugnissen wie Bier und Joghurt, den vielleicht ersten Biotech-Lebensmitteln. Im vorigen Jahrhundert revolutionierte dann die Industrialisierung der Nahrungsmittelversorgung erneut unsere Möglichkeiten, denn sie verschaffte uns ungleich höhere Erträge, die eine immer stärkere Bevölkerungsexplosion unterstützen (und fördern) können. Heute sind wir womöglich Zeugen des Beginns der nächsten Nahrungsmittelrevolution: der zellularen Agrikultur, das heißt, der Züchtung von Nahrungsmitteln (wie echtem Tierfleisch und anderen Tierprodukten) im Labor, die Tiere außen vor lässt und vielleicht riesige Kulturflächen wieder zu natürlicheren Lebensräumen machen wird. Mit einer Technologie, die zunächst von Wissenschaftlern und Medizinern entwickelt wurde und jetzt von mehreren Start-ups kommerzialisiert wird, entnehmen die Innovatoren winzige Gewebeproben aus Tiermuskeln und kultivieren diese Zellen so, dass sie außerhalb des Tierkörpers mehr Muskeln bilden. Einige Unternehmer lassen die tierischen Starterzellen gleich ganz weg und züchten vom Molekül aufwärts echte Milch, Eier, Leder und Gelatine, die im Prinzip identisch mit den gängigen Tierprodukten sind – nur, dass nie ein lebendes Tier daran beteiligt war. Mit dieser neuen Anwendung der Technologie arbeiten die Start-ups, die Sie in diesem Buch kennen lernen werden, hart daran, Churchills Vision wahr werden zu lassen. Während ich dies schreibe, produzieren sie echte Tierprodukte aus mikroskopisch kleinen Tierzellen (oder sogar aus Hefe, Bakterien oder Algen), die das Potential haben, unsere heutige Lebensmittel- und Modeindustrie zu revolutionieren. Gleichzeitig versprechen sie die Lösung der enormen Umwelt- und Wirtschaftsprobleme, die unsere wachsende Weltbevölkerung verursacht – vorausgesetzt, dass sie die not-

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