Erziehungskunst Spezial 2015

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07/08 | 2015

Juli/August | 3,50 €

erziehungskunst spezial Waldorfpädagogik heute

Kinder stärken fördern begleiten


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2 INHALT Kindergesundheit Pädagogik Psychiatrie Kunst Musik Sprache Heileurythmie Förderunterricht Chirophonetik Chronobiologie Erlesen Kongress 2015

M. Glöckler: Kinder in der Gegenwart. Entwicklung von körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit J. Greiner: Die wichtigsten Lehrer sind die Schüler. Über die Bedeutung des pädagogischen Blicks

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R. Reichle: Missverständnisse. Wodurch unterscheiden sich Waldorfschüler als Patienten von anderen Schülern? M. Bennett: Der erste Mondknoten und die Malerei. Kunstunterricht kann dem Ich auf die Sprünge helfen B. Burghardt: Singen – Spielen – Erkennen. Drei Wege des Musikalischen in der Schulzeit D. Krüger: Sprich Dich gesund

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E. Leiste: Heileurythmie in der Schule – wozu eigentlich? A. Berlin-Zinkhahn: Bewegung macht den Menschen

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Im Luftstrom der Laute. Die Chirophonetik hilft nicht nur bei Sprachproblemen. Im Gespräch mit Dieter Schulz 37 A. Natterer: Entspannt in den Schultag Bücher

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Die Entwicklung unserer Kinder

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Impressum erziehungskunst spezial Waldorfpädagogik heute 79. Jahrgang, Heft 07, Juli/August 2015, Auflage 70.500 Herausgeber: Bund der Freien Waldorfschulen e.V., Wagenburgstr. 6, 70184 Stuttgart, Tel.: 07 11/2 10 42-0

Anschrift der Redaktion: Wagenburgstraße 6, D-70184 Stuttgart, Tel.: 07 11/2 10 42-50/-51 | Fax: 07 11/2 10 42-54 E-Mail: erziehungskunst@waldorfschule.de, Internet: www.erziehungskunst.de Manuskripte und Zusendungen nur an die Redaktion. Die Verantwortung für den Inhalt der Beiträge tragen die Verfasser. Gestaltungskonzept: Maria A. Kafitz Herstellung: Verlag Freies Geistesleben, Maria A. Kafitz Verlag: Verlag Freies Geistesleben, Postfach 13 11 22, 70069 Stuttgart, Landhausstraße 82, 70190 Stuttgart Tel.: 07 11/2 85 32-00 | Fax: 07 11/2 85 32-10, Internet: www. geistesleben.com

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Titelfoto: flausenimkopf / photocase

Redaktion: Dr. Ariane Eichenberg, Mathias Maurer, Lorenzo Ravagli


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EDITORIAL

Heile Gänschen Julian kommt gelangweilt ins Wohnzimmer geschlurft. Er scheint auf der Suche nach Aktion, oder sagen wir, er ist in bester Diskussionslaune. Sein Blick fällt auf ein Buch mit dem Titel Heilende Erziehung. »Was ist denn das? Wieso heilt Erziehen? So’n Quatsch! Erziehen heißt nerven, nöhlen und nix tun dürfen! Das macht doch krank, oder?« Ich blicke von meiner Zeitung auf und prüfe erstmal die Ernsthaftigkeit seiner Steilvorlage. »Ja, es gibt aber viele Kinder, die krank sind. Nicht nur körperlich, sondern auch psychisch.« Julian kontert: »Meinst Du denn, jeder, der rumzappelt, ist krank?« – »Naja, es gibt schon viele Zivilisationsschäden: falsche Ernährung, zuviel Medien, zuwenig Bewegung, Stress, oder ab in die Krippe mit drei Monaten ... Schon mal was von Wohlstandsverwahrlosung gehört?«, frage ich. Julian kommt auf Touren: »Erziehung soll da helfen? Schwachsinn! Ich sag nur: Freiheit für die Kinder!« – »Wenn’s so einfach wäre. Kindheit ist heute eine stressige Angelegenheit – besonders für Eltern. Eigentlich bräuchten die eine besonders heilende Zuwendung. Heilend klingt doch gut«, versuche ich mich in einer Erklärung. Julian höhnt: »Meinst Du eia poppeia, softimäßig?« – »Hör’ mal zu«, antworte ich, »Heilen ist ja etwas Schönes, heil machen heißt ganz machen. Du erinnerst Dich: ›Heile, heile Gänschen ... ‹, da ist doch was dran, geholfen hat´s bei Dir auch. Und wenn Erziehen heilt, dann ist das doch eine gute Sache ...« – »Ei, wie schön, ei, wie romantisch«, unterbricht mich Julian, »typisch Waldorf! Abgesehen von krassen Fällen: Ein bisschen Ansage, ein bisschen Dampf, ein bisschen Kante täte mancher Waldorflusche gut.« Ich versuche, ruhig zu bleiben: »Wenn Du mit Fieber im Bett liegen würdest, und ich Dir sagen würde: ›Los, steh’ auf, Du Simulant, geh’ joggen, mach’ Deine Hausaufgaben ...‹, wäre das nicht ganz angesagt, oder? Heilsam wären vielleicht Wadenwickel, und die gibt es auch bei der Erziehung.« – »Wadenwickel vom Lehrer? Verschone mich!« Ich gebe nicht auf: »Na, ich meine wenn man Unterstützung bekommt, um sich besser konzentrieren zu können oder ...« – »Heileurythmie, Sprachgestaltung und Hauschka lassen grüßen«, jault Julian auf. »Aber«, insistiere ich, »hattest Du nicht mal wegen Deiner Buchstabendreher in der Dritten ein paar Einheiten beim Förderlehrer? Geholfen hat’s ja.« – »Ist ja gut, ist ja gut, Eurem Heilerwillen scheint keiner zu entkommen. Da lohnt es sich ja richtig, einige Macken und Malaisen zu haben«, Julius schaut mich triumphierend an. Als ich nicht gleich reagiere, schiebt er hinterher: »Heile, heile Gänschen ...« ‹› Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer

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Liebe Leserin, lieber Leser,

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4 KINDERGESUNDHEIT

Kinder in der Gegenwart Entwicklung von körperlicher, seelischer und geistiger Gesundheit von Michaela Glöckler

Kinder leben in der Gegenwart. Sie freuen sich, wenn wir sie sehen, uns für sie interessieren und offen sind für das, was sie erleben und sagen. Ähnlich ist es mit allem, was wir »gesund« nennen, denn Gesundheit ist reine Gegenwart – sie entsteht in jedem Augenblick neu. Wenn ich heute gesund bin, heißt das nicht, dass ich es morgen auch sein werde. Daher ist es wichtig, zu wissen, wie Gesundheit gefördert werden kann und was sie beeinträchtigt.

Drei Faktoren bestimmen die Entwicklung der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit: • Genetische, naturgegebene Veranlagungen, durch die »Reaktionsnormen« festgelegt sind; zum Beispiel wird im ersten Lebensjahr alle Aufmerksamkeit darauf konzentriert, den Körper aufzurichten, im zweiten Lebensjahr liegt alle Aufmerksamkeit auf dem Sprechen. Nicht die erworbenen Fähigkeiten sind vererbt, sondern jeweils nur die Disposition, sie zu erlernen. Daher braucht es altersentsprechende Lernangebote. • Einflüsse aus der Umwelt, die über die Vielfalt der Sinneseindrücke und ihr Miterleben auf die körperliche Entwicklung des Kindes unmittelbar Einfluss nehmen. Nur das kann nachgeahmt werden, was das Kind zu sehen bekommt. Fehlen bestimmte Eindrücke und Erfahrungen, können sich bestimmte Anlagen nicht entfalten. • Die Individualität des Kindes, die sowohl seine körperliche Veranlagung als auch sein Milieu durch ihre tätige Anteilnahme mitbestimmt. Aus der Resilienzforschung wissen wir, wie zutreffend der Hinweis Rudolf Steiners war, das Kind müsse liebevoll angesprochen, durch Interesse und Anteilnahme in den Leib und durch diesen in die Welt »hereingerufen« werden. Je mehr das Kind erlebt, dass es »gewollt« und »angenommen« ist, um so stärker folgt es diesem Ruf und bemüht sich, für sich und die Mitwelt »da zu sein«. So konnten manche Kinder sich zu gesunden lebensbejahenden Menschen entwickeln, die eine familiäre genetische Belastung hatten oder aus einem traumatisierenden Milieu stammten, während viele andere es nicht schafften und wegen mangelnder Ansprache gewaltbereit, kleinkriminell, alkoholoder drogenabhängig wurden. Diese drei Faktoren: genetische Veranlagung, Umwelteinflüsse und die sich inkarnierende einmalige Individualität bestimmen im Laufe der Entwicklung den Grad der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit. Jedes Kind setzt sich individuell mit seiner genetischen Veranlagung und seinem Milieu auseinander. Eltern und Erziehern kommt die Aufgabe zu, wahrzunehmen,

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was das Kind jeweils braucht, was es lernen kann und will. Dabei gilt die von Steiner charakterisierte Grundhaltung, »Erziehung« als einen vom Kind aktiv provozierten und gesteuerten Lernprozess zu betrachten, den der Erwachsene zwar unterstützen, fördern und begleiten kann, jedoch nicht konditionierend beeinflussen sollte. Je besser dies verstanden und realisiert werden kann, umso selbstbestimmter und »authentischer« kann sich das Kind entwickeln und die Meilensteine seiner körperlichen, seelischen und geistigen Reifung erreichen.

Matrix der Entwicklung Die drei funktionellen Hauptsysteme – Nerven-Sinnessystem, rhythmisches Transport- und Verteilungssystem und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem – kommen nicht gleichzeitig, sondern in typischer zeitlicher Abfolge nacheinander zur Ausreifung: • Die Ausreifung der Sinnesfunktionen und etwa 90 Prozent der Kapazitäten des Zentralnervensystems erreichen bereits in den ersten acht, neun Lebensjahren die volle Funktionstüchtigkeit. • Entwicklung und Stabilisierung der biologischen Rhythmen einschließlich der Ausreifung der Frequenzabstimmung zwischen Atem- und Herzrhythmus sind im Alter von 15-16 Lebensjahren abgeschlossen. • Das Wachstum des Skelettsystems zur Erwachsenenform und die Stabilisierung der Stoffwechselvorgänge und des Hormonhaushaltes dauern je nach Hautfarbe und genetischer Veranlagung vom 18. bis 23. Lebensjahr.

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Die drei funktionellen Hauptsysteme (Nerven-Sinnessystem, rhythmisches System und Stoffwechsel-Gliedmaßensystem) kommen nacheinander zur Ausreifung

› Foto: Charlotte Fischer


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6 KINDERGESUNDHEIT

› Körperliche Gesundheit im ersten Jahrsiebt Nervensystem

Das Nervensystem und die sensomotorische Koordination – das heißt, die Verknüpfung von Sinnesfunktionen mit der muskulären Tätigkeit – können sich um so gesünder und leistungsfähiger differenzieren, je vielseitiger sie benützt, geübt und betätigt werden. Das Kleinkind experimentiert mit verschiedensten Bewegungen, lernt sich aufzurichten und entdeckt mit Hilfe all seiner Sinne die Welt. Daher gilt es, Bewegungs- und Spielräume zu schaffen, in denen die Kinder sich aus eigenem Antrieb altersentsprechend bewegen und betätigen können. Durch die in diesem Alter so beliebten musikalisch-rhythmischen Singspiele wird auch die zur Sozialisation notwendige Fähigkeit des Zuhörens und des harmonischen Zusammenspiels veranlagt. Die Hirnforschung berichtet, dass ein Kleinkind 20 bis 50 Mal am Tag einen Zustand größter Begeisterung erlebt. Dabei kommt es im Gehirn zur Aktivierung der Zentren für emotionale Erlebnisse, was das Kind dazu veranlasst, das, was es mit Begeisterung macht, zu wiederholen und immer besser zu machen.

Stützen, Fördern, Begleiten durch: Eigeninitiative Rhythmus Grenzen

• Anregung von Initiative durch eigenes Tun und »Vorbild-Sein«, anstatt vom Kind etwas zu fordern. • Spielmaterial, das die Eigenaktivität fördert: einfache Gegenstände und Materialien, die der Phantasie Raum lassen und viele Gestaltungsmöglichkeiten zulassen. • Aktivierung und Pflege der Sinne durch entsprechend ausgestattete Spielräume. • Veranlagen guter Gewohnheiten durch regelmäßiges Tun, kleine Rituale am Morgen, beim Essen, am Abend vor dem Schlafengehen. • Rhythmische Gestaltung des Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreslaufes. • Momente ungeteilter Aufmerksamkeit für das Kind, zum Beispiel beim Aufstehen und Zubettgehen und im Verlauf des Tages. Wenn der Tag mit vielen Pflichten angespannt verläuft – das Kind im Bewusstsein haben, es »in Gedanken tragen«, mitnehmen. Dann sind die Momente der Begegnung intensiv und substantiell. • »Nonverbaler« Erziehungsstil: Nicht das Wort, sondern die Handlung, das Vorbild zeigt, worum es geht. Nur so erlebt sich das Kind als freigelassen. Denn es ahmt aus eigenem Antrieb nach. • Vermeiden von Multimedia-Angeboten und technischem Spielzeug, weil sie die Sinnestätigkeit und körperliche Aktivität massiv einschränken. • Lebensfreude und Dankbarkeit zeigen. • Klare Grenzen setzen und »leben«, das gibt Sicherheit und Orientierung.

Seelische Gesundheit im zweiten Jahrsiebt Rhythmisches System

Physiologisch steht die Entwicklung der Organe des Rhythmischen Systems im Vordergrund: Lunge und Herz-Kreislaufsystem. Das bedeutet, dass es jetzt um Ge-

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KINDERGESUNDHEIT

sprächs- und Gefühlskultur geht, um emotionale und soziale Reifungsprozesse. Denn jedes Gefühl, das im Wechselspiel mit der Umwelt und mit den Menschen zu Hause und in der Schule angeregt wird, hat unmittelbaren Einfluss auf die Reifungsprozesse dieser Organsysteme. Nicht nur im Erröten und Erblassen, auch am Kalt- oder Warmwerden von Händen und Füßen kann abgelesen werden, wie es der Blutzirkulation geht und ob die Atmung stockt, flach wird, unregelmäßig oder tief und ruhig ist.

Stützen, Fördern, Begleiten durch:

• Die von Steiner empfohlene »künstlerische« Methodik und Didaktik im Unterricht. • Gesprächskultur erleben zuhause, in der Schule und sonst in der Gesellschaft. • Mit inneren Fragen leben: Wie war unser letztes Gespräch? Wann hatte ich Zeit, Interesse? Habe ich das Anerkennenswerte bemerkt, lobe ich genug oder bringe ich eher zum Ausdruck, was mich stört? • Aus Fehlern lernen: Wer aus seinen Fehlern lernt, entwickelt sich nachhaltig – entsprechend auch ein Team zusammenarbeitender Menschen. Wie gehe ich mit Fehlern und Fehlverhalten der Kinder und Jugendlichen zuhause und in der Schule um? Wie helfe ich, aus Fehlern zu lernen, den positiven Gewinn daraus zu ziehen? So lange Fehler machen mit Angst behaftet ist und Schamgefühle auslöst, entstehen Demütigungen, gefolgt von Lernunlust, Lernblockaden. Auch werden dadurch kriminelle Energien geweckt in Form von Sinnen auf Betrug und Vorspiegelung falscher Tatsachen. Denn man möchte kompetenter erscheinen, als man tatsächlich ist. • Klare Führung in Grundsatzfragen im Tagesablauf unter Einbezug der Wünsche der Kinder. Verabredungen treffen und klar vereinbaren, wie sie eingehalten werden. • Künstlerische Betätigung, insbesondere Erlernen eines Musikinstrumentes, Singen und Musizieren in Gemeinschaft. • Kontrollierter Multimediagebrauch zu Hause und, wo immer möglich, das Aufarbeiten des Gesehenen und Erlebten im Gespräch. In der Schule sollte der Einsatz elektronischer Medien als Unterrichtsmittel noch konsequent vermieden werden zugunsten kreativer und menschlich-interaktiver Lern- und Entwicklungsprozesse. ›

Kunst Gespräch Fragen

»Jedes Kind setzt sich individuell mit seiner genetischen Veranlagung und seinem Milieu auseinander. Eltern und Erziehern kommt die Aufgabe zu, wahrzunehmen, was das Kind jeweils braucht, was es lernen kann und will.«

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› Skelett und Stoffwechsel

Zur Autorin: Dr. med. Michaela Glöckler war Kinderärztin am Gemeinschaftskrankenhaus in Herdecke und an der UniversitätsKinderklinik in Bochum, schulärztliche Tätigkeit in der Rudolf-SteinerSchule in Witten und hat seit 1988 die Leitung der Medizinischen Sektion am Goetheanum. Literatur: G. Opp, M. Fingerle (Hrsg.): Was Kinder stärkt. Erziehung zwischen Risiko und Resilienz, München 2008 G. Soldner, H. M. Stellmann: Individuelle Pädiatrie, Stuttgart 2011 W. Goebel, M. Glöckler: Kindersprechstunde, Stuttgart 2013 P. Selg: Ich bin anders als Du. Vom Selbst- und Welterleben des Kindes in der Mitte der Kindheit, Arlesheim 2011 J. W. Rohen, E. Lütjen-Drecoll: Funktionelle Anatomie des Menschen, Stuttgart 2006 B. Rosslenbroich: On the Origin of Autonomy. A New Look at the Major Transitions in Evolution, Heidelberg, New York 2014 www.gerald-huether.de/populaer/ veroeffentlichungen-von-geraldhuether/texte/begeisterung-geraldhuether/index.php

Geistige Gesundheit im dritten Jahrsiebt Die Entwicklung von Skelett und Stoffwechselsystem zur Erwachsenennorm wird am besten gefördert durch alles, was »aufrichtet« und begeistert. Sich selber Ziele stecken lernen, Ideale verfolgen, seine Hoffnung auf etwas setzen können – man sieht es den Jugendlichen am Gang an, ob sie das haben oder nicht. Drogenabhängige werden von Dealern am Gang erkannt. Wärmebildung und Aktivität der Verdauungsprozesse werden durch eigenständige geistige und seelische Verarbeitungsprozesse unterstützt.

Stützen, Fördern, Begleiten durch:

• Zeit haben zum Gespräch. • Selbstdenken, Beobachten, Forschen und Auswerten anregen. • Freund und Begleiter sein, Interesse haben für das, was den Jugendlichen beschäftigt. • Wachsendes Freiheitsbewusstsein und Selbstständigkeit respektieren, eigene Erwartungen zurückstellen. • »Familienrat« halten. Verabredungen gemeinsam treffen, deren Erfolg oder Misserfolg analysieren und das weitere Vorgehen beraten. • Sich über das »ganz Andere« freuen lernen, verstehen wollen, was den Jugendlichen bewegt. • Vertrauen riskieren und signalisieren: Ich stehe zu dir – egal was kommt – und bin gespannt, wie Du werden wirst. • Medienkompetenz entwickeln durch bewussten Einsatz elektronischer Medien, wo es altersentsprechend sinnvoll ist und den Unterricht fördert. Bewegung und Spiel unterstützen insbesondere das Nervensystem in seiner Ausbildung. Das Organ für die geistige Tätigkeit braucht für seine gesunde Entwicklung körperliche Aktivität. Die seelische Tätigkeit und Gefühlsreifung stimuliert hingegen die Ausbildung des rhythmischen Systems, das seinerseits die körperliche Grundlage des Gefühlslebens ist. Die geistige Entwicklung, das selbstständige Denken, wirkt sich fördernd auf die gesunde Entwicklung der Stoffwechsel- und Gliedmaßen-Funktionen aus. Körperliche, seelische und geistige Entwicklungsprozesse stehen so in Wechselwirkung mit einander – wie auch die Entwicklungsprozesse, die Gesundheit bewirken. ‹›

»Das Organ für die geistige Tätigkeit braucht für seine gesunde Entwicklung körperliche Aktivität. « erziehungskunst spezial Juli/August | 2015


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PÄDAGOGIK

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Die wichtigsten Lehrer sind die Schüler Über die Bedeutung des pädagogischen Blicks von Johannes Greiner

Mein pädagogisches Schlüsselerlebnis hatte ich mit einer Klavierschülerin, die sehr, Um die individuelle Entwicksehr große Mühe hatte, mit dem Klavier vorwärts zu kommen. Sie konnte sich nicht lung seiner Schüler zu einmal den Anfangston eines Liedes merken. Dabei nahm ich alle Tricks und pä- fördern, muss der Lehrer sich dagogischen Kniffe zu Hilfe, die ich kannte. Ich erklärte ihr die Tastatur als Abfolge vor allem von seinen Vorurvon Zwillingen und Drillingen (schwarzen Tasten), malte entsprechende Bilder und teilen befreien. Oft reicht es so weiter. Kaum war sie zu Hause, wusste sie nicht mehr, wo sie beginnen sollte und schon, anders auf die Kinder kam die Woche danach wieder, ohne geübt zu haben. Schnell merkte ich, dass sie zu blicken, um ihre verborgestark legasthenisch veranlagt war. Sie verwechselte immer wieder die rechte und nen Fähigkeiten zu entdecken. linke Hand, konnte sich die Nummerierung der Finger nicht merken, konnte nur Wir sind, weil andere uns mühsam lesen, noch mühsamer schreiben und nichts mit Noten anfangen. Sie war sehen. sehr klein für ihr Alter – als wäre sie zurückgeblieben. Ihre Mutter hatte wohl keine große Meinung von ihr. Sie sprach von dem »Dreikäsehoch«, dem man zeigen muss, wo‘s lang geht. Als Monate um Monate verstrichen, ohne dass wir merkbare Lernerfolge erzielen konnten, wurde mir klar, dass ich eine Kollegin fragen müsste, ob sie das Mädchen übernehmen kann. – Doch ließ dieses Versagen mir keine Ruhe. Immer wieder musste ich an mein pädagogisches Scheitern denken – schließlich war ich ein Klavierlehrer mit mehr als 18 Jahren Unterrichtserfahrung. Das kratzte ganz schön an meinem Ego. Konnte ich wirklich nichts erreichen? Musste ich aufgeben? Meine Gedanken schweiften immer wieder zu dieser Schülerin. Ich fragte mich, wie man nur so schlecht sein kann. Wie ist das möglich? Konnte sie wirklich nichts? Das konnte ich nicht glauben! Etwas musste sie doch können! Ich nahm mir vor, dafür wach zu sein, was sie konnte. Bei den nächsten Klavierstunden fielen mir Dinge auf, die ich noch nie wach bemerkt hatte, obwohl sie immer schon so waren: Das kleine Mädchen schaute mir bei der Begrüßung immer ganz gerade in die Augen! Das ist etwas Besonderes! Viele Menschen weichen dem Blick aus und streifen die Augen höchstens kurz. Sie schaute mich immer klar und lange an, wenn sie mir ihre Hand zur Begrüßung entgegenstreckte. Außerdem beobachtete ich, wie sorgfältig sie das Aufgabenbüchlein und das Liederheft auf das Klavier legte. So, als wären das ganz kostbare Dinge. ›

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Henning Kullak-Ublick

10 PÄDAGOGIK

› Dabei konnte sie die Noten und das Geschriebene ja kaum lesen. Und doch diese ordentliche Hingabe und Sorgfalt bei dieser Handlung! Das rührte mich! Etwa drei oder vier Wochen lang beobachtete ich einfach diese zwei Dinge, die sie so schön und besonders tat. Das war etwas, was sie konnte! Dann geschah ein Wunder: Plötzlich löste sich die Blockade und sie begann zu lernen. In etwa drei Monaten holte sie das nach, was sie in einem Jahr nicht geschafft hatte.

Henning Kullak-Ublick Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten zur Waldorfpädagogik. 147 Seiten, zzgl. 16 S. farb.Bildteil, gebunden mit SU | € 19,90 (D) ISBN 978-3-7725-2725-8 auch als eBook erhältlich www.geistesleben.com

Lernen mit Kopf, Herz und Hand «Jeder Mensch will lernen, wenn man es ihm nicht austreibt.» Henning Kullak-Ublick Die richtige Schule für ihr Kind zu finden, ist für Eltern eine Herausforderung. Bezüglich der Waldorfschulen gibt es zwar viele Erfolgsgeschichten, aber auch Vorurteile. Henning Kullak-Ublick beantwortet prägnant die häufigsten Fragen zur Waldorfpädagogik, gibt Einblicke in den Unterricht und bietet so Eltern Orientierung bei der Suche nach einer Schule, die nicht nur geeignet, sondern gut für ihr Kind ist.

Vertrauen in Fähigkeiten, schafft Fähigkeiten Ich hatte weder pädagogisch noch didaktisch etwas geändert! Ich habe sie nur anders angeschaut. Und damit habe ich ihr die Möglichkeit gegeben, plötzlich etwas zu können. Die Schnecke kam aus dem Schneckenhaus und die Blume konnte sich entfalten! Durch den Blick, der das Gute und Schöne sucht. Diesem Mädchen verdanke ich mehr als allen pädagogischen Büchern, die ich gelesen habe. Es öffnete meinen Blick für etwas Wichtiges: Wir können uns in diejenigen Richtungen entwickeln, in Bezug auf die uns der Blick der anderen Menschen offen lässt oder gar anspornt. Wenn ein Lehrer davon überzeugt ist, dass ein Schüler etwas nicht kann, so kann er es meist auch nicht. Ein solcher Blick richtet Mauern auf, über die der Schüler nicht mehr springen kann. Doch das Umgekehrte wirkt auch: Das Vertrauen im Lehrer gibt dem Schüler Flügel, etwas zu lernen, was er von sich aus vielleicht nie könnte. Ich konnte in den letzten Jahren an den beiden Rudolf-Steiner-Schulen, an denen ich arbeite, beobachten, wie sich die Vorurteile der Lehrer im Lernerfolg der Schüler auswirken. Besonders deutlich ist es zu beobachten in der Mathematik: Ist der Lehrer überzeugt von der fehlenden Intelligenz der Schülerin, so kann sie nichts begreifen. Ein hilfsbereiter Mitschüler kann dann manchmal in einer halben Stunde das erklären und beibringen, was im Unterricht nicht zu begreifen war. Doch zeigt es sich in allen Fächern.

Unser Blick ist mächtig

Der erfahrene Pädagoge berichtet aus der Praxis und gibt eine Einführung in die Waldorfpädagogik für Eltern und angehende Lehrer.

Durch vertrauenslose Blicke bauen wir Mauern. Hinter solchen Mauern sind viele Schüler und auch Lehrer eingesperrt. Diese Mauern gilt es durch geübte Vorurteilslosigkeit und liebevolles Interesse für die Stärken des anderen Menschen zu überwinden. Wir müssen lernen, auf unseren Blick zu achten. Unser Blick ist mächtig. Wir schaffen mit ihm an den anderen Menschen mit. Wir können andere in der Entfaltung hindern, wir können sie auch beflügeln und bestärken. Nichts ist wirkungsvoller in der Pädagogik als der Blick. Wenn der Schüler vom Lehrer gesehen wird, so kann er sich entwickeln. Schüler, die niemand sieht, werden pädagogisch misshandelt. Es wird an ihrem Wesen vorbei unterrichtet. Man tut ihnen damit Gewalt an. Ich müsste so ehrlich werden, dass ich mir eingestehe, dass ich einen Schüler nicht unterrichten kann, den ich nicht sehe. Wenn ich keinen Blick

Freies Geistesleben

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»Durch vertrauenslose Blicke bauen wir Mauern. Hinter solchen Mauern sind viele Schüler und auch Lehrer eingesperrt. Diese Mauern gilt es durch geübte Vorurteilslosigkeit und liebevolles Interesse für die Stärken des anderen Menschen zu überwinden.« für sein Wesen habe, kann ich ihn nur behindern in seiner Entwicklung. Man kann nur unterrichten, wenn man immer wieder neu nach dem Anderen sucht. Vieles, was wir meinen zu sein, sind wir nur durch die Anderen. Vieles, was wir formulieren können, kommt uns nur in den Sinn, weil wir danach gefragt werden. Vieles, was wir an uns entdecken und schulen können, wird uns im Spiegel anderer Augen bewusst. Diese anderen Augen, die uns sehen wollen, helfen uns, wir selbst zu werden. Die Ohren, die uns hören, helfen uns, unsere Worte zu finden. Was wir sind, verdanken wir auch den Anderen. Und es gibt keine Kraft, die uns so stark zu uns selber führen kann, wie die Liebe eines anderen Menschen. Ein Mensch, der in Liebe auf uns schaut, wird Hebamme am Geburtsprozess unseres Werdens. Wir sind, weil Andere uns sehen.

Vieles, was wir meinen zu sein, sind wir nur durch die Anderen.

Es ist schwer den Anderen zu sehen, wenn es dunkel um ihn ist Es fällt nicht so schwer einen Menschen zu sehen, wenn er leuchtet. Schwerer ist es, wenn es ihm nicht gut geht und er mit inneren oder äußeren Widrigkeiten kämpfen muss. Um so wichtiger ist es dann, dass wir ihn nicht aus unserem inneren Blick verlieren, dass wir ihn trotzdem sehen. Vielleicht ist gerade unser Glaube an das, was in ihm schlummert, der einzige Halt, ohne den er tief stürzen müsste. Hierbei geht es um eine Treue im Blick, die bedeutet, dass man immer wieder neu anknüpft an das lichte Bild des Menschen, das man einmal gesehen hat. Die an-

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Wir sind, weil Andere uns sehen.

› Foto: pixelputze / photocase


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› throposophische Psychotherapeutin Annemarie Richards hat dafür ein treffendes Bild gefunden: Wenn wir mit einem Menschen gemeinsam in einer Stadt unterwegs sind und ihn dann verlieren, so werden wir – sofern wir kein Mobiltelefone dabei haben – selbstverständlich an den Ort zurückgehen, wo wir den anderen Menschen zuletzt gesehen haben. Das wird auch er irgendwann tun. So werden wir uns wieder finden. Das gilt auch für zwischenmenschliche Verirrungen und Entfremdungen. Wenn wir hierbei heilend mithelfen wollen, so müssen wir innerlich zurückgehen zu der Situation, in der wir ihn zuletzt wirklich gesehen haben. Dort gilt es anzuknüpfen. Damit rufen wir auch ihn zu seinem eigenen Urbild zurück.

»Wenn wir in anderen Menschen den göttlichen Funken suchen, so helfen wir ihnen, sich bewusst zu machen, was sie ohne uns nicht finden könnten.«

Zum Autor: Johannes Greiner studierte Musik (Hauptfach Klavier) und Eurythmie. Er ist als Klavierlehrer tätig und Lehrer für Singen, Orchester, Chor, Eurythmie, Geschichte, Kunstgeschichte und Musikgeschichte an den Steinerschulen Birseck und FOS Muttenz. Seit 2005 im Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz.

Wer den Minotaurus überwinden will, braucht Hilfe von außen Aus der griechischen Mythologie gibt es ein Bild, das auch als Leitbild über aller Pädagogik stehen kann: Theseus und Ariadne. Theseus stieg in das finstere Labyrinth, um in dessen Zentrum dem wütenden Minotaurus zu begegnen. Die Überwindung des Minotaurus im Inneren des Labyrinths ist auch die Auseinandersetzung mit den eigenen Abgründen. Auf diesem Weg vom Umkreis zum Zentrum führt Theseus die leuchtende Krone der Göttin Amphitrite, die er auf der Reise von Athen nach Kreta erhalten hatte. Mit Götterhilfe steigt der Mensch in sein Labyrinth, das ihn zur Individualisierung und zur Auseinandersetzung mit seinem Schatten, dem Doppelgänger führt. Doch würde Theseus nicht mehr aus dem Labyrinth herausfinden, wenn nicht Ariadne ihm die Verbindung halten würde. Ein Faden verbindet seine Hand im Zentrum und ihre Hand im Umkreis. Sie wartet außen auf ihn. Sie glaubt an seinen Sieg. Sie kann ihm nicht ins Finstere folgen, hält aber die Hand immer bereit zur Hilfe, wenn er zurück nach draußen kommen möchte. Eine solche Ariadne kann man den jungen Menschen auch werden, die geduldig wartet und vertraut, aber in dem Moment, in dem man sie braucht, wirklich da ist und hilft, den Weg zum Licht zurückzufinden. Denn den Weg nach innen findet Theseus mit Götterhilfe. Für den Weg nach außen braucht er Menschenhilfe. Da wirkt die Götterkraft durch den helfenden Menschen. Wenn uns andere Menschen in unserem Streben sehen, können die Kräfte ins Unermessliche wachsen. Wenn wir in anderen Menschen den göttlichen Funken suchen, so helfen wir ihnen, sich bewusst zu machen, was sie ohne uns nicht finden könnten. Im Blick, mit dem wir die anderen Menschen sehen, liegt eine Kraft, die uns erst langsam in der Zukunft bewusst werden kann. Es gibt nichts Aufbauenderes und nichts Zerstörenderes als den Blick eines Menschen. Durch die Art, wie wir schauen, können wir Menschen beflügeln und fesseln. In unserem Blick haben wir eine Gabe, die zum Höchsten und zum Niedrigsten führen kann. ‹›

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PSYCHIATRIE

Missverständnisse Wodurch unterscheiden sich Waldorfschüler als Patienten von anderen Schülern? von Rüdiger Reichle

Bei Waldorfschülern aller Altersstufen kann ich darauf bauen, dass sie den Themen, die wir im Unterricht behandeln, echtes Interesse entgegenbringen, wenn die Blockaden einmal überwunden sind und der Blick in die Zukunft gerichtet ist. Sie sind in der Regel für ihr Alter umfassend gebildet und fragen nach Zusammenhängen. Sie sind oft bemerkenswert fantasievoll und darin geübt, eigene Wahrnehmungen wichtig zu nehmen und wenden nicht vorschnell bekannte Erklärungsmuster an. Sie bereichern fast immer eine Lern- und Arbeitsgruppe. Es gibt aber auch in der Schule entstandene Probleme, die bei Waldorfschülern überraschend häufig vorkommen:

In der Ita-Wegman-Schule, einer Waldorfschule besonderer Art, suchen und finden täglich rund 65 Patienten der kinder- und jugendpsychiatrischen Stationen des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke (KJP) Anschluss an schulisches Lernen, an soziales Miteinander und an die eigenen Entwicklungsimpulse. Etwa fünf Prozent der Schüler kommen aus Waldorfschulen.

Anorexie »Das kann ich jetzt gar nicht verstehen. Sie war doch letzte Woche noch so munter im Unterricht. Hat sie denn einen Unfall gehabt?« – »Nein, Diana ist im Koma bei uns eingeliefert worden. Sie leidet an einer lebensbedrohlichen Essstörung. Sie ist bis auf die Knochen abgemagert.« – »Und ich hielt gerade noch gestern so ein schönes Epochenheft von ihr in Händen. Sind Sie sich da ganz sicher mit Ihrer Diagnose?« Deutlich häufiger als bei anderen Schülern wird von Waldorflehrern Rückzug in Tiefe, das perfekte Epochenheft in besonderen Sinn für Schönheit und Beschränkung auf formales Können und lexikalisches Wissen in Bienenfleiß uminterpretiert. Verkannt wird die umfassende Geste der Verweigerung gegenüber der Erdenwelt, die mitunter von den Patienten als tödlich vergiftend und heimatliche Wärme verweigernd erlebt wird. Ihren Rückzug auf das formale Lernen sehen die Patienten als konsequente und nötige Distanzierung, die sich in der Verweigerung der Nahrungsaufnahme fortsetzt. Die sich verschärfende Anorexie wird von Eltern und Lehrern nicht wahrgenommen, mitunter, wie diese rückblickend sagen, als irritierend ausgeblendet.

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› Depression »Wir haben Emmanuel vor kurzem von der Schule abgemeldet, nachdem die Lehrer der Oberstufe gesagt haben, dass sie ihn nach der achten Klasse nicht übernehmen wollen. Der Klassenlehrer sagte, er sei bisher in der Klasse immer lieb gewesen und weiter nicht aufgefallen. Sehr hilfsbereit sei er. Gut, zuletzt habe er etwas traurig und still gewirkt. Im Klassenspiel hat er ja dann doch keine Rolle übernommen. Ist da etwas passiert? Meinen Sie, dass Sie ihm helfen können?« Regelmäßig werden mir Waldorfschüler gegen Ende der Klassenlehrerzeit vorgestellt, bei denen sich scheinbar plötzlich die Frage stellt, ob sie in der Schule noch richtig sind. Dabei zeigt sich immer wieder das folgende Bild: Frühzeitig haben Fachlehrer darauf hingewiesen, dass sie Lernschwierigkeiten bei dem Kind wahrnehmen, dass es sich schwer in die Klasse eingliedern kann, dass es sich dem unterrichtlichen Geschehen nicht öffnet. Regelmäßig hat der Klassenlehrer in solchen Fällen versprochen, das Kind werde sich schon noch entwickeln, man müsse ihm nur Zeit lassen. Am Ende der Klassenlehrerzeit sehen wir ein Kind, das nichts richtig kann, längst nicht mehr innerlich an den Themen beteiligt ist, welche die Klasse beschäftigen, keine spezifische und rechtzeitige Förderung erhalten hat und ohne die Erwartung dasteht, irgendetwas Sinnvolles bewirken zu können. In der Kinderund Jugendpsychiatrie setzen wir uns mit seiner Depression auseinander. Foto: inkje / photocase

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PSYCHIATRIE

15 Henning Köhler

War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört?

Autistisches Spektrum »Ich habe dann gar nicht verstanden, was er meinte, und ich habe dann den Tisch umgestoßen. Er ist ihm auf die Zehen gefallen, mit der Kante, und er hat sehr laut geschrien. Da war ich erst einmal erleichtert, weil er mir jetzt nichts mehr tun konnte. Herr Müller hat mich dann erst einmal hinaus geschickt. Er hat gesagt, ich dürfe wieder hereinkommen, wenn ich mich beruhigt habe. Ich war aber gar nicht unruhig. Nach dem Hauptunterricht behielt er mich im Klassenzimmer und sagte: ›Martin, schon wieder so ein Vorfall! Du hast wirklich keinen guten Willen.‹ Das hat er auch im Zeugnis geschrieben.« Erscheinungsformen des autistischen Spektrums (darin vor allem der AspergerAutismus) werden heute noch selten von Kollegien richtig erkannt und von Dissozialität und Disziplinlosigkeit unterschieden. Die immer wiederkehrende Besonderheit bei Waldorfschülern: Ihnen wird wegen ihrer Verhaltensproblematik Charakterschwäche und moralische Beschädigung unterstellt. Kinder und Jugendliche mit Asperger-Autismus fühlen sich nicht erkannt und in ihrer Not alleingelassen. Statt einer Unterstützung, die nur aus einem Verständnis ihrer Eigenart entspringen kann, sehen sie sich negativ etikettiert; sie leiden unter der Verkennung ihres Charakters. Sie reagieren aus dieser Überforderung heraus mit Fremd- und Autoaggression, verfallen später häufig in Depression. Erst die letztgenannte Symptomatik führt dazu, dass sie psychiatrischer Hilfe bedürfen.

Schulabsentismus »Mathilde hat sich jetzt auch aus dem Orchester abgemeldet. Anfangs war sie so freudig dabei.« – »Bei mir hat sie den Löffel nicht fertig geschnitzt.« – »In Englisch hat sie die letzten Tests nicht mehr mitgeschrieben.« – »Ja, eigenartig, sie ist auch schon längere Zeit nicht mehr zu hören gewesen mit ihren schönen Rezitationen.« – »Nun ja, letzten Endes ist das ja schon ein Begabungsproblem; sie kann halt nicht mithalten; im Rechnen ist es schon lange zu sehen.« – »Es ist mehr das Temperament, so ein melancholisches Wesen hat es eben schwer.« – »Ist das nicht viel mehr der Medienkonsum? Sie wirkt auf mich so kraftlos.« Bei Mathilde hat eine genaue anamnestische Exploration ihrer Schulgeschichte unter Einbezug von Eltern und zumeist auch Lehrern das Folgende ergeben: Sie hat einen schönen Schulanfang erlebt. Freudig ist sie in das Lernen eingestiegen und hat innerlich an allem Anteil genommen, was ihr das Schulleben zu bieten hatte. Während der zweiten Klasse hat sie im Rechenunterricht den Schritt in die abstrakte Auffassung des Zahlenwesens nicht mitvollzogen und blieb auf Anschauung und Handlungsbezug angewiesen. Eine spezifische Unterstützung und Förderung blieb ›

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Der ADS-Mythos und die neue Kindergeneration

Verlag Freies Geistesleben

Henning Köhler War Michel aus Lönnerberga aufmerksamkeitsgestört? Der ADS-Mythos und die neue Kindergeneration. 296 Seiten, kartoniert € 19,90 (D) | ISBN 978-3-7725-1937-6 www.geistesleben.com

Ist ADS nur ein Mythos? Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom – so lautet die häufigste Diagnose in kindertherapeutischen Sprechzimmern. Doch Vorsicht: Hinter dieser Feststellung verbirgt sich nur allzu oft eine auf physikalischchemische Prozesse reduzierte Sichtweise, die an der eigentlichen Realität der Kinder vorbeigeht. Henning Köhler betrachtet kritisch die gegenwärtige Medizin und zeigt die Schwächen und Widersprüche dieses eindimensionalen Menschenbildes auf, das das Wesen einer neuen Kindergeneration vollständig ignoriert. Eltern gibt Köhler Hilfestellung für das Verständnis und die Therapie der sogenannten «ADS-Kinder» und macht ihnen Mut, ihre Kinder liebevoll wahrzunehmen und zu einer wesensgemäßen Therapie beizutragen.

Freies Geistesleben


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16 PSYCHIATRIE

› aus. Mathilde verlor den Bezug zur Entwicklung eines beweglichen denkerischen Rechnens in der Klasse und fühlte sich isoliert. Sie sprach sich die Schuld dafür zu und entwickelte eine vermeidende Blockade gegenüber dem Rechnen. Zunehmend generalisierte sie diese Blockade. Immer häufiger blieb sie der Schule fern. Lehrer und Eltern wandten Erklärungsmuster an, die sich über einzelne Waldorfschulen hinweg in erstaunlicher Weise ähneln.

Was zeigt sich auf Seite der Schüler? Die Situation der Waldorfschüler wird durch Missverständnisse erschwert.

All diesen Schülern ist gemeinsam, dass sie von Seiten ihrer Lehrer schon länger keine Hilfe mehr erwarten. Alle prägen eine umfassende Misserfolgserwartung aus. Sie verlieren vor allem die Erwartung, maßgebliche Themen für ihren Lebensweg, für ihre Schicksalsgestaltung zu finden. Oft geht damit die Tendenz zur Somatisierung einher, zur Entwicklung leiblicher Krankheiten und Schwächen. Ausstieg und Verweigerung sind konsequente Antworten auf solche Selbsterfahrung, Depressionen und Suchtverhalten die Folgen. Diesen Lasten sind Waldorfschüler genauso wie Schüler anderer Schularten ausgesetzt, wenn eine Fehlentwicklung einmal eingesetzt hat und fortgeschritten ist. Die Situation der Waldorfschüler wird allerdings durch Missverständnisse erschwert, die eng mit einer eher dogmatischen Handhabung und rigiden Interpretation von waldorfpädagogischen Grundsätzen in Verbindung zu bringen sind.

Was zeigt sich auf Seiten der Lehrer und der Schule? Aus der Befragung von Schülern, Lehrern und Eltern und der Analyse von Zeugnissen ergibt sich, dass Lehrer in der Waldorfschule oft nicht sagen können, was ihre Schüler wirklich selber können und was nicht. Die – zu Recht – für wichtig gehal-

»Alle Schüler, Erstklässler, Abiturienten, junge wie ältere, sind erleichtert, wenn sie vorsichtig, aber direkt auf ihre Not angesprochen werden, und wenn man sie fragt […] Keine Belehrung. Kein Pflichtprogramm. Kein Wort zu viel. Viele offene Fragen, wenige Antworten. Immerwährendes Interesse. Keine Routine.«

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PSYCHIATRIE

tene Grundstimmung des Kommen-Lassens, des Abwartens, der Entschleunigung scheint mitunter dazu zu führen, dass Kinder in ihrem individuellen Handeln nicht mehr differenziert wahrgenommen werden. Kommt noch die Haltung hinzu: »Das wird sich alles noch geben«, erhält ein Kind möglicherweise nicht rechtzeitig – oder allzu häufig überhaupt nicht – professionelle Unterstützung und Förderung. Auch zeigt sich bei meinen Schüler-Patienten immer wieder, dass sie zu wenig oder gar keine Erfahrungen mit einem differenzierten Üben haben. Oft zeigen sie sich regelrecht überrascht und dann erleichtert, wenn sie die Erfahrung machen, dass sie sich Fertigkeiten und Kenntnisse durch Üben erwerben können. Mitunter äußern sie, sie hätten sich für dumm gehalten, weil sich der Lernerfolg bei ihnen nicht durch das Dabeisein und Miterleben eingestellt hätte. Auf solche Aussagen angesprochene Kollegen sind teils betroffen, teils rechtfertigen sie sich damit, eine stärkere Betonung des Übens in ihrer Klasse untergrabe den freiheitlichen Charakter des Lernens. Diese Haltung kann ich nicht teilen.

Große Gesten eines vermeintlichen Schutzes

Manche Klassenlehrer, mit denen ich im Gespräch war und die sich noch nicht auf eine zeitgemäßere Rolle in ihrer Zusammenarbeit mit dem Klassenkollegium eingestellt haben, verhindern geradezu eine reflektierende Betrachtung und Interpretation der Entwicklung von Kindern. Sie empfinden es als Eingeständnis von Ungenügen, wenn sie Hilfe für den Umgang mit einem Kind brauchen. Ich sehe mitunter große Gesten eines vermeintlichen Schutzes, den sie Kindern zukommen lassen wollen, die sich darunter dann unsichtbar machen.

Was folgt aus alledem? Ich habe nur selten Schüler in der Klinikschule erlebt, die nicht irgendwann erreicht werden konnten. Voraussetzung dafür ist oft der Verzicht auf alles, was irgendwie an die missglückten Lern- und Lebensversuche in der Schule erinnert. Alle Schüler, Erstklässler, Abiturienten, junge wie ältere, sind erleichtert, wenn sie vorsichtig, aber direkt auf ihre Not angesprochen werden, und wenn man sie fragt. Der Lehrer fragt: »Was erwartest Du von mir? Wie kann ich Dich unterstützen? Wie machst Du das?« Keine Belehrung. Kein Pflichtprogramm. Kein Wort zu viel. Viele offene Fragen, wenige Antworten. Immerwährendes Interesse. Keine Routine. Der Unterricht ist ein Angebot, das der Schüler wählen kann. Die Eintrittskarte? Die Befolgung der Regeln. Alle kommen. Waldorfpädagogik in der KJP ist nichts anderes als Waldorfpädagogik. Um ihre Weiterentwicklung bemühen wir uns seit Jahren. Die Schüler in der KJP konfrontieren uns mit dem noch nicht Erreichten. Die Arbeit an einer inklusiven Pädagogik ist der Weg.‹›

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Was erwartest Du von mir?

Zum Autor: Rüdiger Reichle ist Leiter der Klinikschule am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Waldorflehrer, Heilpädagoge und Dozent.

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18 KUNST

Der erste Mondknoten und die Malerei Kunstunterricht kann dem Ich auf die Sprünge helfen von Michael Bennett

Am Ende der Oberstufenzeit bietet sich eine besondere Möglichkeit der Förderung durch die Kunst. Der Übergang vom 12. zum 13. Schuljahr liegt in der Nähe des ersten Mondknotens (18 2/3 Jahre) und fällt mit der staatlichen Abiturprüfung zusammen. Man kann prüfungsrelevante Aufgaben so gestalten, dass nicht nur das kognitive Lernen gefördert, sondern auch tieferliegende Entwicklungsbedürfnisse der Jugendlichen berücksichtigt werden.

Die rhythmische Wiederkehr des Mondknotens im Lebenslauf ist oft mit »Geburtssituationen« verbunden. Alle 18 Jahre, 7 Monate und 9-10 Tage durchkreuzt der Mond die Sonnenbahn (Ekliptik) an fast derselben Stelle wie zum Geburtszeitpunkt. Dieser Moment bedeutet eine Wiederkehr der Sternenverhältnisse, die zur Geburtsstunde bestanden. Rudolf Steiner bezeichnet die Nächte dieser Zeit als die wichtigsten im Leben. Wie durch ein geöffnetes Fenster wird die Sternenwirksamkeit des Makrokosmos als ein großer Atmungsvorgang spürbar und der Mensch kann gewahr werden, dass er vom Makrokosmos ausgeatmet wird, um sich auf der Erde zu inkarnieren. 18 Atemzüge hat der Makrokosmos vollendet, 18 mal hat die Weltenseele auf ihrem jährlichen Weg durch Sommer und Winter ein- und ausgeatmet. Dieser Atmungsrhythmus entspricht laut Steiner einer makrokosmischen Minute. Der Mond als erdnaher, nächtlicher Spiegel des Sternenhimmels kommt in seinen veränderlichen Rhythmen dem menschlichen Freiheitsbedürfnis sehr nahe. Seine abwechselnde Ferne und Nähe, seine empfindliche Reaktion auf andere Wandelsterne und sein in Winkel und Breite immer neues Sichelbild machen den Mond zu einem vertrauten Begleiter der Seele bei ihrem Weg durch die Höhen und Tiefen der Freude und der Trauer. Für kurze Zeit leuchtet bei der Wiederkehr des Mondknotens das Geburtssternenlicht in unser Leben herein und erinnert uns an die Schicksalsimpulse, die wir mitgebracht haben. Am Lesezeichen der Mondbewegung öffnet sich das Lebensbuch, in dessen von uns selbst geschriebener Erzählung sich Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsahnung in wachsender Selbsterkenntnis begegnen. Mit zunehmender Intensität wird dieser Augenblick im Laufe der Biographie zu einer ernsten Stunde innerer Rechenschaft. Denn hier stehen sich Schicksalsaufgaben – Begabungen und Hindernisse – und bewusste Selbstgestaltung gegenüber. Mondhaftes (Vergangenes)

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und Sonnenhaftes (Zukünftiges) schauen sich gegenseitig an. Mit dem 21. Jahr wird dann das Sonnenhafte im Menschen geboren, sein Ich.

Der Mondknoten bietet eine Chance für den Kunstunterricht Die Epoche der expressionistischen Malerei bietet viele lohnende Ansätze. Auflösung und Entstehung von Neuem durchziehen die Lebenswirklichkeit der europäischen Menschheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Alte Formen und Maßstäbe weichen rapide zurück. Kaum ein Lebensbereich bleibt davon unberührt. Neue Impulse erschüttern das Fundament von Gesellschaft, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft und lösen Tiefenkräfte aus ihren Bindungen. Oft gehen Neuschöpfung und Zerstörung fast Hand in Hand. Im deutschen Großstadtexpressionismus schafft sich dieses Geschehen einen bildhaften Ausdruck mit vielen Facetten. Das Mitempfinden der Geburtswehen des 20. Jahrhunderts bildet eine fruchtbare Grundlage für Bildinterpretationen, bei der die Kunstwerke mit der Biographie des Künstlers und dessen Zeit zusammen geschaut werden können. Von empfindsamer Wahrnehmung über die stilistische Analyse und die Würdigung des Zeitgeschehens können die Schüler im Erkennen des Darstellungsinteresses zu einem kreativen Aufsatz auf hohem Niveau gelangen. Besonders förderlich für das Erfassen der malerischen Stilmittel ist die aktive Pflege der Eigenschaftsworte. Ein Hell-Dunkel-Kontrast zum Beispiel wirkt qualitativ ganz anders bei Ernst L. Kirchner als bei

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Das Mitempfinden der Geburtswehen des 20. Jahrhunderts bildet eine fruchtbare Grundlage

› Foto: DMK1 / photocase


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20 KUNST Die Bilder zeigen seelische Selbstporträts von Schülern der 13. Klasse …

› Lyonel Feininger. Auf dem Hintergrund des durch die Monddynamik ausgelösten Empfindungsreichtums ist die versachlichende Pflege der Eigenschaftswörter sehr wohltuend. Noch reicher ist der erzieherische Gewinn beim Malen. Die Entdeckungen der expressionistischen Maler übend mitzuerleben, aus ihren kreativen Quellen zu schöpfen und Innerlich-Erlebtes malerisch umzusetzen, ist an dieser Stelle viel mehr als nur Lernen. Dank der biographischen Gunst der Stunde kann sich hier Tugend entwickeln. Ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der expressionistischen Malerei liegt im neuen Verhältnis zwischen Farbe und Räumlichkeit. Das größte Hindernis für die Entfaltung der malerischen Phantasie wurde im perspektivischen Raum gesehen. Damit die Schwere überwunden, eine schwerelose Malerei erreicht werden konnte, musste die zweite Dimension, die reine Fläche erobert werden. Hier sollte auch das innere Fluten der Bilder eine neue Heimat finden. Folglich wandte sich die neue Kunst auf ihrer Suche nach Ursprungsquellen vom passiven Abbilden der Dreidimensionalität ab. Die Grundelemente der Malerei – Punkt, Linie, Farbe und Fläche – sollten davon befreit werden, den herkömmlichen Sehraum abzubilden. Durch die Verselbstständigung der bildnerischen Elemente wurden nun Punkte, Linien, Farben und Flächen selbst zu Themen, zu bildwürdigen schöpferischen Kräften. In diesem Zusammenhang ist auch die dramatische Zertrümmerung des herkömmlichen Raum-Zeitgefüges durch die Kubisten und Futuristen zu verstehen. Zur Form gewordene Bildekräfte der Dreidimensionalität wurden entfesselt und wirkten rauschhaft, verwirrend, chaotisierend, zum Teil auch zerstörerisch.

Ein Fenster zur Welt in mir Ansätze für das übende Malen bietet besonders das Werk Kandinskys und sein Ringen um den »inneren Klang« der Welt. Die Bilder »Komposition IV« (1911) und »Improvisation 35« (1911) sind der Versuch, ein Fenster zur Weltinnerlichkeit zu öffnen, wo Farbräume sehend und hörend erlebt werden. Fast zeitgleich enthüllte Rudolf Steiner die Welt des imaginativen Schauens, in der Farben Ausdruck von Wesenheiten sind und unterschiedliche Sinnesqualitäten verschmelzen. Die beiden Hauptschriften Kandinskys »Über das Geistige in der Kunst« (1911) und

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KUNST

»Punkt und Linie zur Fläche« (1926) bieten eine Fülle von Anregungen für den praktischen Malunterricht. Ergänzt durch Steiners Charakterisierung der Glanz- und Bildfarben, Goethes Farbenlehre und die sieben Kontraste von Johannes Itten kann der praktische Lehrgang im expressionistischen Malen die Schüler befähigen, die Flächendynamik von Komposition und Farbklang (Kolorit) so zu handhaben, dass sie ihre eigene Bildvorstellung umsetzen können. Eine mögliche Aufgabe kann zum Beispiel lauten: Erstellen Sie ein Selbstporträt, in dem Sie vergangene, gegenwärtige oder zukünftige oder alle drei Ebenen Ihrer Persönlichkeit darstellen. Verwenden Sie vorrangig die von Kandinsky entwickelte Methode der Verselbstständigung der bildnerischen Elemente. Gerade der Zeitpunkt zwischen dem ersten Mondknoten und der Ich-Geburt ist ein fruchtbarer Boden für das malerische Bemühen um ein stimmiges Verhältnis zwischen Komposition und Kolorit. Während graphische Momente in der Komposition zur Gerinnung und Verfestigung neigen, sind farbige Flächen in ihrem Dahinfluten musikalische Gesten der Auflösung. In diesem Sinne übend erwerben die Schüler ein Gespür dafür, dass alle Erscheinungen aus Gewordenem und Werdendem, aus Mondhaftem und Sonnenhaftem geflochten sind, auch sie selbst. Natürlich sind solche Seelenereignisse intim. Nie dürfen sie zum Unterrichtsgegenstand werden. Und doch ist die Hoffnung berechtigt, dass die fördernde Kraft der Kunst hier Pate stehen kann für eine wichtige Stufe der inneren Reife. Wenn das eintritt, dann wird der Jugendliche vielleicht am Ende der Schulzeit die Empfindung haben: »Ich sage Ja zu mir selbst und zu den Aufgaben, die ich in mir ahne. Und ich möchte in aller Klarheit meine eigenen Entscheidungen und Motive durch mich selbst verantworten.« ‹› Zum Autor: Michael Bennett ist seit 1986 Kunstpädagoge an der Freien Waldorfschule Flensburg. Seit 2014 ist er Schulberater für den Oberstufenaufbau an der Freien Waldorfschule Berlin, Prenzlauer Berg. Literatur: J. Schultz: Rhythmen der Sterne, Dornach 1977 F. Roder: Der Mondknoten im Lebenslauf, Stuttgart 2007 R. Steiner: Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, GA 201, Dornach 1920 R. Steiner: Das Lukas-Evangelium, GA 114, Dornach 1909

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… im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Wassily Kandinsky.

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Singen – Spielen – Erkennen Drei Wege des Musikalischen in der Schulzeit von Benedikt Burghardt

Das Musikalische stellt sich im Unterricht und Leben des gesamten Schulorganismus als eine einzigartige, übergreifende künstlerrische und soziale Kraft dar. Die tief in die menschliche Seele wirkenden und drüber hinaus stark Menschen verbindenden Eigenschaften machen ihren besondern pädagogischen Wert aus.

»Die Erziehung durch Musik ist darum die vorzüglichste, weil der Rhythmus und die Harmonie am meisten in das Innerste der Seele dringen und sie am stärksten erfassen.« Mit diesem Gedanken hat der Philosoph Platon in seinen Dialogen schon vor über zweitausend Jahren den Zusammenhang zwischen dem erzieherischen Wert der Musik und der inneren Wesenheit des Menschen erläutert. Dieses »vorzügliche« Wechselspiel zwischen den tönenden Kräften der Musik und dem seelischen Erleben ist seitdem nicht nur konstant, sondern hat sich durch die abendländische Musikentwicklung eher noch intensiviert. Auch im Schulzusammenhang stellt sich das Musikalische als eine einzigartige, übergreifende künstlerische und soziale Kraft dar. Die tief in die menschliche Seele hineinwirkenden und zudem stark Menschen verbindenden Eigenschaften machen ihren besonders hohen pädagogischen Wert aus. Im Hinblick auf die drei seelischen Grundkräfte Fühlen, Denken und Wollen lassen sich in den Entwicklungsphasen der Schulzeit drei grundlegende Wege ebnen, die das Kind und den Jugendlichen in seinen sich verwandelnden Erlebnisund Fähigkeitsbereichen begleiten und fördern: das Singen, als vornehmlich gefühlsorientierte Tätigkeit, das instrumentale Spielen, durch das insbesondere der Wille angesprochen und kultiviert wird, sowie das musikalische Erkennen, das vom Denken her die musikalischen Zusammenhänge erschließt. Alle drei Wege durchlaufen altersentsprechende Metamorphosen, die im Folgenden skizziert werden.

Das Singen Durch Singen das Hören kultivieren

In den ersten Schuljahren steht neben elementaren instrumentalen Erfahrungen das gemeinsame einstimmige Singen im Vordergrund. Hier gilt es zunächst, das lauschende Hören zu üben, und damit Sinne, Aufmerksamkeit und Empathie zu schulen. Eine weitergehende Stufe des Singens wird in der 3. Klasse erreicht, wo die Kräfte zum Erfassen und Gestalten der Mehrstimmigkeit freiwerden. Jetzt wird nicht mehr allein aus der natürlich-musikalischen Veranlagung gemeinschaftlich ein-

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stimmig gesungen, sondern es werden die individuellen Kräfte durch ein aufmerksames musikalisches Erleben mehrerer Töne zur gleichen Zeit herausgefordert. Ein neuer Klangreichtum wird entdeckt und kann als geradezu beglückend erlebt werden. In ihm spiegelt sich die nun auch neu wahrgenommene Vielfalt der Klassengemeinschaft. Damit wird die Basis für einen Mittelstufenchor gelegt, in dem durch die größere Klangfülle das Singen noch einmal als Steigerung des Klassensingens erlebt werden kann. In der Oberstufe – nach Durchschreiten der Taltiefe des Stimmbruchs – eröffnet sich dann die Fülle der gemischten, männlichen und weiblichen Stimmen in der Mehrstimmigkeit. Hier können wieder neue Klang- und Farbgebungen, Dialoge und Stimm-Verknüpfungen in der Musik erlebt werden, die zum Klang-Bild eines differenzierten und kultivierten Miteinanders einer größeren Gemeinschaft werden.

Das Spielen Das Instrumentalspiel folgt ebenso einem stufenweisen Entwicklungsweg, bei dem in den ersten Schuljahren zunächst einfache instrumentale Abläufe im Klassenverband geübt werden. Die Pflege und Achtung der Instrumente begleitet die noch an der Bilderwelt orientierten musikalischen Ereignisse. Wir erleben in der Klasse einen einheitlichen Klang. Dabei gehört zu den elementaren Anforderungen,

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Durch Spielen den Willen schulen

› Foto: Charlotte Fischer


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Geduld und Hingabe

Foto: Charlotte Fischer

die Feinmotorik zu wecken, auf gesunde Atemvorgänge beim Flöten zu achten, einfachen Holz-, Metall- oder Fellinstrumenten einen erzählenden Klang zu entlocken und beim Spielen aufmerksam zuzuhören. In der 3. Klasse wählt jedes Kind nun sein eigenes Instrument. Jetzt ist große Umsicht ist gefragt in der individuellen Begleitung jedes Kindes vom Klassen-, Musikund Instrumentallehrer, zusammen mit den Eltern. Ist das Instrument gefunden, beginnt für das Kind ein langjähriger Übungsweg an der Musik – und damit an sich selbst! Mit viel Geduld, Willenskraft und Hingabe können erste Instrumentalstücke erlernt und in kleinen Darbietungen präsentiert werden. Die erworbenen instrumentalen Fähigkeiten ermöglichen nun den Weg über das Klassenorchester ins Mittelstufenorchester, in dem, selbst bei einfacher Literatur, bereits eine enorme Vielfalt im Zusammenklang der verschiedenen Instrumente erlebt werden kann. Hier, wie auch in dem später sich anschließenden Oberstufenorchester, dessen Programme mit größeren Werken neue Ziele setzen, stellt das Abwägen von eigenem Einsatz und Hingabe an die Musik die immer wieder neue Herausforderung dar. Am gelungenen Orchesterklang oder -werk lässt sich zuletzt nicht nur der ästhetische Genuss oder die künstlerische und soziale Leistung erleben, sondern auch das »Klang-Bild des ganzen Menschen«.

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MUSIK

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Das Erkennen Im Bereich des Erkennens von Musik begegnen wir einer ganz eigenen und genialen Form ›musikalischer Intelligenz‹, die in der existenziellen Verknüpfung des Musikalischen mit dem menschlichen Fühlen begründet liegt. Diese Intelligenzkräfte erwachen allmählich im Verlauf der 3. Klasse, wo sich zum bisherigen reinen Hörerleben jetzt das visuelle Erfassen von Musik gesellt. Hier können anhand der schriftlichen Notation zuvor nur traumhaft erlebte Abläufe erstmalig erkannt und benannt werden. Elementare musikalische Ereignisse werden in Ohren- und Augen-Schein genommen. Nun kommen zu den einzelnen Tönen die übrigen Zeichen der Musikschrift, wie Notenlinien und -schlüssel, hinzu. Im folgenden Schuljahr stehen die Tonlängen und dann die Tonabstände – die Intervalle mit ihren unterschiedlichen Erzählgesten – im Mittelpunkt. In der Mittelstufe eröffnet sich eine neue Ebene der Musikerkenntnis mit dem Versuch, sich dem musikalischen Verlauf und seiner Erzählwelt in Worten oder Farben zu nähern. Hier schließt sich im Laufe der Oberstufe eine weitere Ebene der Musikerkenntnis an. Diese orientiert sich enger am musikalischen Geschehen mit der Herausforderung, das Erlebte differenziert und nachvollziehbar in Worte oder Bilder zu fassen. Weder Gefühlsmäßig-Klischeehaftes, noch TheoretischKluges ist dabei gefragt, sondern bewusstes In-sich-hinein-Hören, Reflektieren und präzises Erfassen des am Musikwerk Erlebten. Ergänzende Motive eröffnen abschließend die Betrachtung der Musikgeschichte sowie Fragen nach dem Wesen und der Wirklichkeit der Musik. Zwischen den gängigen Missverständnissen, blasse Begriffs-Musik-Theorie für Musik-Erkenntnis zu halten oder das musikalische Urteil allein dem persönlichen Geschmack unterzuordnen, lässt sich so ein sinnstiftender Weg beschreiten, der dem Jugendlichen entwicklungsfördernde Qualitäten vermitteln kann. Auf diesen Wegen kann durch Singen, Spielen und Erkennen die »Erziehung durch Musik die vorzüglichste sein«, wenn sie von einer pädagogischen Intention getragen ist, die sich am heranwachsenden Menschen orientiert. ‹›

»Es gibt Momente in der Musik, Bruchteile von Sekunden einer Aufführung, da meine ich sehen zu können, was hinter den Sternen liegt.« Günter Wand (1912 – 2002 / Dirigent)

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Durch Musikerkennen die Intelligenz entwickeln

Zum Autor: Benedikt Burghardt ist Komponist, Dirigent und Dozent am Seminar für Waldorfpädagogik Hamburg und war langjähriger Musiklehrer an Waldorfschulen. Publikationen: Die Obertonreihe – eine Betrachtung harmonikaler Phänomene (2013) und Mitherausgeber der Vorträge zur Musik von Peter-Michael Riehm (2014) / PMRI-Schriften bei der Pädagogischen Forschungsstelle, Stuttgart. Literatur: Platon: Der Staat / Politeia S. Ronner: Praxisbuch Musikunterricht – Ein Wegweiser zur Musikpädagogik an Waldorfschulen, Stuttgart 2005. R. Brass: Hörwege entdecken – Musikunterricht als Audiopädie, Edition Zwischentöne, Weilheim/Teck 2010.


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Sprich Dich gesund von Dorothea Krüger

Das Sprechen wirkt auf die Atmung und über diese auf den Herzrhythmus des Menschen. Eine menschenkundlich fundierte Sprachpflege wirkt gesundend. Grundlegend ist die Arbeit mit Lauten und Rhythmen.

Die meisten Kinder lernen die Laute von außen nach innen: die Lippenlaute (Mama, Papa) können vor den Gaumenlauten gebildet werden. Manche sagen noch lange »Tanne« statt »Kanne«, bevor sie ganz hinten im Gaumen angekommen sind. Aber es gibt auch Kinder, denen die Gaumenaktivität leichter fällt, als die der Zungenspitze, zu denen also die »Kanke« zu Besuch kommt. Am schwierigsten sind die Zischlaute, die mit der Zunge am Zahndamm gebildet werden. Die Zitrone kann daher auch zur Kastrone werden. Ein wirklich scharfes »s« oder »z« setzt die Abgrenzung durch den Zaun der Zähne voraus und ist daher erst nach dem Zahnwechsel zu erwarten.

Jeder Laut entspricht einer seelischen Haltung Öffnen und Schließen der Lippen

Jeder einzelne Laut hat eine ihm eigene Gebärde. Was geschieht zum Beispiel, wenn wir ein »b« sprechen? Es schließen und öffnen sich die Lippen, aber nicht nur die Lippen. Wenn wir ein Kind beobachten, das seinen Mund nie schließt, wenn wir bedenken, in welchen Momenten uns »der Mund offen stehen bleibt« oder wenn wir einen Gegenstand mit offenem und geschlossenem Mund betrachten, wird uns deutlich, dass sich im Öffnen und Schließen der Lippen auch die seelische Haltung zur Umgebung ausdrückt. Beim »m« sind die Lippen geschlossen, aber die Atemluft strömt durch die Nase. Dem Duft einer leckeren Speise antwortet die Seele gerne mit dieser Lautgebärde, während wohl noch niemand »b« zum duftenden Marmorkuchen gesagt hat. »Ssssst« wird nirgends als Aufforderung zum Lärmen eingesetzt werden. So stellen wir uns mit jeder Lautbildung anders zu unserer Umwelt, wir verändern unsere »Weltanschauung«. Übung und Pflege einer guten Artikulation können die Seele zur fein differenzierten Begegnung mit der Umwelt anregen.

Kräftigung am gesunden Widerstand Harmonische Lautbildung

Es ist immer ein kleines Fest, wenn ein Kind einen neuen Laut erlernt hat. Es hat sich dann ein Stück Welt erobert. Wenn ein Kind, das gewöhnlich nuschelt, plötzlich klar und deutlich spricht, kann man den Eindruck haben, dass es wie neu geboren ist: Der Blick erscheint wacher, die Haltung strafft sich, es wirkt selbstbewusster und konzentrierter. Wie kommt das?

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SPRACHE

Bei jeder Konsonantenbildung verengen oder verschließen die Sprachwerkzeuge den Atemweg. Hierzu muss eine Vielzahl von Muskeln aktiviert werden. Eine harmonische Lautbildung erfasst also den ganzen Menschen und bewirkt einen gesunden Atemwiderstand, an dem sich die Stimmkraft in wohltönender Weise entfaltet. Die Rückstauung der Atemluft versetzt den ganzen Leib in Schwingung. Diese Sprachvibrationen können wir äußerlich nachempfinden, wenn wir unsere Hände auf den Rücken, auf unseren Kopf oder auf unser Gesicht legen und unterschiedlich kräftig artikulieren. Wir spüren dann die entsprechende Intensität der Vibration. Dass insbesondere die Pflege einer durchatmeten Lautbildung der Nasale »m« und »n« vorbeugend und therapeutisch gegen Nasennebenhöhlenerkrankungen wirken kann, wird dann nicht überraschen.

Harmonisierung durch Rhythmus Mit jeder Silbe wird der Atemstrom mindestens einmal durch einen Konsonanten unterbrochen oder zumindest gehemmt. In dieser wilden Zergliederung des Atems liegt zunächst nichts Gesundendes. Sprechen heißt: Chaotisierung des Atem-PulsRhythmus. Die Ausatmung wird verlängert und zergliedert, die Einatmung verkürzt. Die Poesie zergliedert den Atem jedoch in rhythmischer Weise. Wir können unmittelbar erleben, wie wir in eine andere Sphäre eintauchen, wenn wir vom Prosasprechen ins rhythmische Sprechen übergehen. In jedem Hauptunterricht wird mit den Rhythmen der Sprache gearbeitet. Ein markantes Beispiel ist das Hexametersprechen in der 5. Klasse. Im Hexameter, dem Rhythmus, in dem die großen Epen der Griechen verfasst sind, vollzieht sich die Rhythmisierung des Atemsprechstromes im Verhältnis 1:4.

Sage mir, Muse, die Taten, _ . . _ .. _ . (. _.)

des vielgewanderten Mannes . _.(.) _.. _.

1 2 3 4 Welcher so weit geirrt

1 2 3 4 nach der heiligen Troja Zerstörung

Eine Zeile ist in zwei viergliedrige Atembögen unterteilt, wobei das vierte Glied jeweils in der Pause liegt, also nicht gesprochen wird. So wird beim Hexametersprechen zwar die Ausatmung extrem verlängert und die Einatmung verkürzt, doch in einer rhythmischen Form, die einem harmonischen Atem-Puls-Verhältnis entspricht. Hierin liegt die Heilkraft des Hexameters begründet: Unvoreingenommene Versuchspersonen beschreiben ihr Befinden nach der Hexameterrezitation mit Äuße-

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Beispiel Hexameter

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28 XXXXXXXXXX ???

»Wir können nicht anders, als gehörte Sprache mittun. Wäre das im Mitdenken und Mitfühlen genauso, würden wir uns nie missverstehen.«

Entwicklungsfenster nutzen

Foto: Charlotte Fischer

rungen wie »klarer im Kopf, tiefere Atmung«, »im guten Sinne schwer«, »frischer, wie nach dem Schlafen«. Dies bestätigen Messergebnisse: Im Anschluss an das Hexametersprechen wird eine Synchronisation von Puls- und Atem erreicht, die sonst nur im Schlaf zu finden ist. Durch Steiners Anregung wird der Hexameter in der 5. Klasse mit den Schülern geübt. Untersuchungen des Schularztes Matthiolius zeigen, dass in diesem Alter Puls und Atmung synchronisiert sind wie nie zuvor und danach, mit Beginn der Pubertät, zunächst nicht mehr. Die Lehrplanangabe nutzt also ein Entwicklungsfenster, in dem eine Anlage zur Harmonie aufgegriffen und zur Fähigkeit ausgebildet werden kann. Die Einprägung dieses Rhythmus in den kindlichen Organismus kann und soll den Sturz ins Pubertätschaos nicht verhindern, aber dazu beitragen, dass der menschliche Grundrhythmus wieder gefunden werden kann.

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SPRACHE

Das atemgetragene Sprechen verbindet den Gedanken- und den Willensstrom im Menschen. Es kann pädagogisch mehr in die eine oder andere Richtung gearbeitet werden. Beim Hexametersprechen dominiert das Vorstellen. In der vierten Klasse, wenn sich die Kinder nach dem »Rubikon« mit wachem Blick und neuer Kraft auf den Boden stellen, wird der Stabreim geübt, bei dem der Wille ausschlaggebend ist. Damit sich im Sprechen Gedanken- und Willensstrom gesund verbinden können, braucht das Kind zu beiden einen Zugang. Steiner betont daher, dass man ein Kind niemals etwas sprechen lassen sollte, was es nicht versteht. Damit ist nicht intellektuell-interpretierendes Verstehen gemeint und keinesfalls, dass ein Kind nicht sprachlich anspruchsvolle Dichtung sprechen könnte, sondern es geht um die Möglichkeit, sich seelisch mit dem Inhalt, dem sprachlichen Bild, zu verbinden. Das ist durchaus auch bei Dichtung möglich, die das intellektuelle Auffassungsvermögen übersteigt.

Der Körper spricht und hört mit Die lautliche Sprache ist nur ein Teil des durch den ganzen Körper sprechenden Menschen. Lautbildungsschwierigkeiten oder ein mangelndes Rhythmusempfinden äußern sich gleichermaßen in der äußeren Bewegung wie in der Sprache, die als verinnerlichte Bewegung betrachtet werden kann. Bei der Sprachwahrnehmung vollzieht der Hörende feinste, mit gewöhnlicher Beobachtung unsichtbare Muskelbewegungen. Er ist mit seinem ganzen Körper mitbewegtes Sprach-Ohr. Diese Aktivität des Muskelmenschen kann nicht bewusst beeinflusst werden. Wir können nicht anders, als gehörte Sprache mittun. Wäre das im Mitdenken und Mitfühlen genauso, würden wir uns nie missverstehen.

Empathiefähigkeit stärken Das Mitfühlen beruht auf dem Mitschwingen im Atem. Eine diese Tatsache berücksichtigende musikalische und sprachkünstlerische Erziehung stärkt die Empathiekräfte. Die Alltagssprache lässt das Atemschwingen nur begrenzt zu. Hierin liegt wohl eine Begründung dafür, dass Steiner für Vortragsredner und Lehrer die Annäherung an ein künstlerisches Sprechen anstrebte: »Man sollte fortwährend ... darauf bedacht sein, die Sprache als solche zu kultivieren.« Bevor Steiner den Lehrern die Sprachpflege der Schüler ans Herz legte, entwickelte er Sprachübungen, die schon vor der Eröffnung der ersten Waldorfschule mit den Kollegen geübt wurden. Die durch ihn und Marie Steiner initiierte Kunst der Sprachgestaltung ist auch heute ein zentraler Bestandteil der Waldorflehrerbildung, wirkt sich doch jegliches Sprechen des Erziehenden stets unmittelbar auf die leibliche und seelisch-geistige Gesundheit der Kinder aus. ‹›

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Zur Autorin: Dorothea Krüger arbeitet als Sprachgestalterin an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe. Literatur: S. Maintier: Sprache – die unsichtbare Schöpfung in der Luft. Forschung zur Aerodynamik der Sprachlaute, Hamburg 2014 H. Matthiolius, H.-M. Thiemann und G. Hildebrandt: »Wandlungen der Rhythmischen Funktionsordnung von Puls und Atmung im Schulalter«, in: Der Merkurstab 1995, Jahrgang 48, Heft 4, S. 297-312 D. von Bonin u.a.: »Wirkungen von Sprachtherapie auf die kardiorespiratorische Interaktion. Teil 2.: Menschenkundliche Gesichtspunkte», in: Der Merkurstab 2005, Jahrgang 58, Heft 2. S. 185-196 J. Zinke (Hrsg. R. Patzlaff): Luftlautformen sichtbar gemacht. Sprache als plastische Gestaltung der Luft, Stuttgart 2001 R. Steiner: Erziehung und Unterricht aus Menschenerkenntnis (GA 302a). Anregungen zur innerlichen Durchdringung des Lehr- und Erzieherberufes: Erster Vortrag, 15. Oktober 1923, Stuttgart: Gymnast, Rhetor, Doktor und ihre lebendige Synthese, Dornach 1972

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Heileurythmie in der Schule – wozu eigentlich? von Erika Leiste

Jedes Kind ist ein Rätsel, das erraten werden möchte. Die Heileurythmie kann helfen, das Rätsel zu lösen, ohne dass das Geheimnis zerstört wird.

Zum Beispiel Lisa. Ein liebenswürdiges elfjähriges Mädchen, strömend freundlich – sie hat ja auch eine »kommunikative Lücke« zwischen den beiden Frontzähnen, zwischen welchen ihre Seele ungehindert hinausströmen kann. So liebenswürdig, aber leider – schwer erträglich! Sie zappelt unablässig herum, ist sofort in allen vier Ecken des Raumes zuhause, redet wie ein Wasserfall, ihre glatten braunen Haare flattern in alle Richtungen. Wie schafft es bloß ihr Lehrer, sie noch zu unterrichten? Sie ist gekommen mit der Diagnose: Hyperaktivität und Legasthenie. Da gibt es eine wunderbare Heileurythmiereihe: MN BP AU. M – ein Laut, der ruhevoll, warm und verständnisvoll in den Raum hineintastet. N – ein Laut, mit dem man die Außenwelt an sich heranziehen kann, außerdem wirkt er gegen Diarrhoe, warum nicht auch gegen Logorrhoe? B – ein Laut, der eine warme Hülle um einen legt, der einen auch abgrenzen kann von der Umgebung, mit dem man sich selber Grenzen setzen kann. P – ein Laut, der das B verstärkt, auch wirkt er gegen Bettnässen, gegen Ausfließen, das tut Lisa ja sehr. A – ein Inkarnationslaut, man kommt zu sich, U – ein Laut, der einem einerseits Ruhe geben kann. Andererseits auch ein Laut, der einen auf sanfte Weise in die Umwelt hinausführen kann. Das wäre doch ideal, das alles braucht sie! Also M – behutsam, ruhevoll in den Raum hinein tasten … Aber was macht sie? Sie fuchtelt herum mit ihren dünnen Ärmchen – sie kann es gar nicht. Vielleicht mit Springen? Als Stoffwechsellaut? Alle diese Laute kann man die Kinder auch gut springen lassen, und ich weiß aus Erfahrung, wenn sie das machen, dann sind sie am Ende wirklich ruhig, so ruhig, dass sie sich gar nicht mehr bewegen wollen … Aber bei Lisa funktioniert das nicht. Nach einer Minute wirft sie sich verzagt und verzweifelt auf den nächstbesten Stuhl: »Ich kann nicht mehr!« – und ich merke, ich habe sie überfordert, ich habe sie gekränkt, verletzt, gar nicht richtig verstanden. Langsam dämmert es mir: Sie kann wirklich nicht, der zarte dünne Leib ist gar nicht in der Lage, diese temperamentvolle sprühende Seele aufzufangen und zu beherbergen. Seelisch flattert sie herum und ist gar nicht bei sich.

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HEILEURYTHMIE

Im Heilpädagogischen Kurs schildert Rudolf Steiner solche Kinder. Er beschreibt, wie bei manchen das Seelisch-Geistige herausrinnt, wie dadurch das Kind zu weit draußen ist, sich wund stößt. Dadurch, so Steiner, »entsteht ein zu großes Bewusstsein an der Willensentfaltung, es entsteht ein Schmerz bei der Willensentfaltung. Im Entstehungsstadium ist dieser Schmerz da. Man will ihn zurückhalten. Das geschieht intensiv. Man zappelt im Tun, weil man den Schmerz zurückhalten will.« Tief beschämt sage ich mir: Liebe Lisa, jetzt erst verstehe ich Dich. Und ich fühle plötzlich, wie meine eigene Haut Löcher hat, wie ich herausrinne, herausfalle, wie schmerzhaft ich an der Umgebung anstoße. – Und eine tiefe Liebe zu dem Kind wächst in mir, jetzt weiß ich, wie ich mit ihr, neben ihr die Laute führen muss, um das Seelisch-Geistige hereinzulocken, atmend, ein- und ausatmend. Ich weiß, dass ich auch den Leib konsolidieren muss, damit er überhaupt eine geeignete Hülle für diesen Menschen wird. Die avisierte Lautreihe ist nicht ganz unpassend, aber jetzt muss ich sie nicht als Rezept ausführen, sondern nur für Lisa, individuell für sie. M – warm begleitend, sanft, Balsam, ich muss sie mit dem M Hand an Hand begleiten, damit Wärme sich bilden kann. B – konsolidierend, und gerne auch angemessen, abgemessen beschleunigt. A – zum Einatmen, U – zum Ausatmen, also A-U A-U A-U, und das U mit der Saturnbewegung abschließen, das hat eine stark abgrenzende, hautbildende Wirkung. Es wird trotzdem ein langer Weg sein, bis ihre feuchten Hände, ihre mageren Arme wirklich in die Bewegung eintauchen können. Aber wenn sie es gelernt hat, wenn sie gelernt hat, in ihren Leib einzuziehen – dann kann sie auch lesen. So ist eigentlich jedes Kind ein neues Rätsel, das erraten werden möchte – auch mir, die ich ja schon viele hyperaktive Kinder behandelt habe. Eine Lehrerin unserer Schule sagte: »Die Heileurythmie ist eine Art Weichenstellung. Anfangs ist es eine feine, fast unmerkliche Veränderung, und dann fährt der Zug in eine andere Richtung weiter.« ‹›

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Zur Autorin: Erika Leiste war 24 Jahre lang Heileurythmistin an der Rudolf-Steiner-Schule München-Schwabing.

Foto: Charlotte Fischer

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Bewegung macht den Menschen von Andrea Berlin-Zinkhahn

»Gerade so wie Fußspuren von außen eingedrückt sind, so sind in den Körper, besonders in das Gehirn und in die Nervenorganisation, eingedrückt diejenigen Dinge, die aus der Umgebung herein im nachahmenden Leben erlebt werden, im GehenLernen, im Sprechen-Lernen, im Denken-Lernen.« Rudolf Steiner

Unser Bewegungsleib ist Ausdruck unseres Seelischen. Ein Leben lang müssen wir daran arbeiten, gegen Verhärtungen, Blockaden und Stauungen anzugehen. Der gesamte Bewegungsmensch wird, wie man durch die Analyse von Filmaufnahmen mit Hochgeschwindigkeitskameras entdeckt hat, schon in der embryonalen Entwicklung vor allem durch die Laute, Töne und Geräusche der Außenwelt geprägt, das heißt, dass man bei Wiederholung derselben, immer wieder zu exakt denselben, reproduzierbaren Bewegungsmustern kommt. Daraus bildet jedes Kind sein Gehen, Sprechen und Denken zunächst durch Nachahmung aus, verwandelt dieses aber dann durch unermüdliches Tätigsein zu seiner individuellen Körper- und Bewegungsgestalt. Dieses Tätigsein entwickelt sich in drei Phasen: Zunächst überwiegt die Reflexmotorik, die im Mutterleib beginnt, beim Geburtsprozess überlebenswichtig ist, dann im Laufe des ersten Jahres »gehemmt« oder »integriert« und in Eigen-Bewegung übergeführt wird. In der zweiten Phase strebt der »motorische Mensch« tief unbewusst danach, die Bewegungen der Welt nachzuahmen, um sie schließlich in der dritten Phase zu individualisieren und zu beherrschen. Damit erringt sich der Mensch aus der Bewegung die »Kenntnis« seiner Leiblichkeit, das Körperschema oder die Körpergeographie, die ihm Selbstwahrnehmung, Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit und Selbstwertgefühl vermitteln. Auf diesen Prozess des Bahnen-Bildens, SpurenLegens und der neuronalen Vernetzungen hat die Neurobiologie besonders durch die Forschungen von Manfred Spitzer in den letzten Jahren aufmerksam gemacht. Durch seine Ausführungen wird heute das Ausmaß der desaströsen Folgen von Bewegungsmangel und Bewegungsverzögerung im ersten Jahrsiebt für die frühkindliche Entwicklung, besonders für das Lernen deutlich.

Leibgestaltung durch Bewegung Die Welt und sich selbst wahrnehmen

In der Waldorfpädagogik sind Bewegungsübungen eine Grundlage für das Lernen. Entscheidend dabei ist, dass wir in der Bewegung eine unmittelbare Begegnung mit dem Sein der Welt haben. Das heißt, auf der einen Seite wird die Motorik selbst zu einem Wahrnehmungsinstrument des Welt-Erlebens und auf der anderen Seite führt die Eigenbewegung zur einzigartigen Individualisierung des Menschen.

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FÖRDERUNTERRICHT

»In der Waldorfpädagogik sind Bewegungsübungen eine Grundlage für das Lernen. Entscheidend dabei ist, dass wir in der Bewegung eine unmittelbare Begegnung mit dem Sein der Welt haben. «

Wie schwer dieser Individualisierungsprozess ist, kann jeder von uns erleben, der einmal andere als die gewohnten Bewegungen auszuführen hat, beispielsweise in der Eurythmie, im Tanz oder der Jonglage. Rudolf Steiner wies die Lehrer darauf hin, dass der Mensch ein Leben lang mit Krankheitsneigungen ringt (z.B. Verhärtung, Verkrampfung, Blockaden, sich an die Umgebung verlieren) und dass er ein Leben lang daran arbeitet, gesünder, menschlicher, vollkommener zu werden. Dabei ist die Bewegung ein ständiger Gestaltungs- und Gesundungsvorgang. Können wir das nachvollziehen? Setzen Sie sich einmal an einem heißen Sommertag in ein Straßencafé einer belebten Fußgängerzone und halten Sie Ausschau nach Menschen, von denen Sie sagen können, dass ihr Gang, ihre Haltung, ihre Bewegungen und der Gesichtsausdruck harmonisch, ausgewogen oder »gesund« wirken. Sie werden plötzlich, auch ohne Therapeut zu sein, feststellen,

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› Foto: Gerti G. / photocase

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wie seelische Verspannungen, Blockaden, Ängste, mangelndes Selbstvertrauen, Fahrigkeit, Hemmungen, Trägheit oder Depression in der Bewegung der Menschen zum Ausdruck kommen. Unser Bewegungsleib ist Ausdruck unseres Seelischen.

Was Bewegung offenbart Ist das Kind »zuhause« oder »aus dem Häuschen«?

Foto: Gerti G. / photocase

Für die Diagnostik von Lernschwächen und Lernstörungen ist mir die Bewegung eine große Hilfe. Die Übungen zur Zweitklassuntersuchung beinhalten eine Reihe von Bewegungsabläufen, die dem Entwicklungsstand am Ende des 8. Lebensjahres entsprechen. Ballspielen, Vorwärts- und Rückwärtsgehen, Hüpfen, Balancieren, Formenzeichnen – all diese Tätigkeiten offenbaren etwas über die Verbindung des Seelisch-Geistigen mit dem Physisch-Leiblichen: Ist das Kind in seinem Leib zuhause, »bei sich«, fühlt es sich wohl oder ist es etwa »aus dem Häuschen«?

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FÖRDERUNTERRICHT

Das können Sie ganz wörtlich nehmen: Gehen sie in Gedanken einmal durch Ihre Wohnung. Sie wissen genau, wo Sie sich gerne aufhalten, wo Sie die Sache im Griff haben und wo die Problemzonen sind, die man am Besten großräumig umschifft. Wie fühlt es sich also an, wenn ich beim einhändigen Ballfangen mit der »freien« Hand unbewusst spreize oder zusammenzucke, oder wenn statt zu greifen, alle Finger ohne mein Zutun sich strecken und den Ball abprallen lassen? Was machen denn die Füße bei einer diagnostischen Ballübung? Steht das Kind fest und kommt im Werfen und Fangen in einen Rhythmus, oder fällt es nach jedem Wurf fast um und ist »nicht da«, wenn der Ball wieder kommt? Sie glauben gar nicht, was man in diesem Bereich alles zu sehen bekommt und ich kann jedem Leser nur raten, mit seinen Kindern, Neffen, Nichten und Enkeln jede Gelegenheit zu nutzen, Ball zu spielen, wobei ich mit »Spielen« nicht das harte Abwerfen oder Kicken meine, sondern das rhythmische Hin und Her oder die Ballschule mit ihren zehn Geschicklichkeitsstufen.

Lernvoraussetzung: Geschicklichkeit Aus der Gehirnforschung ist die Zuordnung der Hände zu bestimmten Arealen im Gehirn bekannt. So wurde erforscht, wie die Tätigkeiten der Hände »Spuren« legen, die besonders für das Lernen gebraucht werden. Besonders fein ausgebildet sind zum Beispiel diese Gehirnregionen bei Musikern, die in besonderem Maße ihr »Fingerspitzengefühl« erübt haben. In meinem Förderunterricht kann ich keinen Instrumentalunterricht machen, aber ein Teil der Übungen, die ich mit den Kindern mache, richtet sich auf die Geschicklichkeit der Hände, der Füße und des Gleichgewichtes. Viele Alltagsbewegungen sind den Kindern nicht mehr vertraut, wie zum Beispiel fegen, rühren oder Wolle wickeln. Aber auch Finger tippen, Klatschspiele, Fadenspiele, Seilchen hüpfen oder Ball spielen sind heute nicht mehr selbstverständlich und manche Kinder müssen sich dazu sehr anstrengen. Die Bewegungsübungen aus der »Extrastunde« von Audrey McAllen, an denen ich mich im Förderunterricht orientiere, haben gewissermaßen Urbild-Charakter (Kreis, Lemniskate, Spirale) und wirken dadurch ordnend und strukturierend auf die Bewegungsabläufe der Kinder. Mit der Zeit erfassen die Kinder das eigene Körperschema besser und handhaben es auch sicherer. Dazu wird die Beziehung zum Raum, oben-unten, vorne-hinten, rechts-links und der eigene Standpunkt in diesem Raum, der uns erst Sicherheit in Bezug auf die irdischen Dinge gibt, gründlich erübt. Die Übungen sollen durch den Willen und die rhythmische Wiederholung das Zusammenspiel des Seelisch-Geistigen mit dem Physisch-Leiblichen harmonisieren und dadurch besseres Lernen möglich machen.

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Urbildliche Bewegungen

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Zur Autorin: Andrea Berlin-Zinkhahn war in den Heil- und Erziehungsinstituten Bingenheim und Eckwälden sowie in der Michael Bauer Schule tätig. Zeitweise Auslandstätigkeit in den Waldorfschulen Mexiko und Kolumbien. Seit 1998 ist sie Förderlehrerin an der Freien Waldorfschule Engelberg.

Literatur: Manfred Spitzer: Lernen – Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg 2002 Audrey E. McAllen: Die Extrastunde, Stuttgart 2012

Bei einigen Kindern nehme ich Bewegungsverzögerungen und Ungeschicklichkeiten sowie fortbestehende Reflexe in ganz elementaren Bewegungsbereichen wahr. Das sind oft Kinder, die nicht gerobbt, gekrochen oder gekrabbelt sind und dadurch bestimmte Bewegungsmuster nicht abgebaut und andere nicht ausgebildet haben. Gerade solche Bewegungsverzögerungen können zu massiven Lernschwierigkeiten führen. Ein Beispiel aus der Praxis: Ein Junge, 11 Jahre alt, mit einem persistierenden ATNR (Asymmetrisch-Tonischen-Nackenreflex) hatte größte Mühe, die Schreibhand, die durch den Reflex immer in die Streckung gehen wollte, auf dem Papier zu halten. So konnte er nur mit größter Kraftanstrengung und mit zitternder Hand schreiben, war schnell erschöpft und hatte keine »Reserven« mehr für Rechtschreibung und dergleichen. Das Schriftbild kann man sich vorstellen. Diese Bewegungen nachreifen zu lassen, dazu bedarf es besonderer, fachlicher Kenntnisse und Voraussetzungen über die herkömmliche Ergotherapie hinaus, z.B. eine gezielte Therapie zur Reflexintegration. Obwohl man in der 5./6. Klasse auch noch durch Bewegung fördern und einiges bewirken kann, haben Kinder in diesem Alter schon viele negative Erfahrungen gemacht und finden leider auch die Übungen meist »peinlich«. So würde ich mir wünschen, dass sich noch mehr und vor allem jüngere Lehrer, Erzieher und Therapeuten mit der Bedeutung der Bewegung als Voraussetzung für das Lernen befassen, damit die Probleme vielleicht schon im Vorschulbereich erkannt und behandelt werden können. ‹›

Einige Bilder aus der Praxis: Bei den Ball- und Säckchen-Übungen handelt es sich um ein zehnjähriges Mädchen mit einer deutlichen Lese-Rechtschreibschwäche. Zwar schreibt sie rechts, hat aber eine linke Augen- und Ohr-Dominanz. Beim Ballspielen und anderen Übungen allerdings, erweist sich die linke als die flinkere und geschicktere Hand.

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CHIROPHONETIK

Im Luftstrom der Laute Chirophonetik hilft nicht nur bei Sprachproblemen

Im Gespräch mit Dieter Schulz

Erziehungskunst | Wie ist die Chirophonetik entstanden? Dieter Schulz | Alfred Baur* arbeitete mit einem dreijährigen Jungen, der nicht sprach, und er fragte sich, wie er die Wahrnehmung des Kindes verstärken könnte, um seinen Nachahmungswillen zu wecken. Er hatte den Eindruck, dass das Kind die Sprache direkt am Leib erfahren müsse und fragte sich, was geschieht beim Sprechen? Welche Luftformen entstehen, wenn wir die einzelnen Laute artikulieren? Es gelang ihm, diese Formen klar nachvollziehbar graphisch darzustellen. Die andere Frage, wie diese Formen nun auf den Gesamtorganismus übertragen werden könnten, beantwortete er aus der praktischen Anwendung der Metamorphosegesetze, die er in seinem Buch Lautlehre und Logoswirken detailliert beschreibt. EK | Wie werden die Sprachlaute gebildet, wie wird die Form zu dem jeweiligen Laut gefunden? DS | Jeder einzelne Laut, den wir sprechen, hat eine charakteristische Luftströmungsgestalt, die während des Sprechens entsteht. Wird zum Beispiel ein »L« artikuliert, so drückt die Zungenspitze einen ganz bestimmten Punkt hinter den Schneidezähnen. Die Luft steigt während der Artikulation des »L« auf, umströmt die Zunge von beiden Seiten und entweicht dem Mund. Der Punkt hinter den Schneidezähnen findet sich metamorphosiert zwischen den Schulterblättern. Die Zeichnung zeigt, wie vom unteren Rückenbereich das »L« aufwärts gestrichen wird. Je nachdem, an welcher Stelle des Sprachorganismus der Laut artikuliert wird, findet sich diese Artikulationsstelle am Gesamtorganismus wieder. Diesen Entsprechungen liegt das Gesetz der von Goethe beschriebenen und von Rudolf Steiner weiter entwickelten Metamorphose zugrunde. So haben zum Beispiel Laute, die im Bereich des weichen Gaumens gebildet werden, ihre Entsprechung im Bereich des Bauches oder des unteren Rückens. ›

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* Dr. Alfred Baur wurde 1925 in Wels,

Österreich geboren, studierte zunächst Maschinenbau, nach dem Kriegsdienst und russischer Gefangenschaft Philosophie, Geschichte und Germanistik in Graz. Während der Studienzeit begegnete er der Anthroposophie. Nach dem Studium und der Dissertation arbeitete er in verschiedenen heilpädagogischen Einrichtungen. Ab 1953 baute er gemeinsam mit seiner Frau Ilse eine heilpädagogische und sprachtherapeutische Ambulanz in Linz auf und entwickelte seit 1972 die Chirophonetik. Baur starb 2008.

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Die Anwendungsgebiete der Chirophonetik ergeben sich daraus, dass durch die Arbeit am Körper direkt auf alle zwölf Sinne des Menschen gewirkt wird.

› EK | Wie gestaltet sich das in Ihrer Praxis? DS | B., ein zehnjähriger Junge, fiel in der Schule wegen Konzentrationsstörungen und hyperaktivem Verhalten auf. Der Junge besaß eine sogenannte sulfurische Konstitution, die Steiner im »Heilpädagogischen Kurs« beschreibt. Menschen mit einer solchen Konstitution neigen durch den erhöhten Schwefelanteil in ihrem Organismus dazu, schnell zu vergessen. Denkt man an Schwefelhölzer, so ist das stichflammenartige Versprühen nach außen typisch. Durch die Tastsinnerfahrung während der Behandlung sollte B. sich seiner Körpergrenzen stärker bewusst werden. Ich wählte zum einen Laute, die eine umhüllende, schützende Wirkung haben, zum Beispiel das »M«; zum anderen Laute, die die Konzentration unterstützen und zu einer verstärkten Selbstwahrnehmung führen. B. mochte die chirophonetischen Anwendungen sehr gerne. Als sein Öl wählte er eines mit Zitronenaroma. Innerhalb von etwa vier Monaten zeigte B. ein erhöhtes Konzentrationsvermögen und es fiel ihm leichter, bei sich zu bleiben. Die Eltern führten die Behandlung viermal die Woche durch. Nachdem B. sich gefestigt hatte, vereinbarten wir, dass er nur noch nach Bedarf oder auf seinen eigenen Wunsch Chirophonetik bekommt. Foto: ig-fotografie / photocase

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CHIROPHONETIK

EK | Welches sind die Anwendungsgebiete der Chirophonetik? DS | Sie ergeben sich daraus, dass wir durch die Arbeit am Körper direkt auf alle zwölf Sinne des Menschen wirken. Die Laute haben auch eine Beziehung zu den Elementen und damit zu den Temperamenten. Je nachdem, was einem Menschen fehlt, kann man ihm das auf der Lautebene chirophonetisch vermitteln. Die Chirophonetik wirkt dadurch auf das Verhalten des Menschen und kann in allen Lebensaltern angewendet werden. Alfred Baur veröffentlichte beim Verlag »Soziale Hygiene« ein Heft mit dem Titel: Chirophonetik-Therapie durch Laut und Berührung. Wir haben diese Schrift aktualisiert im Verlag »Gesundheit Aktiv« veröffentlicht. Darin werden folgende Anwendungsgebiete beschrieben: verzögerte oder fehlende Sprachentwicklung, Sprachverlust, Mutismus, Redeflussstörungen, Schwerhörigkeit, Entwicklungsverzögerungen, Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungsstörungen, herausforderndes Verhalten, psychosomatische und chronische Krankheiten in Zusammenarbeit mit Ärzten, Begleitung alter Menschen zur Stärkung im Sinne der Salutogenese. Seit 1985 habe ich umfangreiche Erfahrungen mit der Chirophonetik im Rahmen meiner heilpädagogischen Praxis gesammelt. Ich war von den Ergebnissen oft berührt. In die Liste der Anwendungen möchte ich ausdrücklich ADHS aufnehmen. Die Erfahrungen mit der Chirophonetik sind bei ADHS ermutigend.

Literatur: A. Baur: Lautlehre und Logoswirken, Stuttgart 1996 A. Baur: Chirophonetik. Therapie durch Laut und Berührung, Berlin 2011 D. Schulz: Besondere Wege, Stuttgart 2012

EK | Wo kann man eine Chirophonetik-Ausbildung machen? DS | Die Ausbildung findet in acht Wochenkursen in Kassel und Bad Boll statt, die auch als Halbwochenkurse angeboten werden. In der Regel dauert die gesamte Ausbildung zweieinhalb Jahre. Neben den Lautformen und der Wirkung der Laute lehren wir auch das Streichen der klassischen griechischen Rhythmen mit ihren differenzierten Wirkungen auf den Menschen. Desweiteren werden in den Kursen menschenkundliche Themen behandelt, insbesondere die Sinneslehre, ihr Verhältnis zu den Wesensgliedern sowie ihre diagnostischen und therapeutischen Aspekte. ‹› Zum Gesprächspartner: Dieter Schulz ist Heilpädagoge, Biografieberater und Supervisor (WIT, Universität Tübingen) und arbeitet in freier Praxis, Dozent an der Schule für Chirophonetik und Gastdozent an der Höheren Fachschule für Heil- und Sozialpädagogik in Dornach, am Camphill-Seminar in Frickingen und anderen Ausbildungsstätten.

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Link: www.chirophonetik.de

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Entspannt in den Schultag von Alexandra Natterer

Nach einer mehrjährigen Auseinandersetzung mit dem Thema Rhythmus und den Erkenntnissen der Chronobiologie hat die Freie Waldorfschule Freiburg-Wiehre ihren Schultag verändert.

Schon immer fühlten sich der Unterrichtsbeginn um 7:45 Uhr zu früh und die vielen kleinen Fünfminuten-Pausen zu kurz an. Dass nicht wenige Schüler zum Unterricht erschienen, ohne gefrühstückt zu haben und die Konzentrationsfähigkeit der meisten in der vierten Fachstunde nachließ, wurde zwar stets beklagt, doch wie ein Naturgesetz hingenommen. Erst infolge einer Auseinandersetzung mit dem Leitbild der deutschen Waldorfschulen während einer Konferenz im Sommer 2011 setzten wir uns eingehender als bisher mit einem gesunden Lebens- und Schulrhythmus auseinander.

Annäherung an einen gesunden Schulrhythmus Im Laufe des darauffolgenden Schuljahres beschäftigte sich das Kollegium mit persönlichen, anthroposophischen und chronobiologischen Fragestellungen zum Thema Rhythmus: • Alle Lehrer zeichneten die eigene Tagesform als Kurve auf und verglichen diese miteinander. Dabei zeigten sich überraschende Übereinstimmungen, wie eine gemeinsame Hochphase gegen 10:30 Uhr. • Durch Kurzreferate gewannen wir erste Erkenntnisse aus dem Bereich der Chronobiologie, zum Beispiel dass es zwei Schlaftypen gibt, die sogenannten Lerchen (Frühaufsteher) und Eulen (Spätaufsteher). • Unter dem Gesichtspunkt einer Kräfte erhaltenden Fächerabfolge wurden fiktive Stundenpläne entworfen und die optimale Länge der Pausen diskutiert.

Fachmännische Beratung und Unterstützung Wolfgang Rißmann, Facharzt für Psychiatrie, wurde als erster Experte in Sachen gesunder Tagesrhythmus eingeladen. Er wies auf die langfristige salutogenetische Wirkung eines »atmenden«, von Wiederholungen geprägten Tagesablaufs hin. Besondere Bedeutung maß er einem entspannt eingenommenen Frühstück, einem späteren Schulbeginn und einem stets zur gleichen Zeit stattfindenden Mittagessen zu. Das Klausurwochenende des Kollegiums in einer Hütte im Schwarzwald war geprägt von Aufbruchstimmung. Roland Sonne von der Klagenfurter Waldorfschule war eingeladen und erzählte von der dortigen Umstellung auf einen späteren

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Unterrichtsbeginn und der Neugestaltung von Unterrichtsfächern (siehe »Erziehungskunst« 1/2013). Der großen Begeisterung und der Hoffnung, auch für unsere Schule Ähnliches in Gang zu setzen, standen Ängste vor einer möglichen Deputatsverringerung und damit verbundene Sorgen um die Existenz gegenüber. Es erwies sich als befreiend, dass alles in großer Runde benannt werden durfte. Schließlich stand als gemeinsamer Wunsch im Raum: Wir wollen einen neuen Weg gehen. Hoch motiviert bildete sich eine vom Schulführungskollegium bestätigte und mit Entscheidungsvollmacht ausgestattete »Rhythmusdelegation«, die aus sieben Lehrern verschiedener Fachbereiche, einem Vertreter des Hortes und drei Eltern bestand. Um die Effektivität der wöchentlichen Treffen zu steigern, wurde eine professionelle Prozessbegleiterin engagiert. Ein erstes großes Ziel sollte die Verbesserung des Stundenplanes unter zeitlichem Aspekt sein. Eine breit angelegte Umfrage ergab, dass zwei Drittel der Oberstufenschüler und über die Hälfte der Eltern den aktuellen Unterrichtsbeginn als zu früh empfanden. Auf Lehrerseite wurde der Unterrichtsbeginn um 8:30 Uhr favorisiert, unter den Oberstufenlehrern sogar 9 Uhr. Damit folgten die Kollegen einem richtigen Gefühl, denn die Erkenntnisse der Chronobiologie gaben Antwort auf die Frage, warum gerade Oberstufenschüler oft müde und wenig aufnahmefähig zum Unter-

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Vorbild Klagenfurt

› Foto: IvanR / photocase


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42 CHRONOBIOLOGIE

richtsbeginn erschienen: Als Teenager werden die meisten Menschen zu Spätschläfern (Eulen), weil sich bei ihnen der Nachtmittelpunkt nach hinten verschiebt. Ein Sechszehnjähriger befindet sich dadurch in den frühen Morgenstunden noch mitten in seiner natürlichen Schlafphase. Da hilft auch früheres Zu-Bett-Gehen nichts. Das Nerven(zell)system taktet den Schlaf und steuert ihn.

Der aus Graz eingeladene Chronobiologe und Psychologe, Maximilian Moser, berichtete vor Schülern, Eltern und Lehrern von den Ergebnissen seiner Forschungsarbeiten. Er machte deutlich, wie Körperfunktionen (Puls/Atmung/ Nervensystem) nicht nur Stoffwechselprozesse rhythmisieren, sondern auch zyklisch auf unser Aktivitäts- und Entspannungsbefinden wirken.

Grafik: Stündle / Wikicommons

Empfehlungen

Wer gegen die im Menschen angelegten Rhythmen arbeitet – zum Beispiel durch Schichtarbeit, verschobene Schlafenszeiten oder ungünstig gelegte Pausen –, wirkt irritierend auf den Körper ein und provoziert Krankheiten. Für die Schule empfiehlt Maximilian Moser: • einen Schulbeginn nach 8:30 Uhr; • eine Unterrichtslänge von 45 oder 90 Minunten in Anlehnung an den basalen Ruhe-Aktivitätszyklus [Brac], der unsere Aufmerksamkeit steuert, dem eine Ruhephase folgt; • eine längere Pause nach 90 Minuten Unterrichtszeit.

»Als Teenager werden die meisten Menschen zu Spätschläfern (Eulen), weil sich bei ihnen der Nachtmittelpunkt nach hinten verschiebt. «

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CHRONOBIOLOGIE

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Jens Bjørneboe

Jonas Roman

Erste Umstellungen Es war klar, dass nicht einfach nur der Unterrichtsblock um eine halbe oder eine Dreiviertelstunde nach hinten verlegt werden konnte, die Schüler sollten ja zu einer noch vernünftigen Zeit zu Mittag essen. Wir verkürzten den Hauptunterricht auf 90 Minuten. Da aus den Umfragen deutlich hervorging, dass die Unterstufenlehrer die bisherige Unterrichtslänge (105 Minuten) beibehalten wollten, legten wir den Unterrichtsbeginn der ersten Klassen eine Viertelstunde vor den der anderen. Die Fünfminutenpausen wurden zugunsten von zwei großen Pausen (zwanzig Minuten und fünfzehn Minuten) abgeschafft, die vierte Fachstunde um fünf Minuten gekürzt. Auf diese Weise war es möglich, trotz eines späteren Schulbeginns von 30 bzw. 45 Minuten, die Mittagspause um nur 20 Minuten zu verschieben. Der Unterrichtsvormittag umfasste somit die Zeit von 8:15/8:30 Uhr bis 13:30 Uhr. Nicht für alle Eltern stimmten jedoch Arbeitszeit und neuer Schulrhythmus überein. Deshalb erwies sich die Einrichtung eines Morgenhortes als notwendig; zwischen vierzehn und zwanzig Kinder besuchen diesen allmorgendlich.

Verlag Freies Geistesleben

Jens Bjørneboe Jonas. Roman Aus dem Norweg. von Elisabeth Ihle 410 Seiten, kartoniert € 14,90 (D) | ISBN 978-3-7725-1813-3 www.geistesleben.com

Im Gewirr der Buchstaben Der siebenjährige Jonas träumt in der Nacht vor seinem ersten Schultag von der Freiheit. Aber dann verirrt er sich im Gewirr der Buchstaben und das Leben wird ihm für lange Zeit zum Albtraum …

Evaluierung Die Ergebnisse wurden hauptsächlich von Oberstufenschülern ausgewertet. Die Umfrage unter den Schülern fiel eindeutig aus: 90 Prozent fanden den späteren Schulbeginn besser, 74 Prozent fühlten sich ausgeschlafener, die Hälfte sagte, sie könne morgens konzentrierter und motivierter in den Unterricht einsteigen. Unter den Hauptunterrichtslehrern bemerkten 80 Prozent eine Steigerung der Konzentrationsfähigkeit bei den Schülern. Drei von vier Kollegen gaben an, dass die Unterrichtsinhalte trotz der Kürzung vermittelt werden konnten, auch wenn ein Drittel die Zeit als zu kurz empfand. Als sehr positiv bewertete man die Einrichtung der neuen zweiten großen Pause. Sie ermögliche es, ohne Hetze etwas zu sich zu nehmen oder die Toilette aufzusuchen. Auch war nun mehr Zeit für Gespräche mit Schülern zwischen den Stunden. Auf die Pünktlichkeit der Schüler hatte der verschobene Schulbeginn praktisch keine Auswirkung. Wer früher schon knapp dran war, blieb es. Unter den Eltern freuten sich 70 Prozent über ausgeschlafenere Kinder, allerdings beurteilte über ein Drittel der Befragten den Unterrichtsschluss um 13:30 Uhr als zu spät. Insbesondere bei Kindern mit einem längeren Schulweg falle das Mittagessen in den Nachmittag. Eltern mit mehreren Kindern in unserer Schule gaben an, dass es ihnen als Familie aufgrund der unterschiedlichen Schulanfangszeiten in der Unterstufe gegenüber der Mittel- und Oberstufe nicht mehr möglich sei, morgens gemeinsam zu frühstücken. Zudem mussten sich ältere Geschwister als

2015 | Juli/August erziehungskunst spezial

« Jonas ist ein Sonderfall … Zunächst täuscht er seine Lehrerin und sich selbst über seine Schwäche hinweg, indem er die Texte, die er nicht entziffern kann, auswendig herunterplappert. Aber nach dem ersten Volksschuljahr fliegt der Schwindel auf … Ein bemerkenswert einfühlsamer Roman über einen legasthenischen Jungen.» Süddeutsche Zeitung

«Bjørneboe versetzt sich so liebevoll in die Seele eines Jungen, dass uns da noch das ein oder andere Licht aufgehen könnte.» Norddeutscher Rundfunk

Freies Geistesleben


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Schulen in freier Trägerschaft dürfen ihre Vertragspartner frei auswählen, auch wenn sie verpflichtet sind, kein Kind wegen einer Behinderung auszuschließen

Zur Autorin: Alexandra Natterer ist Klassenlehrerin an der Freien Waldorfschule Freiburg-Wiehre

Wegbegleiter an den früheren Unterrichtsbeginn der jungen anpassen. Aus diesen Gründen veränderten wir im darauffolgenden Schuljahr den Stundenplan erneut zugunsten eines gemeinsamen Unterrichtsbeginns um 8:30 Uhr. Das Thema gesunder Schulrhythmus ist mit der Umstrukturierung des Stundenplans nicht abgeschlossen. Sie ist ein erster großer Schritt in eine gute Richtung, der von anderen Waldorfschulen mit ähnlichen Vorhaben interessiert verfolgt wurde. Für die folgenden Jahre steht die Rhythmisierung, Verdichtung und Individualisierung der Unterrichtsinhalte in der Oberstufe auf dem Plan. Die neue Delegation dazu ist schon eifrig am Werk. ‹›

»Das Thema gesunder Schulrhythmus ist mit der Umstrukturierung des Stundenplans nicht abgeschlossen. Sie ist ein erster großer Schritt in eine gute Richtung.«

Foto: Lise Noergel / photocase

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Behindern ist heilbar Wer täglich auf der Suche nach dem Königsweg einer guten und heilsamen Vorbereitung auf den Unterricht und das Schulleben ist, mag auch die eine oder andere Gelegenheit nutzen, ein wertvolles Buch dieser Art in die Hand zu nehmen. Man scheue sich nicht, dieses dicke Buch aufzuschlagen! Nicht um es von Anfang bis Ende durchzulesen, sondern um eher zufällig zu finden, was man immer schon gewusst, vielleicht auch nur geahnt hat. Man lese es, um sich auf seinem Weg bestärkt zu finden und Anregungen für den Unterricht und das Schulleben zu bekommen. Ein »Praxisbuch« ist es, weil es mit guten Ideen zur Unterrichtsgestaltung aufwartet und die Menschenkunde für die alltägliche Arbeit aufbereitet. Die praktischen Erfahrungen langjährig im täglichen Unterrichtsgeschehen forschender und lernender Pädagogen werden zur Nachahmung und Weiterentwicklung anregen. Nur eine zufällige, keine dem Thema und der Fülle gerecht werdende Auswahl von Zitaten ist an dieser Stelle möglich. Wenn Michaela Glöckler feststellt: »Waldorfpädagogik ist ihrem Ursprungsimpuls nach Inklusionspädagogik«, gleich darauf aber anmahnt, dass wir uns darauf nicht ausruhen dürfen, ist damit nicht nur die Gefahr benannt, angesichts der »gut gemeinten« und täglich auf uns einströmenden Forderungen unsere pädagogische Aufgabe zu versäumen. Es gilt, die Ur-Impulse der Waldorfschule und deren Beziehungen zum heutigen Bewusstseins- und Kenntnisstand für eine kindgerechte individuelle Begleitung fruchtbar zu machen. Johanna Keller weist auf eine mögliche Fehlinterpretation der UN-Konvention hin: »Inklusion bedeutet nicht, dass alle Kinder immer gemeinsam unterrichtet werden müssen, sondern dass allen Kindern der Zugang zu gleichen Bildungsmöglichkeiten gegeben wird ...« Inklusion oder Integration?, fragt man sich nicht nur an dieser Stelle. Bewusstseinsarbeit, Selbstschulung, Neuorientierung und Umdenken sind notwendig, um den Boden für Veränderungen vorzubereiten, damit die Kinder nicht zu Versuchskaninchen experimentierfreudiger Erwachsener werden. Thomas Maschke weist auf das Spannungsfeld hin, in dem sich jetzt nicht nur der Waldorflehrer, sondern jede Lehrerin, jeder Lehrer bewegt. Sie sollen einerseits eine optimale individuelle Entwicklung ermöglichen, andererseits dem Anspruch auf normierte und messbare Leistungen gerecht werden. Möge dieses Buch auch helfen, die Barrieren zwischen den verschiedenen pädagogischen Ausrichtungen durchlässiger zu machen. Inklusion fängt bei uns selber an, ganz im Sinne des Zitats, das Walther Dreher in seinem Beitrag nennt: »Behindern ist heilbar.« Wolfgang Debus

2015 | Juli/August erziehungskunst spezial

Ulrike Barth, Thomas Maschke (Hrsg.): Inklusion – Vielfalt gestalten. Ein Praxisbuch 809 S., geb. EUR 39,– Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2014


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Sprache – Schöpfung in der Luft

Serge Maintier: Sprache – die unsichtbare Schöpfung in der Luft: Forschung zur Aerodynamik der Sprachlaute. Herausgegeben von Rainer Patzlaff, 91 S., kart., mit DVD, EUR 65,50, ˘ Hamburg 2014 Verlag Dr. Kovac,

Das mit einer DVD-Beilage von Serge Maintier erschienene Buch erweist sich schon nach kurzem Lesen als eine Fundgrube für denjenigen, der die Entstehung der Sprachlaute und ihres Abbildes in den Luftlautformen wissenschaftlich und ästhetisch betrachtet. Den Keim zu der Erforschung der Luftlautformen legte Rudolf Steiner 1924 in dem Vortragszyklus »Eurythmie als sichtbare Sprache« (GA 279), in dem er vorschlug, die beim Sprechen entstehenden unsichtbaren Luftgestaltungen durch technische Hilfsmittel sichtbar zu machen. Diese Anregung griff Johanna Zinke als Pionierin in den 1960er Jahren auf. Serge Maintier vertieft und erweitert mit dem vorliegenden Buch, das aus seiner Dissertation entstanden ist, diesen Ansatz und bringt ihn durch seine präzise Beobachtung und Dokumentation auf ein diskursfähiges wissenschaftliches Niveau. Darüber hinaus gelingt es ihm, die Lautbildungsdynamik qualitativ zu betrachten. Aus dieser vertieften Auseinandersetzung mit der Thematik ergeben sich sowohl Ansätze für die sprechpädagogische und therapeutische Arbeit als auch konkrete Anregungen für den künstlerischen Umgang mit den Luftlautformen etwa in der Eurythmie. Zudem zeigt der Autor interessante Bezüge und Perspektiven zwischen der Lautbildung, ihrem lebendigen Abbild in den Luftlautformen und der Strömungsforschung. In diesem Sinne regt das Buch sowohl den wissenschaftlich interessierten als auch den künstlerisch schaffenden oder pädagogisch tätigen Leser zum eigenen Forschen an. Die beigelegte DVD ist mehr als eine Ergänzung des Buches; vielmehr spiegelt sie mit einzigartigen, beeindruckenden Bildern die Quintessenz der Forschungsarbeit von Serge Maintier wider. Besonders hilfreich ist dabei die Kommentierung der einzelnen Videosequenzen. Der Betrachter kann die Forschungsergebnisse dadurch einordnen. Ulrich Maiwald

erziehungskunst spezial Juli/August | 2015


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Die Entwicklung unserer Kinder ■ stärken ■ unterstützen ■ begleiten

Kongress 2015 In Zusammenarbeit mit

2. bis 4. Oktober 2015 | Rudolf-Steiner-Schule Dortmund Der Kongress wird mit einem Vortrag von Dr. Michaela Glöckler über die körperliche, seelische und geistige Gesundheit unserer Kinder eröffnet und schließt mit Claus-Peter Röh: Die Entwicklung unserer Kinder – wahrnehmen – fördern – begleiten. Es gibt zehn verschiedene Foren, eingeleitet mit Impulsreferaten, in denen die Entwicklung vom Kindergartenkind bis zum Jugendlichen aus unterschiedlichsten Perspektiven bearbeitet wird. Weiterhin finden 30 verschiedene Arbeitsgruppen zu den Themen statt, sodass die entwicklungsrelevanten Fragen auf allen Ebenen besprochen werden können. Auf dem Offenen Markt kann man sich über verschiedene Einrichtungen informieren. Eingeladen sind: Ärzte, Eltern, Erzieher, Heilpädagogen, Therapeuten, Hortner, Ernährungsspezialisten, Künstler, Lehrer und Schüler.

Das aktuelle Programm mit Online-Anmeldung finden Sie unter: www.waldorfschule.de/kongress

Kontakt: Bund der Freien Waldorfschulen Wagenburgstr. 6 | D 70184 Stuttgart E-Mail: kongress@waldorfschule.de Tel.: +49 (0) 711/210 42 13

Kongress 2015


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So gelingt Förderung spielerisch!

Inklusive

DVD mit ausgewählten

KLATSCHSPIELEN

Klatschspiele verbinden das natürliche Bedürfnis von Kindern nach spielerischer Herausforderung und geselliger Freude. Ob zu zweit oder in der Gruppe, ob Anfänger oder Fortgeschrittene – im Buch von Christel Dhom werden alle fündig. Dass diese Spiele zudem die Feinmotorik und Sprachfähigkeit fördern, lässt auch Eltern und Pädagogen begeistert in die Hände klatschen! Christel Dhom hat Koordinations- und Rhythmusübungen zusammengestellt, die Freude machen. So lassen sich alte Spieleklassiker neu entdecken und mit der beiliegenden DVD leicht erlernen.

Christel Dhom zeigt, wie mit ein paar Murmeln, etwas Kreide, einem Hüpfgummi und Fantasie jeder Ort zum Spielplatz werden kann. Ihre Sammlung an alten Spieleklassikern und neuen Ideen lässt auch Eltern, Pädagogen und Ärzte begeistert in die Höhe springen, ist aber vor allem für Kinder ein bewegender Spaß! Christel Dhom stellt Koordinations- und Geschicklichkeitsspiele für drinnen und draußen vor, die Kinder begeistern werden. Ihre Anleitungen zur Kreide- und Murmelherstellung ergänzen die Sanmlung.

Christel Dhom: Klatschspiele. Reime und Lieder für flinke Hände. | Inkl. DVD mit ausgewählten Spielen. | 174 Seiten, mit Fotos von Ramona Lamb-Klinkenberg, durchg. farbig, gebunden | € 19,90 (D) | ISBN 978-3-7725-2644-2 Christel Dhom: Hüpf- und Murmelspiele | Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Alfred Längler | 112 Seiten, mit Fotos von Ramona LambKlinkenberg, durchg. farbig, gebunden | € 18,90 (D) | ISBN 978-3-7725-2654-1 | www.geistesleben.com

Freies Geistesleben : Ideen für ein kreatives Leben


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