Architektur aller Sinne

A R C H I T E K T U R

A L L E R S I N N E

Erweiterung und Umbau eines Landhauses in Lettland Masterthesis von Catherine Folawiyo und Kristine Kazelnika

A R C H I T E K T U R

A L L E R S I N N E

Erweiterung und Umbau eines Landhauses in Lettland Masterthesis von Catherine Folawiyo und Kristine Kazelnika

3

Juhani Pallasmaa1

„ Architektur ist die Kunst, uns mit der Welt zu versöhnen, eine Art von Medita­tion, die durch unsere Sinne stattfindet.“

1 Palasmaa, Juhani

(2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 91

Inhalt

Teil 1: MIT DEN HÄNDEN SEHEN HINTERGRÜNDIGES

76

der Tastsinn als Ausgangspunkt der

6

Verknüpfung von Mensch, Land und

Sinneswahrnehmung

Problematik BEGEGNUNGEN D E R V E R LU S T D E S V I S U E L L E N

84

Dialoge im Zusammenhang mit

10

Auswirkung, Behandlung

Architektur und Blindheit

und entwurfliche Maßnahmen LETTLAND GEBLENDETE SINNE

92

Wirtschaft, Kultur und Geschichte des

15

über das Erfahren räumlicher

Landes

Atmosphäre SOZIALES RAUMSTUDIEN

98

Einrichtungen und Projekte in Lettland

21

Studien über das menschliche Empfinden im Raum Teil 2: A RC H I T E KT U R S P Ü R E N

59

Interview mit Carlos Muraou

D A S P R O J E KT

Pereira und Siegfried Saerberg

Bewohner, Grundstück, Haus und Tradition

D I E S I N N E S WA H R N E H M U N G

DER ENTWURF

70

das Visuelle, Auditive, Taktile und Olfaktile

Ergebnis und Prozess

5

103

108

HINTER GRÜNDIGES

6

7

Verknüpfung von Mensch, Land und Problematik Zielgruppe Ausgangspunkt der Masterthesis ist das renovierungsbedürftige Landhaus der beiden Geschwister Roma und Leons – Tante und Onkel der Mitverfasserin dieser Arbeit, Kristine Kazelnika. Da die Zwillinge von Geburt an am Usher-Syndrom leiden, kamen

die EU einen Anstieg an Pflegeeinrichtun-

sie taub zur Welt und erblindeten ab dem

gen für Menschen mit Behinderung auf, je-

Alter von zwanzig Jahren allmählich.

doch sind dieses häufig nur für Menschen

Mit dem Voranschreiten der Sehbehinde-

mit geistiger Behinderung ( dies schließt

rung wurden sie zunehmend von ihrer Mut-

in Lettland Menschen mit Sehbehinderung

ter abhängig, die sie in ihrem Landhaus

aus) zugänglich und darüber hinaus man-

plfegte und konnten letzendlich nicht mehr

gelt es ihnen oft an Betreuungspersonal,

ohne Hilfe auskommen.

ausreichendem Aktivitätenangebot, Durch-

Mittlerweile leben abwechselnd zwei Pfle-

mischung der Bewohner und an der Förde-

gekräfte mit Roma und Leons, die sie bei al-

rung von Selbständigkeit.

len Aufgaben im Haushalt betreuen. Außer

Um diese Lücke zu füllen, schlägt unser

Essen kochen, Sauna, Spaziergängen und

Entwurf eine Einrichtung für betreutes

Einkaufen gehen, gibt es zuhause nicht viel

Wohnen für Menschen mit Behinderung,

Beschäftigung für die beiden. Soziale Kon-

Betreuer und deren Familien, Freiwillige,

takte zu anderen Menschen sind schwer auf-

Gäste und Besucher vor.

zubauen. Einmal im Monat findet ein TrefGrundstück

fen für Menschen mit Behinderung in der benachbarten Kleinstadt Dagda statt.

Für die sich sorgende Schwester von Ro-

Das Landhaus befindet sich auf einem ca.

ma und Leons war es nicht möglich, für die

8 ha großen Grundstück in der Region Lett-

beiden eine passende Pflegeeinrichtung,

gallen, 3 km entfernt von der Kleinstadt

die sowohl intensive Pflege garantierte als

Dagda. Es gibt eine Busverbindung, mit

auch die Förderung zum selbständigen Le-

der man sowohl nach Dagda, als auch in

ben ermöglichte, zu finden.

die nächst größere Stadt, Rezekne gelangt.

Zwar weist Lettland, seit dem Beitritt in

Das Leben in Lettland ist sehr stark mit der

8

Aktivitäten sorgen. Außerdem soll durch Tourismusangebote und eine Werkstatt der Austausch und die Verbindung unterschiedlicher Gruppen ermöglicht werden.

Fokus Über 12.000 Menschen in Lettland leiden an einer Sehbehinderung.1

In Einrichtun-

gen und Pflegeheimen wird oft ein einfacher Handlauf eigebaut, um die Architektur blindengerecht zu machen. Wir haben eine solche Einrichtung in Berlin Wannsee besichtigt und festgestellt, dass es an jeglicher Atmosphäre und Erlebbarkeit der ArNatur verbunden. Es gibt sieben größere

chitektur fehlte.

Städte in Lettland, ansonsten leben viele

Da die jetzigen Bewohner des Landhauses

Menschen in Dörfern oder in einem Haus

blind sind, liegt der Fokus der Arbeit dar-

auf dem Land. Oft verbringt man auch den

auf, Architektur für blinde Menschen er-

Sommer in einem Haus am See oder in der

fahrbar zu machen. Wie nimmt ein Mensch

Natur.

Architektur wahr, wenn er sie nicht sehen

Somit ist Lettland vom Leben auf dem

kann? Was geschieht, wenn sich Architektur

Land geprägt. Vor allem die Region Lettgal-

nicht auf das Visuelle konzentriert, sondern

len, die von zahlreichen Seen und Flüssen

die anderen Sinne in den Vordergrund rü-

durchzogen ist, weist eine Vielfalt der Natur

cken?

auf, die wir in unserem Entwurf mit aufgrei-

Unter solchen Fragen möchten wir mit

fen möchten. Das Grundstück, auf dem sich

dieser Arbeit die Herangehensweise der Ar-

derzeit das Landhaus von Roma und Leons

chitektur untersuchen und uns hierbei auf

befindet, besitzt die typischen Merkmale

die multisensorische Eigenschaft von Archi-

des Landes: Wald, Wiese, kleine Hügel und

tektur konzentrieren.

ein Ufer zum See. Wir haben uns bewusst dazu

entschieden,

die

Erweiterung

des

Landhauses auf dem jetzigen Grundstück zu planen, um die vorhandenen Qualitäten der Natur zu nutzen. Die Menschen sollen die Möglichkeit haben weiterhin in ihrer ge-

1 Latvijas Neredzīgo Biedrība, unter: http:// www.lnbiedriba.lv/lv/par-biedribu/statistika-un-petijumi/ [3. Nov. 2017]

wohnten Umgebung, verbunden mit der Natur, zu leben. Dabei soll die unterschiedliche Nutzung der einzelnen Gebäude für ein ausreichendes Angebot an verschiedenen

9

DER VERLUST DES VISUELLEN

10

11

Blindheit: Auswirkung, Behandlung und entwurfliche Maßnahmen Definition Nach deutschem Recht wird Blindheit bwz. Sehbehinderung folgendermaßen definiert:

„Ein Mensch ist sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. (Sehrest ≤ 30 %) Ein Mensch ist hochgradig sehbehindert, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 5 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt.

(Sehrest ≤ 5 %) Ein Mensch ist blind, wenn er auf dem besser sehenden Auge selbst mit Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 2 % von dem sieht, was ein Mensch mit normaler Sehkraft erkennt. (Sehrest ≤ 2 %)“ 1

1 Blinden- und Sehbehindertenverein Schleswig-Holstein e.V., “Definition von Sehbehinderung und Blindheit”, unter: http://www.bsvsh.org/index.php?menuid=101&reporeid=165 [5. Jan. 2018]

12

Ursachen und körperliche Auswirkungen

Hierbei kann „Sehrest“ sowohl eine Ein-

der Sehbehinderung

schränkung des Gesichtsfeldes (z.B. Blickfeld wie durch einen Tunnel) oder aber die Trübung des Gesehenen bedeuten (z.B.

Wie ein Mensch eine Sehbehinderung er-

ist ein Gegenstand erst ab einer bestimm-

fährt und damit umgeht, hängt zum einen

ten Entfernung erkennbar).2

Nur 2 % der

von den körperlich-biologische (Ursache,

Menschen weltweit leiden an einer vollstän-

Krankeitssymptome, Zeitpunkt und Zeit-

digen Blindheit – meist bleibt ein geringer

raum,

Prozentsatz an Sehkraft erhalten, sodass

bzw. Gesamtzustand) als auch von den psy-

beispielsweise Licht und Schatten, star-

cho-sozialen Faktoren (eigene Fähigkeiten,

ke Kontraste oder Farben wahrgenommen

Charakter, Aufnahme des sozialen Umfel-

werden können.

des) ab.4

Sehbehinderungsarten

Körperlich-biologische Faktoren

Beeinträchtigungen

anderer

Art

Je nach Alter zum Zeitpunkt der Erblin-

Die fünf häufigsten Ursachen von Sehbe-

dung, unterscheidet man zwischen vier Ar-

hinderung und ihre Auswirkungen sind fol-

ten von Sehbehinderung:

gende:

1) Geburtserblindung Zeitraum vor- und

1) Grauer Star Ursache:

nach der Geburt – kein Erinnerungsvermö-

Linsentrübung Auswirkung: Sehbild ver-

gen

schleiert oder verschwimmt, starke Beeinträchtigung der Sehkraft, Licht – und

2) Früherblindung Zeitraum bis 2 Jahre

Blendeempfindlichkeit (Tragen einer Son-

– Erinnerungsvermögen später nicht mehr

nenbrille) Behandlung/ Maßnahmen: Aus-

abrufbar

tausch der Linse mit Kunststofflinse möglich (riskant), Lupe/ Bildschirmlesegeräte5

3) Späterblindung Mensch kann sich bereits orientieren, Bezug zur Umwelt aufge-

2) Makula-Degeneration

baut, Sozialverhalten voll ausgeprägt

Ursache:

feuchte

Makula-Degeneration:

Nervenzellen werden in der Makula (Be4) Alterserblindung Sehverlust tritt im Al-

reich des schärfsten Sehens) zerstört, tro-

ter ein, wegen anderen Altersbeeinträchti4 Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines „Blindengartens“ durch einen Sehenden, Kassel, S. 23

gungen3

2 idem, [5. Jan. 2018]

5 Bayerischer Blinden- und Sehbehindertenbund e.V., “Sehbehinderungensimulator”, unter: https://www.bbsb.org/index.php/infothek/das-auge/ sehbehinderungen-simulator?start=1 [17. Jan. 2018]

3 Herz, Michael, (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines „Blindengartens“ durch einen Sehenden, Kassel, S. 17 f.

13

ckene Makula Degeneration: langsames,

5) Retinopathia Pigmentosa

aber fortwährendes Abnehmen der Seh-

Ursache:

schärfe Auswirkungen: Ausfall des Mittel-

terkrankung

punktes des Gesichtsfeldes (als Gesichts-

heit, Schwierigkeiten bei Anpassung von

feld wird das bezeichnet, was das Auge in

hell nach dunkel und dunkel nach hell,

unbewegtem Zustand erfassen kann), Er-

Blendeempfindlichkeit, Sehfeld stark ein-

halt des Sehvermögens am Rand

geschränkt

Orientierung und Wahrnehmung: visuelle

keine Orientierung möglich. Behandlung:

Orientierung ist weiterhin möglich, jedoch

bisher nicht heilbar, Forschungen zu Im-

ist man nicht mehr dazu fähig, sich auf

plantaten9

erblich

verursachte

Auswirkungen:

Orientierung/

Netzhau-

Nachtblind-

Wahrnehmung:

Personen zu fixieren, sodass die kommuniWeitere körperliche Faktoren

kativen Aufgaben der visuellen Wahrnehmung wegfallen. Behandlung: nicht heilbar, Lupen/

Bildschirmlesegeräte,

Photodyna-

Neben den Krankheitssymptomen der je-

mische Therapie – keine Behandlung, nur

weiligen Sehbehinderung spielt der Zeit-

Verlangsamung des Erkrankungsprozesses

punkt und Zeitraum der Erblindung eine

möglich

wichtige Rolle für den Erkrankten. Somit

6

fällt es einer Person, die erst zu einem spä3) Grüner Star (Glaukom)

teren Zeitpunkt erkrankt, schwerer, sich

Ursache: Schädigung des Sehnervs durch

auf die Orientierung mithilfe anderer Sinne

erhöhten Augeninnendruck Auswirkungen:-

umzustellen, als einer Person, die bereits

Gesichtsfeldausfälle,oft auch völlige Erblin-

seit der Geburt an einer Sehbehinderung

dung Orientierung und Wahrnehmung: kei-

erkrankt ist. Des Weiteren ist der Zeitraum

ne kommunikative u. visuelle Sinneswahr-

der Erkrankung von Bedeutung. Handelt

nehmung möglich. Behandlung: nicht heil-

es sich beispielsweise um eine sofortige

bar, Medikamente/ Operation (Stopp des

Erblindung, so steht die betroffene Person

Fortschreitens der Krankheit)7

unter Schock und kann sich nicht almählich an die neue Situation gewöhnen. Um die-

4) Diabetische Retinopathie

ser Person, die unter dem plötzlichen Ver-

Ursache: starker Anstieg von Diabeteskran-

lust der Sehkraft leidet, helfen zu können,

ken (Wohlstand) – Anstieg von diabetischer

sollte man es sich als Ziel setzen, weitest-

Retinopathie, Unterversorgung des Auges

gehend individuelle Selbständigkeit zu för-

mit Sauerstoff über längere Zeit Auswir-

dern. Bei einer langsam voranschreitenden

kungen: Gesichtsfeldausfälle. Behandlung:

Beeinträchtigung des Sehvermögens hinge-

Laser- und Kältetherapie ( nur teilweise

gen, ist es der betroffenen Person möglich,

heilbar)

sich auf die Situation einzustellen und neue

8

Fähigkeiten zu erlernen. Das Wissen über die baldige Sehbehinderung kann jedoch

6 idem, [17. Jan. 2018] 7 idem, [18. Jan. 2018] 8 idem, [18. Jan. 2018]

9 idem, [19. Jan. 2018]

14

ein Angst- und Ohnmachtsgefühl hervorru-

Freizeitgestaltung bereitzustellen und die

fen.

Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu

Außerdem ist der Gesamtzustand des Be-

gewähren.

troffenen wichtig. So spielt beispielsweise

Hierbei soll der Fokus auf die Anspra-

die Motorik, die allgemeine Konstitution

che und Fähigkeiten aller Sinne und ge-

des Körpers (Aufnahmefähigkeit, Konzen-

rade nicht auf eine Defizit-Orientierung

tration etc.) und die Beweglichkeit eine

(nicht-sehen) gelegt werden. Somit ist es

wichtige Rolle zur Aufrechterhaltung der

uns wichtig, dass der Entwurf alltagstaug-

Leistungsfähigkeit, auch nach Eintreffen

lich, also für alle Menschen geplant ist und

der Sehbehinderung.10

nicht etwa vordergründig zeigt, dass er für

Die oben genannten biologischen Faktoren

Menschen mit Sehbehinderung konzipiert

sowie die psycho-sozialen Faktoren haben

ist. Vielmehr soll dies ein Faktor sein, der

einen Einfluss darauf, wie der Betroffene

unter dem Aspekt der „Architektur aller Sin-

mit der Erkrankung letztendlich umgeht.

ne“ unterschwellig bemerkbar ist und damit

Oft treten nach einer Erkrankung Sympto-

das eigentlich Nichtsichtbare der Architek-

me auf, wie der Mangel an Selbstwertgefühl

tur für die Menschen „sichtbar“ macht.

aufgrund der Abhängigkeit von anderen Personen, überhöhte Erwartungshaltung an sich selbst oder etwa der Verlust sozialer Bindungen.11 Entwurfsmaßnahmen Dieser Tatsache möchten wir mit unserem Entwurf entgegenwirken, um die Auswirkungen auf der psychischen Ebene möglichst gering oder gar fern zu halten. So ist es für den Entwurf von besonderer Wichtigkeit, soziale Kontakte zu ermöglichen, größtmögliche Selbständigkeit zu fördern, individuelle

Betreuung

darzubieten,

die

eigenständige Gestaltung eines normalen Tagesablaufes zu begünstigen, individuelle 10 Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines „Blindengartens“ durch einen Sehenden, Kassel, S. 23 f.

11 Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines „Blindengartens“ durch einen Sehenden, Kassel, S.25

15

GEBLENDETE SINNE

Über das Erfahren räumlicher Atmosphäre

Integrität und Architektur

„Unser Anspruch ist es, eine grundlegende, für jedermann und überall verständliche Arbeit zu machen, die direkt zu den Empfindungen durchdringt, durch den Geist und alle Schichten von Kontext und Kultur hindurch.“ 1

Jaques Herzog

1 Kipnis, Jeffrey, „A conversation with Jacques Herzog“, in: El croquis 1997, H 84, S. 7-21

18

Architekturerfahrung

Ziel unserer Arbeit ist es, die Herangehensweise der Architektur aus einem anderen Blickpunkt zu betrachten. Oft gehen

„Jede Erfahrung ist mit einem Akt

wir von dem Visuellen aus, überlegen uns,

des Sich-Sammelns, des Erinnerns und

wie der Raum auf den sehenden Betrachter

des Vergleichens verbunden. Einen

wirkt, erstellen virtuelle Bilder und Ansich-

Raum oder einen Ort erinnern zu können,

ten und vernachlässigen die restlichen Sin-

setzt vor allem voraus, dass die Erin-

ne.

nerung im Körper gespeichert wird.“ Juhani Pallasmaa

Dabei nehmen wir unsere Umwelt in erster Linie körperlich wahr.

Es fällt schwer, ein Gebäude wirklich zu

Auch wenn es inzwischen möglich ist, auf

begreifen, wenn man nie dort gewesen ist.

dem Computer virtuelle Bilder zu erstellen,

Tritt man zum ersten Mal zwischen die

die einen förmlich in andere Welten verset-

schweren Säulen des Alten Museums in

zen, so ist doch die körperliche Erfahrung

Berlin, so wird man fast erschlagen von der

der Dinge von enormer Bedeutung, um sich

mächtigen Atmosphäre, die diese ausstrah-

selbst zu verstehen und die Umwelt zu be-

len.

greifen. Der Körper bildet hierbei den Mit-

Betritt man einen Raum, der mit alten

telpunkt des Erlebten, speichert Erinnerun-

Holzdielen ausgelegt und dessen Fenster

gen, malt sich Vorstellungen aus und integ-

in dicke Stoffgardinen gehüllt sind, so kann

riert sich. Nach Juhani Pallasmaa leuchte es

man die gemütliche Atmosphäre anhand

daher schnell ein,

des Materials und der Akustik spüren.

„dass lebenssteigernde Architektur alle

Diese Atmosphären sind allerdings nicht

unsere Sinne gleichzeitig ansprechen muss,

durch ein Bild, also rein durch das Visuelle

um unser Selbstbild mit unserer Welterfah-

übermittelbar, sondern müssen alle Sinne

rung zu vereinen“.2

ansprechen, um sie zu spüren.

Gebäude bestimmen nicht nur durch ihre visuelle, äußere Erscheinung sondern auch

Architekturwahrnehmung

durch die Akustik im Raum, das Material, die Temperatur, den Geruch , das Spiel von

Wie nimmt ein Mensch Architektur wahr,

Licht und Schatten, sowie die Form des Rau-

wenn er sie nicht sehen kann?

mes, Höhe und Tiefe, Weite und Enge.

In einer Zeit, die von visuellen Reizen

Um ausdrucksvolle Architektur zu erschaf-

bestimmt ist, scheint diese Fragestellung

fen, ist es daher wichtig, sich von der rein

überflüssig. Doch gerade deshalb ist es

visuellen Ebene zu lösen und sich auf alle

wichtig, zum Wesen der Dinge zurückzukeh-

Sinne zu konzentrieren.

ren, und sich darauf zu konzentrieren, wie

Wie klingt ein Raum, der eine bestimmte

Architektur eigentlich erfahren wird: Über

Höhe hat?

den ganzen Körper und mit allen Sinnen.

2 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 14

19

Wie fühlt sich ein Raum an, der viele Öff-

nung bis in den vom Menschen erschaffenen

nungen aufweist? Welchen Klang erzeugen

Bereich hinein […] Sie macht anschaulich

bestimmte Materialien? Ist es möglich, eine

und konkret erlebbar, wie die Jahreszeiten

warme Atmosphäre in einem kalten Raum

wechseln, der Sonnenlauf sich ändert und

zu schaffen?

die Stunden eines Tages vergehen.“5 Juhani Pallasmaa

Die Vorherrschaft der visuellen Wahrnehmung

Da Architektur mit dem gesamten Körper erfahren wird, spricht sie automatisch alle

Angefangen bei den Griechen, über die

fünf Sinne an. Bei der Wahrnehmung kom-

Theorien der Renaissance hinweg, bis hin

munizieren die Sinne miteinander. Juhani

zur digitalisierten Welt der heutigen Zeit

Pallasmaa zu Folge, könne man hier „von

wächst die Dominanz des Sehens in der

einer Erweiterungsform des Tastsinnes“6

menschlichen Wahrnehmung zunehmend,

sprechen . Durch ihn erfahren wir Materia-

sodass man heute bereits von einer „absolut

lität und bilden ein Verständnis für Entfer-

erscheinenden Hegemonie des Auges“ spre-

nungen und räumliche Tiefe.7

chen kann. Durch die Fokussierung des Au-

Weiter stellt Pallasmaa fest, dass es Auf-

ges kam es im letzten Jahrhundert zu einer

gabe der Architektur sei, alle Eindrücke zu-

Architektur, die sich hauptsächlich auf das

sammenzubringen und eine Einheit aus al-

Vermitteln von Bildern konzentriert und an

len körperlichen Erfahrungen zu bilden.

3

Realität verliert. Laut dem Architekten und Architekturtheoretiker

Juhani

Pallasmaa

Da Architektur mit dem gesamten Körper

sind „Gebäude so zu Image-Produkten ge-

erfahren wird, spricht sie automatisch alle

worden, ohne jede existenzielle Tiefe und

fünf Sinne an. Bei der Wahrnehmung kom-

Ernsthaftigkeit“.

munizieren die Sinne miteinander. Juhani

4

Durch die Konzentration auf das Visuelle

Pallasmaa zu Folge, könne man hier „von ei-

wird das Auge vom Körper isoliert und die

ner Erweiterungsform des Tastsinnes“ spre-

anderen Sinne werden unterdrückt.

chen . Durch ihn erfahren wir Materialität

Eigentlich besteht eine dauerhafte Wech-

und bilden ein Verständnis für Entfernun-

selwirkung zwischen Körper und Umwelt -

gen und räumliche Tiefe.

eine Art Interaktion, an der es in den Wohnräumen heutzutage oft fehlt.

Gefühl statt Verstand

Multisensorische Architektur

nach einer Bedeutung. Ein Gebäude kann

„Wir suchen bei unseren Gebäuden nicht „ Architektur besteht im Wesentlichen in

nicht wie ein Buch gelesen werden. […] Wir

einer Erweiterung der Natur, einer Ausdeh-

wollen viel eher ein Gebäude schaffen, das 5 idem, S. 52

3 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 32

6 idem, S. 52 7 idem, S. 53

4 idem, S. 38

20

Empfindungen hervorrufen kann, anstatt die eine oder andere Idee zu repräsentieren.“8 Jaques Herzog Diese Herangehensweise wendet sich vom Funktionalismus ab, hin zur emotionalen Ebene. Verstand wird hier durch Gefühl ersetzt. An die Stelle der Idee des Geistes rückt das Wesen der Dinge.

Nach Peter Zumthor soll „ein Gebäude nicht etwas darstellen, sondern etwas sein“.9 Das Schwierige daran ist allerdings, dass das Gefühl etwas ist, das man nicht messen kann. Man kann es lediglich aus Erfahrungen hervorrufen und annehmen.

Dabei wird der Mensch als Maß der Dinge genommen. Der menschliche Körper wird zum Equivalent des Baukörpers. Wir verstehen, was wir selber erfahren können. Uns ist es möglich, in unserer Umwelt das zu begreifen, was unser Körper selbst fühlen kann. So auch Heinrich Wölfflin: „Sie [die Körper] können uns nur das mitteilen, was wir selbst mit ihren Eigenschaften ausdrücken.“

10

8 Kipnis,Jeffrey, „A conversation with Jacques Herzog“, in: El croquis 1997, H 84, S. 7-21 9 Zumthor, Peter , „Der harte Kern der Schönheit“, 1991, in: Architektur Denken, Baden 1998, S. 27-34 10 Wölfflin, Heinrich (1991), Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Berlin, S. 10

21

RAUMSTUDIEN

Studien über das menschliche Empfinden im Raum Um das menschliche Empfinden in bestimmten Räumen besser begreifen zu können, haben wir Raumstudien durchgeführt, die verschiedene Situationen in Bezug auf Licht und Schatten, Temperatur, Höhe, Tiefe, Weite und Enge, darstellen. Hierbei wird angenommen, dass die anwesende Person blind ist und den Raum somit nicht visuell wahrnimmt, sondern über die anderen Sinne erfährt.

Licht und Schatten

„[...] light can be experienced through the fluction in temperature.“1 Jasmien Herssen Licht stellt ein wichtiges Element für die haptische Erfahrung dar. Oft können Menschen, die an einer Sehbehinderung leiden, Licht und starke farbliche Kontraste wahrnehmen. Daher dienen solche Elemente

Somit kann das Spiel von Licht und Schat-

oft als Orientierungshilfe. (Bsp.: e W. Ross

ten in verschiedenen Situationen zur Erwei-

Macdonald School for the Blind, Ontario,

terung der Imagination und des Wohlbefin-

Canada).

dens führen.2

Schatten kann im Alltag ein wichtiges Ele-

Vor allem in der japanischen Architektur

ment darstellen. Oft empfindet man Tages-

ist der Schatten ein Element, das bewusst

licht und somit eine klare Sicht unbewusst

angewendet wird, um die Erlebbarkeit der

als störend, da dies zu einer Einschränkung

Architektur zu bereichern. Dem japani-

des Vorstellungsvermögens führen kann.

schen Schriftsteller Tanizaki Jun‘ichiro zu-

Möchten wir uns beispielsweise auf eine Sa-

folge gehe von diesem eine gewisse Magie

che konzentrieren, so schließen wir die Au-

aus, die dem Raum einen ästhetischen Aus-

gen, um uns besser fokussieren zu können.

druck verleihe.3

Intime und emotionale Momente erleben

Dies bedeutet, dass in bestimmten räum-

wir häufig lieber mit geschlossenen Augen

lichen Situationen der Einfall von Schatten

oder in dunklen Räumen. Zur Entspannung

auch für den Sehenden nicht nur geduldet,

schalten wir oft das Licht aus und zünden

sondern sogar erwünscht sein kann, um die-

Kerzen an. All diese Handlungen geschehen

se besondere „magische“ Atmosphäre zu er-

unbewusst und sorgen dafür, dass sich un-

zeugen.

ser Vorstellungsvermögen frei von klar vorgegebenen, visuellen Eindrücken, entfalten kann.

2 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 58 ff.

1 Herssens, Jasmien (2011), Designing Architecture for More. A Framework of Haptic Design Parameters with the Experience of People Born Blind, Heverlee, S. 253

3 Jun’ichiro, Tanizaki (1992), Lob des Schattens, Manesse Verlag, Zürich, S. 38

24

direkter Lichteinfall von oben

direkter Lichteinfall von der Seite

Die Unterscheidung der Richtung des

Die Unterscheidung der Richtung des Lichtes als Orientation im Raum. Z.B. das Licht

Lichtes als Orientierung im Raum. Z.B. das

von der Seite - Wohnzimmer

Licht von oben

grell, könnte blenden

“Naturally daylight can be really important

“Für manche Menschen macht Tageslicht

for the health, also from a psychololistic

einen großen Unterschied. Frau Rabe

point of view. You can also feel the warmth

zum Beispiel schaltet überall das Licht

of the sun on your skin.”

an, weil sie es gerne hell hat.”

Carlos Mourao Pereira

Frau Dörfer

26

gezielter Lichteinfall gezielter Lichteinfall als Hilfe zur Orientierung bei unterschiedlichem Bedarf Der Raum bietet sowohl hellere als auch dunklere Stellen Unterscheidung der Atmosphären in einem Raum mit der Hilfe von starkem Lichtkontrast

“Manche brauchen ganz viel Tageslicht, um noch etwas erkennen zu können, andere haben es lieber dunkel”. Frau Dörfer

verschattetes Licht Man hat Bezug zum Außenraum (der Wind ist spürbar) ist aber mit der Überdachung von Schnee und Regen oder von heißer Sonne geschützt Unterscheidung der Atmosphären in einem Raum mit der Hilfe von windigen und geschützten Stellen Je nach Art der Sehbehinderung verschlechtert der Einfall von Tageslicht den Zustand der Betroffenen

27

Lamellen von oben

Lamellen an der Seite

diffuser Lichteinfall.

diffuser Lichteinfall.

Auf Boden verschwimmen Licht und Schat-

Unterschied zwischen Licht und Schatten

ten ineinander kontrastreicher Lichteinfall

auf Boden stark erkennbar

im Bewegungsraum als Hilfestellung zur

Die Unterscheidung der Richtung des

Orientierung

Lichtes als Orientierung im Raum. kontrastreicher Lichteinfall im Bewegungsraum als Hilfestellung zur Orientierung

“Light can be experienced through the fluction in temperature.� Jasmien Herssen (S.253)

28

Ornamentik oben diffuser Lichteinfall im gesamten Raum angenehme Voraussetzung fĂźr Menschen mit Sehbehinderung

Ornamentik an der Seite diffuser Lichteinfall im gesamten Raum angenehme Voraussetzung fĂźr Menschen mit Sehbehinderung

29

Lichtstreifen von oben

Lichtstreifen von der Seite

Wie eine Art Führung im Raum.

Licht fällt auf bestimmten Punkt ein -

Man kann sich an Streifen orientieren

Der schmale Lichtstrahl kann als ein

(wie helle Streifen auf Treppe)

Mittel z.B. für das Aufwachen im Morgen helfen In gegenüberliegender Ecke immer Schatten Punktual einsetzbarer Lichteinfall um allen Bedürfnissen gerecht zu werden

30

Öffnung

Das Fenster stellt die Verbindung zwischen zwei Welten dar: innen und außen, geschlossen und offen, privat und öffentlich, Licht und Schatten. Somit kann es verschiedene Sinneserfahrungen in Bezug auf Temperatur, Geräusche und Gerüche begünstigen.

Heutzutage wird es oft nur noch als Loch in

man einen Raum beispielsweise mit einer

der Wand gesehen, das möglichst viel Licht

schweren Tür ab, die sich nur mit Kraftauf-

hereinlässt.4

wendung aufdrücken lässt, so ist man sich

Große Fensterflächen zieren die Fassaden

dessen bewusst, dass man einen privateren

vieler Wohnbauten, ohne in Frage zu stel-

Bereich betritt und das Gefühl von Sicher-

len, ob so viel Licht überhaupt nötig ist.

heit stellt sich ein.5

Diese werden fast ausschließlich mit Drei-

5 Herssens, Jasmien (2011), Designing Architecture for More. A Framework of Haptic Design Parameters with the Experience of People Born

fachverglasung ausgeführt, sodass sie sowohl vor Kälte- als auch Geräuschen schützen. Doch ist dies wirklich an jeder Stelle notwendig und wünschenswert? Oder gibt es Situationen, in denen es erlaubt oder gar wünschenswert ist, dass die Geräusche der Natur und die Kälte von Außen in das Innere dringen?

Gleichzeitig kann die Abschottung nach außen, durch dicke Wände und stark isolierte Fenster, ein Gefühl von Geborgenheit auslösen.

Die Art der Schließung einer Öffnung kann erheblich zur Orientierung im Raum und zum Raumgefühl beitragen. Schließt 4 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 60

31

32

Fensteröffnung verglast

Fenster offen

Kein direkter Bezug zur Außenwelt

Direkter Bezug zur Außenwelt.

Unterbrechung der Wand

Unterbrechung der Wand

Material (Glas) ist kälter

Andere Materialität

Fenster lässt mehr Kälte rein

Lässt Geräusche und Wind rein

“The transicional spaces can be really rich in senses and haptic”.

Carlos Mourao Pereira

33

Tür als Raumverbindung

Tür als Orientierung im Raum

Abschottung zu anderen Räumen

2 Räume werden mit Geräuschen

Bewegen der Tür als Orientierung,

etc. miteinander verbunden

die Schwere der Tür als Orientierung,

Bewegen der Tür als Orientierung,

zu welchem Raum man sich nähert

die Abwesenheit von einer Tür als Hindernis zur Orientierung

34

Tür öffnen

Tür halb offen

Bewegen der Tür als Orientierung Tür

Die Bewegung von einem dunklen

als Element, das den Raum unterbricht

Raum zu einem helleren als Orientierung

Tür hat anderes Material und andere

Tür als Element, das den Raum unterbricht

Durchlässigkeit

Tür hat anderes Material und andere Durchlässigkeit

"However, in some conditions, heavy doors can contribute to privacy because they dis-

“Openings are clearly marked and support

courage entry." Jasmien Herssen (S. 264)

the body’s ergonomics and movements.”

Jasmien Herssen (S. 270)

35

Tür geschlossen

Tür offen

Tür als Element, dass den Raum ergänzt

Tür als Verbindung zwischen Innen

Tür hat anderes Material und

und Außenwelt.

andere Durchlässigkeit

Die Bewegung von einem dunklen Raum zu einem helleren als Erkennungsmerkmal Tür als Element, das den Raum unterbricht Tür hat anderes Material und andere Durchlässigkeit

36

Möblierung

Die Möblierung des Raumes wirkt sich besonders

auf

das

Individualitätsgefühl

des Nutzers aus. So ist beispielsweise ein Wandschrank dazu da, persönliche Dinge zu verstauen und sie für Besucher unsichtbar zu machen.6 Ein großer Esstisch kann zum Zusammensitzen einladen, den Fokus des Zusammenlebens auf die Küche richten und das Beisammensein fördern. Das Bett hingegen stellt eher einen privaten Ort dar, in den man sich gerne alleine zurückzieht. Eine Erhöhung des Bettes kann zur Verstärkung des Gefühls von Privatsphäre führen.7 Somit gibt es bestimmte Möbel, wie einen Stauraum als Versteck für Persönliches, ein Bett als privater Rückzugsort und der große Esstisch als Ort der Zusammenkunft, die essenziell für das gemeinschaftliche Wohnen sind. Andere Möbel hingegen, wie etwa der Schreibtisch oder das Regal sind Einrichtungen, deren Wichtigkeit individuell vom Blind, Heverlee, S. 263 6 Bachelard, Gaston (1975), Die Poetik des Raumes, Carl Hanser Verlag, München, S. 108 7 Pallasmaa, Juhani “Identity, intimacy and domicile. Notes on the phenomenology of home”, unter: http://www.uiah.fi/studies/history2/e_ ident.htm [3. Jan. 2018]

37

Möbel als Wegeführung: Kücheninsel

Möbel als Wegeführung: Sitzbank

Werden möglichst nicht an die Wände

Innenausbau, das für mehreren Zwecken

gestellt, damit sowohl die Möbel als auch

dienen kann, gleichzeitig als Wegeführung

die Wände zur Raumorientierung helfen

und Orientierung im Raum

Möbel wird sowohl als Raumteiler als auch als Handlauf eingesetzt

“I also need the sofa in the room, to struc-

Verkleinert Abstände im großen Raum

ture the room”. Carlos Mourao Pereira

“The furniture is as important as architecture” “I need to touch the furniture to understand the room” Carlos Mourao Pereira

38

Orientierung

Nutzer abhängen und eventuell nicht in jedem Privatzimmer benötigt werden.

Die Orientierung ist für die haptische Wahrnehmung

von

großer

Bedeutung.

Der Betrachter erfährt die Oberflächen im

Kurve miteinander vereinigt sein. Für die

Raum im Bezug zum Körper. Man nimmt

taktile Wahrnehmung ist eine rhythmische

sowohl die Position als auch die Richtung

Wiederholung von Flächen, Ecken oder

von Oberflächen war -

ob sie zur körper-

Raumverbindungen von Vorteil. Dazu dient

lichen Achse nach oben-unten, links-rechts

beispielsweise die Verwendung von Trep-

oder vorne-hinten angeordnet sind. Dafür

pen, da hier die Orientierung nach der An-

ist der körperliche Kontakt mit dem Boden,

zahl und Regelmäßigkeit der Stufen erleich-

Wänden, Möbeln und der Decke im Raum

tert wird.9

wichtig.

Die Untersuchungen von Jasmien Herr-

9 idem, S. 268

sens zeigen, dass es den Menschen leichter fällt, sich zu orientieren, wenn die Oberflächen parallel oder orthogonal zueinander und zur Körperachse gerichtet sind.8 Dazu kann die Anordnung der Oberflächen zueinander als ein hilfreiches Element für die Orientierung im Raum dienen, da die Beziehung der Oberflächen unterschiedlich sein kann. Zum Beispiel können die Ebenen sowohl nah zueinander liegen und nicht verbunden sein, als auch mit einer Ecke oder 8 Herssens, Jasmien (2011), Designing Architecture for More, A Framework of Haptic Design Parameters with the Experience of People Born Blind, Heverlee, S. 267

39

Wegehführung mit Höhenunterschied Eine verändernde Höhe des Raumes als Erschaffen von unterschiedlichen Atmosphären, gleichzeitig als Wegeführung und Orientierung im Raum

“Ramps are better than stairs”.

Carlos Mourao Pereira

Möbel als Wegeführung: Fensterbank Fensterbank hat mehrere Funktionen: Sitzgelegenheit, Fensterbrett, Handlauf

40

Raumform

Die Raumform ist essenziell für das Gefühl von Geborgenheit und Wohlbehagen, welches man je nach Größe, Tiefe, Weite, Höhe und Enge des Raumes empfindet.

Vor allem Geräusche werden in unterschiedlich geformten Räumen verschieden wahrgenommen. So veranlasst eine Kuppel-

stoßen und verletzen, ist es nützlich mit ab-

decke beispielsweise, dass die Schallwellen

gerundeten Formen zu arbeiten. Allerdings

auf einen Punkt in die Mitte zurückreflek-

können zu viele runde Wände zu Verwirrung

tiert werden.

führen, wenn man keinen konkreten Anfang

Aber auch Nischen und Winkel sind Raum-

und kein konkretes Ende bildet. Bei einer

formen, die sich extrem auf das Empfinden

Wendeltreppe beispielsweise kann man An-

auswirken.

fang und Ende genau spüren, weshalb sie als angenehm empfunden wird.11

„Aber zunächst ist der Winkel eine Zuflucht; die uns einen ursprünglichen Daseinwert sichert: die Unbeweglichkeit.“

11 Herssens, Jasmien

10

Bachelard Gaston So bilden Winkel und Ecken Orte, welche oft mit dem Einsamsein und somit auch dem Schweigen verbunden sind. Sie bilden temporäre Rückzugsorte, in welchen man häufig nur kurz verweilt, um alleine zu sein.

Da sich Menschen mit einer Sehbehinderung oft an scharfen Ecken und Kanten 10 Bachelard, Gaston

(1975), Die Poetik des

Raumes, Carl Hanser Verlag, München, S. 166

41

(2011), Designing Archi-

42

43

Raumbegrenzung allseitig körpernah

Raumbegrenzungseitlich körpernah

Die Raumgröße ist an die durschnittliche

Die Raumgröße ist an die durschnittliche Körperbreite des Menschen angepasst, in

Korpergröße des Menschen angepasst

der Höhe aber nicht erreichbar

Eine Untersuchung, wie stark man die

Eine Untersuchung, ob das gleichzeitige

Atmosphäre im Raum taktil wahrnehmen

Spüren von beiden Wänden des Gangs

kann: es könnte sowohl ein positives, ges-

ein Sicherheitsgefühl hervorruft und zur

chütztes Gefühl hervorrufen, als auch ein eingeengtes negatives Gefühl

besseren Orientierung dient

“I don’t like rooms that are less than 2,40

vorbeizulaufen

Allerdings ist es nicht möglich, aneinander

high, because you never know if there is a “You can feel the atmosphere and hight of

lamp or something else hitting you.”

a room by the accousting and the tempera-

Carlos Mourao Pereira

ture of the material”. Carlos Mourao Pereira

44

Raumbegrenzung nur mit ausgestreckten Armen spürbar, Decke körpernah

Die Raumgröße ist in der Breite an die ausgestreckten Arme eines Menschens angepasst. In der Höhe ist die Form nach der Körpergröße gerichtet Das gleichzeitige Spüren von beiden Wänden des Raumes kann ein Sicherheitsgefühl bewirken und zur besseren Orientierung verhelfen. Durch die niedrige Decke kann der Raum beengend wirken

Raumbegrenzung nur mit ausgestreckten

Es ist möglich, im Raum aneinander vorbei-

Armen spürbar

zulaufen

Die Raumgröße ist in der Breite an die

According to Maarten Wijk, the size of a

ausgestreckten Arme eines Menschens an-

clear structure ideally consists out of short

gepasst. In der Höhe ist die Form nach der

routes between interrelating function

Körpergröße gerichtet. Das gleichzeitige

Jasmien Herssen S.271

Spüren von beiden Wänden des Raumes kann ein Sicherheitsgefühl bewirken und zur besseren Orientierung verhelfen.

Durch die niedrige Decke kann der Raum beengend wirken

“ it makes you feel safer if you know, that you can’t hit your head at the cieling.”

Carlos Mourao Pereira 45

Raumbegrenzung nur mit ausgestreckten Armen spürbar, gewölbte Decke

Die Raumgröße ist in der Breite an die ausgestreckten Arme eines Menschens angepasst. In der Höhe ist die Form nach der Körpergröße gerichtet Das gleichzeitige Spüren von beiden Wänden des Raumes kann ein Sicherheitsgefühl bewirken und zur besseren Orientierung verhelfen Raumbegrenzung allseitig körpernah

Raumgefühl kann sich durch Ertasten en-

gewölbte Decke

twickeln

Die Raumgröße ist an die durschnittliche

“It’s better to create diversity in atmosphere by creating cielings that have differ-

Korpergröße des Menschen angepasst

ent hights and shape than by using stairs”.

Das gleichzeitige Spüren von beiden

Carlos Mourao Pereira

Wänden, die Anpassung der Decke an der Körperform als Gemütlichkeits- und Geborgenheitsfaktor Raumbegrenzung kann beengend wirken Raumgefühl kann sich entwickeln

46

gebogene Wand Gebogene Wände im Raum, Wände sind mit Händen ertastbar Eventuell stellt sich das Gefühl von Geborgenheit ein, angenehmere Orientierung im Raum als an eckigen Kanten

“You should avoid edges. Round edges are much more comfortable to tough than harsh edges.” Carlos Mourao Pereira achteckiger Raum

“When relaxing, the participants tend to like curved and round forms because they

Man hat im Gegensatz zum runden Raum

contribute to the atmosphere.”

nicht das Gefühl, sich im Raum zu verlieren,

Jasmien Herssen (S.265)

da man sich durch Abzählen der Ecken im Raum orientieren kann

“If the number [of planes] is too high, the configuration is probably too complicated like for example the hexagonal space that one of the participants of the home visits referred to.” Jasmien Herssen (S.270)

47

Erhöhte niedrige Sitzecke

Sitznische im Fenster

Schutzgefühl und Geborgehnheit in einem

Schutzgefühl und Geborgehnheit

niedrigeren Raum

in einem niedrigeren Raum.

ein längerer Weg zu einem niedrigeren

zum kurzen Verweilen

Raum als eine Orientationshilfe

Rückzugsort zum Alleinsein

Unterscheidung zwischen unterschiedlichen

von allen Seiten umschlossen

Atmosphären

“Windows are rich places facing their “Different hights creat a different atmo-

haptical characteristics. Since they are

sphere”. Carlos Mourao Pereira

transitional spaces. You are not inside, you are not outside, you are somewhere in between. But these are spaces for temporary use. I like it much more to have my desk agains the wall than against the window.” Carlos Mourao Pereira 48

Temperatur

Oft können verschiedene Temperaturen in einem Gebäude die Sinneswahrnehmung bereichern. So fühlt man sich unter einem

Generell sind extreme Unterschiede eher

Vordach, während der Regen darauf hinab-

akzeptabel, wenn sie nicht zum Berühren

prasselt, geschützt und somit stellt sich ein

gedacht sind, sondern durch passive Be-

besonderes Gefühl von Geborgenheit und

rührung erfahren werden. Berührt man bei-

Wohlbefinden ein. Ein vom Kamin beheiz-

spielsweise eine kalte Hand, so zuckt man

ter Raum strahlt eine Wärme aus, die man

schnell zurück, befindet man sich hingegen

häufig mit dem Gefühl von Zuhause verbin-

in einem kühlen Raum, so hält man dies län-

det.

ger aus.13

Die Kühle eines Wintergartens oder Innenhofs wirkt an heißen Sommertagen ange-

13 idem,S.259

nehm und erfrischend. Dennoch sollte man darauf achten, nicht zu extreme Temperaturunterschiede anzuwenden, da sich der Körper nur zwischen 20 und 40 Grad Celsius an die umgebende Temperatur anpassen kann und man sich somit nur in diesem Bereich wohl fühlt.12

tecture for More, A Framework of Haptic Design Parameters with the Experience of People Born Blind, Heverlee, S. 270 12 idem,S.259

49

50

geschlossener Raum: Temperatur: warm, windgeschützt Gefühl: geborgen, abgeschottet, zurückgezogen 2 Seiten offen: Temperatur: windig, warm/kühl Gefühl: kann unangenehm sein, Raum ist lebendig, je nach Wetter ändert sich Raumgefühl Wind spürbar Unterschiedliche Temperaturen im Raum

Regen, Sonne, Schnee nur indirekt spürbar

alle Seiten offen:

“the transicional spaces can be really interesting places. Imagine you are sitting in a

Temperatur: je nach Jahreszeit kalt oder

loggia. You can feel the outside but you are

warm

protected from snow, rain and sun. “

Gefühl: Freiheit, ungeschützt vor Regen,

Carlos Mourao Pereira

Sonne, Wind, Schnee, mit Natur verbunden oben offen: Temperatur: kühl, windgeschützt Gefühl: ungeschützt, mit Natur verbunden Regen, Sonne, Schnee fällt direkt ein

“A curtyard surrounded by walls can be a very comfortable place. In Portugal it’s very comfortable to have a cold curtyard. In Latvia you would be protected from the wind”.

Carlos Mourao Pereira

51

Materialität

genschaften automatisch.

Die Temperatur eines Materials hängt davon ab, wie stark sie die Hitze leitet und auch wieder abgibt und wie luft- und strahlungsdurchlässig das jeweilige Material ist. Holz beispielsweise ist ein wärmeres Material als Stahl. Eine dünne japanische Papierwand ist luftdurchlässiger als eine Holztür. Glas hat die Eigenschaft die Sonnenstrahlen durchzulassen.

Die Doktorandin Jasmien Herssens führte in ihrer Arbeit Interviews mit Menschen mit Sehbehinderung durch, mithilfe derer sie die einzelnen Eigenschaften untersuchte. In ihrer Studie ergab sich, dass bei der Temperatur keine extremen Unterschiede erwünscht sind. Sind die

Eine Studie von Jasmien Herssens ergab,

Materialien, die hohe Temperaturunterschiede

dass ein Luftzug oft positiv erfahren wird,

aufweisen, nicht zum Anfassen gedacht, so seien

da dieser Informationen über die Tempera-

diese leichter aushaltbar.15

tur und die Richtung im Raum geben kann.

Ist dieser jedoch zu stark kann er irritieren

Die Textur einer Oberfläche vermittelt einem

oder als unangenehm empfunden werden.

Informationen darüber, ob eine Oberfläche eher

Der Architekt Juhani Pallasmaa regt dazu an,

rau oder glatt ist. Generell empfindet man glat-

natürliche Materialitäten wie Stein, Backstein

te Oberflächen zum Berühren mit der Hand als

oder Holz zu verwenden, da diese ihr Alter, ih-

angenehmer, da man sich dann nicht verletzen

re Geschichte und ihre Wurzeln zeigten und

kann. Dies trifft auch zu, wenn man auf dem Bo-

somit für den Menschen verständlich seien. Im

den sitzt, oder barfuß über einen Boden läuft.

Gegensatz hierzu verwende man heutzutage zu-

Ansonsten ist es für den Fuß angenehmer, wenn

nehmend Materialien wie Plastik, Glas, lackierte

man einen rauen Untergrund betritt, da dies die

Metalle etc. die zur nicht alternden Perfektion

Ausrutschgefahr verringert. An Orten, die zum

beitrügen, jedoch nicht als „wahrhaftig“ gesehen

Verweilen gedacht sind, bevorzugt man eher

werden könnten und somit für den Menschen

glatte Oberflächen. Bereiche, die einen durch

unverständlich seien.14

den Raum leiten sollen, sind leichter zu begreifen, wenn sich ihre Oberflächen in der Textur

Materialitäten haben einen enormen Einfluss auf die haptische Erfahrung von Architektur.

Sie können sich in ihrer Temperatur, Textur, Dichte, Durchlässigkeit, Reflexion und der Elas-

15 Herssens, Jasmien

(2011), Designing Archi-

tizität unterscheiden. Berühren wir die Oberflä-

tecture for More, A Framework of Haptic Design

che eines Materials, so erfahren wir all diese Ei-

Parameters with the Experience of People Born Blind, Heverlee, S. 260

14 Pallasmaa, Juhani

(2013), Die Augen der

Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 40

52

stark unterscheiden.16

Um dies zu erreichen, gingen sie stark auf die

Die Elastizität eines Materiales beschreibt sei-

sinnliche Erlebbarkeit von Architektur ein und

ne Eigenschaft sich bei Krafteinwirkung auszu-

arbeiteten eng mit dem Bauherren zusammen.

dehnen, bzw. zu verformen. Berührt man eine

Da es der Wunsch des Bauherren war, in ei-

Oberfläche aktiv oder in Bewegung, so bevor-

nem Zuhause zu leben, das nicht den Anschein

zugt man harte, unelastische Materialien. Dies

machte, für einen blinden Menschen entworfen

ist auch der Fall, wenn man durch einen Raum

zu sein, fanden die Architekten Wege, die multi-

geleitet wird. Zum Entspannen sind weiche Ma-

sensorische Architektur mit visueller Ästhetik zu

terialien ansprechender. Möchte man beispiels-

verknüpfen, sodass das Ergebnis für alle Sinne

weise schnell durch einen Park von einem Haus

ansprechend ist.

zum anderen gelangen, so kommt ein betonier-

Dabei ist vor allem der Tastsinn von großer Be-

ter Weg gelegen. Hat man jedoch Zeit und möch-

deutung. Um die Orientierung im Gebäude zu

te man die Sonne genießen, so geht man auch

erleichtern, planten sie beispielsweise für jeden

gern über den weichen Rasen zu einem schatti-

Raum einen anderen Bodenbelag. Dadurch ist es

gen Ort zum Verweilen.

dem Bauherrren möglich, sich direkt beim Be-

17

Die Durchlässigkeit von Luft eines Materiales

treten des Raumes zu lokalisieren. Des Weiteren

wird durch passive Berührung erfahren und

verwendeten sie verschiedene Fliesen, die der

kann sich positiv auf das Gemüt auswirken. Ein

Bauherr aufgrund ihrer kalten, glatten Oberflä-

zu starker Luftzug, wie es etwa bei offenem

che sehr schätzt. Auch der Treppenhandlauf aus

Fenster in einem Auto der Fall ist, wird oft als

mahagoni wurde mit Bedacht gewählt, da er so-

unangenehm empfunden.

wohl für das Auge ansprechend ist, als auch bei Berührung mit der Hand ein angenehmes Gefühl

Referenzbeispiel house for a blind client

auslöst.

Charles Moore and Richard B. Oliver

Die Orangerie bildet den zentralen Raum des Gebäudes und regt durch ihre Konzipierung al-

Die Architekten Charles Moore und Richard B.

le Sinne an. Durch mehrere Pflanzen, die unter-

Oliver entwarfen auf einem ländlichen Grund-

schiedlich riechen, wird der Geruchssinn ange-

stück in der Nähe von New York ein Haus für

sprochen. Ein Brunnen in der Mitte des Raumes

einen blinden Bauherren und seine Familie. Ihr

gibt ein angenehmes Plätschern von sich und der

Ziel war es, etwas zu kreieren, das „genauso ge-

Boden um den Brunnen herum ist mit glatten,

fühlt, wie gesehen“ werden könne.

kühlen Fliesen ausgelegt.

18

Die natürliche Belüftung des Gebäudes ermöglicht das Eindringen von Gerüchen des umge-

16 idem,S.255 - 257

benden Kiefernwaldes.

17 idem,S.258 - 259 18 Filler, Martin , “Extra sensory percep-

ent, Charles Moore and Kent Bloomer in: “Extra

tions” in: Progressive Architecture 1978, 78.4,

Sensory Perceptions” Progressive Architecture

S. 82-85 oder Plan of the house for a blind cli-

1978, 78.4, S. 82-85

53

54

55

Fliesenboden kühles Material Bodenbelag kennzeichnet Raum (Flieenboden = Küche, Außenraum)

56

Holzfußboden

Backsteinwand

leitet und speichert Wärme

Gefühl von Gebortenheit wegen Massivität

“Knarzen” des Holzes beim Betreten zu

haptisches Material (Fugen ertastbar)

hören

Rauheit kann unangenehm für Hand sein

glattes Material

natürliches Material

hat bestimmten Geruch beispielsweise in Sitzecken anwendbar

“Natürliche Baustoffe - wie Stein, Ziegel und Holz - erlauben unserer visuellen Wahrnehmung, in ihre Oberflächen

“[...] in terms of preferences, people like

einzudringen und uns so der Wahrhaftigekt

smooth textures if something has to be

des Materials zu versichern.”

Juhani Pallasmaa S.40

touched by a sensitive part of the body.”

Jasmien Herssens S.256

57

ARCHITEKTUR SPÜREN

58

59

Interview mit Carlos Muraou Pereira und Siegfried Saerberg

Die spezielle Voraussetzung Wohnraum

Anspruch man an die Architektur hat, führ-

für Menschen mit Sehbehinderung zu pla-

ten wir ein Interview mit dem Architekten.

nen, dient hierbei als eine Art Stütze, um die Aufmerksamkeit nicht wie üblich dem Visuellen, sondern den restlichen Sinnen zu Innenarchitektur

schenken. Menschen mit Sehbehinderung nehmen ihre Umwelt durch die Haptik, das Taktile, das Auditive und das Olfaktive

“The furniture is as important as ar-

wahr.

chitecture.”

Die Sehbehinderung dient also als Hilfestellung um die visuelle Basis der Architektur zu überwinden und multisensorische Ar-

Pereira nach sei es genauso wichtig die In-

chitektur zu schaffen.

nenarchitektur mitzuplanen, wie die Architektur des Gebäudes an sich.

Carlos Muraou Pereira – Interview

“You should avoid edges. Round edges are much more comfortable to touch than harsh edges.”

Der portugiesische Architekt Carlos Muraou Pereira ist 2006 erblindet und beschäftigt sich intensiv mit der Thematik multi-

Die Möbel sollten im besten Fall abgerun-

sensorischer Architektur.

dete Ecken haben, damit man sich nicht an

Um eine Idee davon zu bekommen, wie

den scharfen Ecken stößt. Abgerundete Mö-

man Architektur wahrnimmt, wenn man sie

belstücke aus natürlichen Materialien, wie

nicht sehen kann und welchen ästhetischen

z.B. die Stühle von Thonet oder Charles Ea-

60

mes seien ratsam. Die Tische könnten eine

zusätzlichen Hindernisse zu schaffen.

rechteckige Form haben, sollten gleichzei“You can feel the atmosphere and

tig aber auch abgerundete Ecken aufwei-

hight of a room by the acoustic and the

sen.

temperature of the material”.

Niedrige Möbel seien zu vermeiden.

“I need to touch the furniture to un-

Verschieden hohe Räume seien leichter

derstand the room”

durch

unterschiedliche

Deckenhöhen

er-

reichbar, als durch Anhöhungen in der LaufeDurch das Berühren der Möbel könne man

bene. Dies rufe eine Beanspruchung und ein

sich im Raum orientieren. Einbaumöbel sei-

besonderes Erlebnis sowohl auf visueller als

en zum einen zur Orientierung im Raum

auch taktiler und auditiver Ebene hervor, da

hilfreich und zum anderen dienten sie dazu,

sich ein niedriger Raum, aufgrund der Wär-

scharfe Ecken zu vermeiden. Carlos nannte

me der Luft unterschiedlich anfühlt und auch

Einbauschränke als nützliche Alternative zu

einen anderen Klang wiedergibt.

üblichen Schränken, die scharfe Kanten ver-

Generell sollte man altruistisch und nicht

ursachten.

egozentrisch planen.

Seiner Meinung nach sei es ratsam, mit Fensteröffnung und Lichteinfall

Schiebetüren zu arbeiten, da man sich bei offenen Drehtüren leicht verletzen könne.

Höhenunterschiede im Raum

“Naturally daylight can be really important for the health, also from a psychological point of view. You can al-

“It’s better to create diversity in at-

so feel the warmth of the sun on your

mosphere by creating cielings that ha-

skin.”

ve different hights and shape than by using stairs”.

Pereira nannte Öffnungen als sehr wichtige Elemente, nicht nur für die visuelle sondern

Treppen sollten vermieden werden, da

auch taktile Raumwahrnehmung.

diese Stolperfallen darstellten. Besonders

Durch die Fenster könne man Temperatu-

müsse man hier Stresssituationen beden-

runterschiede wahrnehmen wie beispielswei-

ken.

se ein warmer Sonnenstrahl der durch das Fenster auf der Haut scheint.

“ It makes you feel safer if you know, that you can’t hit your head at the cie-

“Windows are rich places facing their

ling.”

haptical characteristics. Since they are

Daher sollte man generell auf Höhenun-

transitional spaces. You are not insi-

terschiede im Boden verzichten, um keine

de, you are not outside, you are some-

61

where in between. But these are spaces

liche Materialien, wie Silikon oder Plastik

for temporary use. I like it much more

könnten im Raum eine eher negative Auswir-

to have my desk against the wall than

kung auf den Geruchssinn haben.

against the window.”

Wände voller Schränke oder Regale mit Büchern könnten eine gedämpftere Akustik und

Außerdem bedeutete das Fenster, dass man

somit auch eine behaglichere Atmosphäre

eine Verbindung nach außen schaffe. Hier

ausstrahlen.

könne man beispielsweise sehr gut mit Sitz-

Die Verwendung von Holz für den Innenaus-

fenstern arbeiten, die in die Wand eingebaut

bau könne Carlos nach für eine warme und

seien. Jedoch stelle dies lediglich einen tem-

akustisch angenehme Atmosphäre sorgen.

porären Aufenthaltsort dar, da es nicht etwa

Andere Gerüche können beispielsweise aus

als Arbeitsplatz mit langer Aufenthaltsdauer

dem Kamin, aus der Küche oder dem Garten

funktionieren würde.

kommen. Hier ist jedoch zu beachten, dass jeder Mensch eine subjektive Wahrnehmung

Er wies auf die Tzen Philosophie aus Japan

von Gerüchen habe, und der eine beispiels-

hin, die das Fenster als ein Element im Flur

weise den Geruch von frisch gewaschener

nutze, da man sich dann immer auf die Aus-

Wäsche mag, während der andere ihn als un-

sicht im Flur freuen könne und es nicht mehr

angenehm empfindet.

als Selbstverständlich hinnimmt. Wenn man Referenzen für Architektur

das Fenster im Wohnzimmer hat, gewöhnte man sich an den Ausblick und die Schönheit geriete schneller in Vergessenheit.

Pereira nannte die Grundrisse von Mies van der Rohe, aufgrund ihrer klaren Struk-

Aus diesem Blickwinkel sollte man das

tur, als gute Referenz. Seine Gebäude seien

Fenster als Element auch auf nicht-visueller

komplex, und dennoch könne man sich gut

Ebene betrachten.

orientieren.

Es gäbe keine Ecken, da die Räume immer

Materialitäten

rechteckig seien. Somit bestehe keine Verletzungsgefahr. Hier bemerkt Pereira, dass man

Pereira nach seien unterschiedliche Mate-

die Innenwände tragend gestalten könne, um

rialien in Betracht zu ziehen, um die Raum-

sich an den Außenwänden besser orientieren

nutzungen zu differenzieren. Beispielsweise

zu können.

könne man, wenn der Bodenbelag eigentlich

Als Referenz für sinnliche Architektur nann-

Beton ist, den Bereich um den Küchentisch

te er Peter Zumthor.

aus Holz machen, um ein wärmeres Gefühl

Pereira bezeichnete diese jedoch nicht als

beim Betreten des Bereiches zu haben.

multisensorisch.

Auch Gerüche der Materialien seien von enormer Wichtigkeit und sollten unbedingt in den Entwurf miteingeplant werden. Künst-

62

Räume mit Temperaturunterschieden

herrsche eine völlig unterschiedliche Atmosphäre.

“The transitional spaces can be really inteSiegfried Saerberg – Interview

resting places. Imagine you are sitting in a loggia. You can feel the outside but you are

Der Soziologe Dr. Siegfried Saerberg be-

protected from snow, rain and sun. “

schäftigt sich unter anderem mit der soziaEine Veranda oder eine überdachte Terrasse

len Inklusion für Menschen mit Behinderung

/ Balkon könnten Pereiras Meinung nach die

und setzt sich mit diesem Thema vor allem

Raumwahrnehmung durch die unterschiedli-

künstlerisch auseinander.

chen Temperaturen bereichern und differen-

Berater der Kunst- und Ausstellungshalle der

zieren. Genauso könnte man verschiedene

Bundesrepublik Deutschland in Bonn.1

Außerdem ist er

Arten von Innenhöfen einplanen. Auch eine

Da der Soziologe selbst blind ist und sich in

Feuerstelle im Freien könne gut funktionie-

seinen Projekten viel mit der sinnlichen Um-

ren.

weltwahrnehmung beschäftigt, führten wir

Wind könne im Raum ein unangenehmes

ein Interview mit ihm, um aus seiner Sicht zu

Gefühl hervorrufen, aber gleichzeitig sei eine

erfahren, welche Auswirkung Architektur auf

Lüftung im Raum oder eine sanfte Frischluft-

die Sinne haben kann.

zufuhr notwendig. Daher sei es ratsam, Fens-

Weil er sich in seiner Kunst besonders mit

teröffnungen weiter oben anzuordnen, um ei-

Musik und Klängen beschäftigt, ging er wäh-

ne frische Brise zu verspüren und die Natur

rend des Interviews vor allem auf die Um-

von außen nach innen zu lassen und somit

weltwahrnehmung durch Geräusche ein.

ein angenehmes Gefühl zu haben.

Klänge der Umwelt

Kontrast zwischen Lautstärken

Meist nimmt man all die Klänge und GeEine Bereicherung für das Raumerlebnis

räusche, die einen dauerhaft umgeben, nur

seien nicht nur unterschiedliche multisen-

unterschwellig oder überhaupt nicht wahr.

sorische Atmosphären, die durch die Natur

Man denkt nicht über die Geräusche nach,

verursacht werden (See mit Wellengeräu-

empfindet diese als lästig oder übertönt sie

schen, Wald mit rauschenden Baumbättern,

teils sogar mit lauter Musik. Für Menschen

Wiese mit duftendem Kräutergarten), son-

mit Sehbehinderung sind die Geräusche und

dern auch solche, die durch unterschiedliche

Klänge der Umwelt jedoch von enormer Be-

Gebäudeausrichtung und Aufbau bestimmt

deutung – zum einen zur Orientierung und

werden.

zum anderen als Verbindung zur Umwelt.

Beispielsweise könne ein Zimmer in einer

Im Interview ging Saerberg auf die einzel-

Wohnung in der Stadt zur Straße hin ausgerichtet sein, während ein anderes zum ruhi-

1 Saerberg, Siegfried , http://www.siegfriedsaerberg.com/?Siegfried_Saerberg [20.

Nov. 2017]

gen Innenhof gerichtet ist. In beiden Räumen

63

nen Kategorien von Umgebungen ein, die

eher wegschließe und im Sommer häufiger

unterschiedliche Klänge aufweisen. Er nann-

hineinlasse.

te die Geräusche der Stadt an erster Stelle

Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit,

– Automotoren, das Geräusch eines starten-

die Klänge auch gezielt ins Haus eindringen

den oder landenden Flugzeuges, Fußgänger,

zu lassen, indem man mit unterschiedlichen

Menschen in Läden oder in Cafés. Im Ge-

Arten von Klangrohren arbeitete.

gensatz dazu seien seiner Meinung nach im ländlichen Raum vor allem die Geräusche,

“Wenn ich gerne hören möchte, wie

die verschiedene Tiere von sich geben, wie

der Wind mit den Bäumen spielt, könn-

z.B., Kühe, Hühner oder Hunde wahrnehm-

te ich ein Klangrohr auf diesen Baum

bar, oder auch die Natur, wie das Rascheln

aufrichten, der draußen steht, damit

der Blätter in den Bäumen, das gleichmäßige

er den Klang auffängt und ihn in den

Rauschen von Wellen im Meer, das Vorbeif-

Raum leitet.”

ließen eines Flusses oder das Geräusch des Klänge des Innenraumes

Regens.

Im Bezug auf den Regen mache laut Saerberg der Ort, an dem man sich befände, ei-

Die Klänge im Inneren des Gebäudes wer-

nen großen Unterschied, da sich die Regen-

den vor allem durch die Materialität be-

tropfen die auf ein Dach hinabprasseln an-

stimmt: Ist der Boden aus Holzdielen und

ders wahrgenommen werden, als der Regen,

knarzt, wenn man ihn betritt? Oder ist er aus

der gegen die Fensterscheibe schlägt oder

Stein, Marmor, Fliesen oder Teppich? Jedes

auf den Boden tröpfelt. Demnach gibt es vie-

Material hat einen anderen Klang.

le Möglichkeiten, mit den unterschiedlichen “Teppich ist ein gutes Instrument, um

Geräuschen der Natur zu arbeiten.

den Klang in einem Raum zu verändern,

Saerberg machte ebenfalls auf den Verlauf

genauso wie Gardinen und Möbel.”

der Tageszeiten aufmerksam. Dies sei bei der Planung eines Gebäudes besonders zu beachten, da unterschiedliche Geräusche zu

Wenn man den Innenraum mit dicken Sofas,

unterschiedlichen Tageszeiten von draußen

Teppichen und Gardinen einrichtet, könne

nach drinnen dringen könnten. Damit seien

man den Klang sehr stark variieren. Auch Bü-

Beispielsweise “der Hahn, der morgens um

cher dämmten Geräusche erheblich.

drei kräht” oder “die Vögel die morgens oder

Wie bereits vermutet, bestätigte der Sozio-

abends singen” gemeint.

loge die Bedeutung der Raumhöhe, da ein

Dabei spielten laut Saerberg die Jahreszei-

hoher Raum ganz anders klingt, als ein nied-

ten eine große Rolle, da das Singen der Vögel

riger.

jahreszeitlich bedingt sei.

Somit ist die Decke im Raum von großer Re-

Gleichzeitg gab er zu bedenken, dass die

levanz, da sie die Klänge reflektiert.

Fenster im Winter seltener geöffnet werden

Saerberg macht auch auf die Eigengeräu-

und im Sommer hingegen vorzugsweise offen

sche des Hauses aufmerksam. Damit seien

seien, sodass man Naturgeräusche im Winter

64

beispielsweise das Rauschen eines Heizungs-

Saerberg nennt die Sonne als wichtigen

systems, eines Kamins oder Kachelofens ge-

Faktor für die Sinne. Sie habe großen Ein-

meint.

fluss auf die Atmosphäre im Raum. Beispiels-

Dazu kämen die menschlichen Geräusche,

weise duftet ein Holzboden stärker, sobald

wie Reden, welche in unterschiedlichen Räu-

die Sonne darauf scheint.

men zu unterschiedlichen Tageszeiten wahr-

Außerdem spüre man in einem Zimmer mit

genommen werden.

Südausrichtung die Wärme der Sonnenstrah-

Je nach Material des Raumes werden die

len auf der Haut, wenn diese hineinscheint.

Klänge unterschiedlich reflektiert und wahr-

Darüber hinaus könne sie ganze Räume auf-

genommen.

heizen- wie beispielsweise einen kalten Win-

Im Wohnzimmer sei der Klang wegen der

tergarten.

Polstermöbel eher gedämpft, im Gegensatz

Um die Witterungsbedingungen im Gebäu-

dazu wirkten die Geräusche in der Küche

de „sichtbar“ zu machen, schlug Saerberg

durch die Steinfliesen und polierten Schrän-

beispielsweise vor, den Klang des Regens

ke ganz anders.

anhand von unterschiedlichen Vordächern

Auch die Art der Geräusche unterscheidet

aus verschiedenen Materialien zu variieren.

sich Saerberg zu Folge stark. In der Küche

Er wies auch auf japanische Windspiele und

seien verschiedene Arbeitsgeräusche zu ver-

Wasserklangspiele hin, die vor allem im Gar-

nehmen, wie kochendes Wasser, laufende Kü-

ten eine Bereicherung der Sinne darstell-

chengeräte oder das Klirren von Besteck und

ten.

Tellern. Hinzu käme die Wärme des Backo-

Menschliche Bedürfnisse

fens, wodurch die Küche eine ganz eigene

Jeder Nutzer hat unterschiedliche Bedürf-

Atmosphäre aufweise.

nisse, auf die man, so Saerberg, eingehen

Zusätzlich könnten Saerbergs Vorschlag

müsse. Hierbei sei das Gefühl von Wohlbefin-

nach durch einen Gewürzschrank oder eine

den individuell und kulturell bedingt.

Kräuterecke die Gerüche in der Küche noch “Manche

intensiver wahrgenommen werden.

mögen

Durchzug,

manche

nicht.“ Ein hallender Klang in der Kirche wirke laut Saerberg behaglich, könnte jedoch im fal-

Auch Sonnenlicht wird ganz unterschied-

schen Kontext unerwünscht sein. Die Musik

lich wahrgenommen. Die Sonnenstrahlen

und der Weihrauch seien in der Kirche beson-

auf der Haut

dere multisensorische Elemente. Ausgenom-

den einen angenehme Auswirkungen haben,

men von Kirchen sei in den meisten Räumen

während ein anderer eine Sonnenbrille zum

eine klare Akustik angenehmer, da dies die

Schutz tragen müsse, da bei ihm die Strahlen

Orientierung erleichtere.

Schmerzen verursachten.

Einfluss der Natur

terschiedliche Möglichkeiten von Sonnenein-

können Saerberg zufolge für

Daraus ergibt sich, dass ein Gebäude unstrahlung bieten sollte.

65

“Es kann alles ganz unterschiedlich sein, das ist das Interessante daran.”

Haptik Die

Verwendung

von

unterschiedlichen

Oberflächen im Raum könnten zum Erlebnis der Architektur beitragen. Materialien, wie Stein, Backstein, Holz, Tapeten, Polster und Stoff könnten sich angenehm anfühlen.

Genauso sollte man auf die Wärme und Kälte von Materialien achten. Weich, warm und gemütlich könne es sich laut Saerberg auf einer Couch oder einem Bett anfühlen. Stelle man sich vor, es ist draußen warm und man sitzt auf dem Bett, so löse dies ein angenehmes, wohliges Gefühl aus.

66

67

DIE SINNES WAHRNEHMUNG

Das Visuelle, Auditive, Taktile und Olfaktorische

Die vier wichtigsten Sinne des Menschen

interpretiert und bewertet wird.

zur Wahrnehmung der Umwelt sind der Ge-

Der Sehsinn verhilft zum Einen zur Orien-

sichtsinn, der Gehörsinn, der Geruchs- und

tierung im Raum und zum Anderen zur Kom-

Geschmackssinn und der Tastsinn. Durch

munikation. Durch die visuelle Wahrneh-

den Körper werden die einzelnen Sinnesein-

mung nehmen wir räumliche Zusammen-

drücke miteinander verknüpft. Die Aufgabe

hänge, Bewegung, Helligkeit und Farben

des Gehirns ist es dann, die ankommenden

auf.2

Daten zu verarbeiten. Es entsteht eine sub-

wie folgt: von einem Punkt gehen Strahlen

jektive Wirklichkeit, da die einzelnen Reize

aus, die auf der Netzhaut ein umgekehrtes

aufgenommen und unterschiedlich bewer-

Bild ergeben, welches über Photorezepto-

tet werden. Dies erklärt, weshalb Dinge oft

ren verarbeitet und in elektrische Impulse

sehr unterschiedlich wahrgenommen wer-

umgewandelt wird, die über den Sehnerv an

den.

das Gehirn geleitet werden. Je nach Inten-

1

Dabei funktioniert der Sehvorgang

sität des Lichtes stellt sich die Pupille bei Visuelle Wahrnehmung

der Wahrnehmung enger oder weiter.

Die vom Gehirn empfangenen Informatio-

Der für uns wichtigste Sinn zur Umwelt-

nen werden mit bereits vorhandenen vergli-

wahrnehmung ist der Sehsinn. Von ihm

chen und interpretiert. Dadurch kommt es

erhält das Gehirn etwa 80% der Wahrneh-

bei der visuellen Wahrnehmung zur subjek-

mung. Allerdings ist diese Wahrnehmung

tiven Wirklichkeit.

subjektiv, da sie vorerst nur durch das Auge

3

2 idem, S. 43

1 Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines "Blindengartens" durch einen Sehenden, Kassel, S. 41

3 Sanofi-Aventis Deutschland, “Sinne - vom Sehen zum Tasten” unter: https://mein.sanofi.de/ themen/mensch-und-gesundheit/die-5-sinne?context=Aerzte [22. Nov. 2017]

70

Bedeutung für Menschen mit Sehbehinde-

Biologische Vorgänge

rung

Das Ohr ist der äußerlich sichtbare Teil Erblindet ein Mensch erst im fortgeschrit-

des Gehörsinnes. In der Ohrmuschel sam-

tenen Alter, so kann er noch auf sein opti-

meln sich Schallwellen, die durch den Ge-

sches Erinnerungsvermögen zurückgreifen.

hörgang zum Trommelfell gelangen. Trotz

Bis zum Eintritt der Erkrankung wurde

zeitlicher Verschiebung während des Vor-

die Umweltwahrnehmung vom Sehsinn be-

gangs, ortet das Gehirn die Geräuschquelle

stimmt. Daher fällt das räumliche Vorstel-

ohne bemerkbaren Verzug.

lungsvermögen leichter. Außerdem kann

Auch hier werden die weitergeleiteten Si-

sich der Betroffene Farben vorstellen und

gnale im Gehirn verarbeitet und interpre-

Begriffe vorhandenen Informationen in der

tiert. Oft rufen Klänge und Geräusche emo-

Erinnerung zuordnen. Mit der Zeit geht das

tionale Gefühle hervor, was erklärt, dass

Erinnerungsvermögen zurück, jedoch bleibt

Musik einen beispielsweise zum Tanzen ani-

ein Teil erhalten.

miert oder einem bei bestimmten Klängen die Tränen in die Augen schießen.6

Auditive Wahrnehmung

Generell leiten feste Stoffe Schall besser als Flüssigkeiten, Flüssigkeiten wiederum besser als Gase.

“ein Gebäude reagiert nicht auf unsere Bli-

Zum Gehörsinn gehört auch der Gleichge-

cke, doch seine Wände reflektieren unsere Klänge und Geräusche.”

wichtssinn, der Drehung, Beschleunigung,

Juhani Pallasmaa4

Verlangsamung tet.

und

Vibration

verarbei-

7

Diesen Worten nach zu schließen besteht Menschen mit Sehbehinderung

im Gegensatz zum Auge zwischen Gebäude und Architektur eine Interaktion. Das Gesehene nimmt durch die Aufnahme von Klän-

Da der Gehörsinn von allen fünf Sinnen

gen und Geräuschen plastische Gestalt an.

der differenzierteste ist und sogar genau-

Somit werden Räume auch durch Geräusche

er und leistungsfähiger als das Auge einge-

wahrgenommen. Distanzen können besser

stuft wird, ist er für Menschen mit Sehbe-

eingeschätzt, Höhen und Tiefen erkannt

hinderung von besonderer Bedeutung.8

werden. Auch Möbel können über das Ge-

6 Wengel, Andrea /Geier, Mona, “Sinne. Hören” unter: https://www.planet-wissen.de/natur/sinne/hoeren/index.html

hör wahrgenommen werden, da diese den Klang unterschiedlich reflektieren.

5

7 Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines "Blindengartens" durch einen Sehenden, Kassel, S. 45

4 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 62

8 Wengel, Andrea /Geier, Mona, “Sinne. Hören” unter: https://www.planet-wissen.de/natur/sinne/hoeren/index.html [14. Nov. 2017]

5 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 62 ff.

71

Menschen mit Sehbehinderung

Er verhilft unter anderem zur Fernorientierung im Raum und zur Erkennung von Gefahren. Außerdem können Distanzen bes-

Der Tastsinn ist für blinde Menschen eines

ser eineschätzt werden, da die Klangquali-

der wichtigsten Sinnesorgane zur Wahrneh-

tät eines Materiales oder Gegenstandes je

mung der Umwelt. In Verbindung mit Bewe-

nach Entfernung unterschiedlich ist.

gung wird das Tasten zum dreidimensionalen Raumerlebnis, da es zur Orientierung im

Taktile Wahrnehmung

Raum und zur Erkennung von Oberflächen verhilft und darüber hinaus Warnsignale an das Gehirn sendet.11 Hierbei reagieren die

“alle Sinne, einschließlich des Sehsinns sind Erweiterungen des Tastsinns.”9

unter der Lederhaut liegenden Kälterezep-

Juhani Pallasmaa

toren schneller als die tiefer liegenden Wärmerezeptoren.12

Biologische Vorgänge

Olfaktorische Wahrnehmung Geruchssinn

Als Tastsinn wird die Fähigkeit der Haut bezeichnet, Empfindungen wahrzunehmen.

Dies geschieht durch Berührung. Hierbei können

Empfindungen,

wie

„Ein spezifischer, charakteristischer Geruch

Temperatur,

lässt uns unwissentlich einen Raum noch

Druck und Schmerz durch Rezeptoren auf-

einmal betreten, auch wenn dieser schon

genommen werden. Das wichtigste Organ

längst aus dem visuellen Gedächtnis ver-

zur taktilen Wahrnehmung ist die Hand, am

schwunden ist; Gerüche können vergessene

sensibelsten sind hier die Fingerspitzen.

Bilder wieder wachrufen und uns dazu ein-

Das Gehirn wird fortwährend mit Informa-

laden, eine Fantasiewelt zu betreten.“13

tionen von Millionen von Tastsensoren ver-

Juhani Pallasmaa

sorgt. Ist es dunkel, so tastet man sich an den Gegenständen entlang und das Tasten

Meist bleibt die Erinnerung an einen be-

ersetzt das Sehen. So ist es auch bei blin-

stimmten Geruch am stärksten im mensch-

den Menschen.

lichen Gedächtnis vorhanden. Oft kommt

Vor allem für Kinder ist die taktile Wahr-

es vor, dass man sich durch die Aufnahme

nehmung von enormer Wichtigkeit. Sie tas-

eines Geruches direkt in eine bestimmte

ten sich an Gegenständen entlang und neh-

Situation zurückversetzt fühlt, ohne sie di-

men viele Dinge in den Mund um Informa-

rekt abrufen zu können. Der Geruch eines

tionen zu sammeln und zu verstehen.10

9 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 13

11 Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines "Blindengartens" durch einen Sehenden, Kassel, S. 46 ff. der

12 Sanofi-Aventis Deutschland, “Sinne - vom Sehen zum Tasten” unter: https://mein.sanofi. de/themen/mensch-und-gesundheit/die-5-sinne?context=Aerzte [22. Nov. 2017]

10 Sanofi-Aventis Deutschland, “Sinne - vom Sehen zum Tasten” unter: https://mein.sanofi. de/themen/mensch-und-gesundheit/die-5-sinne?context=Aerzte [22. Nov. 2017]

13 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 69

72

Parfüms kann einen beispielsweise direkt Biologische Vorgänge

an eine Person erinnern, ohne das jeweilige Gesicht konkret vor Augen zu haben.

Diese Macht und der Einfluss, den der Ge-

Der Geschmackssinn hingegen ist nicht

ruchssinn auf das Befinden des Menschen

so weit ausgereift wie die anderen Sinne.

hat, ist auch in der Architektur nicht außer

Durch Geschmackspapillen auf der Zunge

Acht zu lassen. So hat beispielsweise Holz

werden Geschmäcker wahrgenommen. Der

einen ganz bestimmten Eigengeruch. Auch

Mensch kann lediglich zwischen den Grund-

das Öffnen eines Fensters, welches den Ge-

geschmäckern süß, sauer, salzig, herzhaft

ruch des Waldes hineinlässt, kann von be-

und bitter unterscheiden. Im Zusammen-

sonderer Bedeutung sein.

hang mit allen Sinnen kann differenziertes Schmecken entstehen.17

Biologische Vorgänge 17 idem, [22. Nov. 2017]

In der Nasenschleimhaut befinden sich Sinneszellen, die Duftmoleküle erkennen.14 Durchweg und oft unbemerkt werden Informationen des Geruchssinns an das Gehirn weitergeleitet.

Da die zuständige Hirnregion stark mit dem für Erinnerungen und Gefühle zuständigen Bereich verknüpft ist, rufen Gerüche oft emotionale Erinnerungen hervor oder lösen Emotionen aus.15 Geschmackssinn „Zwischen Tast – und Geschmackserfahrungen findet ein subtiler Austausch statt.

Das Visuelle wird auch in den Geschmack übertragen; bestimmte Farben und Details rufen orale Empfindungen hervor.“16 Juhani Pallasmaa 14 Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines "Blindengartens" durch einen Sehenden, Kassel, S. 48 f.

15 Sanofi-Aventis Deutschland, “Sinne - vom Sehen zum Tasten” unter: https://mein.sanofi. de/themen/mensch-und-gesundheit/die-5-sinne?context=Aerzte [22. Nov. 2017] 16 Pallasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles, S. 75

73

MIT DEN HÄNDEN SEHEN

Der Tastsinn als Ausgangspunkt der Sinneswahrnehmung

Die taktile Wahrnehmung ist in unserem

“The fingers, as wielded by the hand, he

alltäglichen Leben von enormer Bedeutung,

noted, obtain information on the innards of

auch wenn wir die meiste Zeit nicht darüber

objects, whereas the eyes, remaining fixed

nachdenken. Schon Aristoteles und andere

at the outer surface of objects, play a lesser

Philosophen seiner Zeit sahen das Tasten

role in developing the belief in the reality of

als Übermittler für die anderen mensch-

the external world. He noted, too, that the

lichen Sinne - sogar für die visuelle Wahr-

importance of touch might be better appre-

nehmung.

ciated if as many people lacked the sense of

1

Man vermutet, dass der Mensch über den

touch (..) as lacked the sense of sight (..) or

Tastsinn schon vor der Geburt verfügt und

the sense of hearing.”

dass er so stark ausgeprägt ist, da er schon Haptik in der Sprache

im Mutterleib geschult wird.

Auf diese Weise betrachtet, beginnt das Sinnesleben mit dem Tasten und stellt somit

Die geschichtliche Bedeutung des Tast-

die Basis der anderen Sinne dar.2 Lester E.

sinnes spiegelt sich auch in der Nutzung

Krueger beschreibt in seinem Aufsatz Tac-

haptischer Begrifflichkeiten in der Sprache

tual perception in historical perspective: Da-

wider.

vid Katz´s world of touch die Gedanken von

Es werden oft Zusammensetzungen von Be-

David Katz über die Führung des Tastens

griffen genutzt, wie „scharfer Geschmack“,

durch die visuelle Wahrnehmung:

„dumpfes Geräusch“ oder „sanfte Farbe“, welche eigentlich die Eigenschaften des

1 Siegel, R. E. (1970), Galen on sense perception, New York

Tastbaren beschreiben, aber den anderen Sinnen helfen, in der Sprache anschaulich

2 Brown, T. (1838), Lectures on the philosophy of the human mind, vol. 1. Hallowell: Glazier, Masters and Smith, S. 212

zu werden.

Im Gegensatz dazu verwendet man Be-

76

grifflichkeiten anderer Sinne nicht, um den

da das Auge Informationen gleichzeitig

Tastsinn zu umschreiben. Redewendungen

wahrnehmen kann, die Hände hingegen nur

wie „lautes oder duftiges Berühren“ existie-

nacheinander. Zum Beispiel liest auch eine

ren beispielsweise nicht.

geübte Person die Braille Schrift viel lang-

3

In der Formulierung „haptische Wahrneh-

samer als ein Mensch, der etwas mit dem

mung“ rückt die Bedeutung der Haptik in

Auge liest.6

den Hintergrund. Dahingegen sagt man nie „visuelles Berühren“,

Des Weiteren werden die Eigenschaften

da das Sehen über

eines Materials erst erkennbar, wenn man

mehrere Eigenschaften verfügt, wie z.B.,

die Handoberfläche über das Material glei-

die Fähigkeit Farben wahrzunehmen - die

ten lässt.

Haptik jedoch nicht.

Somit hat die Bewegung für die Haptik die gleiche Bedeutung wie das Licht für das Vi-

Der Verstand des Tastsinnes

suelle : Visuelle Wahrnehmung ist nur mit Licht

Obwohl das Sehvermögen viel weiter als

erfahrbar und die Haptik erst durch die Be-

das Tastvermögen entwickelt ist, stimmt

wegung.7

David Katz der Meinung von Immanuel Kant zu, dass das Tasten als äußerer VerAktiver, passiver und dynamischer Tastsinn

stand des Menschen dient.4 Der Psychologe Géza Révész erweitert die These, indem er schreibt: “it may frequently be observed

Man unterscheidet zwischen drei Arten

that the hand is more intelligent and endo-

des Tastsinns: aktive, passive und dynami-

wed with greater creative energy than the

sche Wahrnehmung.

Das aktive Tasten umschreibt die aktive

head”.5

Berührung einer Oberfläche mit dem KörDas Sehen und das Hören können wichti-

per durch Bewegung. Beim dynamischen

ger als das Tasten erscheinen, da der Be-

Tasten handelt es sich um die körperliche

trachter diese präziser einsetzen und von

Wahrnehmung einer Oberfläche durch Be-

ihnen

wegung eines dritten Gegenstandes. Dies

Informationen

in

einer

größeren

Menge aufnehmen kann.

kann beispielsweise ein Blindenstock oder

Der Psychologe Géza Révész ist der Mei-

ein Möbelstück sein. Beim passiven Tas-

nung, dass die visuelle Wahrnehmung der

ten ist der Körper indirekt beteiligt. Dies

haptischen Wahrnehmung überlegen sei,

ist beispielsweise die Wahrnehmung eines Luftzuges, welcher beim Schließen einer

3 Williams, J. M. (1976), Synaesthetic adjectives: a possible law of semantic change.

Language, S. 52

Tür entsteht.

4 Schiff, William, Emerson Foulke (1982), Tactual perception: a sourcebook, Cambridge

6 William Schiff, Emerson Foulke (1982), Tactual perception: a sourcebook, Cambridge

5 Révész, Géza(1950), G. Psychology and art of the blind, London, S. 58

7 Révész, Géza (1950), G. Psychology and art of the blind, London, S. 58

77

Alle drei Arten der haptischen Wahrneh-

schaut, tastet das Auge schon, bevor man

mung sind für die Architektur von enormer

ein Objekt sieht, hat das Auge das Gewicht,

Bedeutung.8

die Temperatur und die Textur beurteilt.

Das Auge und die Hand arbeiten miteinan-

Die Bedeutung der Hand

der.

Diese Art der hintergründig haptischen

Der Architekt und Theoretiker Juhani Pal-

Wahrnehmung und Beurteilung eines Ob-

lasmaa beschreibt in seinem Buch „The

jektes, die während des Sehprozesses ab-

thinking hand“ die Bedeutung der Hand

läuft, bestimmt die sinnlichen Qualitäten

von der Geschichte bis zur Gegenwart – er

des Wahrgenommenen.10

schlägt den Bogen von den Handabdrücken

Laut Pallasmaa müsse man den Gegen-

der Menschen in palaeolitischen Hüllen-

stand in der Hand gehalten haben, bevor

zeichnungen bis zum Kunstunterricht heut-

man etwas über dessen konkrete Eigen-

zutage, wo die Kinder ihre Handabdrücke

schaft aussagen kann. Beispielsweise fällt

auf weißen Blätter hinterlassen. Die Hand

es einem schwer, echte von unechten Topf-

wird oft als Symbol für unterschiedliche

pflanzen zu unterscheiden. Berührt man

Themen, wie Schutz oder Macht benutzt.

sie jedoch mit der Hand, so kann man die

In den meisten Berufen sind die Hände

Beschaffenheit

das Hauptinstrument für das Ausüben des

beim Einkauf ist dieses Phänomen zu beob-

Berufes. Außerdem werden Hände für den

achten: Man möchte den Stoff eines Klei-

körperlichen Kontakt, wie beispielsweise

dungsstückes erst berühren, um die Dicke,

den Händedruck genutzt. Mit den Händen

die Sanftheit und die Schwere des Stoffes

zu gestikulieren, scheint für den Menschen

bewerten zu können. Genauso verspürt man

eine Art von natürlichem Ausdruck zu sein,

in einem Gebäude, welches man zum ersten

da die Hände direkt mit dem Verstand ver-

Mal betritt, den Drang, die Wände zu be-

bunden sind und somit als Übermittler und

rühren, um die Materialität und das Relief

Unterstützer der Sprache dienen. Auch die

der Wand spüren zu können. Allein mit der

Menschen, die blind geboren sind, gestiku-

visuellen Kraft wäre es nicht möglich, ganz-

lieren mit den Händen um Aussagen zu un-

heitlich die Beschaffenheit eines Objektes

terstützen.9

zu erahnen.

direkt

beurteilen.

Auch

Pallasmaa zufolge ist die unbewusst hap-

Somit spielt die Haptik in der Architektur

tische Erfahrung unvermeidlich in der visu-

eine große Rolle, da man sowohl mit der

ellen Wahrnehmung versteckt. Bevor man

Hand als auch mit dem Auge die Gestalt eines Materials aufnimmt. Die Werke von Sigurd Lewerentz, Louis Kahn, Aldo van Eyck,

8 Herssens, Jasmien, (2011), Designing Architecture for More, A Framework of Haptic Design Parameters with the Experience of People Born Blind, Heverlee, S. 243 9 Pallasmaa, Juhani hand, Chichester

(2009),

The

Peter Zumthor, Alvar Aalto oder Lars Sonck gehen besonders tief auf die haptische Sin-

thinking

10 idem

78

neswahrnehmung ein.

Der Tastsinn übermittelt durch Signale

Ihre Architektur mag nicht immer ästhe-

das Gefühl für Einladung oder Ablehnung,

tisch perfektioniert sein, jedoch verfügt sie

Nähe und Entfernung, Vergnügen oder Ab-

über eine tiefe emotionale Kraft.

stoßung.

Pallasmaa beschreibt mehrere Objekte,

Somit nimmt der Tastsinn unbewusste Di-

bei denen es den Architekten gelungen ist,

mensionen ein, die Pallasmaa zufolge in der

die Haptik der Gebäude nach außen treten

heutigen Architektur enorm vernachlässigt

zu lassen. Im Dom von Tampere von Lars

werden. Architektur könne das Auge locken

Sonck beispielsweise, seien die Wände aus

oder amüsieren, bietet jedoch keinen wirk-

natürlichem Stein gebaut. Beim Anschauen

lichen Raum für die haptische Erfahrung

und Berühren der relieftiefen Oberfläche

unseres Körpers, Erinnerungen und Träu-

erfahre man die Architektur sowohl visuell

me.

als auch haptisch - jeder Stein scheine mit

Im Gegensatz dazu erzeuge laut Pallasmaa

besonderer Aufmerksamkeit in die Wand

ein qualitatives? architektonisches Werk ei-

gebaut zu sein.11

ne untrennbare Zusammensetzung von Ein-

Bei Alvar Aaltos Werken geht Pallasmaa

drücken, idealisierten Empfindungen, sowie

vor allem auf den bemerkenswerten Um-

die Bewegung, das Gewicht, die Spannung,

gang mit der Geschichte des Ziegelsteines

die strukturelle Dynamik, den formellen

ein. Im Gemeindezentrum in Säynätsalo

Kontrapunkt und den Rhythmus, welche zu

kommt das Taktile stark zum Vorschein und

einem Maßstab unserer Realität werden.

äußert sich im Umgang mit der Außenfassa-

Als Beispiel hierfür nennt er Louis Kahn,

de aus Ziegelschichtungen.

welcher in den Beton vom Salk Institute Vulkanasche hinzufügte, um eine mattierte Sanftheit auf der Oberfläche zu erzeugen.

Haptische Sinneserfahrung

Hier verschmelzen Architektur und die Vertrautheit der haptischen Erfahrung mitein-

Der Körper erinnert sich an vieles, was uns

ander.13

gar nicht bewusst ist. Wenn wir einmal ein

Bestenfalls vermittelt ein Objekt, durch

Material ertastet haben, werden wir beim

die haptische Erfahrung seinen Entste-

zweiten Mal wissen, wie es sich anfühlen

hungsprozess und seine Struktur. Auf eine

sollte.

Art berührt hier der Nutzer durch die hapti-

Für Pallasmaa ist der Körper der Mittel-

sche Erfahrung die Hand des Schöpfers. Ein

punkt der menschlichen Welt.

Beispiel für solch ein Element ist die Türklinke. Durch das Schieben der Tür mit dem eigenen Körpergewicht wird diese eins mit

“My body is truly the navel of my world,

der architektonischen Struktur.

not in the sense of the viewing point of a central perspective, but a 'sole locus' of the

Architekten wie Alvar Aalto oder Le Cor-

reference, memory, imagination and integ-

bussier sind sich dessen bewusst, da sie in

ration.”

12

13 idem 11 idem 12 idem

79

ihren Gebäuden meist Details wie die Tür-

Sinnlichkeit und tatktiles Gefühl.16

klinke oder Handläufe zu jedem Projekt pas-

Pallasmaa weist darauf hin, dass die Ge-

send entwerfen.14 Juhani Pallasmaa (2009),

bäude keine abstrakten, sinnlosen Konst-

The thinking hand, Chichester

ruktionen oder ästhetische Kompositionen darstellten, sondern die Erweiterung unse-

Das Taktile im Entwurfsprozess

rer Körper, Erinnerungen unserer Identität und unseres Verstandes.

Pallasmaa beschreibt den Entwurfs- und Gedankenprozess

Handlungsabfolgen

“In my own collaboration with painters,

des Wartens, Zuhörens, Gegenwirkens und

als

sculptors and craftsmen extending over four

Dialoges. Ihm nach sei es wichtig, diese

decades, I have learnt to admire their ca-

Handlungsabfolgen in der Architektur spür-

pacity to grasp essences of things through

bar zu machen.

their hands and bodies, and through their

Die Planung sowie die Wegeführung durch

nonconceptualised

existential

understan-

die geschaffenen Räume sollen zu einem

ding rather than through intellectual and

Erlebnis werden, welches einen zu Orten

verbal analyses. They rely on the silent wis-

führt, die man auf diese Weise zuvor nie er-

dom of the body and the hand.”17

fahren hat.

Hierbei sei die Tätigkeit der Hand, ihre

16 idem

Vorstellungskraft, ihre Beziehung zu Unsi-

17 idem

cherheit und Zweifel maßgebend für den Entwurf einer sinnlich erlebbaren Architektur.

Laut Pallasmaa entwickle Architektur existenzielle und lebendige Metaphern durch Raum, Struktur, Materie, Gravität und Licht.

Der gesamte Körper des Menschen nehme an diesem Gedankenprozess teil.15 Genauso wie der Verstand nicht malen könne, könne er auch keine Räume schaffen oder erfahren: diese Rolle in der Architektur übernehme Pallasmaa nach der Körper.

Während der Verstand intellektuelle, konzeptionelle und geometrische Ideen entwickelte, projiziere die Hand Spontanität,

14 idem 15 idem

80

81

BEGEGNUNGEN

Dialoge im Zusammen hang mit Architektur und Blindheit

Besuch Blindenwohnstätte Weißensee Interview mit der Bewohnerin Frau Rabe

derung unterschiedlich ausgeprägt ist.

Pro Etage sind zwei Pfleger für die Ver-

Die Blindenwohnstätte Weißensee wurde

pflegung der Bewohner zuständig.

1995 in Berlin errichtet. Nach Süden hin Alltag

grenzt das Grundstück an einen den See umgebenden Waldweg, nach Norden hin an die vierspurige Berliner Allee. Sowohl Bus-

Die Bewohner der Wohnstätte sind nicht

als auch Tramhaltestelle befinden sich in

mehr berufstätig. Sie halten sich überwie-

unmittelbarer Umgebung. Mit den öffentli-

gend in der Wohnstätte auf, gehen im Gar-

chen Verkehrsmitteln gelangt man in etwa

ten spazieren, sitzen auf dem Balkon oder

einer halben Stunde ins Stadtzentrum.

in der Gemeinschaftsküche.

Viele von ih-

nen nehmen an den angebotenen Veranstaltungen teil.

Wohnkonzept

Es gibt dreimal täglich Essen, zu welchem die Bewohner aus jedem Stockwerk zusam-

Der Komplex bietet Raum für rund 100 Be-

menkommen.

wohner. Das Gebäude erstreckt sich über Freizeit

5 Geschosse, wobei das oberste Geschoss Privatwohnungen beherbergt. Pro Geschoss gibt es einen gemeinschaftlichen Essbe-

Die Wohnstätte bietet unterschiedliche Ver-

reich und 25 Einzelwohnungen, die ca. 24

anstaltungen für die Bewohner an. Hierfür ste-

m² groß sind, mit kleiner Teeküche, Bad,

hen zwei Veranstaltungsräume und der Garten

Zimmer und eventuell Balkon.

zur Verfügung. Beispielsweise findet einmal

Das Alter der Bewohner reicht von 50 bis

täglich eine Singstunde statt und es gibt auch

100 Jahren, wobei der Grad der Sehbehin-

sportliche Aktivitäten in der Wohnstätte.

84

„Es gibt hier insgesamt 19 Freizeitan-

Platz man zum sitzen hat. Der beliebteste

gebote in der Woche. Von denen 5 von

Ort der Bewohner ist der Brunnen, um wel-

Honorarkräften geleitet werden. Melo-

chen man sitzen kann. Hier ist es schattig

die und Rhythmus, sonntags kommt der

und man kann im Sommer das Plätschern

Pfarrer, Rehasport, Yoga... Die kommen

des Brunnens wahrnehmen. Der Garten ist

dann von außerhalb. Und dann gibt es

durch einen Zaun vom Weg abgegrenzt.

noch die Angebote vom Haus. Dazu geInnenausbau

hört Rechnen, Raten, Rätseln, Kochen.

Im Obergeschoss haben wir noch eine Wohnung und da findet das statt... Da

Im gesamten Gebäude befinden sich Hand-

ist noch ein Ergotrainer drin, das ma-

läufe zur Orientierung. Starke Kontraste

che ich ab und an. Auch sehr beliebt ist

werden ebenfalls eingesetzt, um die Orien-

„Geschichten aus alter Zeit“. Da liest

tierung der Bewohner zu erleichtern. Bei-

jemand vor. Aber ich nehme nicht an al-

spielsweise ist der Flur in jedem Geschoss

lem teil, da wäre die Woche ganz schön

mit zwei schwarzen Streifen markiert. Der

voll.“

Treppenanfang ist jeweils mit einer Absperrung aus Metall versehen, damit man nicht

Im Keller gibt es eine Hörspielbibliothek,

die erste Treppenstufe übersieht.

in welcher viele Bewohner ihre Zeit verbrin-

Handläufe, ebenfalls aus Metall, führen

gen. Bei schönem Wetter sitzen einige auf

durch das gesamte Gebäude, damit sich die

ihrem Balkon oder draußen im Garten am

Bewohner im Notfall daran festhalten und

halbrundförmigen Brunnen, welcher wie ei-

sich hier entlang orientieren können.

ne Art „Meeting Point“ funktioniert. Wenn

Persönliche Gegenstände der Bewohner

Besuch kommt, ist der Garten auch ein be-

am Handlauf der jeweiligen Tür erleich-

liebter Aufenthaltsort der Bewohner.

tern das Erkennen der eigenen und anderer

Um in die Stadt zu gehen oder andere Din-

Wohnungen bzw. das Einschätzen der Dis-

ge außerhalb der Wohnstätte zu erledigen,

tanz zur eigenen Wohnung.

ist es möglich, einen Begleitdienst zu „bu-

Dazu kommen kleinere Hilfen, wie der Ge-

chen“. Die meisten Bewohner gehen nicht

brauch von Blindenschrift im Aufzug oder

ohne Begleitdienst oder Besucher nach

auf den Wohnungstürschildern. Die Türen

draußen.

in der Wohnstätte gehen aus Sicherheitsgründen automatisch auf und zu.

Garten „Das Bett ist Standardausrüstung, da es beweglich sein muss.“

Der Garten der Wohnstätte wurde nachträglich geplant und blindengerecht konzipiert. Kreuzungen sind durch unterschiedliche Pflasterungen markiert. Die Bänke sind so gestaltet, dass sie eine runde Sitzform annehmen, sodass man weiß, wie viel

85

Fazit

„Die meisten Bewohner sind auf den Park angewiesen. Draußen brauchen viele eine

Äußere Aspekte

Art Betreuer. Am Wochenende bei schönem

Der Weg, um zur Wohnstätte zu gelangen,

Wetter sollte man sich, wenn man ängstlich

kam uns sehr stressig und unruhig vor. Die

ist, auf keinen Fall herauswagen. Da ist es

Hauptstraße, welche direkt zur Wohnstätte

wahnsinnig voll hier. Überall laufen Hunde

führt, ist laut und stark befahren, was eine

rum, Fahrräder, Kinder... Im Garten ist man

sehr aufgewühlte Atmosphäre verursacht.

dann gut aufgehoben, man hat Schatten

Von außen fällt der Blick direkt auf die gro-

hier, man hat den Handlauf.“

ßen Fenster des Gemeinschaftsraumes im

Es ist wichtig, dass alle Gegenstände im

Erdgeschoss. Es ist seltsam, die Bewohner

Gebäude ihren Platz haben. Somit sind Ein-

bereits von draußen direkt beobachten zu

baumöbel praktisch und können die Ori-

können.

entierung erleichtern. Große, hohe Räume

Als Besucher oder Pfleger nimmt man die

erschweren die Orientierung im Raum er-

visuelle Erscheinung des Wohnheimes eher

heblich, da man keinen Bezug zu Wand und

als trist wahr.

Decke hat.

Der Warteraum ist sehr klein und ungemütlich und in die fensterlosen Flure fällt

„Wichtig ist, wenn man nichts sieht,

kein natürliches Sonnenlicht. Auch der Es-

dass ein Raum zum laufen ist. Dass man

sraum lädt nicht wirklich zum Verweilen

sich mit Stöcken orientieren kann. Im

ein.

Bad beispielsweise ist es leicht. Aber ein sehr vollgestellter Raum bringt nichts.

„Es gibt zwar Essräume, aber leider

Viele haben vollgestellte Räume, weil

keine Gemeinschaftsräume für die Be-

sie sich von ihren Möbeln nicht trennen

wohner. An Gemeinschaftsraum fehlt

können. Möbel, die man zum sortieren

es vollkommen. Der Essraum wird not-

nutzen kann helfen sehr. Zum Beispiel

gedrungen als Gemeinschaftsraum ge-

die

nutzt“.

sehr praktisch.“

eingebauten

Wandschränke

sind

Funktionalität und Selbständigkeit Licht und Schatten

Viele der Bewohner trauen sich nicht ohne Begleitdienst nach draußen. Das hat einerseits mit dem Grad der Sehbehinderung zu

Je nach Art der Sehbehinderung ver-

tun, andererseits damit, dass das Gebäude

schlechtert der Einfall von Tageslicht den

direkt an eine vierspurige Straße grenzt.

Zustand der Betroffenen. Bei Netzhauter-

Obwohl man sich mitten in der Stadt befin-

krankungen ruft Sonnenlicht oft ein Ste-

det, fühlt man sich dadurch eher abgeschot-

chen auf den Augen hervor, sodass die be-

tet und begrenzt.

troffenen Personen draußen immer eine Sonnenbrille tragen müssen.

Frau Rabe hingegen schaltete in jedem

86

Organisation

Raum direkt das Licht an, um besser sehen zu können.

Draußen jedoch bevorzugte sie schattige

Es werden sowohl Pfleger für die gesam-

Plätze.

te Verpflegung aller Bewohner pro Stock-

Daher sind individuelle Möglichkeiten des

werk, als auch Pfleger zur Einzelbetreuung

Sonnenschutzes hilfreich, bzw. Räume mit

benötigt. Diese brauchen ebenfalls eigene

unterschiedlichem Lichteinfall.

Räumlichkeiten zur Übernachtung. Außerdem befindet sich im Erdgeschoss ein Büro-

Akustik

und Verwaltungsbereich.

Frau Rabe merkte direkt die schlechte

„Im Haus gibt es einen Friseur, da ge-

Akustik im großen Veranstaltungsraum an.

he ich auch ab und an hin. Ansonsten

Für sie war der kleinere Raum viel gemütli-

gehe ich manchmal in die Stadt. Es gibt

cher, da er nicht so hallte.

auch individuelle Betreuer, die dann extra gefragt werden können. Sie über-

„Für mich reicht die Raumgröße mei-

nehmen dann die Arztbegleitung oder

ner Wohnung aus. Denn wenn man

die Einkäufe für die Bewohner. Da die

nichts sieht, dann braucht man auch

Ärzte ja nur mit den Öffentlichen er-

nicht viele Kleider. Die Raumhöhe hier

reichbar sind.“

ist angemessen. Zur Orientierung ist es besser, wenn der Raum nicht so hoch Dialog im Dunkeln

ist.“

Ausstellung in Hamburg

Raumprogramm

Die Museumsausstellung “Dialog im Dunda viele der Bewohner in ihrer Mobilität

keln“ in Hamburg befasst sich damit, wie

eingeschränkt sind, wird das Freizeitange-

Menschen mit Sehbehinderung ihre Umwelt

bot vor Ort intensiv genutzt. Hierfür benö-

wahrnehmen.

tigt man verschiedene Veranstaltungsräu-

Man wird von einem blinden Guide in ei-

me. Auch Gästeräume werden benötigt, da-

ner kleinen Gruppe von ca. acht Personen

mit Verwandte von weiter weg problemlos

durch verschiedene Räume geführt. Als

zu Besuch kommen können.

Orientierungshilfe

bekommt

man

einen

Langstock. „Es gibt auch noch eine Gastwohnung,

Da die Räume völlig abgedunkelt sind,

pro Person pro Nacht 30 Euro. Die Woh-

nimmt man die Architektur nur durch Ge-

nung wird oft benutzt. Zum Beispiel

räusche, Gerüche und Fühlen wahr.

gibt es eine junge Dame, deren Mutter

Das erste Zimmer ist ein kleiner Vorraum,

aus Kambodscha zu Besuch kommt.“

dieser führt in einen Außenraum, der wie ein Garten mit Teich aufgebaut ist. Man

87

ist umgeben von Naturgeräuschen wie das

nicht weiß, ob man gleich auf einen Gegen-

Plätschern des Wassers oder Vogelgezwit-

stand trifft, oder nicht.

scher. Über eine Hängebrücke gelangt man

Es ist möglich, sich nach einiger Zeit an

in den nächsten Raum, welcher wiederum

die Räume zu gewöhnen, sodass man sich

auf ein „Schiff“ führt. Des Weiteren gibt es

problemlos orientieren kann. Ändert sich

einen Marktraum, der wie ein Außenraum

jedoch etwas im gewohnten Umfeld, so irri-

konzipiert ist.

tiert dies stark.

Dieser führt über eine „Straße“ zum Musikraum mit Bank und danach zum Café, in

In unserem Entwurf wird es nicht darum

welchem man an der Bar im Dunkeln etwas

gehen, Hilfestellung in Form von Handläu-

zu trinken bestellen kann.

fen etc. auszuarbeiten, sondern das Alltagsleben im Haus und auf dem Gelände mit

Fazit

allen Sinnen „erlebbar“ zu machen und „unsichtbare“ Hilfestellungen zur Orientierung

Die Dunkelheit macht einen aufmerksamer

im Raum zu geben.

auf Geräusche, Windzüge (um zu erkennen, ob jemand neben einem steht), Gerüche und Botanischer Garten Dahlem

Gegenstände. Sobald man in einen Raum

Duft- und Tastgarten

kommt, versucht man, sich an der Wand entlang zu tasten, um den Raum durchqueren zu können. Schon durch kleine Uneben-

Im botanischen Garten in Berlin-Dahlem

heiten im Boden wird man verunsichert.

gibt es einen „Duft- und Tastgarten“. Hier

Sitzt man auf einer Bank und kann man sich

sind die Pflanzen in Hochbeeten ange-

an einer Wand anlehnen, so fühlt man sich

pflanzt, damit ein Fühlen und Riechen an

sicherer als wenn man auf der Bank mitten

den verschiedenen Blättern möglich ist. Es

im Raum sitzt.

gibt verschiedene Kräuter wie Rosmarin,

Die Raumhöhe ist nur durch die Akustik

Schnittlauch oder Koriander aber auch aus-

spürbar. Durch Gegenstände ( z.B. Bilder)

gefallene Pflanzenarten wie Goldlack, die

und verschiedene Materialien an der Wand

sich durch ihre besondere Textur oder ihren

ist die Raumhöhe leichter wahrnehmbar,

intensiven Geruch auszeichnen. In der Mit-

was das Raumgefühl verändert.

te des Gartens befindet sich ein Pavillon.

Rampen, die nach oben führen, lassen einen glauben, man sei näher an der Decke

Der Garten weckt nicht nur die Sinne von

als zuvor. Räume ohne spürbares Ende ver-

blinden Menschen, sondern lässt auch se-

mitteln einem viel mehr ein eher unbehagli-

hende Menschen ihre Umwelt intensiver

ches Gefühl als Räume, an denen man sich

wahrnehmen. Der Garten hat eine sehr be-

entlang tasten kann.

ruhigende Wirkung auf den Erlebenden.

Ein Raum, der viele lose Gegenstände aufweist (z.B. Küche) verunsichert, da man

88

89

LETTLAND

Wirtschaft, Kultur und Geschichte des Landes Fakten: Größe: 64.597 qkm Bewohner: 1.959.900 Hauptstadt: Riga, ca. 725.000 Einw.

Staatsform: Parlamentarische Demokratie Verwaltungsstruktur: Zentralstaat, eingeschränkte, örtliche Selbstverwaltung

92

Seit dem 1. Mai 2004 ist Lettland Mitglied der Europäischen Union. Der Partnerschaftsvertrag zwischen der Europäischen Kommission und Lettland sieht eine Förderung des Landes von 2014 bis 2020 vor. Gefördert werden unter anderem Projekte, die die ländliche Entwicklung vorantreiben.2

Stadt und Land Die Hauptstadt Riga ist das geographiAllgemeine Informationen

sche, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Lettlands. Hier lebt über ein Viertel

Lettland liegt im Nordosten Europas zwi-

der Gesamtbevölkerung.3 Neben Riga gibt

schen den beiden anderen Baltikumstaaten

es noch 7 weitere Großstädte, in denen ins-

Estland (nördlich) und Litauen (südwest-

gesamt fünfzig Prozent der Gesamtbevölke-

lich). Im Osten grenzt Lettland an Russland

rung leben. Die andere Hälfte lebt auf dem

und im Südosten an Weißrussland.

Land.

Die Infrastruktur ist weitestgehend

Mit rund 2 Mio. Einwohnern, verteilt auf

auf das eigene Auto und Busse konzentriert,

einer Fläche von 64.589 km², kommt der

wobei es auch ein Zugnetz gibt.4 Der ein-

Staat auf eine Bevölkerungsdichte von 30

zige Flughafen in Lettland befindet sich in

E/km2, was Lettland zu einem der „grüns-

Riga. Von dort aus ist die am weitesten ent-

ten“ Länder Europas macht.1

fernte größere Stadt in ca. 3h mit dem Auto

1991 erlangte Lettland nach der vorherigen Besatzung durch die Sowjetunion er-

2 Germany Trade & Invest, “Lettland - EU-Förderung 2014 bis 2020” unter: https://www.gtai.de/ GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=lettland--eufoerderung-2014-bis-2020,did=1107098. html [6. Dec. 2017]

neut die Unabhängigkeit.

Europäische Union

3 Wikipedia, “Riga” unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Riga [14. Dec. 2017]

1 Pavila, Maija, Deutsch-Baltische Handelskammer, “Geschäftsanbahnung Estland, Lettland, Litauen. Technologien in der Lebensmittelproduktion und -verarbeitung” unter: https://www.ixpos.de/IXPOS/Content/DE/Ihr-geschaeft-im-ausland/_SharedDocs/Downloads/ bmwi-markterschliessungsprogramm-2014/bmwi-mep-marktstudie-lettland-lebensmitteltechnik.pdf?v=2 [5. Dec. 2017]

4 Länderdaten, “Verkehr und Infrastruktur in Lettland” unter: https://www.laenderdaten. info/Europa/Lettland/verkehr.php [14.

Dec. 2017 5 “Entfernung: Riga - Daugavpils” unter: https://www.entfernungsrechner.net/de/distance/ city/456172/city/460413 [15. Dec. 2017]

93

erreichbar.

Außerdem spielen die mündlich übertra-

5

Natur

genen Volkslieder eine wichtige Rolle in der lettischen Kultur. Aufgrund der jahre-

Die Letten sind generell sehr naturverbun-

langen Besetzung herrscht in der lettischen

den. Dies liegt in ersten Linie an der dünnen

Kultur eine Art Rückbesinnung auf die eige-

Besiedlung des Landes und der damit ein-

ne Identität und Tradition.8

hergehenden starken Präsenz von Natur.

Lebensmittel

Es gibt 706 Naturschutzgebiete in Lettland und vier Nationalparks.

6

40 % der

Landfläche ist bewaldet, darüber hinaus

Das lettische Essen wird von den Erträ-

gibt es 700 Flüsse, die länger als 10 km

gen aus Viehzucht und Ackerbau bestimmt.

sind und 3.000 Seen. 10% der Fläche be-

Häufig wird das gegessen, was vorhanden

steht aus Moor- und Sumpfgebieten. Hier

ist. Das heißt im Winter hauptsächlich Kar-

wachsen Gräser, Kräuter, Sträucher, Farne

toffeln, Gemüse und Fleisch und im Sommer

und Flechten. Inzwischen gilt der Boden

Milchprodukte und Brot.

Lettlands als nutzbares Ackerland.

Darüber hinaus spielt das Einkochen und

Außerdem weist Lettland eine hohe Arten-

die Bevorratung von Lebensmitteln eine

vielfalt an Tieren auf. Sowohl Vögel als auch

große Rolle.9

Luchse, Bären, Wölfe und Biber kommen in Lettland vor.7 Wirtschaft

Kultur und Geschichte

Der wirtschaftliche Ertrag Lettlands konLettland wurde ab dem 13. Jahrhundert

zentriert sich auf die Getränkeindustrie, die

durchgehend von anderen Ländern besetzt.

Agrarproduktion und die Milch- und Flei-

Dies bedeutete, dass die Entwicklung und

schindustrie.

Auslebung der eigenen Kultur nur im Ver-

Zwar bestimmt der inländische Markt die

borgenen stattfinden konnte.

Wirtschaft, doch nimmt auch der Export

Somit bildete sich eine Kultur, die vor allem

nach Russland, Deutschland, Skandinavien

auf Symbolik und Ornamentik basiert.

und in die baltischen Staaten zu.

Verschiedene Textilien sowie Alltagsge-

Vor allem die hohe Qualität der Produkte,

genstände wurden mit unterschiedlichen

die qualifizierten Arbeiter und die wettbe-

Mustern bestückt, die wie eine Art „Ge-

werbsfähigen Löhne machen die Attraktivi-

heimsprache“ funktionierten.

6 Wikipedia, “Lettland”, unter: de.wikipedia.org/wiki/Lettland

https://

6 Wikipedia, “Lettland”, unter: de.wikipedia.org/wiki/Lettland

https://

8 Lettland Reiseführer ViaLatvia, “Die lettische Kultur - Zu Literatur, Kunst, Musik und Religion” unter: http://www.vialatvia.de/land/ kultur.html 9 Lettland Reiseführer ViaLatvia, “Die lettische Küche - Am liebsten traditionell und deftig” unter: http://www.vialatvia.de/land/ lettische-kueche.html

7 “Entfernung: Riga - Daugavpils” unter: https://www.entfernungsrechner.net/de/distance/ city/456172/city/460413 [15. Dec. 2017]

94

tät der Produkte aus. Für die Herstellung von qualitativ hochwertigen Lebensmitteln spielt auch der Fakt eine Rolle, dass Lettland eines der am wenigsten verschmutzten Länder ist.10

Ökologische Landwirtschaft Auch in Lettland steigt die Nachfrage für Bioprodukte. Die Produktion von Biolebensmitteln macht 3-8 % der landwirtschaftlichen Produktion aus und wird von der EU gefördert.

Statistiken zufolge sind die am besten verkauften Lebensmittel Biohonig und Biotee, da die Produktion und somit der Endpreis nicht viel teurer ist als normalerweise.

In Lettland wachsen vor allem Kräuter und Beeren. Eine besondere Beerenart ist die Moosbeere, welche sich vor allem in moorigen Gebieten verbreitet. Sie ist reichhaltig an Vitamin C und wird von den Letten auf verschiedene Weise verwendet. Beispielsweise für Getränke, Tees, Obst oder in Schokolade.11

10 Germany Trade & Invest, “Lettland - EU-Förderung 2014 bis 2020” unter: https://www.gtai.de/ GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=lettland--eufoerderung-2014-bis-2020,did=1107098. html [6. Dec. 2017] 11 EkoConnect e.V., “Länderbericht Lettland” unter: http://www.ekoconnect.org/tl_files/eko/p/14-Laender/laenderbericht_lettland.pdf [7.

Dec. 2017]

95

SOZIALES

Einrichtungen und Projekte in Lettland

Allgemein Insgesamt leben in Lettland 148.919 Menschen mit Behinderung.

Inklusion ausgebaut. Beispielsweise sind Organisationen wie „die Bewegung für ein

1

Davon haben mehr als 12.000 Menschen

selbständiges Leben in Lettland“ und die

eine Sehbehinderung. Diese Zahl wird mit

IB-Behindertenhilfe aus Deutschland seit

dem demographischen Wandel in den nächs-

2014 Kooperationspartner.

ten Jahren vermutlich steigen.

Es entstehen Projekte, die die Selbständigkeit junger Erwachsener mit Behinde-

Soziale Einrichtungen und Projekte

rung fördert, wie beispielsweise das Projekt „Saulespuke“, welches den Ausbau eines

Die Anzahl der Einrichtungen für erwach-

Bauernhofes im Wald umfasst. Hier kön-

sene Menschen mit Behinderung in Lett-

nen Jugendliche wohnen und verschiedene

land, in welchen sie lernen selbständig zu

Arbeiten erledigen (beispielsweise in der

leben, ist sehr gering. Oft bleiben sie zu lan-

Werkstatt im Nachbardorf, im Garten oder

ge zuhause bei ihren Eltern, wo sie nie ler-

am Haus). Diese Art von Einrichtungen wird

nen, unabhängig von ihnen zurechtzukom-

zunehmend gefördert, um die Selbständig-

men. Auch droht die Gefahr der Arbeitslo-

keit der Jugendlichen voranzutreiben.2

sigkeit und Armut.

Neben den herkömmlichen Pflegeeinrich-

Seit dem Beitritt Lettlands in die EU im

tungen gibt es in Lettland insgesamt 13

Jahr 2004, wird die Integration und Bildung

Einrichtungen für Menschen mit geistiger

für Menschen mit Behinderung gefördert.

Behinderung, die wie eine Art betreutes

Nach und nach werden ihre rechtlichen und

Wohnen organisiert sind.

finanziellen Grundlagen für eine bessere 2 Blindenverein Lettlands, “Statistik und Forschungen” unter: http://www.lnbiedriba.lv/ lv/par-biedribu/statistika-un-petijumi/ [15.

Dec. 2017]

1 Ministry of welfare, Employment of Persons with Disabilities” unter:https://www.lm.gov. lv/news/id/3580 [15. Dec. 2017]

98

Vier davon befinden sich in Riga, die rest-

Land gebaut, um den Bezug zur Natur und

lichen sind in den vier Regionen Lettlands

Ruhe zu schaffen. Der Menschenrechtskom-

verteilt. In Lattgallen gibt es lediglich eine

missar, welcher Lettland im Europarat ver-

Einrichtung.

tritt, hat bei seinem Besuch im Jahr 2016

Im Landesinneren sind diese oft mitten auf

Bedenken geäußert, dass die Einrichtungen

dem Land um Ruhe und Entspannung zu ge-

für Menschen mit Behinderung stark vom

währen.

sozialen Leben abgegrenzt seien.5

Plant

Das Problem der vorhandenen Einrich-

man also eine solche Einrichtung, ist es

tungen ist häufig, dass hier keine Durch-

wichtig, den Inklusionsgedanken voranzu-

mischung der Bewohner stattfindet, aber

treiben, also eine gute Anbindung an die

auch, dass die Menschen mitten auf dem

nächsten Städte, eine Durchmischung der

Land keine Beschäftigung haben.

Bewohner und Freizeit- bzw. Arbeitsbe-

3

Speziell für Menschen mit Sehbehinde-

schäftigung anzubieten.

rung gibt es eine Einrichtung in Riga, die

Gleichzeitig stellt die Positionierung der

sich auf die Durchführung von Kunstprojek-

Einrichtung auf dem Land eine Gegenreak-

ten konzentriert.4

Außerdem gibt es eine

tion zur „Landflucht“ dar und wäre ein ers-

Bibliothek für Bücher in Brailleschrift. Im

ter Schritt, das Leben auf dem Land attrak-

Internet sind lediglich zwei weitere Werk-

tiver zu gestalten.

stätten zu finden.

5 Amnesty International, Sektion der Bundesrepublik Deutschland e.V., “Rechte von Personen mit Behinderungen” https://www.amnesty.de/ jahresbericht/2017/lettland [21. Nov. 2017]

Dies lässt darauf schließen, dass es entweder nur sehr wenig oder zumindest ein gering präsentes Angebot für Menschen mit Behinderung in Lettland gibt.

Schlussfolgerung Zusammenfassend kann man sagen, dass in Lettland nach dem Eintritt in die EU ein Zuwachs an der Förderung für Einrichtungen für Menschen mit Behinderung festzustellen ist. Der Mangel an Einrichtungen, vor allem im Südosten des Landes, ist jedoch immer noch sehr hoch.

Die Einrichtungen werden häufig auf dem 3 Hans Friedbert Jaenicke, “Nordisches Licht über kurländischen Wäldern, Mooren und Seen” unter: https://www.freunde-waldorf.de/die-freunde/publikationen/waldorfpaedagogik-weltweit/ teil-2/lettland/ [11. Nov. 2017] 4 Blindart, http://blindart.lv/en/about/ [20.

Nov. 2017]

99

100

101

DAS PROJEKT Teil 2

102

Bewohner, Grundstück, Haus und Tradition

Interview mit Regina, der Schwester von Roma und Leons

nicht wirklich daran erinnern. Auch wenn sie schon ihr ganzes Leben in diesem Haus gewohnt haben, passiert es manchmal, dass

Roma und Leons sind Zwillinge, die taub

sie bei Aufregung oder Eile über minimale

zur Welt kamen und aufgrund des Us-

Höhenunterschiede

her-Syndroms ab dem Alter von 20 Jahren

che Raumanordnung ist für die beiden sehr

stolpern.

Eine

einfa-

allmählich das Sehvermögen verloren ha-

wichtig, besonders, wenn sie die Räume

ben. Mittlerweile sind beide Geschwister 60

noch nicht kennen. Eine verständliche Rau-

Jahre alt und leben immer noch in dem Haus

mabfolge kann das Begreifen der Situation

ihrer Mutter in Lettland.

erleichtern. Ihr Wohnhaus weist den typischen Aufbau eines lettischen Bauernhauses

Bewegung im Raum

auf: In der Mitte des Hauses befindet sich ein Ofen und die restlichen Räume ordnen

Roma und Leons bewegen sich im Raum,

sich darum herum an. Da sie weder sehen

indem sie sich an der Wand und an den

noch hören können, brauchen sie nicht viel

Möbeln entlang tasten. Da das Haus schon

Platz im Alltag. Es genügt, wenn die Wände

alt ist und manche Durchgänge eng sind,

in Körperreichweite sind, da es ihnen in die-

stoßen sie oft aneinander, da sie einander

sem Fall leichter fällt, sich zu orientieren. In

weder sehen noch hören können. Auf ei-

den Innenräumen nutzen sie keinen Stock,

ner ebenerdigen Bodenoberfläche mit ei-

da es so für sie weniger aufwendig ist. Über

ner seitlichen Orientierung können sie sich

niedrige Möbel (z.B., niedriger Bettrahmen)

gut fortbewegen. Höhenunterschiede sind

stolpern sie manchmal. Daraus kann man

auf jeden Fall ein Hindernis für sie, da sie

schließen, dass niedrige Möbel eher unpas-

diese schwer voraussehen können und sich

send sind.

103

Auch Aufenthaltsräume können klein sein,

Fensterflächen zu empfinden.

da sich Roma und Leons so besser im Raum

Zur Körperpflege bräuchten Roma und

orientieren können. Sie haben kein Wohn-

Leons eine ebenerdige Dusche, die stabil

zimmer und würden auch nicht unbedingt ei-

und ähnlich wie für Rollstuhlfahrer, mit aus-

nes brauchen. Manchmal sind sie zu Besuch

reichend Platz eingerichtet ist. Bis jetzt ge-

bei ihrer Schwester Regina und müssen sich

hen sie immer ins Saunahaus.

dort neu orientieren. Es gibt in dem Haus

In den öffentlichen Bereichen verhilft, wie

viele Treppen und auch ein großes Wohnzim-

auch im Wohnbereich, die Einfachheit und

mer. Sie sitzen gerne im Wohnzimmer in den

das Verständnis der Räume zur Orientierung.

Schaukelstühlen, aber das Erreichen dieser

Man orientiert sich entlang den Wänden, den

Stühle von der Tür aus scheint eher schwie-

Möbeln oder mit Hilfe einer Begleitperson.

rig zu sein, weil man sich nirgendwo entlang

In der Einrichtung für Menschen mit Behin-

tasten kann und die Stühle als Hindernisse

derung, die sich in der nah gelegenen Klein-

frei im Raum stehen.

stadt Dagda befindet, gibt es mehrere große

Die Küche ist ein Raum, wo der Geruchs-

Räume, wo monatliche Treffen stattfinden.

und Tastsinn stark angeregt werden. In ihrer

Die Betreuer veranstalten kleine Workshops

Küche ist es sehr warm, weil hier der Ofen

oder kurze Tagesausflüge, es wird zusam-

zum Kochen benutzt wird. Beide helfen oft

men gebastelt und gekocht und manchmal

beim Schneiden und Zubereiten der Zutaten

werden Sportaktivitäten angeboten.

für das Kochen. Die Feuerstelle befindet sich im engsten Durchgang von der Küche zum Schlafzimmer, da wird der Ofen mit Brenn-

Die Wahrnehmung über den Tastsinn

holz geheizt. Leons sitzt gern an der Feuerstelle und genießt die Wärme, die das Feuer

Ein typisches Merkmal des lettischen Bau-

auf die Haut wirft und den Geruch, welcher

ernhauses ist eine Bank, die sich an der Vor-

vom brennenden Holz ausgeht. Den quad-

derfassade befindet. Hier hält sich Leons an

ratischen Ofen kann man auch im Wohn- /

warmen Tagen sehr gern auf. Da sie nach

Schlafbereich nutzen, da hier eine Sitzbank

Osten gerichtet ist, kann man hier vormit-

steht, wo man sich an den Ofen anlehnen

tags die Morgensonne genießen. Nachmit-

kann.

tags wirft das Haus einen Schatten, der an

Roma hält sich gerne im Wintergarten auf, da man sowohl im Winter als auch im

heißen Sommertagen einen Platz zum Verweilen in angenehmer Kühle bietet.

Sommer einen Unterschied zu draußen er-

Das Gefühl von Temperaturunterschieden

leben kann. Hinzu kommt die frische Luft,

und Luftströmen ist bei den Zwillingen sehr

die sie gerne bei offenen Verandatüren ge-

ausgeprägt. Letztens war die Schwester von

nießt. Der Wintergarten ist von drei Seiten

Roma und Leons mit den beiden bei sehr

mit Fenstern ausgestattet, deswegen ist es

windigem Wetter an einem See, der wegen

möglich die Sonne auf der Haut zu spüren

des Windes große Wellen machte. Leons

und bei kälterem Wetter die Kühle auf den

nahm den Wind stark wahr und war davon

104

sehr beeindruckt. Temperaturunterschiede

In der lettgallischen Region wurden meist

sind für die Gesundheit des menschlichen

Häuser

Körpers gut, da die Rezeptoren gereizt wer-

rechteckige Wohnhaus wurde in zwei oder

den. Die Gefühle werden angeregt und ak-

mehrere Zimmer unterteilt, welche vom

tiviert - man nimmt die Umgebung und die

Ofen, das Herzstück des Hauses, abgetrennt

Räume, in denen man sich befindet, stärker

waren. Der Ofen war wegen Rauch von den

wahr und erlebt sie.

anderen Räumen bis oben abgetrennt und

Leons und Roma gehen sehr gern spazieren – meistens benötigen sie hierbei einen Be-

in

Blockbauweise

errichtet.

Das

und wurde zum Heizen sowie zum Kochen genutzt.1

gleiter. Leons kann allein bis zur Landstraße

Die Gruppierung mehrerer Einzelhöfe bil-

und zurück laufen. Es gibt aber nur wenige

dete Nachbarschaften, die über Landwege

Wege auf dem Grundstück, auf denen man

an die umliegenden Dörfer angebunden wa-

spazieren kann. An der Landstraße führen

ren. Diese Art von Bebauung ist heutzutage

auch keine Wege entlang, die man für ei-

immer noch vorzufinden, da die alten Häu-

nen Spaziergang nutzen könnte. Ein Weg,

ser von der neuen Generation geerbt und

der mit einem Geländer oder einer Mauer

bewohnt werden.

zum festhalten gestaltet ist, würde die Möglichkeit bieten, sich selbständiger auf dem Grundstück zu bewegen und die Natur zu

Bauen in Blockbauweise

erleben.

Das Bestandshaus auf dem Grundstück ist in Blockbauweise errichtet. Hierzu wurden

Das lettische Bauernhaus

Rundhölzer verwendet, die in ihrer Naturform belassen wurden und aufeinander ge-

Seit dem 17. Jahrhundert ist in den länd-

schichtet sind.

lichen Bereichen Lettlands die Bebauungs-

Früher wurden häufig mehrere solcher Häu-

art des Einzelhofes vorzufinden. Meistens

ser um einen Hof herum errichtet und bilde-

bestanden die Höfe aus Wohnhaus, Stall,

ten den Lebensraum für Mensch und Tier.

Scheune und Hof, wobei diese auch häu-

Das raue, naturbelassene Erscheinungsbild

fig unter ein Dach zusammengefasst wur-

des Blockbaus ist für diese Bauart charak-

den.

teristisch. Der Werkstoff Holz, mit welchem

Die Häuser wurden um einen Hof herum or-

gearbeitet wird, muss hierbei besondere Vo-

thogonal zueinander gebaut. Dieser bildete

raussetzungen erfüllen: Festigkeit und ein

den Kern des Einzelhofes. Die Ausrichtung

größtmöglicher Widerstand gegen Vermode-

der Gebäude wurde durch ihre Funktion und

rung und Befall von Schädlingen.

2

die Himmelsrichtung bestimmt. Beispielsweise wurden die Wohnhäuser in Ost-West Ausrichtung gebaut, um die Sonne zu beiden Längsseiten des Hauses zu hereinzulassen.

1 Kundziņš, Pauls, Stockholm, S.155 ff.

(1974)

"Latvju

sēta",

2 Klöckner, Karl (1999), Der Blockbau: Massivbauweise in Holz, Callwey Verlag, München S. 8 f.

105

DER PROZESS Modellstudien und Skizzen

WEGBESCHREIBUNG ZWISCHENSTAND 19.12.2017

Das leise Knistern des staubigen Erdbodens

Wand, die fast komplett aus Glas besteht.

unter den Rädern ist zersetzt vom lauten Ge-

Die Kühle des anschließenden Raumes ist

zwitscher der Vögel. Eine angenehme Brise

allmählich zu spüren. Nun ist das Stimmen-

weht den süßlichen Duft von Apfelbaumblü-

gewirr deutlicher zu vernehmen.

ten durch das offene Autofenster hinein. Am

Beim Öffnen der Türe werden die einzelnen

Ende des Weges kommt das Auto mit einem

Stimmen immer differenzierter. Der Geruch

leisen Surren zum Stehen. Beim Öffnen der

von getrockneten Früchten, Beeren und

Türen dringt entferntes Stimmengewirr her-

Kräutern erfüllt den Raum. Durch die vielen

über. Es ist schwer auszumachen, wie viele

Menschen herrscht eine angenehme Wärme.

Menschen dort sind, vielleicht zwanzig oder

Während man sich an den einelnen Tischen

dreißig?

entlangtastet, nimmt man aus einer Ecke

Der Kiesweg, der zum Haus führt, gibt ein

des Raumes leises Vogelgezwitscher wahr.

leises Knirschen von sich, bis er in einen fes-

Es wird immer lauter, je näher man der Glas-

ten Steinboden übergeht. Beim Ertasten der

wand kommt. Eine leicht Windbrise fährt ei-

Tür spürt man das warme, raue Holz der Fas-

nem durch das Gesicht und man spürt, dass

sade unter den Fingern. Die Finger gleiten

man sich plötzlich in einem Außenraum be-

weiter, bis sie die kalte Metallklinke spüren.

findet.

Die leichte Glastür lässt sich mit einem klei-

Stille kehrt um einen herum ein. Man ver-

nen Anstoß öffnen. Sofort strömt einem der

nimmt das Sonnenlicht, welches von oben

angenehme Geruch von frischem Kräutertee

herabstrahlt, auf der Haut. Man ist umge-

entgegen. Das Rascheln von Tüten und das

ben von Kräutern und Sträuchern, die beim

Klappern von Geschirr ist zu vernehmen. Beim

Wehen im Wind ein angenehmes Rauschen

Entlangtasten am Tresen spürt man das glatt

erzeugen.

geschliffene Holz unter den Fingern.

Am Ende des Raumes stößt man auf eine

Auf einer Bank lässt man sich nieder und genießt die Geräusche der Natur, die von

außen in den Innenhof dringen. In weiter

um ganz nach draußen führt.

Ferne hört man die Glocken mehrerer Kühe.

Von innen tönen gedämpfte Stimmen nach

Ein harter Steinboden führt über weichen Moorboden weiter in den Wald hinein.

außen. Der Wind weht den starken Duft verschiedener Kräuter herüber.

Der Wind wird immer stärker spürbar und das Rauschen der Blätter immer lauter.

Man tastet sich an einer Steinmauer ent-

Durch die deutlicher spürbare Kühle zwi-

lang, die aus dem Hof hinaus führt. Beim

schen den hohen Kieferbäumen bekommt

Verlassen des Innenhofes tritt man durch ein

man eine Gänsehaut. Der Weg führt, beglei-

Tor. Nun lässt man die friedvolle Stimmung

tet, vom Geruch der Zweige und vom Ra-

des Innenhofes hinter sich und vernimmt

scheln des Laubes, zu einem schweren Holz-

verstärkt die Geräusche der Natur. Das Zir-

tor. Mit viel Kraft drückt man es auf und lässt

pen der Grillen, das entfernte Rauschen der

mit dem Zufallen des Tores das Pfeifen des

Bäume und das Muhen von Kühen.

Windes hinter sich.

Ein Holzweg führt leicht bergab über eine

Man befindet sich auf einer Art überdach-

Wiese. Eine Steinmauer verhilft einem noch

ten Veranda, welche, mit einer Glasfassade

immer zur Orientierung. Ab und zu kommen

abetrennt, einen Innenhof umgibt.

einem Menschen entgegen, die freundlich grüßen.

Beim Betreten des Hofes ist der Wind, welcher hoch über einem durch die Blätter der

Der Holzweg führt zu einem weiteren Hof. Hier vermischen sich die süßlichen Gerüche

Bäume saust, duetlich hör-, jedoch kaum spürbar.

verschiedenster Beeren und der intensive

Während man duch den Hof läuft, streifen

Geruch unterschiedlicher Pflanzen wie Bär-

einen niedrige Sträucher und Pflanzen an

lauch, Schnittlauch oder Mangold, miteinan-

den Beinen. Immer wieder sind verschiede-

der. Über einen weiteren Holzweg, welcher

ne Klangspiele im Wind zu vernehmen.

einmal um den Garten herumführt und mit

Über die Veranda gelangt man zum Ein-

Holzstreben zur Orientierung ausgestattet

gang des Hauses. Wieder stößt man auf eine

ist, gelangt man zum Eingang des Hauses.

schwere Holztür, die beim Öffnen ein leises

Noch bevor man den Raum betritt, ist das

Knarren von sich gibt.

Klirren von Geschirr, das Verrücken von

Die Tür fällt hinter einem mit einem dump-

Stühlen und das Klappern von Kochtöpfen zu

fen Knall ins Schloss und lässt die Naturge-

hören.

räusche draußen.

Der Duft von frisch gekochtem Essen steigt

Der Raum ist deutlich höher, als die ande-

einem in die Nase. Durch das Dampfen der

ren, jedoch fühlt er sich nicht besonders groß

Töpfe und die Hitze der Öfen ist der Raum

an. Von der Mitte des Raumes geht Wärme

von einer angenehmen Wärme erfüllt. Zwei

aus, die man merklich wahrnimmt.

offene Fenster, eines zum Garten gerichtet

Umso näher man sich an den hohen, mit

und das andere gegenüberliegend, sorgen

Bücherregalen bestückten Wänden heran-

für einen leichten Luftzug.

tastet, desto greifbarer spürt man die Wär-

Eine schwere Holtür am Ende des Raumes

me auf der Haut.

führt zum Holzsteg im Hof, welcher wieder-

108

In der Mitte angelangt, kann man die war-

me Lehmwand eines Ofens ertasten. Da-

nen Aufenthaltsraum. Es dringt Musik aus

vor befindet sich eine Bank, die einem zum

einem Radio herüber, Menschen sprechen

Niederlassen einläd. Man setzt sich hin und

miteinander und es liegt ein leichter Duft

lauscht den gedämpften Tönen eines Klavie-

von Rosen- und Lorbeerblättern in der Luft.

res, die aus der Ferne in den Raum hinein-

Durch eine Glastür gelangt man in eine Art

dringen. Das Flüstern von Menschen verteilt

Vorraum der Sauna. Hier spürt man bereits

sich wie ein gleichmäßiges Rauschen um ei-

die Hitze auf der Haut und vernimmt das

nen herum. Es riecht angenehm nach Papier

entfernte Zischen von heißem Wasser auf

und staubigen Büchern.

Steinen.

Etwas abgelegen befindet sich eine Sitz-

Ein weiterer Vorhang führt zu einer Art Zwi-

nische mit Fenster. Vom Fenster geht eine

schenraum und man wird von einer stärke-

angenehme Kühle aus. In der Nische ertönt

ren Hitze umgeben.

durch Lautsprecher ein Hörspiel. Die weiche Sitzbank sinkt beim Hinsetzen leicht ein.

Der letzte Vorhang führt zum heißesten Raum. Hier steigen einem die duftenden

Beim Entlangtasten an den Bücherregalen,

Dämpfe in die Nase, begleitet vom angeneh-

fahren die Finger über die einzelnen Buchrü-

men Zischen des heißen Wassers auf den

cken, setzten hier und da mal ab und tasten

kühlen Steinen.

sich dann weiter. Wieder gelangt man durch eine schwere Holztür nach draußen.

Es hat inzwischen angefangen zu regnen und das Prasseln des Regens ist auf dem Verandadach stark hörbar. Durch das massive Holztor tritt man in den Wald hinaus.

Es riecht nach Regen und nassem Waldboden. Begleitet vom gleichmäßigem Geräusch der Regentropfen, die auf die Blätter hinabfallen, läuft man über einen Holzsteg Richtung See. Der Wald lichtet sich und die Kühle weicht einem zunehmenden Wind. Die Wärme, die vom Haus ausgeht ist, bereits von außen spürbar. Dampf steigt aus einem Schorstein empor.

Man spürt, dass man den überdachten Innenhof betritt, lediglich durch die Änderung des Fußbodens von Holz zu Stein und durch die Pflanzen, die von einem begrünten Dach herabhängen. Überall sind Handtücher und Liegen verteilt.

Der Steinboden führt zum Eingang. Durch einen leichten Stoffvorhang betritt man ei-

109

ENTWURFSPROZESS

Arbeitsmodelle Formstudien MaĂ&#x;stab 1:200/ 1;500

ENTWURFSPROZESS

Arbeitsmodelle Formstudien MaĂ&#x;stab 1:200

Arbeitsmodelle Innenräume MaĂ&#x;stab 1:50

112

Arbeitsmodelle Innenräume MaĂ&#x;stab 1:50

113

BESTANDSHAUS

114

Arbeitsmodell Bestandshaus MaĂ&#x;stab 1:50

115

WIESENHAUS

116

Arbeitsmodell Wiesenhaus MaĂ&#x;stab 1:50/ 1:200

117

WALDHAUS

118

Arbeitsmodell Waldhaus MaĂ&#x;stab 1:50

119

HAUS AM SEE

120

Arbeitsmodell Haus am See 1:50

121

122

123

KONZEPT ENTWURFSKONZEPT

124

ENTWURFSKONZEPT

AUSGANGSPUNKT

Bewohner

blind und gehörlos Landhaus in Lettland

MASSNAHMEN

GEMEINSCHAFTLICHES WOHNEN auf dem Land

ARCHITEKTUR ALLER SINNE

TRADITION

Ausgangspunkt

stattfindet.

Ausgangspunkt unserer Arbeit ist ein Gr-

terarbeit die Umplanung und Erweiterung

undstück in Lettland, auf dem ein altes Bau-

des Landhauses und legten den Fokus da-

ernhaus mit Sauna, Scheune und Stall ste-

rauf, wie man Architektur wahrnimmt, wenn

ht. In diesem Haus leben Roma und Leons.

man sie nicht sehen kann.

Daher wählten wir als Thema unserer Mas-

Die Geschwister sind 60 Jahre alt und leiden am Usher Syndrom, was bedeutet, dass sie

Das Grundstück

taub zur Welt kamen und Mitte zwanzig erblindeten. Sie lebten bei ihrer Mutter, bis sie starb. Nun wechseln sich wöchentlich

Das Grundstück liegt im Südosten Let-

zwei Pflegerinnen ab, die sie 24h am Stück

tlands, Latgallen, nahe der Stadt Dagda. Als

betreuen und im selben Haus schlafen.

wir das Grundstück besichtigten, fiel uns direkt die Vielfalt an Naturtypologien auf, die

Das Haus ist in einem renovierungsbedürfti-

hier vorzufinden sind: Über einen Feldweg

gen Zustand und wurde nie an die Umstände

gelangt man zum Bestandshaus. Dieses ist

angepasst, sodass es den Bewohnern kaum

von einem Garten umgeben, in dem ver-

möglich ist, sich in ihrem eigenen Zuhause

schiedene Fruchtbaumarten, Sträucher und

selbständig zu bewegen, und sich wohl zu

Blumen wachsen. Auf der anderen Seite

fühlen. Die einzigen sozialen Kontakte, die

befindet sich eine weite Wiese, die von ei-

sie haben, sind ihre Schwester, die wöchen-

nem dichten Moorwald begrenzt wird. Hier

tlich zu Besuch kommt, die Pflegerinnen und

wachsen Erlen, Birken und verschiedene

ein Treffen der Einrichtung für Menschen

Sträucher. Der Moorwald geht in einen Ufer-

mit Behinderung, welches einmal im Monat

wald über, in dem dichte Tannen wachsen.

125

Das Grundstück schließt mit einem See ab, dessen Ufer von Schilf bedeckt ist.

Da die Natur mit ihrer Vegetation, ihren Geräuschen schiedliche

und

Gerüchen

Situationen

ganz

hergibt,

unterdie

die

Sinne auf verschiedene Arten ansprechen, beschlossen wir das Grundstück auszunutzen und die Häuser in jeder der vier Naturtypologien ( Feld, Wiese, Wald und See) zu errichten. Diese verbinden wir mit einem Weg,

SEE

der vom Bestandshaus am Waldrand entlang bis zum See führt.

Dadurch bilden sich automatisch Nachbarschaften, sodass jedes der vier Häuser für sich steht, im Ganzen jedoch bilden sie eine Gemeinschaft. Dieses Prinzip der zusammengeschlossenen Einzelhöfe ist bereits in der vorhanden Siedlungsstruktur vorzufinden.

UFERWALD Bestand: Birken, Kiefern, Tannen, Laub, Schilf, Blätter, Äste, Sträucher Atmosphäre: See, Blick ins Helle, Kontrast hell/ dunkel, man befindet sich im Dunkeln und blickt aufs Helle, Geräusche des Windes, zum Wasser laufen, windiger

Bestand: Wasser, Schilf, Gras, Matsch, Frösche, Fische Atmosphäre: Steg, Begrenzung, beruhigend, Stille, Ruhe, Freiheit, Weite, fließender Übergang von Temperatur ( oben wärmer, unten ganz kalt), stetig, plätschern, Tiefe

WALD Bestand: Birken, Kiefern, Tannen, Laub, Blätter, Äste, Sträucher, Erde, Tiere Atmosphäre: Echo, geheimnisvoll, - man weiß nie, was sich hinter Bäumen verbirgt, schattig, kühl, Waldrauschen, Vögel, Waldtiere, rascheln, Geborgenheit, Einsamkeit, windgeschützt

LICHTUNG Bestand: niedrige Bäume, Gras, Äste, Gestrüpp Atmosphäre: Weite/ Enge, Geborgenheit, „heller Fleck“, Kontrast zu Wald, Waldgeräusche entfernter, Rauschen der Blätter, schattig / hell, geschützt, offen

MOORWALD Bestand: Erle, Büsche, Sträucher, Matsch, Erde Atmosphäre: dunkel, schattig, düster, schwer voranzukommen, Boden sinkt unter Füßen ein, geheimnisvoll, übersichtlich - niedrige Bäume, Knacken von Ästen

BAUMWIESE Bestand: Obstbaumwiese, Lindenbaum, Jasminbusch, Lavendelbaum, Garten Atmosphäre: Blumenduft, schattig, lichtdurchlässig, gebückt laufen, Sträucher, steiniger Boden, läd zum Verweilen ein, abgeschlossen, Vogelgezwitscher, Baumrinde, unter schattigem Baum niederlassen

126

WIESE Bestand: Wiesenblumen, Gras, Bienen, Käfer, Grillen Atmosphäre: weicher Teppich, hell, offen, ungeschützt, regelmäßig, über Wiese hüpfen, ins Gras setzen, Picknick, zusammenkommen, enger Zugang, wird weiter, Begrenzung, ins Gras legen, Blumenduft

FELD Bestand: Kartoffelfeld Atmosphäre: harter Erdboden, offen weit, uneingeschränkt, man versinkt im Boden, Boden gibt nach, steinig, Geruch, bei Wind einheitliches Geräusch, hohes Feld, Grillen zirpen, unabgeschlossen, Weite, Freiheit, weich aufkommen, Hände über Sträucher

See

Obstbaumwiese

Wiese

Wald

127

Einzelhof

Ansiedlung Wohn-/Landwirtschaftsgebäude

Wohnhäuser am Stadtrand

Wohnhäuser im Dorf

Siedlungsstrukturen

Die Einzelhöfe mit nur einem Wohngebäude sind im ländlichen Bereichen Lettlands oft vorzu-finden. In den meisten Fällen sind sie von viel Natur umgeben und an eine Landstraße ange-bunden. Die ursprungliche Lettische Hofstruktur ist immer noch auf dem Land zu erkennen, wo mehrere Wohnkeine Verbindung zwischen Straße und See

Weg als verbindendes Element

Anordnung Wohngebäude wie in herkömmlicher Siedlungsstruktr

Weg als verbindendes Element zwischen öffentlich und privat

Wegkonzept

128

und Landwirtschaftsgebäude um einen Hof herum oder an einem Weg entlang angesiedelt sind.

Pfleger, Arbeiter und Familien

Einzelhaushalte

Freiwillige Helfer

Besucher

Menschen mit geistiger und kĂśrperlicher

Touristen

Behinderung

Zielgruppe

GSPublisherVersion 0.99.100.100

Aktivitäten in der Umgebung

129

ANORDNUNG

URSPRUNG WOHNHAUS essen kochen schlafen

STRUKTUR HOF Abgrenzung durch Zaun zusammenkommen Außenraum Verbindung Privat/Öffentlich und Privat Verbindendes Element zwischen Wohnhaus und Scheune

SCHEUNE Arbeit Zusammenkommen von Arbeiter, Tiere, Bewohner Tagesbeschäftigung

ERWEITERUNG

Übernahme der Grundstruktur des einfachen lettischen Landhauses mit Hof, Wohnhaus und Funktionshaus

WOHNAUS WG-Einheiten mit gemeinsamen Wohnzimmer

INNENHOF Verbindung zwischen Wohnhaus und Zusatznutzung wird je nach Zusatznutzung unterschiedlich bespielt (z.B. bei Küche Möglichkeit zum draußen essen etc.)

ZUSATZNUTZUNG Hörspielbibliothek Gemeinschaftsküche Sauna Teewerkstatt

Das erste Funktionsgebäude ist das Haus des Riechens und hat die Teewerkstatt als Familienbetrieb zur Zusatzfunktion, das Wiesenhaus hat eine Gemeinschaftsküche und spricht somit das Schmecken besonders an, das Waldhaus eine Hörspielbibliothek, soAls Grundlage der vier Häuser dient der

dass das Hören im Vordergrund liegt und das

Aufbau des ursprünglichen Bauernhauses

Seehaus die Sauna, hier wird vor allem das

bestehend aus Hof, Scheune und Wohnhaus.

Fühlen und Tasten angsprochen.

Das Haus dient als Wohnhaus zum gemein-

Die Funktionsgebäude tragen dazu bei,

schaftlichen Wohnen, der Hof bleibt als Hof

dass eine Durchmischung der Gemeinschaft

bestehen und die Scheune selbst wird zum

stattfindet und auch Besucher von außerhalb

Funktionsgebäude, welches pro Haus eine

die Zusatzfunktionen nutzen können. Dies ist

zusätzliche Funktion anbietet. Wobei der Fo-

uns besonders wichtig, da wir einer Vereinsa-

kus in jedem der vier Funktionsgebäude auf

mung auf dem Land entgegenwirken möchten.

einen anderen Sinn gerichtet ist.

130

BESTANDSHAUS

WIESENHAUS

BESTANDSHAUS URSPRUNG

WALDHAUS

HAUS AM SEE

Hofkonzept

131

LANDSCHAFTSKONZEPT

Um die vorhandenen Naturtypologien zu verstärken und den Nutzungen anzupassen nehmen wir folgende landschaftliche Eingriffe vor: Gestaltung des Ankommensbereiches Von der Landstraße aus markiert ein Parkplatz mit einem gegenüberliegendem Vorplatz die Einfahrt zum Grundstück.

Obstbaumwiese und Feld Der Weg zur Teewerkstatt führt zwischen einem angelegten Kräuterfeld und einer Fallobstbaumwiese hindurch. Für das Kräuterfeld legen wir Salbeikulturen an, sodass es sich als Feld deutlich von der Wiese abhebt und eine einheitliche Struktur bildet.

Eine gemähte Rasenspur um das Feld herum dient sowohl als Begrenzung, als auch Pfad entlang des Feldes.

Die Fallobstbaumwiese stellt eine Erweiterung der Baumwiese am Bestandshaus dar.

Hagebuttenbüsche dienen als Begrenzung der Obstbaumwiese.

Lageplan

Unter den schattigen Bäumen ist es mög-

forstet, um die Grenze klarer zu definieren.

lich entlangzulaufen und den Geruch der

Am Wiesenhaus weitet sich der Weg auf, so-

Blüten wahrzunehmen. Das Kräuterfeld und

dass vor der Küche eine große Terrasse nach Süden gerichtet,

die Baumwiese bilden den ersten Kontakt der Architektur mit den Sinnen. Sowohl die

entsteht.

Kräuter als auch die Früchte und Blüten wer-

Die Lichtung des Waldes tangiert der Weg

den zur Herstellung des Tees geerntet und

lediglich. Zum Waldhaus führt dann ein in-

verarbeitet.

formeller Weg über die Lichtung.

Der Weg endet im letzten Hof – dem „Ver-

Garten

weilhof“ vor der Sauna. Hier besteht die Verbindung zum See. Es ist möglich, über einen

Der vorhandene Gemüsegarten neben dem Bestandshaus wird erweitert, um Gemüse,

informellen Weg bis runter zum See zu gelangen, oder auf dem Hof zu verweilen.

Obst und Kräuter für die Bewohner anzubauen. Auch die Jasmin, - Hagebutten und Lavendelbüsche werden verdichtet, sodass der Geruch intensiviert und stärker wahrgenommen wird.

Teewerkstatt Hof Der Hof der Teewerkstatt dient als Ankunftshof. Er ist an den Seiten von Wohnhaus und Funktionsgebäude begrenzt und von hinten ziehen sich die Birken bis in den Hof hinein und bilden die Trennung des Hofes zum Wald hin. Der Lindenbaum in der Mitte des Hofes hat zusätzlich einen besonderen Geruch und bietet einen schattigen Platz zum Verweilen.

Weg Der Weg besteht aus einer 3 m breiten wassergebundenen Wegedecke und einem asphaltierten, 1,5 m breitem Fußgängerweg führt vom Bestandshaus am Waldrand entlang bis zum Saunahaus. Dort, wo es nicht genügend Bäume gibt, wird der Wald aufge-

133

GRUNDRISS

Der Grundgedanke der Grundrissstruktur

Öffnungen etc. von Räumen untersuchten.

ist, die Architektur für alle Sinne erlebbar zu

Unsere Ergebnisse glichen wir mit Inter-

machen, um sie zu bereichern und somit die

views und Recherchen ab.

Architektur auch für Menschen, die nicht se-

Daraus entstand eine Liste von „haptische

hen können „sichtbar“ zu machen und ihnen

Parametern“, die auf die Orientierung im

ein größtmöglichst selbständiges Leben zu

Raum und die Erlebbarkeit der Architektur

ermöglichen.

eingehen.

haptische Parameter

Darauf basierend planten wir die Grundris-

Um vorerst herauszufinden, welche Wekr-

se Raum für Raum, mit dem Ziel, in jedem

zeuge es hierfür gibt, fertigten wir Raumstu-

Raum eine eigene Atmosphäre zu kreie-

dien an, in denen wir die Größe, Form, Tiefe,

ren.

ORIENTIERUNG/ ERLEBBARKEIT

ORIENTIERUNG/ RAUMVERSTÄNDNIS

glatte Oberflächen in Bewegungsebene Hand rauhe Oberflächen in Bewegungsebene Fuß

variierende Bodentexturen zur Makierung von Räumen und Funktion

ERLEBBARKEIT

ERLEBBARKEIT

Winkel und Nischen als temporäre Rückzugsorte

temporäre Aufenthalsorte mit unterschiedlicher Temperatur und Sonneneinfall

ORIENTIERUNG/ ERLEBBARKEIT

ORIENTIERUNG

Abfolge verschiedener Raumgrößen und Höhen ERLEBBARKEIT

gezielter Lichteinfall

134 ERLEBBARKEIT/ ORIENTIERUNG

HAPTISCHE PARAMETER ORIENTIERUNG/ ERLEBBARKEIT

ORIENTIERUNG/ RAUMVERSTÄNDNIS

Kontrast von Licht und Schatten Kennzeichnung von bestimmten Orten

gleichmäßiger Rhythmus (Raster zum Zählen und zur Erinnerung)

ORIENTIERUNG

ORIENTIERUNG

Fensterbrett als Handlauf (0,9m)

Einbaumöbel als Handlauf

ORIENTIERUNG/ ERLEBBARKEIT

ORIENTIERUNG

Tür als klarer Raumabschluss Gefühl von Sicherheit

Linearität in Bewegungsebene

ORIENTIERUNG

ORIENTIERUNG

orthogonale oder parallele Wände zueinander und zur Körperachse

kurze Strecken zwischen Funktionen

135

langt man über den Treppenraum direkt in

STRUKTURELEMTE

den Privat-, aber auch in den gemeinschaftlichen Bereich.

Dies gewährt den schnellen Rückzug der Bewohner, aber ermöglicht gleichzeitig, direkt bei Entritt mit der Gemeinschaft in Verbindung zu treten. Außerdem bildet der Eingangsbereich auf diese Weise einen Durchgangsraum, der auch als temporärer Treffpunkt genutzt werden kann.

Da der Treppenraum zugleich der Ankunftsraum ist, spiegelt dieser den Charakter des Um die strukturelle Einheit aller Häuser zu

Hauses besonders wider. So ist der Treppen-

schaffen, sind in den Grundrissen bestimmte

raum im Waldhaus beispielsweise ein niedri-

Elemente vorzufinden, die sich in allen vier

ger, enger, und vom Kamin erwärmter Ort,

Häusern wiederholen.

um die geborgene Atmosphäre des Hauses

Diese Elemente entwickelten sich aus der

gleich zu Beginn spürbar zu machen, wäh-

Bedingung, gemeischaftliches Wohnen zu

rend er im Wiesenhaus durch den Luftraum

ermöglichen und daraus, die Architektur für

und die Geometrie des Raumes eine offene

alle Sinne erlebbar zu machen.

Atmosphäre ausstrahlt.

Folgende Elemente treten in allen Grundrissen auf:

Offener Gemeinschaftsraum In allen vier Häusern ist der Gemein-

Übergang von Raum zu Raum

schaftsraum mit Wohnraum, Essbereich, Küche und Arbeitsplatz als offener Grundriss

Wie auch in den traditionellen Bauern-

konzipiert.

hausgrundrissen stellen die Grundrisse der

Die einzelnen Bereiche und Nutzungen des

Häuser eine Abfolge von Raum zu Raum mit

Gemeinschaftsraumes sind durch variieren-

möglichst geringer Verkehrsfläche dar. So

de Deckenhöhen, Bodenfließen, Wandele-

wird die Fläche bestmöglich genutzt und

mente oder Einbaumöbel voneinander ge-

es entstehen statt eines langen Flures ver-

trennt. So kann man die Anwesenheit ande-

schiedene Begegnungs-, Rückzugs- und Ver-

rer Bewohner spüren, hat aber dennoch die

weilorte.

Möglichkeit sich innerhalb dieser Gemeinschaft zurückzuziehen.

Treppenraum als zentraler Verteiler-

Die Trennung der Bereiche erfolgt je nach

raum

Charakter des Hauses. So sind die einzelnen

Der Eingangsbereich mit Treppe ist in al-

Nutzungen im Bestandshaus beispielswei-

len Grundrissen so angeordnet, dass er als

se durch durchlässige Ornamentikelemente

zentraler Verteilerraum funktioniert. So ge-

getrennt, sodass die Gerüche von draußen

136

KAMIN

PRIVATZIMMER

OFFENER GEMEINSCHAFTSRAUM

WOHNUNG

TREPPENRAUM ALS VERTEILERRAUM

SITZNISCHE

SITZECKE FENSTERBANK

137

durch das ganze Haus dringen können.

Nische

Fensterbank

Durch den Eingangsbereich der Privatzimme entsteht auf der Kehrseite der Wand,

Der Esstisch ist so angeordnet, dass eine

zum Flur hin, eine Nische. Hier haben die

Fensterbank als Sitzplatz am Tisch dienen

Bewohner der angrenzenden Zimmer einen

kann.

gemeinsamen Verweilort, der zwar noch mit

Die erniedrigte Decke über der Fensterbank gibt einem das Gefühl von Geborgenheit.

der Gemeinschaft in Verbindung steht, jedoch bereits zurückgezogen liegt.

Außerdem tritt man temporär stärker mit

Da die Privatzimmergröße auf das Mini-

der Außenwelt in Verbindung, da am Fenster

malste reduziert ist, bedarf es an solchen

die Sonnenstrahlen, Kühle etc. von Außen

Flächen, die Rückzug in der Gemeinschaft

intensiver wahrgenommen werden.

ermöglichen.

Kamin

Wohnung

Der Kamin, welcher traditionell zum Heizen

In jedem Haus gibt es die Möglichkeit das

und Kochen verwendet wurde, wird als sinn-

Doppelbettzimmer zu einer Wohnung zu um-

liches Element in alle Grundrisse übernom-

funktionieren, indem an den angrenzenden

men. Dabei spricht er mehrere Sinne gleich-

Versorgungsschacht des Bades eine Küchen-

zeitig an, da er in allen Häusern so angeord-

zeile angebracht wird. Somit bietet jedes

net ist, dass man das offene Feuer sowohl

Haus für Menschen, die selbständiger leben

hören, riechen und sehen, als auch die wär-

möchten, die Möglichkeit, dies zu tun, und

mende Wand des Kamins spüren kann.

dennoch an der Gemeinschaft teilhaben zu können.

Privatzimmer Das

Privatzimmer

dient

als

Rückzugs-

ort der Bewohner. Hier sollen sie sich wohl und sicher fühlen, und das Gefühl haben, in ihrem „eigenem Reich“ angekommen zu sein. Daher haben alle Privatzimmer einen engeren Eingangsbereich, der mit einem anderen Material ausgestattet ist, als der Rest des Zimmers. Durch die Verengung des Eingangs hat man das Gefühl, in einem privaten Raum anzukommen. Dahinter weitet sich der Raum auf und hat ein anderes Bodenmaterial.

138

139

140

141

PLÄNE

Der Entwurf besteht aus vier Häusern, die

GRUNDRISSE

sich in ihrer Atmosphäre, Ausrichtung und Hofsituation unterscheiden. Im Gesamten jedoch bilden sie eine Einheit, was vor allem durch ihr äußeres Erscheinungsbild erzeugt wird.

Drei der Häuser (Bestandshaus, Wiesenhaus und Waldhaus) bestehen aus einem Wohngebäude und einem Funktionsgebäude. Der letzte Gebäudekomplex besteht aus einer Sauna als Zusatzfunktion und drei seperaten Wohnungen.

Form Zur Formfindung der Wohnhäuser verdoppelten wir das Maß des ursprünglichen Be-

von wo aus sie das Geschehen im Hof miterleben können.

standshauses, sodass ein Riegel als Gemein-

Multisensorische Architektur

schaftsraum und der andere Riegel als Einheit für Privatzimmer genutzt werden kann.

Des Weiteren erweitern wir die Häuser um die Größe des Treppenraumes.

Da Menschen mit Sehbehinderung zur Orientierung auf die anderen Sinne angewiesen

Die Form der einzelnen Häuser passt sich

sind, liegt ein besonderer Fokus darauf, die

dem Weg und der jeweiligen Naturtypolo-

Architektur in allen Häusern multisensori-

gie an. Hierbei sind die gemeinschaftlichen

sche wahrnehmbar zu machen.

Funktionen jeweils zum Hof hin ausgerichtet, die Rückzugsräume in die Natur.

Da weniger als zehn Prozent der Menschen mit Sehbehinderung vollständig blind sind,

Das Satteldach wird ebenfalls von der Be-

sind visuelle Kontraste, wie hell und dunkel,

standsbebauung übernommen. Hier erwei-

Licht und Schatten oder Farben von großer

tern wir den Winkel auf, sodass das obere

Bedeutung. Außerdem können über den

Geschoss als zusätzlicher Wohnraum nutz-

Gehörsinn

bar ist.

wahrgenommen werden. Wand-, und Fußbo-

unterschiedliche

Deckenhöhen

Alle Funktionshäuser erhalten ein Pultdach,

denoberflächen sind ebenfalls von enormer

dass sich entweder zum Hof oder in die Na-

Wichtigkeit, da diese Informationen über

tur öffnet.

den Raum vermitteln, sowie zur Orientierung

Der Flur des Privatzimmerriegels schließt

helfen. Darüber hinaus weist der Privatzim-

an den Hof an. Mittelpunkt des Flures bildet

merriegel einen gleichmäßigen Rhythmus

eine Sitznische, die eine zusätzliche Aufent-

auf, der die Orientierung im Raum zusätzlich

haltsmöglichkeit für die Bewohner bietet,

erleichtert.

143

BESTANDSHAUS

Das Bestandshaus, bestehend aus einem Wohnhaus und einer Scheune, die lediglich als Holzlager genutzt wurde, wird um einen weiteren Riegel erweitert, um die Funktion des gemeinschaftlichen Wohnens zu ermöglichen.

Dabei wird das ursprüngliche Wohngebäude zum offenen Wohnraum umgenutzt. Der Anbau bietet Platz für die Privatzimmer.

Die Scheune wird ebenfalls erweitert und funktioniert nun als Teewerkstatt.

Grundriss Erdgeschoss

144

Bestandshaus Grundriss OG, 1:100

Grundriss Obergeschoss

Schnitt

Bestandshaus Grundriss OG, 1:100

Ansicht

145

WALDHAUS

Das Waldhaus befindet sich mitten auf einer Lichtung im Wald. Durch die Positionierung ist es möglich, viel Licht in das Gebäude zu lassen und gleichzeitig die Atmosphäre des Waldes sowohl im Haus als auch auf dem Weg dort hin spürbar zu machen.

Umgeben von Bäumen, aber dennoch geschützt, spiegelt die Form des Gebäudes das Gefühl von Geborgenheit wider. So bilden die zwei Riegel des Wohnhauses gemeinsam mit dem Riegel der Scheune ein Atrium mit geschütztem Innenhof, durch welchen beide Häuser erschlossen werden.

Die geborgene, geschützte Atmosphäre und das Thema der Zusammenkunft zieht sich durch das gesamte Gebäude.

besteht, bei geöffneten Fenster innen zu sit-

Eine 3m hohe Wand begrenzt den Innen-

zen, während außen ein Konzert stattfindet.

hof zum Weg hin. Über den Innenhof werden

Somit kann der Innenhof wie eine Bühne ge-

Wohnhaus und Funktionsgebäude erschlos-

nutzt werden. Im Inneren des Wohnhauses

sen.

sind alle

Gemeinschaftsbereiche zum Hof

Der Innenhof bildet hierbei einen Kontrast

hin ausgerichtet, sodass es möglich ist, das

zum Außenraum. Bis zu 2m hohe Bäume

Geschehen im Hof im Geborgenen mitzuer-

trennen den Privatbereich vom öffentlichen.

leben.

Eine Stahlschale dient als Feuerschale zum

Die Rückzugsorte sind zum Wald hin orien-

Zusammenkommen am Lagerfeuer und bei

tiert, um die Geräusche und Atmosphäre des

Nichtbenutzung als Auffangbecken für Re-

Waldes erleben zu können. Durch Schiebetü-

gen, sodass ein besonderer Klang ertönt, so-

ren kann der Wohnraum mit dem Hof ver-

bald Regentropfen in die Stahlschale treffen.

bunden werden, um dem Klavier, Konzerten,

Auch der Boden aus Kies gibt beim Betreten

dem Regen oder anderen Hofgeräuschen von

zusätzlich Geräusche von sich.

innen zu lauschen. Einzelnen Bereiche des

Das Funktionshaus, die Hörspielbibliothek

Wohnraumes sind durch Wände, jedoch oh-

besteht aus einem großen Raum mit einer

ne Türen voneinander abgetrennt. Eine zent-

Bank, die sowohl als Sitzbank als auch als

rale, abgerundete, halbhohe Wand, dient als

Handlauf genutzt werden kann. Hier können

Führung durch alle Funktionen ( Verweilen,

Besucher gemeinsam lesen, oder einem Hör-

Essen, Küche), als Abtrennung und als Lehne

spiel gemeinsam lauschen. Zwischen den

der abgerundeten Sitzbank.

Bücherregalen bilden breite Fensterbretter Orte des Rückzuges. Die große Bank ist zum Hof hin ausgerichtet, sodass die Möglichkeit

146

Grundriss Erdgeschoss

147

1) Sitzbank Sitzbank teilt großen Raum auf dient als Handlauf

3) Hirnholzplfaster in Sitzecke dämpft Geräusche grenzt Sitzecke von restlichem Wohnraum ab haptisches Material

2) runde Wand halbhohe runde Wand als Führung durch alle Bereiche des Wohnraumes kennzeichnet Wohnraum Stoßen an scharfer Kante wird vermieden

8

2

11

3

10

15

12

13 16

6

4

9

17

7 1

5

14

18

4) Stahlschale im Hof Stahlschale im Hof für Lagerfeuer Ort der Zusammenkunft Wärme des Feuers spürbar bei Regen sammelt sich Wasser in Schale Geräusch der Tropfen wahrnehmbar

5) Kiesboden Geräusche des Kieses beim Betreten wahrnehmbar elastischer Bodenbelag – zum Verweilen ansprechend

6) Blindenleitsystem aus Terrazzoplfaster taktile Führung farblicher Kontrast zu Asphalt kennzeichnet Weg zu Eingang leitet durch gesamte Anlage

148

7) Hofbepflanzung kennzeichnet Trennung zwischen Privat und Öffentlich Geruch von innen wahrnehmbar

8) Bodenbelag Flur und Wohnzimmer Natursteinfliesen in Laufebene (raues Material) Holz in Verweilebene (glattes Material) Höhenunterschiede verschiedene Höhen im offenen Wohnraum niedrige Decke über Sitzecke um behagliches Gefühl zu utnerstützen Räume durch unterschiedliche Deckenhöhe differenzierbar

11) Wohnzimmersitzecke Fenster komplett öffenbar funktioniert als Loggia Ort mit anderer Temperatur stärkerer Bezug zum Hof Geschehen im Hof wahrnehmbar

12) Ausrichtung Privatzimmer Privatzimmer zum Wald hin ausgerichtet Naturgeräusche wahrnehmbar Hofgeräusche ausgeschlossen Nähe zur Natur spürbar

15) Kamin Wärme spürbar Geruch des Holzes hörbar Knistern des Holzes hörbar Gefühl von Gemützlichkeit

16) Privatzimmer Einbaumöbel Einbauschrank, Bett und Regal in einer Linie keine Gefahr, dagegenzustoßen Einbaumöbel praktischer als lose Möbel Vermeidung scharfer Kanten

9) Sitznische starker Kontrast von Licht und Schatten durch Lamellen identifizierbarer Ort Unterbrechung des langen Flures Südausrichtung – Mittagssonne spürbar

Flur gleichmäßiger Rhythmus der Zimmeranordnung zählbar Privatzimmer rücken raus, Bäder rücken rein

10) Teppichboden im Eingangsbereich kennzeichnet Privatbereich gemütliche Atmosphäre dämpft Geräusche beim Betreten

13) Privatzimmer – dicke Wand tragende Wand schließt Privatzimmer von Flur ab dämmt zusätzlich Geräusche Gefühl von Geborgenheit stellt sich ein

14) Querlüftung Flurfenster gegenüber von Zimmertür und Zimmerfenster angeordnet natürliche Belüftung durch Querlüftung möglich Luftzug vermittelt Informationen über Temperatur, Windrichtung, Außengeräusche

149

17) Verbindung zum Hof Geräusche des Hofes (Knistern des Kieses, Stimmen, Regentropfen in Stalschale) in Wohnhaus wahrnehmbar Geräusche der Bibliothek (Klavier, Hörspiel) in Wohnhaus wahrnehmbar Gerüche der Hofpflanzen wahrnehmbar

18) Sitzbank im Fenster temporärer Aufenthaltsort Nähe zur Natur Kühle/ Wärme von draußen spürbar

Grundriss Obergeschoss

Schnitt

Ansicht

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WIESENHAUS

Die Form des Wiesenhauses passt sich an die Form des Weges, entlang des Waldrandes, an. So entstehen zwei Riegel, bestehend aus gemeinschaftlichen Funktionen und Privatzimmern, die das Wohnhaus bilden und sich zur Wiese öffnen. Das Funktionshaus, mit einer großen Gemeinschaftsküche als Zusatzfunktion, ordnet sich auch entlang des Weges an.

Durch das Zurückrücken beider Körper öffnet sich auf der Südseite ein Hof, der eine große Gemeinschaftsterrasse bildet.

Im Privatzimmerriegel öffnet sich der Flur mit Sitznische zur Terrasse hin, während die Privatzimmer Richtung Nordosten zur Wiese hin angeordnet sind. Über einen Austritt sind die Privatzimmer des Erdgeschosses direkt mit der Wiese verbunden.

Die Gemeinschaftsküche bietet Raum zur Zusammenkunft der Bewohner und Besucher.

Durch ein Gewächshaus betritt man den offenen Essraum mit anschließender Küche.

Finden keine großen Veranstaltungen statt, so kann der Essraum als Workshopraum für die Bewohner genutzt werden.

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Grundriss Erdgeschoss

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Grundriss Obergeschoss

Schnitt

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HAUS AM SEE

Wohnungen. Eine große Wohnung mit rollstuhlgerechtem Untergeschoss für Pfleger mit Familien oder Besucher und zwei kleine Maisonettwohnungen

für

Einzelhaushalte,

Pfleger und Touristen. Die Wohnungen sind im unteren Geschoss zur Wiese und zum Wald und im oberen Geschoss zum See hin ausgerichtet.

Die Sauna besteht aus einem länglichen Das Haus am See mit Sauna als Funktions-

Riegel, welcher sich zum See hin orientiert.

gebäude, einem Hof als offene Terrasse und

Ein langer Gang, auf der Westseite des

drei Einzelwohnungen als Wohngebäude, bil-

Riegels, führt an allen Räumen vorbei uns

det den Abschluss des Weges. Dabei orien-

verengt sich zunehmend. Dies ermöglicht,

tiert sich die Form der Gebäude am schrägen

dass es auch für Menschen mit Sehbehin-

Gelände und treppt sich zum See hin ab.

derung spürbar wird, dass die Funktionen zu-

Der Hof erschließt die Sauna und die rolls-

nehmend privater werden. Außerdem öffnet

tuhlgerechte Wohnung. Danach treppt sich

es die Räume auf der anderen Seite, sodass

der Weg ab, um die unteren Wohnungen zu

für die Saunen mehr Platz ist. Durch die Ab-

erschließen.

trennung der Bereiche mit Vorhängen ist die

Das

Wohngebäude

besteht

aus

drei

zunehmende Wärme im Flur spürbar.

Schnitt

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Grundriss Erdgeschoss

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QUELLEN VERZEICHNIS

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Literatur: Bachelard, Gaston (1975), Die Poetik des Raumes, Carl Hanser Verlag, München Brown, T. (1838), Lectures on the philosophy of the human mind, vol. 1. Hallowell: Glazier, Masters and Smith Filler, Martin, “Extra sensory perceptions” in: Progressive Architecture 1978, 78.4 Géza Révész (1950), G. Psychology and art of the blind, London Herssens, Jasmien (2011), Designing Architecture for More. A Framework of Haptic Design Parameters with the Experience of People Born Blind, Heverlee Herz, Michael (2003), Schließe die Augen, damit Du sehen kannst! : Planung eines “Blindengartens” durch einen Sehenden, Kassel Jun’ichiro, Tanizaki (1992), Lob des Schattens, Manesse Verlag, Zürich Kipnis, Jeffrey, „A conversation with Jacques Herzog“, in: El croquis 1997, H 84 Klöckner, Karl (1999), Der Blockbau: Massivbauweise in Holz, Callwey Verlag, München Kundziņš, Pauls, (1974) “Latvju sēta”, Stockholm Lester E. Krueger, “Tactual perception in historical perspective: David Katz´s world of touch” in: William Schiff, Emerson Foulke (1982), Tactual perception: a sourcebook, Cambridge Palasmaa, Juhani (2013), Die Augen der Haut, Atara Press, Los Angeles Pallasmaa, Juhani (2009), The thinking hand, Chichester Siegel, R. E. (1970), Galen on sense perception, New York William Schiff, Emerson Foulke (1982), Tactual perception: a sourcebook, Cambridge Williams, J. M. (1976), Synaesthetic adjectives: a possible law of semantic change. Language Wölfflin, Heinrich (1991), Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, Berlin Zumthor, Peter, „Der harte Kern der Schönheit“, 1991, in: Architektur Denken, Baden 1998 Interviewpartner: Persönliche Kommunikation des Autors mit Kazelnika, Regina. Dagda, am 22.12.17 Telefonische Kommunikation des Autors mit Saerberg, Siegfried. Berlin, am 15.12.17 Telefonische Kommunikation des Autors mit Murao Pereira, Carlos, am 27.11.17 Persönliche Kommunikation des Autors mit Frau Rabe, Berlin, am 16.10.17 Internetquellen: http://www.bsvsh.org/index.php?menuid=101&reporeid=165 https://www.bbsb.org/index.php/infothek/das-auge/sehbehinderungen-simulator?start=1 http://www.lnbiedriba.lv/lv/par-biedribu/statistika-un-petijumi/ http://www.uiah.fi/studies/history2/e_ident.htm http://www.siegfriedsaerberg.com/? https://mein.sanofi.de/themen/mensch-und-gesundheit/die-5-sinne?context=Aerzte

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https://www.planet-wissen.de/natur/sinne/hoeren/index.html https://www.ixpos.de/IXPOS/Content/DE/Ihr-geschaeft-im-ausland/_SharedDocs/Downloads/ bmwi-markterschliessungsprogramm-2014/bmwi-mep-marktstudie-lettland-lebensmitteltechnik.pdf?v=2 http://www.lettische-presseschau.de/politik/lettland/909-2015-07-29-10-42-17 https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=lettland--eufoerderung2014-bis-2020,did=1107098.html https://de.wikipedia.org/wiki/Riga https://www.laenderdaten.info/Europa/Lettland/verkehr.php http://www.vialatvia.de/land/landesdaten.html http://www.vialatvia.de/land/kultur.html http://www.vialatvia.de/land/lettische-kueche.html https://www.gtai.de/GTAI/Navigation/DE/Trade/Maerkte/suche,t=lettland--eufoerderung2014-bis-2020,did=1107098.html http://www.ekoconnect.org/tl_files/eko/p/14-Laender/laenderbericht_lettland.pdf https://www.lm.gov.lv/news/id/3580 http://www.lnbiedriba.lv/lv/par-biedribu/statistika-un-petijumi/ https://www.freunde-waldorf.de/die-freunde/publikationen/waldorfpaedagogik-weltweit/teil2/lettland/ http://www.lettische-presseschau.de/begegnungen/16-begegnungen/660-spendenaufruf-eine-toepferwerkstatt-fuer- eine-behinderteneinrichtung-in-lettland http://blindart.lv/en/about/ https://www.amnesty.de/jahresbericht/2017/lettland http://www.rpi-loccum.de/material/aufsaetze/theo_fuchs_thomas

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Erste Auflage 2018 Auflagenhรถhe:

/5

Autoren: Catherine Folawiyo und Kristine Kazelnika Grafik und Illustrationen: Catherine Folawiyo und Kristine Kazelnika Fotografie: Indra Gleizde, Catherine Folawiyo und Kristine Kazelnika Gestaltung: Ariane Folawiyo Druck und Bindung: buch.one, Offsetdruckerei Karl Grammlich GmbH, Pliezhausen Printed in Germany

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