Baluty

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BAŁUTY JÖRG WINDE



BAŁUTY JÖRG WINDE




















BAŁUTY JÖRG WINDE

Ich trete aus dem gleißenden Sonnenschein hinein in das dunkle Treppenhaus. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich zuerst bekrakelte und verschmierte gelb-braune Wände. Sodann die Treppe, die rechts hinaufführt, ausgetreten, als sei dort Tausende von Jahren Wasser hinabgeflossen. Doch es waren Menschen, die hier hinauf- und hinabgestiegen sind. Vor etwa 70 Jahren sind es Juden gewesen, die ihren letzten Gang aus diesem Haus machten, an einen Ort ohne Zukunft, an einen Ort des Todes. Ich stehe versteinert da. Das Bild, das in mir aufsteigt, lässt sich nicht wegschieben: Gruppen von schweigenden, vor Angst zitternden Menschen ziehen an mir vorbei; ich kann sie an meiner Seite fast atmen hören. Ihre Gesichter sind aschfahl, sie gehen gebückt, in ihren Armen ein kleines Bündel mit dem Notwendigsten. Ich reiße mich los und schaue erneut auf die Wände: Hier werden einige von ihnen ein letztes Zeichen, einen letzten Gruß hinterlassen haben. Das Haus, in das ich an diesem sonnigen Frühlingstag des Jahres 2011 eingetreten bin, ist eines von vielen im Zweiten Weltkrieg unversehrt gebliebenen Gebäuden in Bałuty, einem nördlich gelegenen Stadtteil der über 700.000 Einwohner zählenden Stadt Lodz. Vor ein paar Minuten noch hatte ich eine weiße Linie überschritten, die auf den Straßen und Bürgersteigen verläuft und im-

mer wieder von dem Schriftzug Ghetto Litzmannstadt 1940–1944 unterbrochen wird, wohl wissend, dass sie die Grenzen des ehemaligen jüdischen Ghettos markiert – das am längsten existierende Ghetto während des Nationalsozialismus und das zweitgrößte nach Warschau. Mich lässt dieses Erlebnis im Treppenhaus, das mich bei meinem ersten Besuch der völlig maroden Wohnsiedlung so unerwartet und tief berührt hat, lange nicht mehr los. Ich fühle mich auf unerklärliche Weise mit dem Ort verbunden. Vielleicht weil hier der Schrecken der Judenvernichtung immer noch so offensichtlich spürbar ist, und die Not der heute hier lebenden Menschen so unübersehbar und deprimierend. Erliege ich der vielgeschmähten Ästhetik von Grauen und Armut? Zwei Jahre lang kann ich dem Sog des Ortes widerstehen, dann fahre ich erneut nach Lodz. Gleich dreimal zwischen Februar und August. Mein Freund Woitek Wagner hilft mir, die Geschichte Bałutys bis ins Kleinste zu verstehen, denn für mein fotografisches Projekt möchte ich mich ganz authentisch nur mit den Gebäuden auseinandersetzen, die dort vor 1945 gestanden und heute Zeitzeugen des Ghettos sind. Woitek kennt jedes Haus und weiß, wann es gebaut wurde – ein großer Teil davon um 1900, als der Textilboom die Stadt zu einem europäischen Zentrum der Stoffherstellung machte. Seither


ist nicht viel an diesen Häusern getan worden, es fehlen weitestgehend die sanitären Anlagen, stattdessen müssen die Bewohner ihr Wasser aus dem im Hof stehenden Brunnen holen. Für eine Sanierung fehlen der Stadtverwaltung das Geld und der Wille, lediglich die ursprünglichen Fenster sind durch billige Kunststoffprodukte ersetzt worden. In Bałuty leben Menschen, die zu den ärmsten Polens gehören, unzählige Arbeitslose, Rentner und Menschen am untersten Rand der Gesellschaft. Zudem spielt Alkohol eine unübersehbar große Rolle; alle paar hundert Meter locken blinkende LED-Schilder die Leute in kleine Getränkeläden voll von Hochprozentigem. Mein polnischer Kollege Piotr Karczewski hatte mich eindringlich gewarnt, dieses Projekt zu realisieren, Bałuty sei der „dunkelste Ort Polens“ und dazu gefährlich für Fotografen mit teuren Kameras. Doch ich muss diesen Ort erkunden, versuchen, ihn zu verstehen mit dem Mittel, das ich als einziges künstlerisches Ausdruckmittel beherrsche, der Fotografie. Ich will dokumentieren und sichtbar machen, wie Menschen in diesem kleinen, trostlosen Flecken inmitten des aufstrebenden und „globalisierten“ Landes Polen heute noch leben. Dabei interessiert mich als Architektur- und Interieurfotograf auch und immer wieder die grundsätzliche Frage, inwiefern Bilder von Gebäuden und Räumen überhaupt Erkenntnisse über Menschen und deren Lebensbedingungen vermitteln können, ohne die Menschen selbst zu zeigen. Meine Aufenthalte in Bałuty führen mich von verschneiten Straßen und Höfen hinein in die Treppenhäuser, tiefer in stockfinstere Flure, in denen nur einige schwache Glühbirnen die stählernen Wohnungstüren beleuchten, bis hinein in zum Teil winzige Wohnungen, die karg mit dem Notdürftigsten ausgestattet und oft grausam verkommen sind. Viele der Menschen, die mir ihre Türen öffnen, leben allein, ohne Arbeit, sind krank und verwahrlost. Hinter anderen Türen dagegen macht man es sich mit wenigen Mitteln möglichst wohnlich, und ich erlebe Momente fast kleinbürgerlicher Ordnung und Gemütlichkeit. Beindruckend ist die Unerschrockenheit, mit der die Wände in kräftigen, freundlichen Farben gestrichen werden, was eigentlich gar nicht so recht zu passen scheint zum tiefsten Dunkel Polens.

15 Tage Fotografieren in Bałuty, an einem Ort, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart der polnischen und deutschen Geschichte so eindringlich und schicksalhaft überlagert und voneinander getrennt haben. An einem Ort, an dem Menschen unaussprechliches und furchtbares Leid ertragen mussten, und an dem noch heute, fast 70 Jahren nach Beendigung des Holocaust, viel Bitterkeit herrscht. Das Projekt Bałuty ist jedoch keine Aufarbeitung von jüdischer oder deutscher Geschichte. Die Bilder der Stadtlandschaft im Schnee, die Raumaufnahmen und die zum Teil abstrakten flächigen Kompositionen von Winkeln und Wänden in den Wohnungen sind die Bestandsaufnahme eines Ortes, den man sich in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in Westeuropa nicht mehr vorstellen kann und vorstellen möchte. Bałuty wird es in der hier gezeigten Form in wenigen Jahren glücklicherweise nicht mehr geben. Aber vielleicht bleiben seine Bilder im Bewusstsein, und damit die Geschichte, die sie über die Menschen in Lodz erzählen.

JÖRG WINDE geboren 1956 in Köln, studierte Fotodesign an der FH Dortmund und Kommunikationsdesign an der GH Wuppertal. Seit 1984 ist er als freischaffender Fotograf in den Arbeitsfeldern Architektur-, Interieur- und Industriefotografie tätig. 1999 wurde er an die Fachhochschule Dortmund als Professor für Fotografie berufen. Er lebt in Bochum und ist Mitglied im Berufsverband Freie Fotografen und Filmgestalter (BFF) und in der Deutschen Gesellschaft für Photographie(DGPh). Seine Arbeiten sind in zahlreichen Publikationen, Einzel- und Gruppenausstellungen sowie in Museumssammlungen vertreten.







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