erkannt hat, daß das Ziel der Vorschrift die Liebe aus reinem Herzen und mit guten Gewissen und nicht vorgetäuschtem Glauben ist [1 Tim 1,5], dann wird er das ganze Verständnis der göttlichen Schriften auf diese drei beziehen und an die Behandlung jener Bücher sicher herantreten“ (doct. christ. 1, 95). Das Auslegungsziel ist die doppelte Liebe zu Gott und dem Nächsten (doctr. chr. 3, 48), dem sich alle anderen Auslegungsarten unterordnen müssen: „Die Liebe zu Gott und zum Nächsten [nach Augustinus] muß der Verständnisrahmen und das Ergebnis jeder Bibelauslegung sein“,6 wie Karla Pollmann treffend formuliert. Der moralische Sinn muss nach Kant „allen biblischen Glaubenslehren untergelegt werden“ (SF A 56). Da die Vernunft als die „oberste Auslegerin der Schrift“ fungiert (SF 54), sind alle Lehren, die geoffenbart werden mussten, d.h. nicht durch die Vernunft erkannt werden konnten, für Kant irrelevant. Da es in der Religion alles auf das Tun ankomme, müssen die religiösen Lehren allen Menschen zugänglich sein. Diese Forderung erfüllt lediglich die natürliche, moralische Vernunftreligion, da ihre unbedingten Gebote alleine durch die praktisch-moralische Vernunft erkannt werden können und somit jedem Menschen prinzipiell offen stehen, unabhängig davon, in welchem historischen religiösen Kontext er sich befindet. Eine weitere Regel zur Schriftauslegung besagt, dass wir uns das Tun des Menschen „als aus dem Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte entspringend, und nicht als Wirkung vom Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursache“ vorstellen müssen (SF A 58f.). Dasjenige, was theologisch als Gnade bezeichnet wird, darf nicht als eine Art Ersatz für das eigene Handeln des Menschen verstanden werden. Allerdings darf der Mensch auf „eine übernatürliche Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit“ hoffen, wo „das eigene Tun zur Rechtfertigung […] vor seinem eigenen (strenge richtenden) Gewissen nicht zulangt“ (SF A 60f.). 3. Einige ausgewählte christliche Theologumena in der Sicht Kants 3.1 Der Sündenfall und die Ursünde In einer kleineren Schrift aus dem Jahre 1786 Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte unternimmt Kant, wie auch später in der Religionsschrift unter einem anderen Blickwinkel, einen Versuch, der biblischen Geschichte des Sündenfalls aus dem Buch Genesis 3, 1–24 einen moralphilosophischen Kern abzugewinnen. Der Titel der Schrift zeigt bereits deutlich an, dass es Kant nicht um eine Interpretation der Fallgeschichte in einem genuin theologischen Sinne geht. Er zeigt, dass die biblische Geschichte eine Wahrheit über die moralische Beschaffenheit des Menschen erzählt, die mit seiner philosophischen Konzeption des moralisch Bösen konveniert. Im Gegensatz zur Religionsschrift entwickelt Kant hier seine Thesen unter einem entwicklungsgeschichtlichen Aspekt, indem er das Verhältnis von Individuum und Gattung ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Laut Kant müssen wir uns die Vertreibung aus dem Paradies als den Ausgang der Menschen 6
Vgl. POLLMAN, Karla. Nachwort zu Augustinus, Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Stuttgart: Reclam, 2002, S. 278 und das Kapitel „Caritas als der hermeneutische Normenhorizont von DC“ in idem, Doctrina christiana: Untersuchungen zu den Anfängen der christlichen Hermeneutik unter besonderer Berücksichtigung von Augustinus, De doctrina christiana. Freiburg (Schweiz): Universitätsverlag, 1996, S. 121−147.
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