24. DREIZEHN - "40 Jahre Benachteiligtenförderung. Ein Rück – und Ausblick"

Page 14

Arbeitsgesellschaft und Jugendsozialarbeit Gerhard Christe

V

or 40 Jahren, als Ralf Dahrendorf (1980) die Arbeitsgesellschaft im Entschwinden sah, die Arbeitsmarktkrise immer offensichtlicher wurde und die anwachsende Jugendarbeitslosigkeit zunehmend als ausbildungsmarkt- und sozialpolitisches Problem wahrgenommen wurde, führte das Ministerium für Bildung und Wissenschaft (BMBW) das „Programm zur Förderung der Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher“ (Benachteiligtenprogramm) ein. „Durch spezielle Hilfestellungen sollten auch Jugendliche in das Ausbildungssystem und somit in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden, die aus den unterschiedlichsten Gründen als ‚benachteiligt‘ galten“ (BMBW 1992, S. 3). Die damalige Diskussion um die „Krise der Arbeitsgesellschaft“ (Matthes 1982) machte auf die Verschärfung sozialer Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt und die zunehmende Ausgrenzung benachteiligter Schichten aufmerksam und lieferte Argumente für die Notwendigkeit staatlicher Verantwortung für die Bekämpfung der Benachteiligung von Jugendlichen im Bildungs- und Beschäftigungssystem (Christe 1980).

bereits ihre rechtlichen, organisatorischen und konzeptionellen Grundlagen gelegt. Durch sozialpädagogische Überbrückungsmaßnahmen für Jugendliche ohne Ausbildung, z. B. eine „Allgemeine Berufserziehung von Ungelernten“ (Riedel 1955), sollte vor allem mithilfe einer speziellen Pädagogik, speziellen Inhalten und einer eigenen, auf die individuellen Voraussetzungen von Ungelernten abgestimmten Didaktik „das Problem der Ungelernten“ gelöst werden. Schon hier wurden die Grundlagen für individualisierende Leistungstests und differenzierende Angebote in der Benachteiligtenförderung gelegt, wie sie in den Jahrzehnten danach dann immer größere Bedeutung bekamen. Anfang der 1950er Jahre entwickelte die 1949 gegründete Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendaufbauwerk erste Maßnahmen gegen die hohe Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit Jugendlicher, z. B. Ausbau überbetrieblicher Lehrwerkstätten oder Grundausbildungslehrgänge (Breuer 2002). Die Jugendsozialarbeit ist in den letzten Jahrzehnten zu einem immer wichtigeren Teil der Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik geworden. Für den Staat bedeutete dies insofern eine Entlastung, als die Ursachen für den ungleichen Zugang zu einer Berufsausbildung nicht im hochselektiven (Berufs-)Bildungssystem, sondern vor allem in der Begabung und der sozialen Herkunft der Jugendlichen verortet werden konnten. Da die Ausgrenzung von Jugendlichen aus benachteiligten Schichten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre immer offensichtlicher wurde, bekam das Thema Benachteiligtenförderung quasi staatspolitische Bedeutung. So kündigte Helmut Schmidt in seiner Regierungserklärung am 16. Dezember 1976 an: „Bei dem Ausbildungsplatzangebot der nächsten Jahre wollen wir unser Augenmerk besonders auf jene jungen Menschen richten, die es schwerer haben als andere, einen Ausbildungsplatz zu finden.“

Allerdings war damals weder die Benachteiligung von Jugendlichen beim Zugang zu Ausbildung neu, noch die Erkenntnis, dass die meisten von ihnen nur mit einer speziellen Unterstützung in Ausbildung gelangen. Seit der Industrialisierung und der Etablierung des selektiven (Berufs-)Bildungssystems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden große Teile der Arbeiter_innenjugend in Deutschland beim Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung massiv benachteiligt. Parallel dazu entstand die Jugendsozialarbeit, um die gröbsten Auswüchse dieser Entwicklung abzufedern (z. B. Kolpings Lehrlingsarbeit). Zu Beginn der Weimarer Republik wurden dreizehn Heft 24 2020

14


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.