gletscherspalten 3/2023

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101 Gründe (nicht) zu wandern

Warum eigentlich gehe ich wandern, noch dazu im Hochgebirge? Bei Hitze, Regen und manchmal sogar Schnee quäle ich mich die nicht enden wollenden Höhenmeter hinauf, nur um sie nach dem mühevoll erreichten Pass wieder herunterzulaufen. Über steinige oder schotterige Pfade, steil und absturzgefährdet, den Blick starr nach unten gerichtet. Immer weiter. Ist Wandern eine sinnlose Tätigkeit? Ein Hobby für Masochisten? Laut einer Studie reduziert regelmäßiges Wandern das Stresserleben und fördert positive Gefühle wie Zufriedenheit, Dankbarkeit, Demut und Lebenssinn. Für mich fängt der Stress allerdings schon zu Hause bei der Vorbereitung an. Die richtige Ausrüstung zu finden ist teuer und sie sieht nicht unbedingt gut aus. Funktionstextilien, atmungsaktiv, wasserdicht und windabweisend, versprechen für jede Wetterkapriole gerüstet zu sein. Mir stockt allerdings beim Kauf meiner neuen Wanderschuhe der Atem … für den Preis hätte ich mindestens fünf Paar Schuhe bekommen … Ich packe meinen Rucksack … so wenig wie möglich und so viel wie nötig, lautet die Devise. Jedes Jahr das gleiche Drama, ich habe immer mehr als

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nötig, obwohl ich mich doch nur auf das absolute Minimum beschränke. Vielleicht sollte ich doch den Griff meiner Zahnbürste absägen … Es verbleibt als einzige Möglichkeit der Gewichtsreduzierung nur selbst abzunehmen, doch dafür ist es nun zu spät! Ich habe Urlaub. Wohlverdienten Urlaub! Mantra­ mäßig sage ich diesen Satz immer wieder vor mir her, denn die Tagesstruktur beim Hüttenwandern entspricht so gar nicht dem Bild eines entspannten Urlaubstages. Mann/Frau sollte sich generell zu Hause gut ausgeschlafen haben, denn für die nächsten Tage oder Wochen ist chronischer Schlafmangel vorprogrammiert. Auf einer Hütte im Mehrbettzimmer oder gar Lager zu übernachten kann zu einer existentiellen Herausforderung werden. Es ist eng, heiß und die Gefahr des Erstickens besteht, insbesondere, wenn der liebe Bettnachbar seine Wandersocken zum Lüften über die Bettkante gehängt hat. Das allnächtliche Schnarchkonzert entbehrt jeglichen melodischen Einklang. Auch ganz reale Gefahren lauern des Nachts. Beim nächtlichen Toilettengang besteht Absturzgefahr aus den höher gelegenen Schlafstätten, Stolpergefahr am Boden, da der Weg zur Türe über größere Hindernisse, sprich Rucksäcke und deren Inhalt, schwer erkennbar gefunden werden muss. Die Stirnlampe bitte nur einschalten, wenn man die Gebrauchsanweisung vorher eingehend studiert hat. Sonst kann es passieren, dass grelles Blinklicht das

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