LEADER März 2016

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Zur Person Andreas Giger ist promovierter Sozialwissenschaftler, lebt und arbeitet heute als eigenwilliger, unabhängiger Zukunftsphilosoph, Autor und Fotograf in Wald AR. Neben Büchern publiziert der 63-Jährige Artikel, hält Vorträge und ist als Unternehmensberater tätig. Giger ist Initiant der Internetplattform für nachhaltige Lebensqualität, www.spirit.ch. In den letzten vier Jahren hat Giger zudem mehrere Krimis geschrieben (www.appenzellerkrimi.ch).

der Leute zu tun als mit der tatsächlichen Lage. Zum Beispiel die AHV: Wie oft höre ich meine Altersgenossen klagen, dabei vergessen sie, dass es die AHV vor ein paar Jahrzehnten noch gar nicht gegeben hat. Damit will ich sagen: Wir haben oft ein ausgeprägtes Kurzzeitgedächtnis und vergessen, wie es früher war. Abgesehen von Afrika oder anderen gebeutelten Ländern ist es uns noch nie so gut gegangen wie jetzt. Das sollten wir endlich begreifen und statt an den materiellen Zuwachs wieder vermehrt an die Qualität des Lebens denken, denn hier liegt immenses Potenzial.

«Und wofür ich auch plädiere in der Wirtschaftswelt: Für mehr Time-outs.» Wie gelingt dieses Umdenken? Ich appelliere an die notorisch Jammernden: Sagt Danke, dass ihr hier geboren seid. Denn anderswo hättet ihr wesentlich mehr Grund zu jammern. Zweitens: Angst vor der Zukunft ist keine geeignete Haltung, weil Angst in der Regel blockiert, das ist das letzte, was wir brauchen können. Und das Dritte ist: Wir müssen an unserem Zusammenleben arbeiten, an der Lebensqualität. Der Lebensstandard ist quantifizierbar und dummerweise gegen oben offen: Kaum hat man mehr, betrachtet man es schon wieder als selbstverständlich und will noch mehr. Wenn ich von Lebensqualität rede, dann meine ich den inneren Idealzustand, dem wir uns schrittweise annähern können, ohne ihn je ganz zu erreichen. Ein solcher Wertewandel vom Lebensstandard zur Lebensquali-

tät braucht Jahrzehnte, aber ich sehe zumindest Anzeichen in diese Richtung.

Einen gesellschaftlichen Wertewandel hinzubekommen, wird doch sicher mehr fordern als nur Zeit? Das stimmt. Ich vermisse diese Themen zum Beispiel in den öffentlichen Medien. Sie wären der ideale Bote. Aber es gibt andere Zugangswege, beispielsweise über Nachhaltigkeit oder Mobilität. Im Wesentlichen muss es aber von unten kommen, also von Einzelnen, die es anderen vorleben. Das Vorleben ist ganz zentral. Und schliesslich unsere positive Haltung: Wir haben schon viele grosse Wertewandel erlebt, daher spricht einiges dafür, auch diesen zu schaffen. Ausser vielleicht bei Grossbanken, da bin ich mittlerweile doch etwas pessimistisch geworden. Leben wir irgendwann im All oder mit Wesen aus dem All zusammen? Ein interessantes Thema. Als ich noch sehr jung war, liebte ich Science-Fiction. Wären jene Visionen wahr geworden, würden wir heute alle mit Rucksack-Helikoptern durch die Gegend fliegen, Krankheiten wären ausgerottet, und wir wären längst ins All ausgewandert. Kann sein, dass das in 1000 Jahren der Fall sein wird, aber im Moment ist kein solches Ziel in Sicht. In drei Milliarden Jahren, wenn sich die Sonne aufblähen wird und die Erde schluckt, sind wir vielleicht soweit. Aber ob es uns dann noch gibt, ist fraglich. Schauen wir also lieber, dass wir unseren eigenen Planeten in Ordnung halten. LEADER | März 2016


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