KlassikAkzente Printausgabe 2009_04

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Titel Leidenschaft, die Leiden schafft Mit ihrem neuen Projekt „Sacrificium“ widmet sich die Mezzosopranistin Cecilia Bartoli auch den dunklen Seiten des Kastratentums. Mai 2009, Mailand. Das grelle Licht in der edlen Location wird langsam schwächer, das Stimmengewirr ebbt allmählich ab und alle Konzentration richtet sich auf den Laufsteg. Musik setzt ein, Scheinwerfer fokussieren ihr vielfarbiges Licht auf die Öffnung in der Bühnenwand, aus der sich nun das lang erwartete Defilee der LuxusModels ergießt … Blitzlichtgewitter, Applaus für besonders gelungene Kreationen, dazu das eine oder andere Ohh! und Ahh! aus der modehungrigen Menge hier in einem der Zentren der modernen Modewelt. Da, plötzlich springt ein Mann in der ersten Reihe auf und ruft – völlig außer sich vor Entzücken – den gerade vorbeiparadierenden Models zu: „Evviva l’anoressia!“, es lebe die Magersucht! Auf eine kurze Sekunde erschrockenen Schweigens folgt lautstarker Protest von allen Seiten, bevor die herbeigeeilte Security den Rufer kurzerhand aus dem Saal entfernt, jedoch nicht ohne ihn zuvor noch einmal lustvoll dem Zorn der versammelten Meute auszusetzen … Mai 1725, Neapel. Langsam, einer nach dem anderen, werden die hohen Kerzenleuchter von den Theaterdienern gelöscht, das vielfache Stimmengewirr im Parkett und auf den Rängen verliert – zumindest ein wenig – an Lautstärke. Der Duft schweren Parfüms hängt in der Luft, das Rascheln edler Roben und das eine oder andere helle Lachen durchdringen das weite Rund des Theaters. Obgleich die Musik im Orchestergraben bereits begonnen hat, bleibt der Geräuschpegel hoch und scheint – je länger die Ouvertüre andauert – noch an Intensität zu gewinnen. Was scheren das noble Publikum auch die Bemühungen des Dirigenten um Dynamik, Ausdruck und Klangschönheit. Man ist doch nur gekommen, um IHN zu hören, nur IHM zuliebe verbringt man einen herrlichen Frühsommertag in der stickigen Atmosphäre dieses Theaters. Endlich hebt sich der schwere Vorhang und nun schallt ein tausendstimmiges „Bravo!“ dem stattlichen Sänger auf der Bühne entgegen und schnell formt sich der Chor zu dem verzückten Ausruf: „Evviva il coltellino!“, es lebe das Messerchen!, von allen Seiten beklatscht und bejubelt, bis der Mann auf der Bühne den Mund aufmacht und zu singen anhebt: Im Nu ist es totenstill im Saal und der Kastrat Carestini übernimmt für drei Stunden das Zepter im Opernhaus. Am Ende wird ihm gehuldigt wie einem Monarchen und Frauen wie Männer buhlen um seine Gunst.

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Genau zwischen diesen beiden Polen, dem Opfer im Namen des Vergnügens und der Lust an demselben, bewegt sich das neue Projekt von Cecilia Bartoli – „Sacrificium“. Die belletristische Literatur hat sich des Themas bereits mehrfach angenommen, sensationsheischend und mystifizierend in Gestalt der Amerikanerin Anne Rice und ihres „Falsetto“, erotisch aufgeladen und um Authentizität bemüht bei der Niederländerin Margriet de Moor und ihrem „Der Virtuose“, oder in kriminalistischer Manier wie bei Rita Monaldi und Francesco Sortis Romanen „Imprimatur“, „Secretum“ und „Veritas“. In der Musik huldigte man bislang vorzugsweise und ausschließlich der (vermeintlichen) Schönheit des Kastratengesangs, ohne auf die perfide Doppelbödigkeit dieser Schönheit näher einzugehen. Diesen spannenden Part nun hat Cecilia Bartoli für sich und ihr neues Projekt reserviert. Indem sie einerseits in Stimme und Repertoire den virtuosesten Kompositionen aus der Feder von Nicola Porpora, Carl Heinrich Graun, Leonardo Vinci, Antonio Caldara, Leonardo Leo und Francesco Araia huldigt und dabei allein mit elf Welterst­ einspielungen aufwartet, setzt sie sich mit der Ausgangsthese zum Projekt und in dem begleitenden Textmaterial samt veritablem „Kastratenlexikon“ mit den gern und verschämt unter den Tisch gekehrten Schattenseiten der Kastratenkunst auseinander. Spätestens seit dem 1668 von Papst Clemens IX. ausgesprochenen Edikt, „keine Weibsperson bei hoher Strafe darf Musik aus Vorsatz lernen, um sich als Sängerin gebrauchen zu lassen“, waren Frauenstimmen aus den Theatern verbannt. Dieses Verbot hielt sich aber in seiner Ausschließlichkeit nur im Kirchenstaat und wurde im restlichen Italien und in Europa nie konsequent durchgesetzt. Das historische Faktum, dass im 17. und 18. Jahrhundert neben den illustren Kastraten auch glänzende Karrieren berühmter Sängerinnen möglich waren, dass sogar „eine weibliche Stimme weit schöner sei als die beste Kastratenstimme“, legt die Vermutung nahe, dass die Vorherrschaft der Kastraten auf der Opernbühne nicht unbedingt nur dem Frauenverbot zuzurechnen war. Die „Arbeit“ mit den jungen Kastrierten bot vielmehr einen entscheidenden Vorteil gegenüber der Ausbildung einer Sängerin: Bei einem frisch kastrierten Jungen konnte sofort mit der Stimm­ bildung begonnen werden, ohne auf die Auswirkungen der Pubertät auf die Stimme warten zu müssen. Dazu kam, dass Jungen in


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