Streiflichter: zur Literatur in Kärnten
CARINTHIja 2020
Nach dem Zweiten Weltkrieg traten in Kärnten wie aus dem Nichts junge Autor*innen an die Öffentlichkeit, die bald zu Größen der deutschsprachigen Literatur zählten. Was machte den Boden so fruchtbar? Erster Teil einer Spurensuche.
I. Langer Anlauf. Der Blick auf die Literatur in Kärnten belegt auf das Nachdrücklichste, dass die geographische Streuung von künstlerischen Begabungen allen statistischen Wahrscheinlichkeiten widerspricht. Im Bundesland Kärnten leben mit etwas mehr als 500.000 Einwohner*innen etwa so viel Menschen wie in einer mittelgroßen deutschen Stadt, Hannover etwa. Wenn man von der eher zufälligen Geburt Robert Musils in Klagenfurt absieht, hat dieser bäuerlich geprägte und feudal strukturierte Landstrich über Jahrhunderte hinweg ausschließlich Autoren von lokaler Bedeutung hervorgebracht. Die zeitweilige überregionale Prominenz Josef Friedrich Perkonigs verdankt sich einer politischen Konjunktur des Völkischen. Davon profitierte der Propagandist des „Abwehrkampfes“ nicht nur als Multifunktionär des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus, sondern auch als Schriftsteller. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg treten – gleichsam aus dem Nichts – Autor*innen mit eigener Stimme und Sprache an die Öffentlichkeit, von denen heute einige zu den Größen der deutschsprachigen Literatur zählen: Christine Lavant etwa, die, in ärmlichsten Verhältnissen lebend, als Autodidaktin zu einer unverwechselbaren lyrischen Form fand und die in ihrer Prosa das Leben der Mühseligen und Beladenen mit einzigartiger Genauigkeit und Einfühlung beschrieben hat; oder Ingeborg Bachmann, die wie keine andere deutschsprachige Autorin nach dem
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DIE BRÜCKE Nr. 20 | Brückengeneration 5
Krieg Repräsentantin des weiblichen Schreibens geworden ist und gleichzeitig eine der Ersten war, die Krieg, Gewalt und das Weiterleben des Nazismus zu zentralen Themen ihrer Literatur gemacht hat – und schließlich Peter Handke, sprachlich und formal ein literarisch Unvergleichlicher und einer der bekanntesten europäischen Autoren. II. Dann aber. Die Häufung literarischer Begabungen in Kärnten nach 1945 grenzt an ein Wunder. Gibt es ein österreichisches Bundesland – Wien vielleicht ausgenommen – das innerhalb zweier Generationen eine derartige Fülle an herausragenden Autor*innen aufweisen könnte? Ich nenne nur eine Handvoll: Anna Baar, Christoph W. Bauer, Hans Bischoffshausen, Lilian Faschinger, Antonio Fian, Michael Guttenbrunner, Peter Handke, Ingram Hartinger, Alois Hotschnig, Gert Jonke, Werner Kofler, Elke Laznia, Lydia Mischkulnig, Engelbert Obernosterer, Thomas Pluch, Peter Truschner, Peter Turrini, Alexander Widner, Josef Winkler, Daniel Wisser, Robert Woelfl. Und von den Autor*innen slowenischer Muttersprache: Florjan Lipuš, Gustav Januš und Maja Haderlap. Mit diesen drei ist – maßgeblich angestoßen durch Übersetzungen einzelner Texte von Lipuš und Januš durch Peter Handke – die Literatur der slowenischen Minderheit in Kärnten erstmals auch international wahrgenommen und gewürdigt worden.
Tatsache ist allerdings auch, dass die Mehrzahl der Genannten Kärnten verlassen hat. Enge und Kleinheit des Landes, der Druck eines jahrzehntelang betont nationalistischen, antimodernen und politisch rigiden Milieus waren vermutlich gute Voraussetzungen für die Entwicklung von schriftstellerischer Sensibilität, von Beobachtungsgabe, Ausdrucksbedürfnis und kritischem Geist, nicht aber die beste Umgebung für das tägliche Handwerk des Schreibens. Die tendenziöse Literaturfeindlichkeit der Kärntner Kulturpolitik zieht sich nahtlos von den 1950er-Jahren über die WagnerÄra bis zum Ende des Haider-Regimes. Unter dem Schlagwort „Kärntner Tradition“ wurde alles „Zeitgenössische“ verteufelt und ein Verständnis von Literatur propagiert, das die Pflege eines deutschnationalen Heimatbewusstseins, den Lobpreis des Landes, die Abwehr der Moderne und, nicht zu vergessen, alles Slowenischen, als zentrale Anliegen propagierte. Eine Literatur, die sich den lange verdrängten Problemen des Landes stellte, wie u. a. Peter Turrinis Sauschlachten, Peter Handkes Wunschloses Unglück, Werner Koflers Guggile oder Thomas Pluchs Dorf an der Grenze, stieß auf vehemente Ablehnung, wurde angegriffen und skandalisiert. III. Musil und Klagenfurt. Wie geht das zusammen? Robert Musil, der heute in einem Atemzug mit Marcel Proust und James Joyce genannt wird, hat 1937, fünf