KulturGut 1_2010

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währt. Vier Gänge und mehr probiert der Besucher im Durchschnitt (und lässt dabei statistisch 50 Euro im Haus). Er muss sich nicht mehr zwischen Fisch- und Fleischgericht entscheiden. Er kann mehr probieren – und will es auch: „Der Abschied vom Hauptgericht hat eine unglaubliche Resonanz gefunden“, schwärmt Bernhard Reiser: „Bei unserem Publikum, das für Empfänglichkeit steht, können sich vor allem die Damen wieder viel genussfreudiger geben.“ In der Küche bedeutet das mehr Aufwand, erfordert ein kleiner Teller doch denselben handwerklichen Einsatz wie ein großer – und es kommt dem Reiser darauf an, die Qualität von altem Küchen-Handwerk zu demonstrieren. Es braucht mehr Geschirr und Besteck, mehr Personal. Aber der Abschied vom Hauptgericht lohnt sich auch betriebswirtschaftlich: Im gleichen Maß wie die Umsätze stiegen auch die Erträge. Anders herum betrachtet: Die Portionsgrößenumstellung brachte zwölf neue Arbeitsplätze. Dass es eine gesunde Ernährungsweise ist, langsam überschaubare Mengen zu konsumieren, liegt auf der Hand. Direkt bei der Gesundheit setzt eine Nebentätigkeit des Kochs an: Gemeinsam mit dem AntiStress-Trainer Peter Buchenau zieht er durch Firmen und macht dem geplagten Personal klar, dass man bei Stress nicht automatisch in Ernährungssünden verfallen muss. Der Küchenmeister beklagt einseitige Vorsorge: „In größeren Unternehmen muss es einen Sicherheitsbeauftragten geben, aber keiner verlangt einen Stressbeauftragten.“ Hier sieht er die Entwicklung – auch im Denken der Krankenkassen – noch sehr in den Anfangsgründen. Dabei wünscht er dem bewussten Ernährer große Gaumenfreude, bedauert er doch zu viele Verbote in der Diätetik: „Ich kenne keinen Ernährungsberater, der mit Lust kocht.“ Unter dieser Maxime kümmert sich der Langstreckenläufer Reiser auch um aufgeklärte Sportlerkost und doziert an der Berufsakademie Mosbach.

Entwicklung im Fluss Im Mainfrankenpark, vor Reisers Event-Manufaktur, parkt ein Reisebus voller Schulkinder. Die Meute strömt in die Schulküche, in der sich bisweilen Manager zur Belohnung für ihre Plagerei kochend entspannen. Der Mann, der den Kleinen nun das Schmecken näher bringt, gestaltete auf einem früheren Höhepunkt seiner Karriere Bankette für Boris Jelzin und Bill Clinton. Vermisst er die weite Welt der Großen? Wieder muss der Reiser nicht lange nachdenken: „Es ist schön, dass ich darauf zurückblicken kann. Aber wesentlich ist, dass ich meinen eigenen Weg gefunden habe.“ Kommen wir noch einmal auf das Loslassen zurück. Man kann ja auch den Weg in die große Welt an andere Menschen übertragen. „Ich bin Ideengeber für meine Leute“, definiert er seine Rolle: „Man muss sie infizieren können.“ Gelungen ist ihm das etwa bei Carolina Baum, derzeit Deutschlands jüngste Sterneköchin. Die war eine seiner ersten Auszubildenden. Im alltäglichen Umgang zwischen Küche und Saal versucht der agile Schwabe, seine Werte vorzuleben – und infiziert die Mitarbeiter ernährungsphysiologisch auch direkt durch den Magen. Sein Ziel ist, täglich einmal mit der Crew gemeinsam zu speisen, samt ernährungsphysiologischer Aufklärung: „Die Leute müssen das nicht nur mit dem Kopf kapieren, sondern verinnerlichen und am eigenen Körper feststellen: Mir geht es wirklich besser.“ So kann Reiser seiner Mannschaft „Vertrauen schenken, ihnen die Freiheit geben und sie bitten: Macht was draus.“ Reisersche Genussstruktur durchdringt die Vielfalt der Einzelerscheinungen. Da stellt sich die Documenta-Frage, ob Kochen Kunst sei, überhaupt nicht mehr. Info: | www.der-reiser.de

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