Petra Kohlenprath öffnet die Türe von Loibltal/Brodi 1, um aktiv in Geschichte einzutreten. Foto: Tina Perisutti | Das Haus ist voll mit Geschichten und Geschichte. Foto: Tina Perisutti | Aus der Postkartensammlung mit historischen Ansichten von Loibltal/Brodi Foto: Carolin Bohn
Und was hat das mit uns zu tun? Ein entrischer Ort – könnte man sagen. Beherrscht vom Durchzug oder besser gesagt vom Vorbeifahren. Wie oft bin ich dort schon vorbeigefahren auf dem Weg nach Ljubljana oder nach Kroatien oder auf dem Weg wieder nach Hause – und wie oft hatte ich mir dabei gedacht, wer denn bloß hier ein Haus bauen möge? So beginnt bereits die erste Auseinandersetzung mit Geschichte. Die zweite Auseinandersetzung war die Begegnung mit einer Leiter aus dem KZ Loibl, die mit jeder Sprosse mehr an Inhalt gewann und die seit vielen Jahren im Haus mit der Adresse Loibltal/Brodi 1 weilt. Es ist ein Ort, der durch das Erzählen von Geschichten nach und nach eine Auseinandersetzung mit Geschichte eröffnet. Begonnen hat es mit dem Bau des Hauses 1896 oder mit den Erinnerungen von Hanzi Kohlenprath an eine Zeit, die hierzulande gerne verdrängt und verschüttet wird. Oder hat es begonnen, als Petra und Renate Kohlenprath sich mit den Geschichten ihres Vaters aktiv und intensiv auseinandersetzten, als sie erkannten, dass dies auch ein Teil ihrer Geschichte war? Als sie sich die Frage stellten: „Wie wollen wir dieses Erbe da übernehmen – das heißt, die vielen Geschichten und Erzählungen vom Vater. Wir sind mit Geschichten über KZ und Vergasen aufgewachsen und sind dadurch auch zu Zeitzeuginnen geworden.“ Hochzeitsfoto. Die Erzählungen sind in dem Haus gespeichert und allen Menschen, die hier gelebt haben, liegt eine
stumme Zeugenschaft darüber inne. So machen die Schwestern Kohlenprath seit 2015 ausgehend von einem Hochzeitsfoto die so vielschichtigen Lebensgeschichten der Familie Kohlenprath/Kollenprat/ Kohlnprat anhand von Ausstellungen im Haus Loibltal/Brodi 1 präsent und erlebbar. Versatzstücke wie eine Spielzeugtaube, die der Großvater dem Vater aus Krasnodar bei der Heimkehr aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht hatte, lassen Historie ebenso plastisch wie angreifbar werden und erzeugen ein spürbar starkes Spannungsfeld. Auch die Truhe der nach einer Denunziation im KZ Ausschwitz ermordeten Großtante des Vaters ist im Haus. Oder ein Flügelhorn, das nach der Rückkehr vieler Soldaten am Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem Süden am Straßenrand lag. Und schließlich die eingangs erwähnte Leiter, die ihren Dienst ursprünglich im KZ Loibl leistete und mit etlichen Brettern dortiger Baracken in Loibltal/Brodi 1 landete, um zu einer Hütte zu werden oder als Aufstiegshilfe benutzt zu werden. Ausgehend von der für CARINTHIja 2020 eingerichteten Bibliothek in der Holzhütte, mit dem besagten Hochzeitsfoto und Literatur von Hannah Arendt, Jože Javoršek oder Peter Pirker, sind im hinteren kleinen Raum filmisch festgehaltene Erinnerungen von Hanzi Kohlenprath zu sehen. Als Höhepunkt kann man das Zusammensitzen am Wohnzimmertisch nennen, wo Geschichten und Geschichte in Dialog und Kontext gesetzt werden, wo miteinander reden angesagt ist und offener
Austausch als fruchtbare Erweiterung angesehen wird. Denn Geschichte braucht auch das Moment des Zuhörens. Wichtig ist hierbei, dass die jeweiligen Geschichten in der Zeit, in der sie passiert sind, verortet und nicht mit anderen Zeitpunkten vermischt werden, wie das oft gerne getan wird, wenn es um Zweisprachigkeit, Volksabstimmung oder Nationalsozialismus geht. Als Vergegenwärtigungsprojekt soll hier Geschichte wieder zum Teil des aktuellen Lebens werden, ohne sich für vergangene Momente schämen oder sich davor fürchten zu müssen. Geschichte soll das Leben ebenso bereichern wie das Erzählen von Geschichten.
CARINTHIja 2020
Ein Haus in Loibltal/Brodi 1 speichert Erzählungen aus einer Zeit, die allzu gern verdrängt und verschüttet wird.
● Tina Perisutti Kulturarbeiterin und Kulturjournalistin.
Das Projekt läuft bis 11. Oktober 2020 DO - SO nach Voranmeldung: www.interferenzen.at oder 0699 19265365
DIE BRÜCKE Nr. 20 | Brückengeneration 5
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