Erziehungskunst Oktober 2009

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15.09.2009

13:18 Uhr

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14 THEMA SINNE

… siehst!? Wir müssen lernen, diese Leibresonanz situationsangemessen zu aktivieren. Werden Körperprozesse zu stark, werden sie das Bewusstsein und Denken einschränken. Werden sie zu schwach, blicken wir kalt und gleichgültig in die Welt. Beide Extreme gehören zum Leben – führen aber zu sozialen Problemen, wenn sie das Handeln des Individuums dominieren.

Menschliche Sinne können eher auf die Wahrnehmung der Außenwelt oder auf die Wahrnehmung des eigenen Leibes gerichtet sein. Immer besteht die Resonanz darin, dass sich mit der Außenwahrnehmung eine Wahrnehmung des eigenen Körpers verbindet – erst diese multimodale Sinneswahrnehmung führt zum Objekteindruck. Man könnte sich zur Verdeutlichung die folgende Systematik menschlicher Sinne vor Augen halten: Sehsinn Hörsinn Riechsinn Geschmackssinn Temperatursinn Gleichgewichtssinn Eigenbewegungssinn Lebensfunktionssinn Tastsinn

erziehungskunst Oktober | 2009

außengerichtet

innengerichtet

Das Resonanzmodell der Wahrnehmung würde zum Beispiel die Betrachtung einer physiognomischen Geste, wie sie Abbildung 1 zeigt, wie folgt beschreiben: Das Gesicht des anderen Menschen wird durch den Sehsinn empfangen; es erfolgt eine für den Wahrnehmenden wie für die gesehene Person bewusst nicht wahrnehmbare mimische Imitation, die jedoch durch den Eigenbewegungssinn registriert und an das Gehirn vermittelt wird, wodurch ein Mitempfinden der fröhlichen oder freundlichen Stimmung des anderen Menschen möglich wird – nicht nur deren gleichgültige Registrierung. Natürlich ist die Sache in Wirklichkeit komplexer: Führt die Begegnung mit dieser Frau zu einer entspannten Kommunikation, dann ist sicher auch der Lebenssinn beteiligt, der unter anderem Zustände der (muskulären) Spannung und Entspannung, der physischen Erholung und Beklemmung registriert; die Körpertemperatur könnte unter Umständen in bestimmten Regionen ansteigen, so dass ein »Wärmeeindruck« sich mit dem Seheindruck vermischt – kurzum: Die multisensorische Wahrnehmung zugleich des visuellen Eindrucks und der eigenen körperlichen Resonanz führt zum Urteil über die andere Person als »freundlich, warmherzig, entspannt« usw. So ist jeder Außeneindruck in Wahrheit immer auch ein sensorischer Inneneindruck, oder umgekehrt: Unser sensorisch vermitteltes Inneres ist immer auch in der äußeren Wahrnehmungswelt präsent. Zweierlei scheint mir an derartigen Vorgängen bemerkenswert. Erstens: Wir sehen daran, wie sehr der Mensch mit seiner gesamten körperlich-geistigen Existenz in die Welt verflochten ist, die er wahrnimmt. Ist das ein Indiz für die wissenschaftliche Nachvollziehbarkeit der Aussage Rudolf Steiners, dass unser Ich (oder unser Selbst) nicht allein im Leib residiert, sondern ebenso in der Welt außerhalb unserer Leibesgrenzen?


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