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TIMS THESEN

THEMA: Gibt es wirklich immer mehr Irre?

Tim Holzhäuser schreibt hier seine monatliche Glosse

S-Bahnfahren war diesen Monat mal wieder eine Wonne. Die Volontärin wurde als „Hure“ beschimpft, ich wäre fast in eine unerfreuliche Lache getreten – und dann der Irre, der in Altona wie eine Walküre über die Bahnsteige rannte, mit der Stimme einer Kreissäge ...

Allgemeines Resümee am Monatsende in der Redaktion: „Immer mehr Irre!“ „Irrer“ ist kein präziser Terminus und respektvoll ist er auch nicht. Es findet aber auch niemand respektvoll, von volltrunkenen Sagengestalten unter dem Schlachtruf „Hure“ über den Bahnsteig gescheucht zu werden ... Der „Irre“ ist hier also eine kleine Rache.

Aber nun zu Frage und These. Gibt es wirklich immer mehr Irre?

Nein, gibt es nicht. „Immer mehr Irre“ ist eine weitere Abwandlung von „Früher war alles besser“. Der Eindruck dürfte meiner Ansicht nach eher dadurch entstehen, dass wir mit den Jahren die Toleranz gegenüber sozial abweichendem Verhalten verlieren. Wir werden im Laufe unseres Lebens derart mit Beispielen von erwünschtem Verhalten konditioniert, sodass uns irgendwann selbst kleinere Verstöße auffallen.

Fragen Sie mal ein Kind,

wie viele „Irre“ heute wieder in der S-Bahn sitzen. Höchstwahrscheinlich wird es sich anstrengen, um eine Antwort zu liefern. Es ist aber selbst noch beschäftigt, all die Do’s und Dont’s zu lernen, also fehlt die Aufmerksamkeit für den Blödsinn der anderen. Jetzt könnte es Widerspruch geben und zwar so: Es gibt sehr wohl mehr Irre, weil das moderne Leben mehr Stress verursacht und die Anzahl einschlägiger Diagnosen steigt. Dazu zwei Entgegnungen: In meinen Augen ist der Stressfaktor des modernen Lebens gering, verglichen mit dem, was vergangene Generationen an Krieg, Krankheit und Schufterei erdulden mussten. Die steigende Anzahl der Diagnosen könnte auch mit einem ausgebauten Gesundheitssystem zusammenhängen. Die Leute rennen halt nicht erst zum Arzt, wenn sie in Farben denken. Ein hochgradig Irrer ist übrigens im Oktober von uns gegangen. Er wohnte rund um den Sternschanzenbahnhof und tanzte, von Drogen befeuert, jahrelang frenetisch auf offener Straße. Das gesamte Viertel beWir verlieren die Toleranz gegenüber sozial zeichnete ihn als „Michael Jackson“. Ich bin mir ziemlich sicher, abweichendem dass ich sein letzVerhalten. tes Gebrüll gehört habe, denn am nächsten Tag standen die Kerzen da, wo ich zwölf Stunden zuvor den Bahnhof verlassen hatte. Ein Bild von Michael Jackson war angebracht, darunter der echte Name: Claudio. Er wurde etwa 35 Jahre alt. Die Umstehenden waren sich einig, dass er eine entsetzliche Nervensäge war, ein Irrer eben, aber tot auf dem Pflaster ...? War das wirklich unvermeidbar? Und da wird klar, dass man eben doch aufmerken sollte, wenn Menschen mit Sammelbegriffen belegt werden. Und mit diesem Satz mache ich hier für 2021 zu, wünsche Ihnen ein schönes Weihnachtsfest und ein enthusiastisches Silvester. Das wird schon. ;-)