NOIR - Ausgabe 10: Macht und Einfluss

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blind. fetzen Eine Kurzgeschichte von Maren Ochs

Ich bin ihnen ausgeliefert und meiner Angst. Ihre grinsenden Fratzen tanzen in dem Schwarz hinter meinen Lidern. Gebückt und krumm und verletzlich krabble ich über den klebrigen Boden, in Kreisen, immerfort. Ich höre das Tuscheln der Mädchen und manchmal ein fiepsendes Kichern. Das Schlimmste ist, sie nicht sehen zu können. Welche Richtung, frage ich leise, aber niemand will antworten. In tumber Dunkelheit steigt ein Gefühl von Schwindel auf und ich schlage mit meinem Holzlöffel gegen ein Stuhlbein. Topfschlagen, haben sie gejohlt, haben meine Augen mit einem Tuch verbunden. Ich habe mich nicht gewehrt. Ich habe mein T-Shirt in die Hose gestopft, dann bin ich in die Hocke gegangen. Ich schäme mich. Auf meinem Gesicht schwimmt die feuchtwarme Röte eines schrecklichen Momentes und ich ziehe mir das Tuch weit über Wangen und Nase, bis mir von seinem Geruch nach talgigem Haar übel wird. Weite Kreise, enge Kreise, immerfort. Niemand sagt Warm oder sagt Kalt. Niemand raunt mir einen kleinen Hinweis zu, wie Freundinnen das untereinander tun würden. Es ist kein lustiges Spiel, das Topfschlagen. Ich frage mich, ob es in diesem Spiel überhaupt einen Topf gibt. Ich denke, dass die anderen mich nicht mögen. Mir fällt nur nicht ein, weswegen sie sonst hier sein könnten. Oder nur einen Holzlöffel. Ich spüre ihre Blicke. Ich erinnere mich an die Menschen in der Fußgängerzone. Sie sind überrascht, wenn ihre Einkaufstüten gegen meine Unterschenkel schlagen. Sie schauen mich mit großen Augen an, als sei zu ihrer Rechten nie jemand gewesen. Sie vergessen, sich zu entschuldigen, so überrascht sind sie. Dabei habe ich mich schon seit vielen Minuten mit ihnen durch das Gewühl geschoben. Ich spüre die Blicke auf meinem Rücken und mich fröstelt. Vielleicht wissen die Mädchen, wie schlimm das alles für mich ist. Blind – blind – blind. Vielleicht auch nicht. Jetzt, da ich nicht sehen kann, sehen sie mich. Weite Kreise, enge Kreise, immerfort. Kreis. Kreis. Allmählich weichen Wut und Angst einem Gefühl von Ruhe. In gleichmäßigem Rhythmus patsche ich mit meinem Holzlöffel auf den Boden, in Kreisen, immerfort. Und allmählich verschwimmt das gleichmäßige Ticken unserer Wanduhr zu einem surrenden, knisternden Klangbrei, der sich auf meine Ohren und über alle Geräusche legt. Die kleinen, übersichtlichen Sekunden knicken verschüchtert ein vor der massigen Zeit. Meine Sinne scheinen verwirrt, schlagen wahnwitzige Kapriolen und stolpern dabei übereinander. Ich schmecke das Licht, das grell und ungedämpft durch die Fenster fällt. Ich beginne zu schwitzen, einen kalten Schweiß. Ich beschließe plötzlich, mich zu wehren. Ich streife mir die Augenbinde ab und blicke die anderen triumphierend an. Ich sage Durchschaut. Dann sehe ich den Topf. So etwas passiert mir manchmal.

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N o i r N r. 10 (M a i 2 0 0 9)

Illustration: Tobias Fischer


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