Sonnenaufgang beim Aufstieg auf den Hexenkopf über den Südgrat
Morgendlicher Blick von der Hexenseehütte zum Masnertal
Magisches Erlebnis auf dem Hexenkopf
Mitten im Märchen
18
Mit meinen beiden Geschwistern und zwei Freunden realisierte ich in der zweiten Augusthälfte 2021 einen langgehegten Traum, wir überquerten die Alpen zu Fuß. Eine der klassischen Routen führt zwar von Oberstdorf nach Meran, doch wir wanderten von Oberstdorf nach Reschen. Denn als erfahrene Pfadfinder stellten wir uns gemäß unseren Wünschen eine eigene Route zusammen. Am wichtigsten war es uns, einsame Wanderwege auszuwählen, eine abwechslungsreiche Landschaft zu passieren, den ein oder anderen Gipfel mitzunehmen sowie sowohl im Tal als auch auf dem Berg zu übernachten. Die knapp 120 Kilometer und 8.400 Höhenmeter unserer Route schafften wir in acht Tagen. Etappe 6 – am Vortag war ein weiterer Freund zu uns gestoßen – führte uns von See im Paznaun zur Hexenseehütte. Zunächst folgten wir dem Ziehweg in Richtung Bergrestaurant Medrigalm, um dann an einer unscheinbaren Kreuzung zum Istalanzbach abzubiegen und fortan dem Bach folgend das gleichnamige Tal aufzusteigen. Der enge, von Moos und Farnen gesäumte Pfad erschien wie im Märchen. Wir hatten den Eindruck, uns könnte jeden Moment Rotkäppchen oder der böse Wolf aus dem Nadelwald entgegenkommen. Zahlreiche Pilze am Wegesrand und durch den Tau gebildete, dicke Wassertropfen auf den Blättern verstärkten diesen Eindruck. Wir genossen den Anblick der Natur, die Ruhe und die
Einsamkeit. Insgesamt begegneten uns an diesem Tag drei Wanderer. Gegen Mittag hielten wir etwas oberhalb der Baumgrenze, setzten uns in ein Geröllfeld direkt am Bach und verspeisten unsere Brotzeit. Konnten wir bis zur Mittagpause noch die schöne Aussicht genießen und weit ins wild und natürlich wirkende Istalanztal hinaufschauen, verringerten aufziehende Wolken zunehmend die Sicht. Auf dem Weg zum Masnerjoch setze schließlich leichter Regen ein – es sollte die einzige kalte Dusche im Gelände in acht Tagen sein. Wir können nur erahnen, wie schön dieser Aufstieg bei klarem Wetter ist, wobei die Kombination aus Nebel, sattgrünem Gras und zunehmend grauen Felsen auch ein schönes Erlebnis war. Am Masnerjoch (2.685 m) gaben die Wolken schließlich den Blick auf den Hexensee, den Hexenkopf (3.035 m) und die Hexenseehütte frei: der türkis-grüne See im Vordergrund, die grau, rotbraunen Felsen im Hintergrund und dazwischen das lebendige Grün des Grases mit einigen gelben Blüten. Da der Regen aufgehört hatte, konnten zwei meiner Begleiter diesem Anblick nicht widerstehen und nahmen spontan ein Bad im ziemlich kalten Nass. Gegen 15:30 Uhr nahm uns Sybille herzlich in Empfang. Nachdem wir unsere Schlafplätze im geräumigen Lager eingerichtet hatten, konnten wir warme Duschen und eine gute Internetverbindung, ein für Berghütten eher unüblicher Luxus, kostenlos
reportage | gletscherspalten 1/2022