Die Sichtbare Stadt: Plädoyer für utopische Wirklichkeiten

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Jonathan Schmidt Sarah Schmidt

Plädoyer für utopische Wirklichkeiten


„Es ist mit den Städten wie mit den Träumen: Alles Vorstellbare kann geträumt werden“ Calvino, I. (2013). Die unsichtbaren Städte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, S. 50

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Vorwort Was wäre, wenn wir nicht von Negativschlagzeilen überflutet würden? Was wäre, wenn wir Krisen als Chancen sähen? Was wäre, wenn wir eine positive Vision für die Zukunft hätten, die unseren Blick auf Architektur und Stadt verändert? In der Sichtbaren Stadt wollen wir das Gedankenexperiment wagen und positive Zukunftsbilder imaginieren, die den Grundstein für die Gestaltung zukunftsfähiger Architektur legen. Wir wollen Lust auf Neues machen, uns einmischen und nicht aufhören mit Fantasie, mit kreativem und konzeptionellem Denken Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Wir wollen zahlreiche kleine und große Lösungen für eine schönere Welt erarbeiten, Anreize schaffen und für Orientierung sorgen - ohne dabei Verbote zu erteilen. Die imaginierte Utopie fungiert als Antithese zur aktuellen Wachstumsgesellschaft und eröffnet einen Explorationsraum, der gespickt ist mit Möglichkeiten - Möglichkeiten, Architektur zukunftsfähig zu transformieren, indem sie Reibungsfläche bietet und veränderbar bleibt. Am alten Postscheckamt in Berlin Kreuzberg soll diese Transformation beispielhaft verdeutlicht werden. Das Gebäude soll als utopisches Fragment zur Projektionsfläche unserer Vision werden. Als Handbuch dieser Methode ist das vorliegende Magazin zu verstehen. Unsere Arbeit soll Wege in eine Gesellschaft aufzeigen, die sich wieder auf die Suche nach sozialer Gerechtigkeit und einem guten Leben begibt - damit „aus der Krise lernen“ mehr als nur eine Floskel ist. Die Sichtbare Stadt ist ein Plädoyer für utopische Wirklichkeiten - für das mögliche Unmögliche.

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Inhalt Glossar Bestand: Postscheckamt

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Exkurs: Über Utopien

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17

Literarische Utopien

38

Kontext

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Stadtutopien

44

Genese

28

Wertschätzung

30

Herangehensweise

56

Referenzprojekte

32

Erzählungen der Krise

61

Luft nach oben

34

Von der Krise...

76

... zur Utopie

80

Methode

55


Codierung Unserer Utopie

87

Fragment Unserer Utopie

105

Utopischer Rahmen

88

Utopisches Fragment

106

Code: Gesellschaft

90

Öffentlichkeit

110

Code: Arbeiten

92

Wohnen

128

Code: Wohnen

94

Zukunft verhandeln

144

Exkurs: Berlitopia

103

Ausblick und Fazit

156

Zum Schluss Selbstständigkeitserklärung

161 162

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Das Glossar steckt das Bedeutungsspektrum der für die Arbeit wichtigsten Begriffe ab. Wovon sprechen wir, wenn wir von Transformation oder Imagination reden? Was ist eine Krise? Und nicht zuletzt: Was konstituiert eine Utopie? 6


Quelle: Haag, E.C. (1980). Tribune Tower Competition, Late Entry. Art, Architecture and Engineering Library. http://quod.lib.umich.edu/u/ummu/x-02-03284/02_03284 [16.01.2021]

GLOSSAR

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Antizipation

Gemeinwohl

Die Antizipation ist auf die Zukunft gerichtet und nimmt etwas vorweg. Sie kann auch als gedankliche Vorbereitung auf ein Ereignis oder eine Tat, die mutmaßlich geschehen wird, gesehen werden. Die Antizipation ist häufig von den eigenen Denkweisen und Meinungen durchzogen und damit stark subjektiv.

Das Gemeinwohl, oder auch das Wohl der Allgemeinheit, handelt vom Wohle aller, oder zumindest möglichst vieler, Teilnehmer*innen einer Gemeinschaft. Es ist eng mit Werten wie Solidarität, Zugänglichkeit und Gemeinschaft verbunden.

Nach Roberto Poli 2019 wird die Annahme über die Zukunft dazu verwendet, eine Veränderung in der Gegenwart zu erzeugen, oder zu initiieren. Poli geht davon aus, dass ein Großteil unseres menschlichen Verhaltens antizipatorisch, im Gegensatz zu reaktiv, ist. Wir treffen unsere Entscheidungen in der Gegenwart gemäß unseren Annahmen davon, was in der Zukunft passieren wird. Dies geschieht automatisch und häufig unbewusst.1 In der Sichtbaren Stadt soll die Methode der Antizipation genutzt werden, um mögliche Geschehnisse der Zukunft experimentell zu imaginieren und so Handlungsfelder für die Gegenwart zu eröffnen. Der Fokus liegt dabei auf dem Vorgriff auf positive Geschehnisse der Zukunft. Die positiv geprägte Antizipation soll helfen, der Zukunft hoffnungsvoll entgegenzublicken.

Vgl. Gemeingut - ist weder öffentliches noch individuelles Eigentum. Das Gemeingut gehört allen gleichermaßen.2 Es hebelt Hierarchien aus und kann helfen, Solidarität innerhalb einer Gesellschaft herzustellen. Ein häufiger Trugschluss ist, dass ein gemeinwohlorientiertes Handeln die Bedürfnisse aller befriedigt. Das Gemeinwohl bedeutet nicht, dass alle das gleiche möchten. Es bedarf daher kontinuierlicher Aushandlungsprozesse. Nur wenn eine Gesellschaft den Interessen vieler ihrer Bürger*innen Raum bieten kann, besteht die Möglichkeit, darüber zu verhandeln und räumliche und soziale Ressourcen neu und gerecht zu verteilen.3

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Imagination

Kreislaufwirtschaft

Die Imagination arbeitet mit Bildern, gedanklichen Experimenten und Vorstellungen. Diese unterliegen zunächst keiner Wertung, sondern sind nur Produkt der Einbildungskraft. Ähnlich wie die Projektion erschafft die Imagination Abbilder der Zukunft, Gegenwart oder auch der Vergangenheit. Man begibt sich auf eine gedankliche Reise.

Die Kreislaufwirtschaft beschreibt ein Wirtschaftssystem, welches mit einem geringen Einsatz von Ressourcen auskommt. Sie kann daher auch als regenerative Wirtschaft bezeichnet werden. Abfälle werden auf ein Minimum begrenzt und der Reparatur und die Wiederverwendbarkeit von Rohstoffen sind von hohem Stellenwert. Wie der Name bereits sagt, wird in geschlossenen Ressourcen-Kreisläufen gedacht.4

Die Imagination ist ein beliebtes Stilmittel, nicht nur in der Kreativbranche. Sie eröffnet andere Perspektiven und kann als Diskussionsgrundlage dienen. Die Sichtbare Stadt beschäftigt sich mit der Imagination verschiedener, möglicher und unmöglicher Zukunftsbilder. In der Retrospektive werden worst case scenarios verschiedener Krisen dargestellt.

In der Sichtbaren Stadt soll die Grundhaltung der Kreislaufwirtschaft auch um die soziale Komponente erweitert werden: beispielsweise um Austausch von Wissen oder sozialem Einsatz. Diese Synergien sind wesentlicher Bestandteil des Konzepts.

Darüber hinaus nutzt die Sichtbare Stadt die kreative und oft beinahe grenzenlos erscheinende Imaginationskraft von Kindern für die Produktion von Zukunftsvisionen. Der Begriff Imagination wird häufig auch in Verbindung mit Fantasie gebraucht.

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Krise

Leipzig Charta

Die Krisen in der Sichtbaren Stadt beschreiben nicht nur schwierige Lagen oder dramatische Ereignisse5, sie bezeichnen mehrheitlich gesamtgesellschaftlich relevante Entwicklungen und Trends, die überspitzt gesehen, eine Gefährdung darstellen können.

Die Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt wurde 2007 von 27 europäischen Minister*innen unterzeichnet. Sie soll die Kraft und den Lebenswert europäischer Städte, Regionen und Kommunen für die Zukunft schützen und gewährleisten.

Krise, von chin. Wéij (wei + ji) - lit.: Gefahr + Möglichkeit. In Anlehnung an die chinesische Übersetzung lässt sich in jeder Krise auch ein Chance der Veränderung oder der Besserung entdecken. siehe auch Potenzial Besonders im Bezug auf die Gestaltung der Utopie, den möglichen Zukunftsvisionen, ist es von großer Bedeutung, die Krise zu erkennen, anzunehmen und ihre Kraft in eine positive Entwicklungsrichtung zu kanalisieren. Die Potenziale sollen dabei helfen, die wünschenswerten Entwicklungen aufzuzeigen und zu einer hoffnungsvollen Perspektive zu führen.

Mehr zum Thema Krise ab Seite 61

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Zwei Punkte wurden in der Charta als übergeordnete Ziele festgehalten: 1. Eine stärkere Nutzung der Ansätze integrierter Stadtentwicklungspolitik: Die Charta versucht einen Interessenausgleich unter Einbeziehung wirtschaftlicher und öffentlicher Akteure herzustellen. Konkret geht es um die „Herstellung und Sicherung qualitätvoller öffentlicher Räume (...) Modernisierung der Infrastrukturnetze und Steigerung der Energieeffizienz (sowie eine) aktive Innovations- und Bildungspolitik“6. 2. Für benachteiligte Stadtquartiere soll größere Sorge getragen werden. In Deutschland wurde daraufhin die Nationale Stadtentwicklungspolitik ins Leben gerufen. Als 40-köpfiges Gremium der Zivilbevölkerung berät sie die Minister*innen in Stadtentwicklungsfragen. Damit soll sichergestellt werden, dass das Recht auf Stadt in allen gesellschaftlichen Strukturen ankommt und die Öffentlichkeit in städtische Prozesse stärker eingebunden wird.7


Pariser Klimaabkommen Potenzial auch Übereinkommen von Paris Im Jahr 2015 wurde auf dem UN-Klimagipfel das Pariser Klimaabkommen beschlossenen. Darin stellten die UN Mitgliedsstaaten die Weichen für eine globale Klimapolitik. Die Staaten verpflichteten sich darin unter anderem auf die Beschränkung des weltweiten Temperaturanstiegs auf unter 1,5°C im Mittel. Darin wurden Maßnahmen der Emissionssenkung und -einsparung verbunden. Nationale Klimaschutzpläne (engl. NDCs) müssen ausgearbeitet und umgesetzt werden. Aufgrund des Abkommens soll der Klimawandel gemildert und Klimaschutzmaßnahmen durchgesetzt werden. Dies soll im finanziellen und technologischen Austausch als globale Gemeinschaft geschehen. Wie auf der Klimakonferenz in Polen 2018 beschlossen, soll im fünfjährigen Rhythmus eine Kontrolle und ggf. Anpassung der NDCs stattfinden.

auch Potential Das Potenzial beschreibt die „Gesamtheit aller vorhandenen, verfügbaren Mittel, Möglichkeiten, Fähigkeiten [und] Energien“9. Potenzial wird mit Stärke oder Talenten in Verbindung gebracht. Es kann wachsen. In der Sichtbaren Stadt wird das Potenzial nicht als Leistungskraft, sondern vielmehr als vorhandenes Vermögen verstanden. Es wird bewusst auf die Potenziale der Krise eingegangen, die als scheinbare Antithese die Kraft der Selbstheilung in sich tragen. siehe auch Krise Gleichzeitig schätzt die Sichtbare Stadt Bestandsgebäude als städtebauliche Ressource und damit als Potenzial. Im Umgang mit dem Bestand wird bestehendes Potenzial neu genutzt, umgedeutet und wiederbelebt.

Größte Herausforderung des Klimaabkommens ist das 1,5°-Ziel, welches mit den vorgelegten NDCs nicht mehr erreicht werden kann. Kritisiert wird auch, dass es dem Abkommen auf internationaler Ebene an rechtlicher Verbindlichkeit mangelt. Gleichzeitig kann das Pariser Klimaabkommen als Zeichen für einen Wandel im gesamtgesellschaftlichen Denken gesehen werden. So werden der Klimawandel und seine Folgen ernstgenommen.8

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Projektion

Szenario

In der Projektion wird ein wünschenswertes Bild erzeugt und auf ein anderes Objekt oder die Zukunft übertragen.

Das Szenario beschreibt eine hypothetische Zukunft, die durch das Aufeinanderfolgen verschiedener Ereignisse entsteht. Die architektonische Szenarienplanung nutzt häufig den plausiblen Weg des Ausgangspunktes A in der Gegenwart zu einem hypothetischen Endpunkt B in der Zukunft.

Die Projektion ist zukunftsgerichtet. Sie setzt Vorstellungskraft, Imagination und Einfühlungsvermögen voraus. Im Unterschied zur Imagination, ist die Projektion stark von Wünschen geprägt, die auf die Zukunft, einen Ort oder eine Person projiziert werden. Utopien sind stets Projektionen, Imaginationen und Spekulationen über mögliche Szenarien, wie die Zukunft aussehen könnte. In der Sichtbaren Stadt dient das ehemalige Postscheckamt als Projektionsfläche unserer hypothetischen, positiven Zukunftsvisionen.

In der Sichtbaren Stadt steht das Szenario als pragmatischer Gegenspieler zur verträumt anmutenden, positiven Utopie, die größere Zeitsprünge vornimmt und Handlungsräume offener belässt. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird das Szenario oft als Synonym für Zukunftsbilder oder Utopien verwendet wird. siehe auch Utopie Das Szenario erhebt einen höheren Anspruch auf Vollständigkeit und Plausibilität. Die Utopie hingegen zeichnet Zukunftsvisionen ohne sich von finanziellen Limitationen oder Grenzen der Technik gedanklich einschränken zu lassen.

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Transformation Die Transformation beschreibt eine grundlegende Veränderung. Diese kann sowohl positiv als auch negativ geprägt sein.10 Häufig bezieht sich die Transformation auf weitreichende und/oder großmaßstäbliche Prozesse, beispielsweise kulturellen oder gesellschaftlichen Wandel. Aber auch bei vielschichtigen Veränderungen, die mit globalen Ereignissen wie dem Klimawandel einhergehen, wird von Transformationen gesprochen.

Der Wandel ist stets eine konstante Entwicklungskraft. In der Planung für die Zukunft muss Transformation nicht nur miteingerechnet werden, sondern muss auch für den darauffolgenden Lebenszyklus weiterhin möglich bleiben. Gebäude und Stadt müssen transformationsfähig und gleichzeitig transformativ sein, um zukunftsfähig zu bleiben. Das vorliegende Magazin der Sichtbaren Stadt soll als Handbuch im Hinblick auf eine zukunftsfähige Architektur verstanden werden.

In der Sichtbaren Stadt setzen wir das Verständnis für die Notwendigkeit einer alternativlosen Transformation voraus, die stattfinden muss, um einen Kurswechsel (zum Wohle des Planeten) durchzuführen. Sie ist vielschichtig und besteht in der Regel aus zahlreichen kleineren Transformationsprozessen. Um Transformationen in Gang zu setzen ist es nötig, Probleme oder Gegenentwürfe einer Lösung zuzuführen. Dies geschieht by design oder by disaster. Letzteres beschreibt den unumkehrbaren Wandel, der durch Krisen oder dramatische Ereignisse iniziiert wird und sich daher passiv und automatisch vollzieht. Im Gegensatz dazu, steht die Transformation by design (siehe Transformationsdesign), die aktiv versucht, Veränderungsprozesse im Hinblick auf ein wünschenswertes Ergebnis mitzugestalten. Transformationsdesign - Die bewusst gestaltete Transformation, im Gegensatz zur passiven Transformation by disaster. Das Transformationsdesign sucht aktiv nach der Veränderung und der Lösung eines Problems.

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Utopie Utopianismus - Das soziale Träumen von der Zukunft11. Sprachgebräuchlicher Gegensatz: Dystopie. Sie scheint zunächst deutlichere Kritik an der Realität zu üben als die Utopie, bietet jedoch keine konkreten Lösungsansätze. Eine Utopie beschreibt einen fiktiven, unmöglichen Ort (Gesellschaft oder Lebensform) der Zukunft, der durch seine Imagination möglich erscheint. Sie übt Kritik an den bestehenden Gesellschaftsnormen und ist gleichzeitig deren Gegenentwurf und Verbesserungsvorschlag. Die Utopie schaut in die Zukunft, ist jedoch, anders als das Szenario, nicht pragmatisch über konkrete, aufeinanderfolgende Zeitschritte mit der Gegenwart verbunden. Utopien können in unterschiedlicher Entfernung zur Realität liegen, aus der sie erträumt werden. Ihre Notwendigkeit entsteht meist aus aktuellen Krisen. In der Vernetztheit und Globalität der heutigen Gesellschaft ist es vor allem von Bedeutung, holistische, interdisziplinäre Lösungsansätze für globale Probleme zu imaginieren. Utopien müssen vielschichtig gedacht werden. Sie visualisieren Zukünfte, formulieren Werte und eröffnen so Diskussionsräume, ohne die Transformation wohl kaum möglich wäre. Nach Thomas Morus 1516 (s. Exkurs ab Seite 37): Das rationale Gedankenexperiment, hält der zeitgenössischen Gesellschaft, durch das Stilelement der Ironie, den Spiegel vor. Die Utopie nach Morus hat damit weniger den Charakter eines Idealstaates, sondern trägt Kritik in sich. Es liegt nicht in ihrem zentralen Wesen, zwischen Wunsch- oder Furchtbild zu

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unterscheiden. Von Bedeutung ist, was sie nicht will: kritische Intention und den Anstoß zu Reflexion und Diskussion.12 Nach Henri Lefebvre 1968 - possible impossible, oder experimental utopia: Sie zeigt eine mögliche Zukunft des not-yet und ist gleichzeitig ein möglicher Weg, das zu erreichen, was real möglich (possible) ist, aber unmöglich (impossible) erscheint. Ähnlich wie bei Morus und in Anlehnung an Ernst Bloch ist die Utopie bei Lefebvre keine abstrakte, idealistische Träumerei, sondern konkrete Idee dessen, was möglich ist. Sie experimentiert und konstruiert neue Ideen der Zukunft und geht dabei von einem zeitgenössischen Problem und dessen Kritik aus.13

Mehr zu literarischen Utopien ab Seite 38 Mehr zu Stadtutopien ab Seite 44 Mehr zum Thema Von der Krise zur Utopie ab Seite 76 Mehr zum Code unserer Utopie ab Seite 87


• 1

Poli, R. (Hrsg.) (2019). Handbook of Anticipation. Theoretical

and Applied Aspects of the Use of Future in Decision Making. Cham: Springer Nature Switzerland 2

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.)

(2020). Glossar zur gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung. Bonn 3

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung a.a.O.

4

Bibliographisches Institut (2020). Kreislaufwirtschaft, die.

Duden. https://www.duden.de/rechtschreibung/Kreislaufwirtschaft [06.04.2021] 5

Bibliographisches Institut (2020). Krise, die. Duden. https://

www.duden.de/rechtschreibung/Krise [08.01.2021] 6

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-

sicherheit (2007). LEIPZIG CHARTA zur nachhaltigen europäischen Stadt. Berlin, S. 3ff 7

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktor-

sicherheit (2007). Die Leipzig-Charta. Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt. BMU. https://www.bmu.de/download/die-leipzig-charta/ [06.04.2021] 8

Watjer, A. (2020). Pariser Klimaabkommen. Bundeszentrale für

politische Bildung. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/daseuropalexikon/309438/pariser-klimaabkommen [06.04.2021] 9

Bibliographisches Institut (2020). Potenzial, Potential,

das. Duden. https://www.duden.de/rechtschreibung/Potenzial [08.01.2021] 10 Cambridge University Press (2021). transformation. Meaning of transformation in English. Cambridge Dictionary. https:// dictionary.cambridge.org/dictionary/english/transformation [08.01.2021] 11 Coleman, N. (Ed.) (2011). Imagining and Making the World: Reconsidering Architecture and Utopia. Bern: Peter Lang 12 Schölderle, T. (2012). Geschichte der Utopie. Eine Einführung. Köln: Böhlau Verlag, 19 - 45 13 Coleman, N. (2013). Utopian Prospect of Henri Lefebvre. In Space and Culture 16 (3) Sage Pub, 349-363

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Einige einleitende Hintergrundinformationen zum ehemaligen Postscheckamt, seiner Entstehungsgeschichte sowie den städtischen und stadtpolitischen Kontext, in den es eingebettet ist. 16


Quelle: Henschel, J. (1967). Fotografien vom Bau des Postscheckamts Berlin West vom 4. Dezember 1967. Berlin Museum. https://berlin.museum-digital.de/singleimage.php?resourcenr=71527 [17.04.2021]

BESTAND: POSTSCHECKAMT

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Kontext zwischen Berlin-Mitte und Kreuzberg Knapp 90m hoch ist der ehemalige PostbankTurm, der vom Gleisdreieck blickend als markanter Hochpunkt nur noch vom Alexanderturm überragt wird. Das Gelände, welches südlich vom Landwehrkanal und dem U-Bahnhof Möckernbrücke und Richtung Norden durch die Schöneberger- und Stresemanstraße begrenzt wird, ist ein besonderes Sammelsurium von Typologien, Nutzungen und Baustilen. Über S-Bahn, U1, U2 und U3 ist das Gelände stark mit der Gesamtstadt vernetzt. Ringsum schließen sich Wohnquartiere an, die mit Hotel- und Gewerbenutzung durchwebt sind. Die städtischen Freiräume bewegen sich zwischen geplant (Gleisdreieckpark) und zufällig. Viele von ihnen werden nur mäßig genutzt. Auch der Mehringplatz, als ikonischer Stadttorplatz gedacht, steht in Kontrast zur anschließenden Friedrichstraße und wird als Freiraum bisher als Brennpunkt betitelt.1 In unmittelbarer Nähe zum Potsdamer Platz ist die bauliche Struktur nördlich des Landwehrkanals als divers und vielseitig zu erkennen. Südlich davon - durchtrennt vom Gleisdreieckpark - schließen homogene und kleinteilige Kieze an. Offiziell Kreuzberg, aber beinahe schon Regierungsviertel, bedeutet für das Gebiet nicht nur eine vielfältige Nutzungsmischung, sondern auch eine heterogene Bewohner*innenschaft. Damit sich stellt sich die Frage nach der Identität: Sind wir nun in Kreuzberg oder schon in Mitte? Vermisst man hier doch das für Kreuzberg typische lebendige, abwechslungsreiche und kreative Kiezleben. So unterschiedlich die Stadtteile auch sein mögen, so verschieden ziehen die Akteure

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um das Postscheckamt thematisch wie auch gesellschaftlich, weite Kreise. Als ein Beispiel sei das Hebbel am Ufer (HAU) genannt, das mit seinen drei Theatern unmittelbar auf dem Gebiet und darüber hinaus Ankerpunkt der freien darstellenden Künste ist. Erkennbar ist ein heterotopes Nebeneinander von Tempodrom, Amtsgericht, der Berlin Story-Bunker, Elise-Tilse-Park, Sportplatz, Schule und Kita.


Ehemaliges Postscheckamt und Umgebung im Bestand

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0.100.100

Anhalter Bahnhof

Tempodrom

Amtsgericht

Technikmuseum

Gleisdreieckpark

Lageplan

20

U Möckernbrücke


Friedrichstraße

HAU I

Willy-Brandt-Haus

Mehringplatz HAU II

HAU III

Dragoner Areal

Zentral-/Landesbibliothek 200

1:5000 21


200

Denkmalschutzkarte

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1:5000


200

Ortsanalyse

1:5000 23


Photographien rund um das ehemalige Postscheckamt - Teil I

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Photographien rund um das ehemalige Postscheckamt - Teil II

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Genese Türmchen wechsel dich Das Hochhaus des Postscheckamts am Halleschen Ufer wurde von 1965 bis1971 nach dem Vorbild Mies van der Rohes Seagram Buildings in New York erbaut. Durch die Teilung Berlins befand sich das ehemalige Postscheckamt auf der östlichen Seite der getrennten Stadt in der Dorotheenstraße. Daher bestand die Notwendigkeit und der dringende Bedarf für ein entsprechenden Neubau in West-Berlin, der im Auftrag der Oberpostdirektion von Prosper Lemoine entworfen wurde. Das Gebäudeensemble besteht aus dem 23-stöckigen Hochhaus und zwei niedrigen Anbauten, dem Rechenzentrum sowie der Schalterhalle. Nach der Umbenennung in „Postgiroamt“ Mitte der 1980er Jahre befand sich dort ab 1994 eine Niederlassung der Postbank mit rund 700 Mitarbeiter*innen und einer öffentlichen Filiale im Erdgeschoss. Nach mehr als 40 Jahren in der Nutzung wurde der Turm Asbestbeseitigung und Modernisierungsmaßnahmen unterzogen.2 2014 wurde das Gelände und mit ihm das Hochhaus an die CG (Christoph Gröner) Immobiliengruppe veräußert. „Das Haus ist in die Jahre gekommen, die Büros sind nicht mehr modern, und für eine Renovierung wäre eine erkleckliche Summe nötig“,1 begründete Aufsichtsrat Joachim Strunk den Verkauf. Die CG Gruppe plante die Umnutzung und Vermarktung des Areals um den umgetauften XBerg-Tower als Hotel und Wohnraum. Den dafür ins Leben gerufenen städtebaulichen Wettbewerb entschied das Architekturbüro Sauerbruch Hutton für sich. Zunächst wurde das Gebäude zwei weitere Jahre an die Postbank vermietet, bis sie in den

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neugebauten Campus am Ernst-Reuter-Platz zog. Seit 2017 steht das Hochhaus zu großen Teilen leer und die Planung geriet ins Stocken. Im August 2018 prangte ein langes Banner an der prominenten Südfassade des Turms: „Hier verhindert Rot-Rot-Grün (FriedrichshainKreuzberg) 623 Wohnungen, davon 182 geförderte Einheiten und 55 preisgedämpfte Wohneinheiten. Der Berliner Senat sieht zu.“ Das war eine Kampfansage. Investor und CG-Chef Christoph Gröner beschuldigte den Stadtrat Florian Schmidt, das Projekt gewollt auszubremsen. Der Senat schlichtete später zwischen Gröner und Schmidt. Statt Luxus-Wohnungen sollten etwa 300 Wohnungen, drei Viertel davon zu Sozialmieten von 6,50 €/m2, gebaut werden. Im Gegenzug erlaubte der Bezirk 70% gewerbliche Nutzungen. Als Konsequenz darauf veräußerte die CG-Gruppe ihre Anteile an einen neuen Akteur, die Kölner Art-Invest Real Estate Management GmbH & Co. KG - „Wir sind auf Wohnungsbau, nicht auf Gewerbe spezialisiert“,3 so CG-Vorstand Jürgen Kutz. Nun plant Art-Invest einen Neustart am Halleschen Ufer. Gemeinsam mit der landeseigenen Degewo sollen auf dem Areal rund 300 Wohnungen entstehen, davon 75% preisgebunden. Im bereits vorhandenen Postscheck-Hochhaus sind im Erdgeschossbereich Geschäfte und Restaurants vorgesehen sowie eine öffentlich zugängliche Sky-Bar in der obersten Etage. Außerdem soll eine Kita auf dem nördlichen Teil des Grundstücks Platz finden.4 Ein „Wohnquartier für ganz normale Berliner“ werben die Entwickler*innen der Art-


Invest. Auch Florian Schmidt meint: „Es wird kein Kiez, der abgefeiert wird als das große, neue, hippe Ding. Es geht eben nicht um den großen Knall, die große Geste, das Neue Kreuzberg.“2 Letzter Planungsstand sind fünf weitere Wohnblöcke im Bereich von vier bis acht Stockwerken. Das autofrei geplante Quartier mit 250 Tiefgaragenplätzen sowie 1300 Fahrradstellplätzen stieß bei den Nachbar*innen auf der Anwohnerversammlung 2020 auf Widerstand. Befürchtet wurde ein drohendes Verkehrschaos‘ aufgrund der Stellplatzanzahl und der Autofreiheit, sowie wegen Baulärm und Verschattung.5 Bis zum 4. September 2020 lag der Bebauungsplan zur Stellungnahme im Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg aus. Sorge um den Bestand

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Wertschätzung des Inventars und der vorhandenen Ressourcen Instandhaltungen und -setzungen, Modernisierungen, Umbauten und Wiederaufbau – das sind die Baumaßnahmen, die gemeinhin als das Bauen im Bestand zusammengefasst werden. Ausgangspunkt für Maßnahmen dieser Art sind zumeist eine besondere Wertschätzung des Gebauten als Ressource. Diese Wertschätzung

Fragmente des Bestandsgebäudes

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kann auf großer Ebene, für die Substanz des Gebäudes, gelten, sie sollte aber ebenso sehr den kleinen Dingen entgegen gebracht werden. Fragmente, die durch Materialität, Handwerk oder Gestaltung auch nach 50 Jahren nicht an Qualität verlieren, die den Zeitgeist und damit den Charakter des Gebäudes in sich tragen.


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Referenzprojekte

Høyblokka Revisited Die Høyblokka ist ein Regierungsgebäude und wurde 1958 im brutalistischen Stil entworfen und gebaut, um den stabilen Zustand der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg zu demonstrieren. Die Wände im Inneren wurden mit Wandbildern verschiedener Künstler, darunter auch Picasso, verziert. Nach dem Terroranschlag 2011 durch den Rechtsextremisten Anders Behring Breivik sollte das Gebäude nicht mehr für Regierungszwecke genutzt werden und ungeplant werden. 0047 Arkitektur wendeten sich mit einem Open Call an Architekt*innen um ihre Ideen an die Öffentlichkeit zu tragen.6

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Lacaton & Vassal Cité du Grand Parc Die Cité du Grand Parc in Bordeaux ist Lacaton & Vassal‘s bisher größtes Projekt. In enger Zusammenarbeit mit einer mutigen Wohnungsbaugesellschaft wurden in der Großwohnsiedlung von 4.000 Wohneinheiten , 530 Wohnungen durch Fertigbauteile um zusätzlichen Wohnraum erweitert. Trotz der kurzen Zeit konnten durch möglichst geringe Interventionen die Mieter in ihren Wohnungen bleiben. Die Kosten betrugen ca. 45.000 pro Wohneinheit. Hauptbestandteil des Entwurfes ist der vorgesetzte Wintergarten, welcher intermediäre Räume und Großzügigkeit schafft. Dieser undefinierte Raum gibt keine Nutzung vor und ist mit seinen 2,80 Tiefe großzügig dimensioniert. Er ist zugleich eine hochwertige Nutzfläche als auch effiziente klimatische Pufferzone.7

Abb.: De Mulder, A., Neirynck, A. Leyssen, D. et al. (2021).

Abb.: Larsen, J. G. (2014).

Abb.: Lacaton, A., Vassal, J. P. (2017).

Bestandsumbauten & Utopien

51N4E - ZIN Im Norden Brüssels befinden sich der ehemalige World-TradeCenter-Komplex, den sich 51N4E zur Umnutzung, Transformation und Flächenerweiterung angenommen haben. Durch die Revitalisierung erhoffen sie sich die von Verkehr und großmaßstäblichen Gebäuden geprägte Nachbarschaft wieder zu beleben. Der Entwurf sieht vielfältige Nutzungen und eine Erweiterung der beiden Gebäude vor.8


LAN - Lormont Urban Renovation Das Architekturbüro LAN Architecture beschäftigt sich mit dem Umgang von Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus, welche in der Vergangenheit immer häufiger dem Abriss unterliegen. In Bordeaux wandelten sie die drei Wohntürme von Saint Hilaire in eine zeitgenössische Nutzung um. Wesentlicher Bestandteil ist die neue vorgehängte Polycarbonat-Fassade, welche die Erscheinung maßgeblich beeinflusst. Der Außenraum wurde in einen grünen öffentlichen Park umgewandelt und motorisierte Fahrzeuge von der Fläche verbannt.10

Abb.: Smtithson, A., Smithson, P. (1952).

Abb.: Lanoo, J., LAN Architecture (2015).

Abb.: Wines, J. , SITE, (1981).

James Wines & SITE Highrise of Homes Die gezeichneten Werke des amerikanischen Künstlers James Wines verstehen sich als Gedankenexperiment, das Einfamilienhaus vertikal zu multiplizieren. So entsteht eine offene Wohnstruktur, welche den Bewohner*innen die Vorteile eines eigenen Gartenraums sowie individueller Architektur ermöglichen. Diese vertikale Ansammlung an Privathäusern schafft auf jedem Stockwerk dorfähnliche Gemeinschaften und zeigt eine Alternative zum konventionellen Wohnungsbau im Stadtbild auf. So entsteht aus diesen Prinzipien eine bunte Collage, welche in dieser Matrix architektonische Dichte und gestalterische Autonomie zulässt.9

Smithson - Streets in the Sky Alison und Peter Smithson entwickelten in ihrem ungebauten Projekt Golden Lane (1952) die Streets in the Sky - eine öffentliche Erschließungsebene, welche ein wesentliches demokratisches Element in ihren Hochhäusern sein sollte. So sollte dadurch ein gesellschaftlicher Mehrwert, sowohl für die Stadt als auch für die Bewohnerschaft geschaffen werden. Die erste gebaute Anwendung fand dieses Konzept in den Robin Hood Gardens (1968–1972), welches heute viel diskutiert wird und mancherorts als gescheitert gilt.11

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Luft nach oben Postscheckamt und Sichtbare Stadt Die Beschäftigung mit dem ehemaligen Postscheckamt liegt nur teilweise in der Faszination für das Gebäude, seiner stetigen Wandlungsgeschichte und dem umkämpften Standort. Sie ergibt sich auch aus der Wertschätzung für den Bestand. Wir sehen baulichen Bestand als kulturelle Ressource und erkennen darin die Notwendigkeit über ihn zu verhandeln, ihn zu aktivieren und programmatisch zu füllen. Darüber hinaus halten wir im Bezug auf Debatten um aktuelle Katastrophen, wie sie beispielsweise mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht werden (mehr dazu ab Seite 61 ), einen Paradigmenwechsel in der Stadtentwicklung für unabdingbar. Langfristig können wir es uns nicht leisten, Abzureisen und Neuzubauen. Wenn wir die Nachhaltigkeit ernst nehmen, kommen wir unweigerlich zum Schluss, dass das Sorgetragen für Bestehendes - im ökonomischen, ökologischen sowie sozialen Sinn der einzige Weg in eine (nachhaltige) Zukunft sein kann.12, Ein Hochhaus, als Sinnbild für Verdichtung, mag zunächst polarisieren. In Deutschland scheint man sich mit der Höhe vielerorts schwer zu tun. Hochhäuser stoßen auf Protest und erhalten, besonders im Hinblick auf das Wohnen, wenig Zuspruch. Und das obwohl positive Projekte durchaus existieren (siehe Referenzprojekte Seite 32). Das Postscheckamt ist für uns in diesem Sinne auch eine Experimentierfeld, in dem wir uns an die Reibungspunkte der Stadt heranwagen und Probleme provozieren wollen. Wir sehen die Chance, in einer beispielhaften Transformation des Gebäudes, als Diskussionsobjekt, als Ort zur

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Aushandlung der Frage wie Stadt gemacht wird und im besten Fall als Katalysator für weitere Projekte. Dabei kommt uns zu Gute, dass es sich beim einstigen Postscheckamt um einen Stadtbaustein handelt, der von vielen Teilen der Stadt sichtbar ist. Wie ein Leuchtturm ragt er über die umliegende Bebauung und wird damit in umgekehrter Richtung zum Periskop auf die Stadt. Das Postscheckamt wird für uns damit zum Gegensatz zu Italo Calvinos Unsichtbaren Städten. Dessen Erzählstil möchten wir uns dennoch bedienen um die vielschichtigen Wandlungsmöglichkeiten des Turms zu erproben. Als sichtbarer Transformationsbaustein der Stadt scheint das Postscheckamt für uns ideal geeignet für die Projektion positiver Zukunftsvisionen und als Ort, um einen utopischen Impuls zu setzen.


• 1 Wilms, M. (2019). Mehringplatz in Berlin-Kreuzberg: Platz wird für 5,9 Millionen Euro umgestaltet. Berliner Zeitung. https://www. berliner-zeitung.de/mensch-metropole/mehringplatz-in-berlinkreuzberg-platz-wird-fuer-59-millionen-euro-umgestaltet-li.56210 [30.09.2020] 2 Schmidl, K. (2014). Kreuzberg: Wohnen im Postbank-Tower. Berliner Zeitung. https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/ kreuzberg-wohnen-im-postbank-tower-li.17487 [28.09.2020] 3 Schütze, E. (2020). Möckernbrücke: Neuer Kiez für Kreuzberg geplant. Berliner Zeitung. https://www.berliner-zeitung.de/menschmetropole/berlin-wohnen-kreuzberg-moeckernbruecke-neuer-kiezfuer-kreuzberg-geplant-li.86957 [30.09.2020] 4 Kiefert, U. (2020). Postscheckareal: Bürger beteiligen. Berliner Woche. https://www.berliner-woche.de/kreuzberg/c-bauen/postscheckareal-buerger-beteiligen_a282070 [28.09.2020] 5 Schütze, E. (2020). Möckernbrücke: Neuer Kiez für Kreuzberg geplant. Berliner Zeitung. https://www.berliner-zeitung.de/menschmetropole/berlin-wohnen-kreuzberg-moeckernbruecke-neuer-kiezfuer-kreuzberg-geplant-li.86957 [30.09.2020] 6 0047 Architektur (2014). Open Call. 0047. https://hoyblokkarevisited.wordpress.com/open-call/ [18.04.2021] 7 Lacaton, A., Vassal J. P. a.a.O. 8 De Mulder, A., Neirynck, A. Leyssen, D. et al. a.a.O. 9 Wines, J. (2021). Öko-Pionier James Wines: Die meiste umweltfreundliche Architektur ist wirklich ziemlich hässlich. Neue Züricher Zeitung. https://www.nzz.ch/feuilleton/oeko-pionier-james-winesdie-meiste-umweltfreundliche-architektur-ist-wirklich-ziemlich-haesslich-ld.1596775 [29.04.2021] 10 Lanoo, J., LAN Architecture (2015). LAN Press Release. July 2015. Urban Renovation Lormont. LAN. https://www.lan-paris.com/ en/projects/lormont#text [18.04.2021]. 11 Cunha Borges, Joao & Marat-Mendes, Teresa. (2019). Walking on streets-in-the-sky: structures for democratic cities. Journal of Aesthetics & Culture. 11. [18.04.2021]. 12 Ehlers, M (2017). Was wäre, wenn Städte gut für das Klima wären? Nie wieder abreißen. Was wäre wenn. https://www.wwwmag.de/debatten/beitrag/nie-wieder-abreissen [07.12.2020]

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Die Geschichte ist reich an literarischen, gesellschaftlichen und städtischen Utopien. Eine lückenlose Darstellung wäre daher nicht nur unmöglich, sondern auch übertrieben. Das Kapitel gibt einen kurzen Überblick über die Entwicklungen und die wichtigsten Handlungsräume der Utopie im literarischen und architektonischen Sinne. 36


Quelle: Nomata, M. (2008). Skyglow-V20. Minoru Nomata. https://www.nomataminoru.com/skyglow-v20-en [16.01.2021]

EXKURS: ÜBER UTOPIEN

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Literarische Utopien ein Exkurs Die Utopie oder „Utopia“ wurde 1516 im gleichnamigen Roman von Thomas Morus geboren. Diese Wortneuschöpfung setzt sich zusammen aus den Silben ou bzw. eu und topos, zu deutsch: Nicht-Ort bzw. guter Ort. Oder kombiniert: ein „guter Ort im Nirgendwo“1. Damit gab Morus der Beschäftigung, die die großen Dichter*innen und Denker*innen der Geschichte seit jeher mit der Utopie haben, einen Namen. Beispiele reichen von Platons Politeia, Leonardo da Vincis Flugversuchen, Thomas Hobbes Leviathan und Milton Friedmans Neoliberalismus bis hin zum Kommunismus Karl Marx’.2 Was ist eine Utopie? Im Volksmund steht das Adjektiv utopisch in der Regel für einen, aus der Luft gegriffenen, unmöglichen - jedoch nur mitunter erwünschten - Zustand. Die Utopie dagegen beschreibt einen Idealzustand, der wünschenswert und theoretisch erreichbar scheint.3 In der Betrachtung im Rahmen der Sichtbaren Stadt wird Utopia mit Eutopia gleichgesetzt. Sie beschreibt einen positiven NochNicht-Ort und die darin lebende Gesellschaft.4 Beide sind spürbar besser als die Realität und haben einen wegweisenden Charakter, der zur Veränderung animiert, ohne dogmatisch zu sein.

„Utopien sind (…) Herausforderung des Denkens und Provokationen der Gegenwart. Sie wecken Bewusstsein, fordern Antworten und suchen Lösungen.“5 Die utopische Fiktion, eine literarische Gattung, die mit Morus’ Roman offiziell Einzug hielt, grenzt sich ab vom Möglichen und Nötigen. In Morus’ Fall wird ein fiktives Gemeinwesen, eine imaginäre Welt

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auf eine Insel projiziert. Diese hält als rationales Gedankenexperiment der zeitgenössischen Gesellschaft den Spiegel vor. Sie trägt damit prinzipiell politischen Charakter, indem sie sich mit den sozialen und politischen Verhältnissen der Gegenwart auseinandersetzt. Morus’ Utopia unterscheidet nicht nach Wunschbild oder Furchtvorstellung, stattdessen ist die ihr innewohnende Kritik ein zentrales Merkmal. Ziel ist nicht, die Imagination Wirklichkeit werden zu lassen, sondern Defizite aufzuzeigen. Die Utopie entzündet sich meist an der Krise und soll Anstoß zur Diskussion geben. Morus’ Utopia ist eine Insel der Glückseligen, deren Bewohner*innen ohne Privateigentum in einem auf Vernunft begründeten Staatswesen leben, maximal sechs Stunden pro Tag arbeiten und alle zehn Jahre die Häuser tauschen.6,7

„Heute brauchen wir literarische Utopien, die unsere eigene Befangenheit in liebgewordenen und sicher gewähnten Vorurteilen sprengen.“8 Wenn auch Morus allgemein als Erfinder der Utopie gilt, entwickelte bereits Platon in „Politeia“ einen fiktiven, gerechten Staat, der Vorbildcharakter hat, aber unerreichbar und irreal wirkt. Die zwei Teile der streng hierarchischen dreiständischen Gesellschaft verzichten auf Privateigentum und Familie. Die Erziehung der Kinder wird kontrolliert und soll sie zu gehorsamen Staatsbürger*innen machen.9,10 „Angelpunkt Platons ist die Gerechtigkeit - und diese Gerechtigkeit ist wesentlich Ungleichheit“11 Die folgenden literarischen Utopien orientieren sich stark an Platon und Morus. Es sind


fantastische Geschichten, die der Realität enthoben mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten, meist auf einer entfernten Insel spielen. Zukunftsperspektive Erst Ende des 18. Jahrhunderts ändert sich die Blickrichtung Utopias. Louis Sébastien Mercier eröffnet 1771 Das Jahr 2440. Utopia wird vom Nicht-Ort zum Noch-Nicht-Ort. Diese Richtungsänderung der Utopie kann zum einen an der kopernikanischen Wende liegen, dem Bewusstsein für die räumliche Begrenztheit der Welt, damit ist es kaum mehr möglich Utopien geografisch fiktiv zu lokalisieren. Zum anderen kam dem Fortschrittsgedanken eine immer größere Bedeutung zu. Die Idealwelt der Utopie gilt als Aufgabe, als Zustand, den es zu erreichen gilt. Konsequenz des Perspektivwechsels ist die Notwendigkeit eines Veränderungsprozesses, die fiktive Realisierung und die Frage, wie man in diese neue, bessere Welt kommt.12,13 Merciers Protagonist erwacht im Jahr 2440, in einer Welt, die durch Fleiß, Sparsamkeit und Nützlichkeitsüberlegungen besser wurde. So kritisiert die Utopie Merciers vor allem den Luxus und die Privilegien der Oberschichten seiner Zeit. Im Jahr 2440 herrscht Gleichheit unter den Menschen.14 Die Fortschritts- und Technologiegläubigkeit des 19. Jahrhunderts scheint Utopien obsolet zu machen. Sie sind lediglich realisierbare Zwischenstufen im Prozess. Zur selben Zeit wächst das Verständnis dafür, dass Technologie und Wachstum zum Leid vieler Bevölkerungsschichten beitragen. Während

Morus’ Utopier sich quasi asketisch auf ihre wahren Bedürfnisse besonnen und von körperlicher Arbeit entlastet waren, zielen die Utopien des Industriezeitalters auf die Steigerung des Lebensstandards und den sinnstiftenden Charakter und den sozialen Wert der Arbeit ab.15 Sozialistische und teilweise faschistische Ideologien durchzogen das Gedankengut politischer Utopien und drohten sie durch ihre autoritären und restriktiven Ideen quasi zu zerschlagen.16 Darüber hinaus sieht der Marxismus Utopien als unreif und versucht sich durch ein Bilderverbot davon zu lösen, auch wenn sich einige Erzählungen, wie William Morris News from Nowhere darüber hinwegsetzten.17

„Besonders bekannt und einflussreich war das von Charles Fourier erdachte Konzept der »Phalanstère« (Phalanx). Dabei sollte es sich um eine Arbeits- und Wohngenossenschaft mit exakt 1620 Mitgliedern handeln, die in einem großen, schlossartigen Gebäude nach sozialistischen Prinzipien leben und arbeiten würden.“18 Utopie, Eutopie oder Dystopie? Als der zuvor noch als revolutionär betrachtete Sozialismus dann Wirklichkeit wird, schlägt die Sichtweise des utopischen Denken um: schwarze Utopien entstehen, sogenannte Dystopien oder Antiutopien. Es geht nicht mehr darum, positive Bilder der Zukunft zu malen und nach deren Realisierung zu streben, sondern um das genaue Gegenteil. So entwarfen 1920 unter anderem Jewgenij Samjatin und später, nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, George Orwell und Aldous Huxley Schreckensvisionen und groteske Überzeichnungen einer unethischen Welt, die

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von Überwachung und/oder Unterdrückung gekennzeichnet ist. Sie sind negative Warnszenarien, indem sie die Aufmerksamkeit auf bedenkliche gesellschaftliche Entwicklungen lenken.19 Utopien des 20. Jahrhunderts Erst in den 1960er Jahren werden den Problemen der Zeit wieder positive Entwürfe gegenübergestellt. Viele sind gekennzeichnet durch linke, ökologische und feministische Ansätze. Sie nehmen oft eine konsumkritische, den Fortschrittsgedanken hinterfragende, Position ein.20 Eine der ersten ökologischen, positiven Utopien ist Ernest Callenbachs Ökotopia von 1975. Er beschreibt einen Staat, der parallel zum amerikanischen Rechtssystem existiert, der jedoch sämtliche Verbindungen zur Außenwelt abgebrochen hat. In einem geschlossenen Nahrungsmittelkreislauf mit 100 prozentiger Rohstoff-Abbaubarkeit und Rezyklierbarkeit nimmt der Mensch einen „bescheidenen Platz im geschlossenen, ausgewogenen Gewebe des organischen Lebens [ein]“21. In der 20-Stunden-Arbeitswoche wird auf das Streben nach Effizienz verzichtet und auch soziale Geschlechterdiskriminierung gehört der Vergangenheit an. Die Zeichnung der positiven Welt ist bei Callenbach dennoch eine dynamische, offen für Veränderung und als normativer Maßstab gedacht, an dem sich die Wirklichkeit messen muss.22 Mit Marge Piercys Roman Woman on the Edge of Time schreibt erstmals eine weibliche Verfasserin. So erhält der Utopiediskurs eine weibliche Protagonistin. Piercy vereint in ihrem Roman Eutopie und Dystopie zwei Welten, die parallel existieren und damit ein Fenster in eine nicht determinierte Zukunft eröffnen. Damit birgt die Utopie gleichzeitig die Möglichkeit des Scheiterns

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sowie der Verbesserung in sich. Auch mit der Vision einer besseren, ökologisch bewussten, hierarchiefreien Welt ist die wirkliche Zukunft offen.23 Zwischen den ersten Erzählungen Utopias und den literarischen Dystopien und Eutopien des 20. Jahrhunderts liegen knapp 500 Jahre, dennoch erscheinen sie oft wie aus demselben Holz geschnitzt. Viele Motive wiederholen sich, werden zeitgemäß angepasst oder umgedeutet. Zum Beispiel die Inselmetapher, die Betrachtung von Geld und Privateigentum als des Übels Wurzel, oder eine Verkürzung der Arbeitszeit. In der Betrachtung wird ebenso deutlich, dass große soziale Umbrüche und Krisen die reichhaltigsten utopischen Denkweisen hervorbrachten. Bestehendes wird in Frage gestellt, eine bessere Zukunft erträumt und Reformen dahingehend angestoßen.24 Utopia als Ort der Inspiration Die Utopie hat sich von ihrem Ursprung in einem kritisch-ironischen Roman als literarisches Geschöpf hin zum politischen und sozialen Denkmodell gewandelt. Dieses Modell hat heute, mehr noch als damals, den Anspruch, „die Gesellschaft tatsächlich grundlegend zum Besseren verändern zu können“25. Dazu versuchen Utopien, ungeachtet ihrer Gattung, immer ein soziales System zu beschreiben. Zwar muss besonders in diesem Zusammenhang der ihr oft nachgesagte Totalitarismus als gefährlich gesehen werden, dennoch sind utopische Visionen unabdingbar für die Gestaltung der Zukunft. Erst dadurch, dass Utopien die uns bekannte Realität ad absurdum führen wird uns deren eigentliche Widersinnigkeit bewusst, die wir oft unreflektiert als gegeben ansehen und uns von ihren Grenzen limitieren lassen.26


„Man muss imstande sein, leidenschaftlich zu glauben, gleichzeitig jedoch die Absurdität der eigenen Überzeugungen zu durchschauen und darüber zu lachen.“27 Wenn man dies versteht, können Utopien als Inspirationsquelle dienen und einen Perspektivwechsel bieten. „Utopien liefern keine fertigen Antworten, geschweige denn endgültige Lösungen. Aber sie werfen die richtigen Fragen auf.“28 - Wir müssen nur Mut haben.

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Chronologie ausgewählter literarischer Utopien

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Stadtutopien noch ein Exkurs Utopie und Architektur kommen auf unterschiedlichen Ebenen in Kontakt und in der Geschichte wurden (zumindest gedanklich) zahlreiche Stadtutopien erbaut. Nun könnte man fragen, wie etwas so unweigerlich Reales und in seiner baulichen Form Konkretes wie Architektur je als Utopie betrachtet werden kann. Wie kann etwas Bauliches gleichzeitig ein Nicht-Ort und ein guter Ort sein?29 Ein Gebäude kann sehr wohl einen utopischen Grundgedanken haben, utopisch sein oder einen utopischen Impuls setzen. Auch wenn man vermeiden sollte, die Utopie durch Konstruktion zu konkret werden zu lassen, so kann jener utopische Impuls eines Gebäudes einen Blick in die neue Welt ermöglichen. Nicht zuletzt impliziert die Endung der griechischen Herkunft des Wortes Utopia, topos (Ort) eine räumliche Verortung der Utopie, wodurch sie nicht zuletzt möglich erscheint.30 Utopie als Prozess Das Problem mit dem Stadtutopien zu kämpfen haben, ist letztlich oft eines der Repräsentation. Außergewöhnliche, visionäre Bilder der Städte existieren ebenso wie utopische Planungen. Häufig hinterlassen sie jedoch wenig anderes als ein gedämpftes Gefühl, abgeebbte Faszination oder eine gerunzelte Stirn.31

„Utopia communicated as image always emphasizes representation over praxis, even though just the opposite is necessary to reveal Utopia’s potential contribution to reimagine architecture and the city (and the individual and social life they shelter).“32

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Darüber hinaus sind Gebäude und Städte Abbild und Identifikationsobjekte unserer Kultur. Diese wird in der Stadt gelebt, artikuliert, diskutiert, wahrgenommen und verhandelt. Damit wird unweigerlich auch die Utopie einer Stadt zum politischen Diskursobjekt, indem sie den kritischen Spiegel der Gesellschaft und der Zeit verkörpert.33 Utopien handeln, sowohl im literarischen als auch im städtischen Sinne, von der Rekonstruktion der Gesellschaft. Das Zeichnen von Idealstädten ist hier jedoch kaum wirkungsvoll, auch wenn es um positive Zukunftsbilder geht. Stattdessen ist es wichtig, sie als utopischen Prozess zu verstehen, der sich verändernden Gesellschaft aufgeschlossen bleibt. Utopia muss ebenso lebendig gedacht werden, wie es die darin lebende Bevölkerung ist. Utopia hat einen positiven, potenziell utopischen Rahmen, der aus der Reflexion der Gegenwart entsteht, als Rekonstruktion, Umdeutung und Kritik des Gegebenen. Dieser bietet Raum für die menschliche Aneignung.34

„What utopian practice can deliver, however, is a set of provocative but dispensable new ways of living and possible ways toward them, and what it most importantly delivers is the grave acknowledgment that only through the complex process of struggle will more emancipatory possibilities than those imagined actually be achieved. Utopia thus calls attention to the implicit limits of its own vision and turns us back to the task of building the future. […] “35 Trotzdem träumen positiven Zukunftsvisionen auch von ihrer Realisierung, ohne dass sie Idealstadtcharakter besitzen. Wie Groot et al.


1982 beschreiben: „Der Motor der Utopie ist das Streben nach der maximalen Annäherung an ein Ideal. Und da der menschlichen Gesellschaft dieses Streben eingeboren ist, ist die Utopie ein integrierter Bestandteil der Realität.“36 Besonders weil Architektur oft als rein technisches Element, weniger als künstlerisch oder rhetorisches, gesehen wird, gelingt die Eröffnung von Perspektiven einer neuen (un-) möglichen Welt ab dem 20. Jahrhundert immer seltener. Der utopische Rahmen, besonders der modernen Architektur, ist häufig von den Architekt*innen und Planer*innen festgesetzt und schließt damit die Intentionen der Bewohner*innen aus. Viel eher sollte Architektur als Kunstwerk mit Ideologie und Form betrachtet werden, damit es ihr möglich wird Alternativen zu eröffnen. So bekommen Architektur und Stadt die Möglichkeit absichtlich und dennoch offen genug zu sein, um Konflikten, Verhandlungen und Entwicklungen standzuhalten und den prozesshaften Charakter zu transportieren und im technischen wie emotionalen Sinn nützlich zu bleiben.37

versucht den Spagat und Ausgleich zwischen Fiktion und Realität, indem sie die Gegenwart kritisch reflektiert und versucht, die engen Grenzen dessen was als real gilt, zu überwinden.39

„For a building to have any claim to the status of a

Handlungsräume früher Stadtutopien Meist handeln Stadtutopien von Glück, Freiheit und Gerechtigkeit. Seit den Anfängen in Vitruvs „Zehn Bücher über Architektur“, von der Antike über das Mittelalter, in denen Jerusalem zur Verkörperung des irdischen Paradieses, der Idealstadt wird, sind Ordnungsschemata und Grundprinzipien wie geometrische Ordnung, Harmonie und Symmetrie vorherrschend. Diese bleiben auch in der Renaissance, im utopie-armen Barock und im Klassizismus vorherrschend. Der Charakter des Utopischen kam in den frühen Visionen eher als Beschreibung der Idealstadt zum Ausdruck.

Utopia, or as an exemplar of utopian imagination, it must do more than simply look like some familiar utopian image […]. Rather, it will need to embody social imagination, especially regarding how it structures and negotiates relationships of individuals to each other, to society, to the world, and to nature.“38 Ein zu starker Fokus auf Technik birgt die Gefahr, dass das gebaute Umfeld innerhalb der Grenzen der Gegenwart zurückbleibt, statt eine reichere Gegenposition des Lebens zu eröffnen. Die Utopie

„Both Utopia and architecture are world-making endeavors, each plays with reality by inventing new worlds and both imagine worlds within worlds, drawn out of experience of what exists in the present.“40 Die Geschichte ist reich an literarischen, gesellschaftlichen und städtischen Utopien, was die lückenlose Darstellung nicht nur unmöglich, sondern auch übertrieben erscheinen lässt. Im Folgenden sollen daher verschiedene, ausgewählte Stadtutopien der letzten Jahrhunderte chronologisch eingeordnet und der daraus entstehende Motivdiskurs eingekreist werden. Von der urzeitlichen Sehnsucht des Turmbaus zu Babel über die gläserne Alpine Architektur bis zur Technologiebegeisterung Archigrams und die Visionen des letzten Jahrhunderts.

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Man konzentrierte sich auf planbare Städte und deren praktische Grundrisse. Erstmals Mitte des 15. Jahrhunderts beschrieb der Architekturtheoretiker Leon Battista Alberti auch das soziale Leben innerhalb seiner praktisch konzipierten Idealstadt, in der die dreiständische Gesellschaft friedlich und sorglos lebte. Dennoch bleibt der militärische Verteidigungsaspekt ein treibender Faktor in der Stadtplanung und wird auch von den Nachfolgern Battistas, Filarete, Scamozzi sowie du Certeau und Perret weiter vertreten.41 Im Barock wendet sich die utopische Vision - etwa Leon Battista Piranesis Marsfeld 1762 - in die Vergangenheit und sucht in der Rekonstruktion des antiken Roms das Ideal. Stadt ohne Grenzen und der Turm zu Babel Mit der französischen Revolution und den Architekten Ledoux und Boullé erfuhr die städtische Planung einen Bruch. Zum ersten Mal wurde die Stadt nicht mehr von Mauern begrenzt, sondern erhielt die Möglichkeit zur Ausdehnung. Die französische, sogenannte Revolutionsarchitektur bricht jedoch mit der Tradition und entwirft zum ersten Mal Städte, denen es möglich ist sich auszudehnen. In Ledoux’ Salinenstadt Chaux ist die Gesellschaft auch räumlich nach Berufen getrennt. Der Turm von Babel wird zum Archetyp. EtienneLouis Boullée deutet dessen biblische Verheißung in ein Symbol der Einigung um. Darin windet sich eine Menschenkette um den Turm und steht damit für eine egalitäre Gesellschaft.42 Babylon gilt als Inbegriff „für das Unheimliche, Unübersichtliche, Vermessene an großen Städten und menschlichen Großplanungen“43. Dieses Motiv findet sich als Motiv in vielen utopischen Visionen der frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Die Faszination gilt der baulichen Leistung, der Zeichensetzung, die gleichzeitig einen

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moralisierenden Charakter mit sich bringt. Der Turm wird darüber hinaus auch als Vorgriff auf die Wolkenkratzer, die Stadt im Gebäude, gesehen.44 Soziale Gerechtigkeit und Arbeit Wie auch die literarischen Utopien nehmen die Stadtvisionen im industriellen Zeitalter an Fahrt auf. Explodierende Bevölkerungsdichte in den Städten, Maschinenproduktion, beginnender Kapitalismus und damit verbundene Veränderungen auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene markieren diese Umbruchphase, die als Krisenzeit Geburtsstunde vieler Utopien ist. Dennoch ist das Image solcher Utopien geteilt. Die einen halten sie für „wirklichkeitsferne Phantasterei“, während die anderen sie als „realisierbare Konkretutopie“ sehen.45 Literarische und Stadtutopien konstruieren sich um die Prinzipien der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit und der Befreiung von monotoner Arbeit. Sie kritisieren das Elend der Städte und die soziale Arbeit. Es kommt zu einer starken Konzentration auf „die Gegensätze zwischen Stadt und Land, Maschinenkunst und Handwerk, Privatheit und Öffentlichkeit, Individuum und Staat“46. Nicht nur in Morris’ Utopie der Stadt mit viel Grünraum, aber auch in Ebenezer Howards Gartenstadt aus dem Jahr 1898, schwingt die Sehnsucht, nach der Flucht auf’s Land, mit. Sie gelten als Versuche, die Konkurrenz zwischen Stadt und Land aufzuheben und eine Stadt mit klimatisch optimalen Bedingungen zu schaffen. Mit den expandierenden Städten festigen sich jedoch auch dem Fortschritt und den Maschinen positiv gestimmte Zukunftsvisionen und Reaktionen in Form von Wolkenkratzern und Trabantenstädten, gepaart mit neuen Materialien wie Glas, Stahl und Beton. Die Imagination der Zukunft wird geradezu von der Wirklichkeit überholt.47


Das 20. Jahrhundert In den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts lassen sich zwei utopische Entwicklungsstränge unterscheiden: künstlerische Utopien und praktische Visionen. Die Utopie ist gleichermaßen Flucht vor der Realität und Anstoß zur Veränderung. Viele Architekten des letzten Jahrhunderts verstanden sich als „Künstlerarchitekten“ und erst nachrangig als Baumeister. Es gab eine Flut an innovativen, zukunftsgerichteten Ideen. Zu nennen sind u.a. Walter Gropius, Bruno Taut, Hans Scharoun und Le Corbusier.48 Der Zusammenschluss von Künstlern, Schriftstellern und Architekten zur Gläsernen Kette in den 1920er Jahren markiert eine der besagten innovativen, utopischen Zukunftsvisionen. Kritisch gegenüber den sozialen Gegebenheiten und der existierenden Architektur projizierte die Gruppe ihre Visionen in eine Reihe aus gläsernen Utopien. So erträumte Taut mit der Alpinen Architektur 1919 eine heile Welt der Glasbauten in den Alpen.49

„Wir brauchen neue Ideale. […] Unsere Zeit verlangt von uns die Lösung von ganz neuen Problemen, und, wahrlich keinen geringen […] Denn wir sind die, welche die Wege vorbereiten, die zum neuen Paradis auf der Erde führen“50 Den Mitgliedern der Gläsernen Kette war eine Faszination für die Alpen und den Baustoff Glas gemein. Ihre Utopien waren daher vermutlich nicht nur im übertragenden Sinn gipfelstürmerisch. Sie imaginierten den radikalen, dynamischen Bau der Zukunft. Unter dem Leid des ersten Weltkriegs und den Nachwehen der Wirtschaftskrise kamen Euphorie und Idealismus jedoch schlagartig zum Halten. Sowohl Gropius als auch Taut mussten zur architektonischen Alltagsarbeit zurückkehren, dem Sozialwohnbau. „Das bedeutet gewiss keinen

Verlust an Imagination, ist aber kennzeichnend für das Schicksal der architektonischen Utopien der zwanziger Jahre“.51 Der Futurismus, ebenso wie der sich daraus ableitende Funktionalismus - beispielhaft Le Corbusiers - geht auf das Manifest Fillipo Thomas Marinettis von 1909 zurück. Marinetti entledigt sich darin jeglicher Tradition und schreibt über die Maschine als Verkörperung der raschen Veränderung und Bewegung. In der futuristischen Stadt gleicht das Haus einer Maschine, die schnell und dynamisch ist.52,53 Sowohl Futurismus als auch Funktionalismus glauben an die Verbesserungsfähigkeit der Welt durch Geometrie, Ordnung und Harmonie mit den Hilfsmitteln der Technologie und Industrialisierung. Ähnlich wie die Gläserne Kette riefen auch die Futuristen zum Bau am Gesamtbau auf. In diesem übergreifenden Kunstwerk sollte sich architektonischer Zweck und Kunst vereinen. Denselben Motiven entstammen auch der russische Futurismus sowie der holländische De Stijl. Man beschäftigte sich mit den Grundlagen des modernen Lebens. Damit ebbt die künstlerische Spekulation jedoch ab. Mitte der 1920er herrscht vorwiegend nüchterne Rationalität.54 In seinem Plan Voisin thematisiert Le Corbusier 1925 die Probleme der hochverdichteten Stadt.55 Über die Mitte des 20. Jahrhunderts geht die Suche nach Planungskonzepten weiter. Das Grundprinzip vieler utopischer Ansätze dieser Zeit ist der Wunsch, die Städte stärker an den Bedürfnissen der Menschen auszurichten, außerdem soll verstaatlichter Bodenbesitz Spekulation verhindern und die städtische Expansion eindämmen.56 Auch nach dem zweiten Weltkrieg hält die Begeisterung für neue Technologien an.

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Superblocks, große Wohnmaschinen sowie das Leben im Weltraum oder unter Wasser sind die architektonischen Antworten auf die (noch) drohende Überbevölkerung.57 Häufig wird in den Utopien der gewohnte Raum der Erde verlassen (Vgl. Wolkenbügel 1924). In den darauf folgenden Jahren wächst die Kritik an der Gleichförmigkeit - es entstehen düstere, literarische Dystopien, wie 1984, Wir oder Brave New World. Zweite Utopiewelle des 20. Jahrhunderts Die zweite große utopische Welle des 20. Jahrhunderts beginnt in den Nachkriegsjahren um 1960. Diese Jahre sind stark auf Mobilität und Flexibilität oder auf soziale Transformation gerichtet. Dies manifestiert sich in megastructures die eine aneignungsfähige Struktur bieten.58 Genannt seien Constant Nieuwenhuys oder Yona Friedman. Besonders im Berlin der Nachkriegszeit wollte man sich vom vergangenen Leid abwenden und so durften die Utopisten der 20er Jahre im Rahmen der Interbau 1957 ihre Visionen nochmals vorstellen. Jene geordnete, rastarisierte Architektur, die wie Frei Ottos Stadt von Morgen fast zur Gänze aus industriell vorgefertigten Bauten bestand, stellte die technologieverliebte Vision der autogerechten, aufgelockerten Stadt dar.59 Yona Friedman ist einer der ersten Architekten, der über die Architektur hinaus, über Kunst, Soziologie und auch Ökonomie nachdachte. Er bezieht das von Morus erfundene kritische Moment konsequent in seine städtebaulichen Überlegungen ein und legt in seinen Entwürfen einen großen Fokus auf die individuelle Freiheit. Als Auslöser der sozialen Missstände in Großstädten sieht er urbane Probleme, wie ausufernde Städte, das Verkehrschaos, die Wohnungen als „steinerne

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Gefängnisse“, keine Nachbarschaften, die Flucht ins Freie am Wochenende und nicht zuletzt das Leid, über die fehlenden Möglichkeiten darüber, die Umwelt persönlich zu gestalten.60 Friedman reagiert in seinem Manifest Architecture Mobile 1958 mit Leitsätzen zur Verbesserung: eine Reform der Eigentumsrechte (für Austauschbarkeit), variable und austauschbare Konstruktionen, veränderliche Raumeinheiten und flexible Nutzungsmöglichkeiten, Vorfertigung als Mittel zur Preisminderung, das Durchmischen der Stadtteile mit verschiedenen Nutzungen. Außerdem sollen die Menschen die Möglichkeit haben, ihre Wohnung nach Bedürfnissen anzupassen. Von den Lasten der Arbeit befreit, würde der Bevölkerung eine erweiterte Freizeit zu Gute kommen, die die Gesellschaft enorm verändern würde. Dies wiederum macht neue Architekturen notwendig. Übersetzt werden diese Leitsätze in ein architektonisch, räumliches Konstrukt - die Ville Spatiale, die räumliche Stadt. Gedacht ist an eine gitterartige Struktur, die vom Boden abgehoben über bestehende Städte gebaut werden und von den Menschen nach Bedarf gefüllt werden kann. Als appropriierbare Landschaft ist sie damit zugleich Impuls zur Aktivität, Ausdrucksmittel und Identifikationspunkt. Anders als die Moderne sieht Friedman die Architektur in einer verstärkt dienenden Position als Infrastruktur und stellt die Nutzerschaft über die Architekt*innen.61,62 Wie Friedman, erschafft auch Constant Nieuwenhuys mit New Babylon eine große, auf Stelzen stehende Struktur, „ein Objekt der Massenkreativität, das (…) erst von seinen Bewohnern realisiert wird“63. Beiden Visionen proklamieren den Niedergang menschlicher Arbeit und einen Zuwachs an Freizeit. Friedman erdachte Gehsteige auf denen ganzjährig sommerliche Temperaturen herrschen. Richard Buckminster Fuller strebte 1962 mit seiner 3km


weiten transparenten Kuppel über Manhattan das Sommerklima für eine ganze Stadt an. Damit sollen Energieaufwendungen und Winterdienste eingespart werden. Buckminster Fuller erkannte bereits die Endlichkeit natürlicher Ressourcen und sah in den technologischen Möglichkeiten eine Lösung dafür. Er war interessiert daran, das tägliche Leben zum Besseren zu verändern, durch eine effiziente und faire Ressourcennutzung. Seine optimistische Arbeit wurde oft als utopisch abgetan und eine hermetisch abgeriegelte Kuppel mit künstlichem Klima hätte zweifelsohne ihre Probleme. Dennoch bleiben Buckminster Fullers Ansätze gerade unter den Gesichtspunkten des 21. Jahrhunderts relevant.64 Im Vergleich zu den 1965 folgenden bunten Visionen Archigrams erscheinen Friedman und Nieuwenhuy’s Imaginationen subtiler, transportieren sie doch weniger collagierten Optimismus und mehr Realismus.65 Die faszinierenden Stadtutopien von Archigram sind beeinflusst von der tiefen Faszination des technologischen Fortschritts. In ihnen verschmelzen Architektur und Gesellschaft. Oft wirken sie beinahe halluzinogen - Welten die von Computern gesteuert werden, Menschen die sich auf Hoover-Chairs fortbewegen und darin schlafen, Städte, die sich fortbewegen können. Mit dieser Radikalität wird die Wahrnehmung der bestehenden Stadt hinterfragt, indem ihr ein neuer, autonomer, lebendiger und mobiler urbaner Organismus entgegengesetzt wird. Veränderbarkeit und Variabilität in Nutzung und Gestalt sowie die modulare Bauweise sind Leitgedanken des Schaffens der Gruppe.66,67,68 Peter Cook fasst die Bestrebungen wie folgt zusammen: „Our Utopianism, if that’s what it was, was pushing architecture to do more“69. Ihr Utopismus erschuf dynamische und politisch engagierte Architekturen, die viele Nachahmer

fand. Als Paradebeispiel für die Realisierung, in etwas abgemilderter Form, steht das von Renzo Piano und Richard Rogers entworfene, Centre Pompidou. Das maschinenhafte Gebäude ist wandelbar und spielerisch, spektakulär und neu.70,71 Die italienischen Gruppen Archizoom und Superstudio stehen in enger Verbindung zu Archigram und kritisieren die kapitalistische Mainstream-Architektur und den rigiden Modernismus, auf der Suche nach flexiblen und technologischen Antworten auf urbane Problemstellungen. Sie hatten viel Einfluss auf die veränderte Wahrnehmung der Architektur. Das statische Konstrukt des Bauwerks wich dem sozialpolitischen Protest und der Kulturkritik.72 In den 1970ern erschaffen Gruppen wie HausRucker-Co oder Coop Himmelblau eine Reihe von Negativ-Utopien, die auf ökologische Missstände hinweisen sollen. Die Mitglieder der Gruppen fordern „provisorische, temporäre Architektur“73, die die Städte umbaut, ergänzt und gleichzeitig Möglichkeiten eröffnet, Wünsche der Bewohner*innen aufzunehmen, indem sie Denkmuster aufbricht. Gleichzeitig erhebt sie, in ihrer Temporalität, nicht den Anspruch der Perfektion und macht sich frei von Zwängen. Zur selben Zeit wird versucht, den Megastrukturen mit einem idyllischen Stadtbild zu kontrastieren. Auch ein neuer Metropolismus wird erdacht. So imaginiert Rem Koolhaas 1972 City of the Captive Globe, eine hohe Bevölkerungsdichte in Wolkenkratzern und Glastürmen, die an Entwürfe Le Corbusiers und Mies van der Rohe erinnern. Durch sie sollen die Menschen gleichzeitig die Möglichkeit haben ihre ganz persönlichen und teilweise gegensätzlichen Lebensstile ausleben zu können. Koolhaas bildgewordene Träumstädte, zelebrieren die Beklemmung der Metropole und

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gestehen ihr gleichzeitig eine erhabene Wirkung zu. Der Architekturtheoretiker Lampugnani sieht darin eine „kühne, streckenweise äußerst gefährliche Balance zwischen utopischem Weiterdenken und politischer Naivität“74 Gibt es heute noch Stadtutopien? Heute hat man sich still darauf geeinigt, dass „das Stadtgeschehen mit technischen Utopien nicht mehr reguliert werden (kann)“75. Daher entstehen nur noch vereinzelte und kaum bemerkenswerte Stadtutopien nach den 70er Jahren.

„In einer Zeit des interdisziplinären Arbeitens wagt kein einzelner mehr die „utopische Vogelschau“ auf die Stadt.“76

Lebensbedingungen ihrer Verfasser*innen losmachen, sondern ist unweigerlich stark von den jeweils persönlichen Welt- und Lebensanschauungen durchzogen.80

• 1

Kerkhoff, I. (2017). Thomas Morus, „Utopia“: Vision eines besse-

ren Lebens im frühneuzeitlichen England. The world speaks English. http://www.the-world-speaks-english.com/thomas-morus-utopia-vision-eines-besseren-lebens-im-fruehneuzeitlichen-england/ [25.01.2021] 2

Mohn, S., Schaller, S., Zeddies, L. (2021). Utopie oder Dys-

topie. Realutopien. https://www.realutopien.de/warum-utopien/

Im 21. Jahrhundert sind wir Profis darin geworden, düstere Versionen der Zukunft an den Horizont zu malen. Untermauert von aktuellen Krisen und Katastrophen leben wir im ständigen „Ich hab es ja gesagt!“. Häufiger schaut man heute auf die Visionen der 20er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück und kann dabei auffallende Parallelen zu den kritischen Intentionen und Wünschen der Gegenwart entdecken: „ Beteiligung, kollektive Wohnformen, neutrale Räume zur Aneignung und Ausbau, alternative Energieformen (und) ökologische Gesichtspunkte“77. Für den Soziologen Harald Welzer ist die Situation klar: Nur positive Zukunftsbilder einer nachhaltigen Gesellschaft können die Motivationskraft besitzen, die es braucht, damit die Gesellschaft zur Tat schreitet. Es braucht eine kollektive, positive Vision der Zukunft um gemeinsam zu handeln.78

„[Die] Fähigkeit zu Träumen ist die wichtigste Produktivkraft zur Veränderung der Welt.“ 79

[24.02.2021] 3

Zech, M. (2019). Die Utopie - Geschichte eines Missverständ-

nisses. Spektrum. https://www.spektrum.de/news/geschichte-eines-missverstaendnisses/1658566 [27.01.2021] 4

Coleman, N. (Hg.) (2011). Imagining and Making the World.

Reconsidering Architecture and Utopia. Bern: Peter Lang 5

Schölderle a.a.O. S. 159

6

Schölderle a.a.O.

7

Zech a.a.O.

8

Kerkhoff a.a.O.

9

Schwabe, F. (2018). Platon: Politeia. Geschichte kompakt.

https://www.geschichte-abitur.de/staatstheorien-der-aufklaerung/ platon-politeia [25.01.2021] 10 Schölderle a.a.O. 11 Schölderle a.a.O. S. 57 12 Koselleck, R. (1985). Die Verdeutlichung der Utopie. In: Voßkamp, W. (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Band 3. Frankfurt, S. 1-14 13 Zech a.a.O. 14, 15 Schölderle a.a.O. 16 Mohn, Schaller, Zeddies a.a.O. 17 Schölderle a.a.O.

Diese positive Vision kann sich dabei niemals zur Gänze von den individuellen Ansichten oder

50

18 Zech a.a.O. 19, 20 Schölderle a.a.O.


21

Callenbach, E. (1978). Ökotopia. Notizen und Reportagen von

51 Schauer a.a.O. S. 73

William Weston aus dem Jahre 1999. Berlin: Rotbuch Verlag. S. 60

52 Conrads, U. (1975). Programme und Manifeste zur Architek-

22, 23

tur des 20. Jahrhunderts. Bauweltfundamente 1. Braunschweig:

Schölderle a.a.O.

24

Schölderle a.a.O. S. 138ff

Vieweg + Sohn Verlagsgesellschaft

25

Zech a.a.O.

53, 54 Schauer a.a.O.

26

Coleman a.a.O.

55 Neumann a.a.O.

27

Lyman Tower Sargent zitiert nach Bregman, R. (2020). Utopien

56 Schauer a.a.O.

für Realisten. Hamburg: Rowohlt Verlag. S. 21

57 Groot et al. a.a.O.

28

Bregman a.a.O. S. 21

58 Schneider, T., Till, J. (2016). 1960s Utopian Groups. Spatial

29

Coleman a.a.O. S. 11

Agency. https://spatialagency.net/database/1960s.utopian.groups

30

Coleman a.a.O. S.7f

[09.02.2021]

31

Coleman a.a.O. S. 8f

59 Werner, P. (1982). Über die Utopien der 60er Jahre oder der

32

Coleman a.a.O. S. 9

Blick vom Berliner Teufelsberg. In: Groot et al. (1982) Stadt und

33

Neumann, K. (2017) Was ist Utopia? In polis Magazin, Unlimi-

Utopie. Modelle idealer Gemeinschaften. Berlin: Verlag Frölich &

ted 01/2017, S. 14 - 17

Kaufmann, S. 93 - 150

34

Coleman a.a.O.

60 Schneider, T., Till, J. (2016-2). Yona Friedman. Spatial Agency.

35

Moylan, T, (2000). Scraps of the Untainted Sky, Science Fic-

https://spatialagency.net/database/groupe.detudes.darchitecture

tion, Utopia, Dystopia. Oxford: Westview Press. S. 107

[09.02.2021]

36

61 Werner a.a.O.

Groot, M., Klein, R., Nowald, I., Schauer, L., Werner, P., & Zohlen,

G. (1982). Stadt und Utopie. Modelle idealer Gemeinschaften. Berlin:

62 Schneider, Till - 2 a.a.O.

Verlag Frölich & Kaufmann. S. 7

63 Werner a.a.O. S. 103

37

Coleman a.a.O. S. 14ff

64 Schneider, T., Till, J. (2016-3). Buckminster Fuller. Spatial

38

Coleman a.a.O. S. 19

Agency. https://spatialagency.net/database/buckminster.fuller

39

Coleman a.a.O.

[09.02.2021]

40

Coleman a.a.O. S. 22

65 Schneider, Till - 2 a.a.O.

41

Nowald, I (1982). Stadt und Utopie - Beispiele aus der Ver-

66 Schneider, Till a.a.O.

gangenheit. In: Groot et al. (1982) Stadt und Utopie. Modelle idealer

67 Werner a.a.O.

Gemeinschaften. Berlin: Verlag Frölich & Kaufmann, S. 15 - 48

68 Neumann a.a.O.

42

Nowald a.a.O.

69 Peter Cook zitiert nach Neumann a.a.O.

43

Nowald a.a.O. S. 41

70 Schneider, Till a.a.O.

44

Nowald a.a.O.

71 Werner a.a.O.

45

Schauer, L. (1982). Die dynamischen Utopien des industriellen

72 Schneider, Till a.a.O.

Zeitalters. In: Groot et al. (1982) Stadt und Utopie. Modelle idealer

73 Werner a.a.O. S. 137

Gemeinschaften. Berlin: Verlag Frölich & Kaufmann, S. 49 - 92. S. 49

74 Werner a.a.O. S. 148

46

Schauer a.a.O. S. 52

75 Groot et al. a.a.O. S. 8

47

Groot et al. a.a.O.

76 Werner a.a.O. S. 149

48

Schauer a.a.O.

77 Werner a.a.O. S. 149

49

Coleman a.a.O.

78, 79 Welzer, H. (2020). Wie sieht nachhaltige, moderne Gesell-

50

Hablik, W. (1981). Aspekte zum Gesamtwerk, Ausstellungska-

schaft aus? In: Zukunftsfragen - Frankfurter Konferenz zur Nach-

talog. Lübeck: Künstlerbund Steinburg und Overbeck - Gesellschaft,

haltigkeit vom 23.-26.11.2020, Teil A Bestandsaufnahme

S. 7

80 Nowald a.a.O. S. 15

51


Chronologie ausgewählter Stadtutopien

52


53


Das folgende Kapitel bietet einen Einblick in die Vorgehensweise unserer Arbeit. Es beschreibt die Ausgangssituation und die daraus abgeleitete Hypothese. Am Ende dient dieses Magazin als Handbuch und Plädoyer für die Methode. 54


Quelle: Harvest, A., HBJ Book (nn). Cover Italo Calvino - Invisible Cities. Coffee with an Architect. http://www.coffeewithanarchitect.com/wp-content/uploads/2010/05/calvino1.jpg [16.01.2021]

METHODE

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Herangehensweise Struktur, These und Ziel

„Wir sind oft sehr optimistisch im Hinblick auf Technologien, aber ziemlich pessimistisch, wenn es um das geht, was wir auf sozialer Ebene erreichen können. Menschen können sich leichter eine Kolonie auf dem Mars vorstellen als ein universelles Grundeinkommen.“1 Worauf der Autor Rutger Bregman anspielt ist der oft vorherrschende Pessimismus wenn es um unsere Zukunft geht. Dominierende, negative Schlagzeilen lassen es schwer fallen, an eine positive Zukunft zu glauben. Aber braucht es diesen Glauben nicht, um ernsthaft an der Stadt von Morgen zu bauen? An diese Frage möchten wir anknüpfen, über urbane Transformation nachdenken und dabei auch unsere Rolle als angehende Architekt*innen reflektieren. Wir haben das teilweise leer stehende ehemalige Postscheckamt in Kreuzberg ins Auge gefasst und uns gefragt, was der richtige Weg der Transformation für einen solchen Stadtbaustein sein könnte? Wie könnten wir mit Bestand umgehen? Und wie können wir Stadt ökologisch und sozial nachhaltig gestalten? Aus der Retrospektive, auf Probleme und Krisen der Gegenwart schauend, versuchen wir deren Potenziale herauszuarbeiten und so Entwicklungsmöglichkeiten und -richtungen aufzeigen, welche sich zwischen Realität und Utopie bewegen. Wir möchten uns fragen: Welchen Explorationsraum können positive Utopien im Umgang mit realen Krisen bieten? Im darauffolgenden Schritt versuchen wir Modelle positiver Zukunft als Transformationstool für Architektur zu etablieren.

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Methode

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Plädoyer für positive Zukünfte Wir sind überzeugt, dass es positive Visionen braucht, um zukunftsfähige Transformationen in Gang zu setzen. Nur mit einer Utopie vor Augen können wir hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. In der beispielhaften Transformation unseres Fragments, dem ehemaligen Postscheckamt, versuchen wir Rückschlüsse zu ziehen, wie ein positives Zukunftsbild für die Architektur aussehen könnte und wie sie transformativ bleibt. Wir betrachten das Gebäude als Ressource. Es wird zur Projektionsfläche unserer Visionen und mit all unseren Wünschen und Träumen für die Zukunft aufgeladen. Die Arbeit der Sichtbaren Stadt findet Anlehnung an den Roman Italo Calvinos, Die unsichtbaren Städte und erzählt von der Transformation eines Fragments - letztlich handelt es jedoch vom städtischen Wandel. Wir möchten die notwendigen Veränderungen und die positiven Optionen sichtbar machen und ins Blickfeld rücken. Mit unserer Arbeit wollen wir das Postscheckareal aus dem Dornröschenschlaf wachküssen. Aus Beobachtung soll konkretes Handeln werden. Wir wollen den Finger in die Wunde legen, den Diskurs anregen und neue Möglichkeitsräume aufzeigen. So ist auch dieses Magazin als Plädoyer für unsere Methode zu lesen. Wir haben in der Herangehensweise ein Exempel statuiert, von dem wir glauben, dass es Stadt und Architektur nachhaltig und damit zukunftsfähig verändern kann. Dies ist in gewisser Weise ein Handbuch zur Transformation in eine Zukunft, die noch offen ist.

• 1

Bregman zitiert nach Hildebrandt, T. (25. März 2021). Lernt die

Menschheit aus Krisen? Ein Gespräch zwischen Wolfgang Schäuble und dem Autor Rutger Bregman. Die Zeit N° 13, S. 9

58


Kinder der Utopie

Fahrplan

59


Die Erzählungen der Krise verstehen sich als subjektive, ortsspezifische, überspitze Situationsbeschreibungen der Wirklichkeit. Gleichzeitig sind sie Ausgangspunkt des Wandels und Geburtsstunde einer Vielzahl von Potenzialen, die nur darauf warten genutzt zu werden. 60


Quelle: Haus-Rucker-Co (1986). Oasis 7. Culture Night Los Angeles. https://culturenightlosangeles.files.wordpress.com/2012/06/10.jpg [16.01.2021]

ERZÄHLUNGEN DER KRISE

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Auf Zeiten der Not folgten Zeiten wirtschaftlicher Prosperität. In der Mitte der Stadt sind die Böden aus Marmor. Die Häuser sind hoch und aus reinem Glas. Sie prägen die kollektive Identität aller, indem sie Zukunft suggerieren und Geschichte auslöschen. Morgens werden Menschen verschluckt. Erst in der Dämmerung zeichnet sich an diesem Ort wieder das Leben ab, wenn man eifrige Menschen durch Lichträume wandeln sieht. Wirklich leben tut hier keiner mehr. Das Leben ist der Arbeit gewichen, gewohnt wird außerhalb. Dafür ist an diesem Ort kein Platz. Dem Sturm und Andrang der Menschen konnte die Stadt schon bald nicht mehr Herr werden. Aus diesem Grund bewegen sich die arbeitenden Menschen in schnellen Gefährten langsam die Straßen entlang - verlieren ihre Jugend im Stau. Sind sie einmal angekommen, laufen sie in feinen Kleidern die Straße entlang. Glanz und Wohlstand leuchten in den Augen, während Sprachen gesprochen werden, die nur wenige verstehen.

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Renditeorientierte Stadtentwicklung

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Die Luft schmeckt fahl, verbrannt und surrt in Umtriebigkeit unter der Hitze der grauen Sonne. Schleichend bewegt sich die Karawane großer Gefährte durch das Wirrwarr der Stadt - immer in Eile. Zu Fuß bewegt sich kaum einer mehr. Nicht auf zwei Beinen und noch weniger auf allen Vieren. Das war nicht immer so. Lange Zeit prägten Hundegebell und Vogelgezwitscher das Leben an Land und in den Baumkronen. Heute wird mehr Holz geschlagen als nachwächst und Vögel aus Metall zeichnen in ihrer Bewegung ein dicht verwobenes Netz in den Himmel. Was zählt ist nur der Augenblick, der vom Wind verweht, sofort flüchtig wird und vom nächsten gejagt ein neues Zuhause sucht. Die Stadt gehört dem Individuum, das im Überfluss lebt und keinen Nächsten braucht. Die Arbeit ist sein Steckenpferd, das Auto sein Antrieb, bis er selbst zum Motor der Verwüstung wird - hinter ihm verbleibt nur Rauch.

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Klimakrise

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Wie ein reißender Fluss, der irgendwo in fernen Landen entspringt, strömen die Menschen in die Stadt und stürzen sich in die Tiefe der Schluchten aus Beton. Der Platz am Boden lässt sich nur mit viel Geld bezahlen, doch das Streben in die Höhe ist umsonst. So stehen sich Menschen und Architektur gleichermaßen auf den Füßen und recken die Köpfe, gierig nach Licht, gen Himmel. Wachstum im Sekundentakt. Urbanisierung als Folge der gestrigen Industrialisierung. Die Stadt von Morgen. Heute schon Multimillionenmetropole. Kapazitätsprobleme erwecken Besitzen statt Nutzen, sind Inkubator für gesellschaftlichen, wie technischen Fortschritt. Doch ein Wachstum hier, bedeutet ein Schrumpfen dort.

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Landflucht und Urbanisierung

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In der Mitte der Stadt werden Träume aus Plastik geboren. Dort wo das Leben niemals endet, heischen Menschen nach Aufmerksamkeit und Optimierung. Im gigantischen Spiegel der Plattformen blickt ihnen ein verzerrt-klares Bild entgegen. Hält sie mit seinem unaufhaltsamen Sog wohlig im Arm. Und so wünscht sich der Dicke anmutig, schlank und der Schwache stark zu sein. Am Abend gleicht ein Ei dem Anderen und verschwindet in der Masse der Schönen. Im Beifall der Masse badend, bereit, sich im eigenen Spiegelbild zu ertränken. Die Welt kennt keine Zweifel, keine Situation scheint ausweglos. Die Menschen greifen nach glühenden Sternen und bauen Luftschlösser, die glitzernd zwischen den Wolken der Angst schweben.

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Selbstoptimierung und Narzissierung der Gesellschaft durch Soziale Medien

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Fortschritt durch Technik lautete einst die Parole der Bürger und sollte zum Menetekel werden, als der Fortschritt eines Tages nicht mehr aufgehalten werden konnte. Dabei hatte man gelernt, das Wachstum nicht weiter zu hinterfragen. Der Blick nach rechts und links, statt ins Innere, versprach der einfachere Weg zu sein. Es war nicht fremd, gar anerkannt, in einer Einweggesellschaft über die eigenen Verhältnisse zu leben - Luxus und Anerkennung über die eigentliche Lebensgrundlage zu stellen. Produkte, welche nach einem Jahr überflüssig waren, verpackt in Styropor, welches die nächsten 5.000 Jahre überdauern würde. Teuer bezahlt mit Name, Adresse, Alter, Geschlecht, Fingerabdruck, Gesichtsform, Stimme und dem eigenen Pulsschlag - geschenktes Vertrauen. Erst wurde einem die Arbeit von fremdgesteuerten Helfern abgenommen, später die Entscheidungen - das Leben. Bis der Mensch von der Maschine nicht mehr zu unterscheiden war. Was macht den Menschen nun noch aus? So muss irgendwann das Darlehen des schönen Lebens getilgt und der Preis der Gegenwart mit der Zukunft bezahlt werden.

70


Digitalisierung, Konsum und Überwachung

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Aus aller Herren Länder reisen die Menschen in die Mitte der Stadt. Auf die schillernde Insel aus Marmor, eigens für die Besucher errichtet. Ständig dabei, Neues zu entdecken, fühlen sich alle fremd und dennoch wie zuhause. In Scharen strömen sie des Tages aus, um in der schmucklosen Ehrlichkeit der umliegenden Stadt glänzende Reflexionen ihrer Welt zu finden. Sie versuchen, die flüchtigen Momente festzuhalten, indem sie diese an Objekte binden, derer sie sich bald wieder entledigen werden. Zu stumpf sind die Gefühle der Vergangenheit - zu blass die Erinnerung. Am Abend kehren sie zurück auf die Insel, die alles hat und doch nur von kurzer Dauer ist.

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Touristifizierung

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Stille legte sich über die Stadt, während alle sich in Sicherheit wägten. Zu weit schien er entfernt, der ohrenbetäubende unsichtbare Begleiter. Mit flinken Füßen rast er näher, grüßt die Bewohner freundlich, hält sie fest und bindet sich an sie. Auf ihrem Rücken reist er weiter, von Mensch zu Mensch, von Jung zu Alt, von Ort zu Ort. Er fesselt sie an ihr Haus, schließt die Tore von Tanzlokalen, Theatern und Cafés. Er bestimmt was wichtig ist und was entbehrlich. Er wohnt im Kontakt. Lähmt Freundschaft, Kultur und Heiterkeit. In Unverständnis bäumt der Mensch sich auf, ruft lärmend zum Protest. „Erinnert euch an früher“, ruft er und mahnt streng zur Einsicht. Unbeeindruckt und beständig überrollt der Begleiter die Stadt. Bis unter seiner Last, das Leben zum Erliegen kommt und die Pappe mit jeglichem Protest zu Boden gleitet. Das Leben das einst draußen stattfand, lässt sich hinter verschlossenen Türen nur noch entfernt erahnen.

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COVID-19

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Von der Krise... und dem Potenzial der Vergangenheit Es herrscht Pandemie. Die Welt befindet sich im Ausnahmezustand. Die weltweite Berichterstattung wird von einem einzigen Thema dominiert und eigentlich kann man es nicht mehr hören, dieses Wort. Gleichzeitig beeinflussen die Maßnahmen unser aller Leben und machen es somit schwierig es nicht zu erwähnen: Corona, COVID-19 oder auch SARS-CoV-2 ist der Ausbruch einer Virusinfektion, welche am 31. Dezember 2019 in Wuhan (China) bestätigt wurde.1 Es war die globale Vernetzung die dafür sorgte, dass ein Virus vom anderen Ende der Welt bis in die entlegensten Orte gelangen konnte. Und so kam es überall zu drastischen Veränderungen: sei es zuhause, an der Arbeit, in der Stadt, in Deutschland und weltweit. Derzeit gibt es kaum ein Unternehmen, welches nicht von den Folgen betroffen ist. Also werden Betriebe geschlossen, die Arbeit heruntergeschraubt oder die Angestellten, wenn nicht systemrelevant, im Homeoffice isoliert, um ein weiteres Ausbreiten zu verhindern oder es zu mindest zu verlangsamen.2 Und auch die Privatpersonen sind neben den AHARegeln mit vielen neuen Umständen konfrontiert - kurzum: Es herrscht Ausnahmezustand und die Welt bekommt die Auswirkungen der Krise auf unterschiedlichsten Ebenen deutlich zu spüren. Neben der Corona-Krise sind wir derzeit aber auch von weiteren Krisen betroffen, die sich in der Medienlandschaft breit machen. In der medialen Berichterstattung dominieren die negativen Schlagzeilen, obwohl es der Menschheit so gut geht wie nie zuvor. Dies belegen zahlreiche Statistiken zu Themen Gewalt, Armut, Gesundheit und Bildung.3

76

Harald Welzer bemerkt, dass wer heute unter 30 Jahre alt und in Deutschland aufgewachsen ist, nie etwas anderes gehört habe, als dass die Welt am Abgrund stehe, der Klimawandel furchtbare Folgen haben wird, es kaum noch Zeit zum Umsteuern gibt, die Meere verschmutzt und voller Plastik sind und die Tiere aussterben.4 Er macht dafür die Apokalypse-Rhetorik5 verantwortlich. Was schmerzlich fehle, so Welzer, seien Visionen, konkrete Utopien, Aussichten wie man die Welt, die eigene Gesellschaft, das individuelle Leben so verändern kann, dass es zugleich lustvoller und weniger zerstörerisch gelebt werden kann, als es in der Gegenwart der Fall ist.6 Wie sich die Gesellschaft dadurch langfristig verändert, kann noch nicht gesagt werden, denn in welcher Gesellschaft wir leben wollen, haben wir weitgehend selbst in der Hand. Wir erleben eine Gesellschaft, die sich auf die Gegenwart fixiert, da es ihr an Zuversicht und Fantasie für eine positive Zukunft mangelt7 oder eine Gesellschaft; die den Glauben an eine bessere Zukunft nach oder sogar in der Krise nicht verloren hat. Im Zusammenhang mit der Riesenbaustelle Corona wurden endlich Themen auf den Tisch gelegt, um die jahrelang herumgeredet wurde: Gesundheitswesen, Digitalisierung, Eingriff in die Natur u.v.a.m. Es braucht eine Gesellschaft, die die Krise ernst nimmt, aber auf Veränderung baut, die besonnen und nicht panisch agiert. Der richtige Umgang ist daher entscheidend: Statt die Hoffnung zu verlieren und den Kopf in den Sand zu stecken, sollte man selbst zum Initiator


werden und die Krise als Chance sehen. Die Chance liegt darin, Bestehendes zu hinterfragen, neu zu denken und zu definieren. Betrachtet man die derzeitigen Veränderungen, die dank Corona innerhalb kurzer Zeit umgesetzt wurden und die sonst ein Gros an bürokratischem Verwaltungsaufwand und Überzeugungsarbeit bedeutet hätten, erkennt man, wie schnell Veränderungen umgesetzt und Paradigmen in Frage gestellt werden können. So werden Parkplätze innerhalb kurzer Zeit durch Popup-Radwege ersetzt8 oder es wird mit neuen Arbeitsbedingungen experimentiert9. Was lernen wir also aus der Krise zum Beispiel für das Büro der Zukunft? Ist es ein überflüssiger Kostenfresser oder unverzichtbarer, wichtiger Begegnungsraum? Viele feste Strukturen werden aufgebrochen. Nun ergibt sich ein Gelegenheitsfenster, um neue Realitäten zu schaffen. Max Frisch (1911 - 1991) sagte: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen“10 Wir wollen ebendies aus unterschiedlichsten Krisen herausarbeiten. Neben der aktuellen und prekären Coronakrise umgeben uns noch weitere Herausforderungen. Nicht alle geben sich jedoch gleich zu erkennen - manche kommen schneller als Corona oder die sogenannte Flüchtlingskrise, bzw. die Krise des Flüchtlingsschutzes, andere wiederum zeigen sich langsam und schleichend wie die Klimakrise.

Wir beschäftigen uns in unserem Magazin vor allem mit Krisen, die wir aus der Jetztzeit und dem Ort Berlin ableiten, die sich teilweise erst beim genauen Betrachten als solche zu erkennen geben. Als Krise wird etymologisch generell eine schwierige Lage (krísis = griech.: Zuspitzung) bezeichnet. Meist handelt es sich um dramatische Ereignisse, die für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen eine Gefährdung darstellen (können). Genauso kann die Krise aber auch als entscheidender Augenblick gedeutet werden! Als intuitives Moment entstanden die vorangegangenen Erzählungen. Sie verstehen sich als überspitzte Situationsbeschreibung der Krise, kurze Capriccios, die versuchen, die gesellschaftliche Situation zu fassen - ebenso die daneben gestellten Veduten im piranesischen Sinne. Es handelt sich um Bilder, welche die Verzerrung der Wirklichkeit abbilden; mal stärker, mal weniger stark ausgeprägt.11 Was zu Beginn noch wie eine Galerie verträumter Stadtszenarien anmutet, verstärkt sich immer weiter zu einem beklemmenden Opiumtraum, einer von Zerfall und Untergang bedrohten Welt. Am Ende ergibt sich ein Panorama, welches bewusst an die Erzählungen der Unsichtbaren Städte Italo Calvinos erinnert.12

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Betrachtet man die verschiedenen Krisen aus der Entfernung, wird man feststellen, dass sie alle, mal mehr mal weniger, stark zusammen hängen und sich meist gegenseitig bedingen. In einem Netzwerk (Abb. links) haben wir sowohl übergeordnete als auch eher untergeordnete Krisen festgestellt und hierarchielos nebeneinander platziert. Es ergeben sich auf diese Weise verschiedene Synergien und Verkettungen zwischen den einzelnen Erzählungen. Man kann unterschiedliche Stränge verfolgen und an beliebigen Punkten beginnen: Starten wir beispielsweise mit der Privatisierung des durch die Landflucht hart umkämpften Wohnraums in Berlin13 und der damit resultierenden renditeorientierten Stadtentwicklung. Sie lässt die Mieten steigen und stärkt damit die Gentrifizierung,14 welche sich somit nicht nur auf kulturelle Aufwertungen und veränderte Lebensstile zurückführen lässt. Um den Wohnraummangel entgegenzuwirken wird mehr und mehr Fläche versiegelt und bauliche Dichte erzeugt, welche nach dem klassischen städtebaulichen Leitbild „Urbanität durch Dichte“ zu mehr Urbanität führen kann und so zum Treiber und Anziehungspunkt für noch mehr Touristen wird. Der Urlaub, der in der digitalen Welt immer häufiger zur Kulisse der Selbstdarstellung verkommt, steht mit dem Klima in einer vielfältigen Wechselbeziehung. Der Tourismus ist vor allem durch den Fernreiseverkehr (aber auch andere energieintensiven Komponenten) Mitverursacher des Klimawandels.15 Eine bereits 2018 veröffentlichte Studie kam zu dem Ergebnis, dass der Tourismus etwa zehn Prozent des global freigesetzten Kohlenstoffdioxids verursacht.16 Dem Klimawandel und der Zerstörung intakter Ökosysteme wiederum wird derzeit, wenn auch noch nicht falsifiziert, Covid-19 zugeschrieben. Covid-19 wiederum hemmt den Tourismus und

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beflügelt zum einen den Onlinekonsum zum anderen das Einzelhandelssterben. Dieser „digitale Imperialismus“17 fördert die Maximierungsfantasien der Wachstumswirtschaft, die sich wiederum im städtischen Wohnungsmarkt widerspiegelt. Der Kreis schließt sich. Heutige Krisen wecken uns, bevor wir überhaupt zu träumen begonnen haben - wir leben in einer Dystopie.18 Die Krise kann Türen zu neuen Welten und Ideen aufstoßen, aber sie kann auch zur beschränkenden Verfestigung der eigenen Überzeugungen führen.19 Für uns jedoch steckt in jeder Krise das Potenzial für Veränderung. Es handelt sich hierbei um Themen, bei denen es sich lohnt den Blick nach Vorne in die Zukunft zu richten, um eine bessere Welt zu visionieren.

„(Die) konkrete Utopie steht am Horizont jeder Realität“ 20

Wir sehen die Möglichkeit, an einem oder auch mehreren dieser Punkte anzusetzen, um so den gordischen Knoten in einer graduellen Kettenreaktion zu lösen.


Krisennetzwerk

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... zur Utopie zurück zu einer positiven Zukunft Wir, als junge Architekturschaffende wollen den Moment der Krise nutzen, um radikale Ideen offener diskutieren zu können. Frei nach dem Motto und gleichnamigen Buchtitel des Stadtforschers Paul Chatterton: „Be realistic: Demand the impossible.“21 Dabei schauen wir zuversichtlich nach vorne und wollen positive Zukunftsbilder zeichnen. Die Geschichte hat gezeigt, dass sie dazu verdammt ist, ihre Fehler zu wiederholen, wenn sie das große Ganze aus den Augen verliert. Der nicht endende Wachstums- und Fortschrittsgedanke hat dazu geführt, dass es den Menschen einerseits so gut geht wie nie zuvor.22 Andererseits ist die Lebensgrundlage Umwelt immer weiter in den Hintergrund gerückt und musste sich unterordnen. Betrachtet man die derzeitige Situation, könnte man zu dem Schluss kommen, dass unsere Gegenwart aus diesem Grund geprägt ist von Verboten, Restriktionen, Strafen und Besteuerungen. Es ist wahrnehmbar, dass die Politik versucht den Menschen und seiner unter ihm leidenden Umwelt entgegenzuwirken - fast schon von einem von Natur aus destruktiven Menschen ausgeht, wie es auch Freud in seiner spekulativen Todestriebhypothese formuliert.23 Douglas McGregor stellt in seinem Buch The Human Side of Enterprise24 die X-Y-Theorie auf, welche entweder von dem Fall ausgeht, dass der Mensch faul sei und nur durch extrinsische Belohnung bzw. Sanktionierung zur Arbeit getrieben werden könne (X-Theorie) oder aber von Natur aus in der Lage sei, sinnstiftende Ziele tatkräftig, kreativ und mit Selbstdisziplin anzustreben (Y-Theorie). Beide Anwendungen könnten als selbsterfüllende

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Prophezeiungen betrachtet werden, bei denen es zwischen Erwartung und Verhalten zu einer positiven Rückkopplung kommen kann. Die Medien haben dabei einen erheblichen Einfluss und sind in der Krisendarstellung häufig zum reinen Ereignisreport von negativen Schlagzeilen geworden. Zu lange schon bewegen wir uns nun in der vermeintlichen Abwärtsspirale, in welcher wir mit CO2-Statistiken, dem sich rasant veränderten Klima und steigenden Meeresspiegel konfrontiert werden und das eigene Scheitern vor Augen geführt bekommen. Es geht nicht darum vor Problemen die Augen zu verschließen oder Fakten nicht wahrhaben zu wollen. Es geht darum, auf beiden Seiten den richtigen Medienumgang zu schulen und den Fokus hin zu einer besseren Ausgewogenheit zu verlagern - weg von den menetekelhaften Gedanken, „die Welt geht eh zugrunde“ und „man kann ohnehin nichts ändern“. Diese Auffassung lähmt und so führt das Beleuchten der negativen Seiten irgendwann zur Stagnation. Positive Visionen hingegen treiben zum Handeln an. Im besten Fall laden sie zur proaktiven Mitgestaltung ein. So sagt auch Antoine de Saint-Exupéry (1900 - 1944) in seinem Buch Die Stadt in der Wüste, Citadelle:

„Wenn Du ein Schiff bauen willst, so trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge vorzubereiten, die Arbeit einzuteilen und Aufgaben zu vergeben, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem endlosen weiten Meer!“25 Nochmal: Wir glauben also an die intrinsische Motivation des Menschen, Dinge verbessern zu


wollen und konstruktiv zu sein. Wir sollten bei wichtigen gesellschaftlichen Themen weder verharmlosen noch in Alarmbereitschaft verfallen. Stattdessen geht es darum, aus der Vergangenheit zu lernen, zu schauen wie Hürden überwunden werden können, um anschließend nach Vorne zu blicken und systematisch Gründe und Wege für eine „Transformation by design not by desaster“26 zu entwickeln. Als Aussichtspunkt dient uns hierbei die Utopie - ein, per Definition fiktiver Ort.

„Utopien sind keine schlaraffischen Vorstellungen. Sie sind auch kein linkes oder rechtes Literaturgenre. Sie sind auch keine Astrologie oder Futurologie. Utopien sind Leitbilder, die anschaulich machen, dass eine andere Welt möglich ist und wie sich das (Alltags-)leben in ihr anfühlt. Utopien machen Zukünfte greifbar. Lösungsorientiert verankern sie Dimensionen einer möglichen Zukunft in unserer Psyche und sind daher eine unverzichtbare Ressource für soziale Prozesse und Projekte. Ohne sie driften wir Menschen in reaktionäre Haltungen, werden zum Opfer apokalyptischer und energieraubender Narrative oder erstarren angesichts der Herausforderungen.“27 Die Utopie verschließt sich nicht vor Negativem und hat auch nicht zum Ziel unreflektiert nur Positives darzustellen. Sie behält stets Prozesscharakter und beschreibt eine von mehreren positiven Visionen. Das wäre eine Zukunft, die wir uns zwar ausmalen können, welche aber nie exakt so eintreten wird. Als Leitbild kann sie jedoch dazu beitragen, die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft positiv zu verändern.

Die aus den Krisen abgeleiteten Potenziale (s. Abb. Seite 82) helfen uns dabei, die wünschenswerten Entwicklungen aufzuzeigen und dienen als Werkzeuge, um die verschiedenen Ebenen der Utopie herauszuarbeiten. Sie decken sich stark mit den Megatrends des Zukunftsinstituts28 und lassen daher, zumindest teilweise, auf eine Ortsunabhängigkeit der Krisen schließen. Die Krisen mit Hilfe ihrer Potenziale ins Positive wendend, ergeben sich drei Ebenen, welche die Utopie ausmachen: Allen voran die Gesellschaft, also die Beziehungen der Individuen zueinander, zu anderen Lebewesen und zur Welt, in dessen Kontext sie eingebettet liegt. Sie bildet den Rahmen für das Theaterstück der Utopie. Eng verbunden mit der Gesellschaft ist die Frage: Wie leben bzw. wie wohnen wir morgen? In der dritten Ebene ergründen wir die Transformation der Arbeit und der Arbeitsformen, angesichts voranschreitender Digitalisierung und in Verbindung mit wirtschaftlichen Veränderungen. Diese drei Ebenen finden sich auch in vielen literarischen Utopievorstellungen und sind Grundbausteine für die Entwicklung von Zukunftsideen.

„Was wir brauchen sind alternative Horizonte, die unsere Phantasie anregen. Und ich meine tatsächlich Horizonte im Plural, denn schließlich sind einander widersprechende Utopien das Herzstück der Demokratie.“29 Unsere Arbeit soll Wege in eine Gesellschaft aufzeigen, die sich wieder auf die Suche nach sozialer Gerechtigkeit und einem guten Leben begibt, damit „aus der Krise lernen“ mehr als nur eine Floskel ist.

81


Potenziale der Krisen und Ebenen der Utopie

82


83


13

Ngo, Anh-Linh (2021). Mauern nach der Mauer - Politik des

Raums im neuen Berlin. In Arch+ - Ausgabe 241, S. 1-5 14

Beitzer, H. (2015). Was Gentrifizierung wirklich ist. Süddeut-

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85


Stell dir vor Du schläfst ein und wenn Du wieder aufwachst, bist Du in einer Stadt, die genau so ist, wie Du es am besten findest. Alles ist genau so, wie Du es dir wünschst! Wie sieht die Stadt dann aus? Wo wohnst Du? Wer ist mit Dir in dieser Stadt? Was tust Du den ganzen Tag? Wie ist das Wetter? Wie sieht der Boden aus? Was gibt es am Himmel zu sehen? 86


Quelle: Doré, G. (1832-1883). Paradiso, Canto 31. Wikimedia. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d2/Paradiso_Canto_31.jpg [16.01.2021]

CODIERUNG UNSERER UTOPIE

87


Utopischer Rahmen Von der Imagination einer positiven Zukunft Es braucht positive Visionen um Architektur und Stadt zukunftsfähig zu transformieren! Wie sieht unsere Vision nun aus? Aus den Krisen ergibt sich ein großes Fenster in Richtung Zukunft. Es zeigen sich viele Themengebiete, die untereinander stark verwoben sind, sodass es kaum möglich ist, das Eine ohne das Andere zu denken. Das Bild der Zukunft, welches wir im Folgenden zeichnen möchten, knüpft an eine Vielzahl aktueller Debatten, innovative Ideen aber auch kritische Entwicklungen an. In erster Linie ist es jedoch eine Sammlung unserer Wünsche für die Stadt von Morgen. Es geht nicht darum, eine möglichst korrekte Vorhersage der Zukunft zu treffen. Genau so wenig erhebt diese Vision einen totalitären Singularitätsanspruch. Bei dem Versuch eine pluralistische Gesellschaft zu beschreiben werden stets Aspekte zurückbleiben, die sich unserem derzeitigen Blickfeld entziehen. Dennoch kann die Imagination Anregung bieten und den Fuß in die Tür zur Zukunft stellen. Der Ansatz ist dabei alles andere als utopisch - beinahe realistisch. Ziel ist es jedoch, einen utopischen Impuls zu setzen und Steine ins Rollen zu bringen. Ein motivierender Ausblick, der in seiner Unmöglichkeit dennoch möglich erscheint. Themen aus den Bereichen Ökologie, Wirtschaft, Recht, Energie, Mobilität, Digitalisierung und Gesundheit fungieren als Basis unserer utopischen Zukunft. Diesen übergeordnet, sind die Codes der drei Themenfelder Gesellschaft, Wohnen und Arbeiten, die auf den folgenden Seiten näher beschrieben werden.

88

Unsere Utopie spielt in einer postfossilen Zukunft und einer Postwachstumsgesellschaft. Es ist uns durch ein globales Umdenken gelungen, die Erderwärmung auf 1,5°C zu begrenzen. Das ökologische Bewusstsein durchdringt alle Lebewesen und lässt uns im kompromisslosen Einklang mit dem Planeten, seinen Kapazitäten und seinen vielfältigen, fragilen Ökosystemen leben. Es gab eine grundlegende Aufarbeitung der Vergangenheit, über Kompensationszahlungen, Energieeinsparverordnungen und CO2-Steuern wurde für die ökologischen Vergehen der Vergangenheit Verantwortung übernommen.1 Das neue globale Rechtssystem ist auf die soziale sowie ökologische Nachhaltigkeit ausgerichtet. Die Zukunft wird in geschlossenen Kreisläufen gedacht. Wiederverwendung, Recycling und Kompostieren sind selbstverständlich geworden. Wir nutzen erneuerbare Materialien und Energieträger wie Wasserkraft, Biomasse, Geothermie, Sonnen- und Windenergie. Wir stellen uns eine postkapitalistische Wirtschaftsordnung vor, in der das Bruttoinlandsprodukt nicht mehr Maß der Dinge ist und die globale Handelsgesellschaft durch eine Word-Fair-Trade Organisation ersetzt wurde.2 Wir verbinden Reduktion nicht mit Verlust, sondern mit einem Gewinn an Qualität und Freiheit.3 Unsere fleischarme Ernährung wird aus Agrarökologie gewonnen. Permakulturfarmen bieten außergewöhnliche Biodiversität und lokale, saisonale Nahrungsmittel, die uns fragen lassen, wie es jemals anders gewesen sein konnte.4 Lebensmittelabfälle und Komposterde finden Wiederverwendung in der Landwirtschaft oder werden unkompliziert zu Biogas für den Betrieb


des Versorgungsverkehrs.5 Der Straßenverkehr kommt fast vollständig ohne Autos aus. SharingModelle und on-demand Mobilität im öffentlichen Verkehr und in der Luft machen den privaten PKW obsolet. Der ausgebaute, flächendeckende, öffentliche Personen(nah)verkehr ist kostenlos und wird durch das Fahrrad ergänzt.

„Wir bauen Städte nicht, um die Autos glücklich zu machen, auch nicht um Stadtplaner oder Architekten glücklich zu machen. Was wir planen und bauen, beeinflusst das Verhalten, die Entscheidungen, den Lifestyle der Menschen. Wir müssen Städte so bauen, damit die Menschen ein gutes Leben (darin) haben.“6 Des Weiteren ist die Digitalisierung weiter vorangeschritten. In der Vernetzung finden wir viel Freiheit, besonders da umfassende Datenschutzgesetze die Rechte zu den Nutzer*innen zurück erkämpft werden konnten. Künstliche Intelligenzen und Roboter unterstützen unser alltägliches Leben. Sie übernehmen Arbeiten, die uns lästig scheinen, ermöglichen intelligentes Bauen u.v.a.m. Da es nicht mehr darum geht, den Menschen zum Erzielen immer größerer Gewinne zu nutzen, kann die Digitalisierung zu unseren Gunsten und des Planeten eingesetzt werden. Eine Neustrukturierung des Gesundheitssystem ermöglicht jedem/jeder Bürger*in den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Pflege wird in gemeinschaftlicher Verantwortung und mit gegenseitiger Hilfe, soweit möglich, vor Ort ausgeführt - nur für Operationen geht man ins Gesundheitshaus.7

+ Ökologie: Nachhaltigkeit und die kompensatorische Aufarbeitung der Vergangenheit. Nahrungsmittelversorgung mittels lokaler, saisonaler Agrarökologie.

+ Ökonomie: Kreislaufwirtschaft nach dem reduce, reuse, recycle- bzw. dem Resolve-Modell8. Das BIP ist irrelevant, da wirtschaftliches Wachstum nicht mehr das angestrebte Ziel ist.

+ Energie: postfossile Energieträger (Wind, Wasser, Sonne, Geothermie und Biomasse)

+ Mobilität: Autofreiheit, kostenloser ÖPNV, ausgebaute Fahrradstraßen und Schienenverkehr. Notfallund Entsorgungsfahrzeuge werden mit Biogas betrieben. On-demand Verkehr auch in der Luft.

+ Digital: Global gültige Datenschutzgesetze. KIs und Roboter erledigen einen Großteil der Arbeit und schenken den Menschen damit mehr Freizeit.

+ Gesundheit: Kostenlose Gesundheitsversorgung. Care-Arbeit vor Ort und in Solidarität. Das Kranken- wird zum Gesundheitshaus

89


Code: Gesellschaft Sieben Grundwerte der Weltbevölkerung von Morgen Mit dem abgesteckten Rahmen unserer utopischen Zukunft, soll nun die darin lebende Gesellschaft und deren Grundwerte beschrieben werden:9

Selbstbestimmung & Freiheit Jeder Mensch hat das Recht, sein/ihr Leben selbstbestimmt und frei zu gestalten. Dabei herrscht das allgemeine Bewusstsein, dass die eigene Freiheit von der des/der Nächsten abhängt.

Vielfalt Jedem Menschen kommt, unabhängig von Lebensentwurf oder etwa Religion der gleiche Respekt zu und wird aktiv gefördert. Diskriminierung jeglicher Art wird nicht unterstützt. Als One Nation leben wir ohne Grenzen, was die freie (Migrations-)Bewegung unterstützt und Selbstbestimmung und Freiheit garantieren soll.

Bedürfnisorientierung Die Befriedigung notwendiger Bedürfnisse stehen im Zentrum. Sie sind in global gültigen Weltrechten festgeschrieben. Allen voran ist die Unantastbarkeit der Würde sowie die Unversehrtheit von Lebewesen und dem Planeten. Neben dem Grundrecht auf Nahrung gibt es ein Wohnungsrecht sowie das Recht auf kostenlose Gesundheitsversorgung. Damit sollen die physischen Bedürfnisse befriedigt werden, die außerdem Frieden, Selbstentfaltung oder auch Wertschätzung umfassen. Über die Notwendigkeit der Erfüllung spezifischer Bedürfnisse wird im Konfliktfall demokratisch entschieden.

90


Sicherheit

Zugänglichkeit

Alle Menschen sind finanziell und sozial abgesichert, sodass keine*r unter Angst vor Hunger oder Armut leiden muss. Das bedingungslose Grundeinkommen, das Grundrecht auf Wohnraum, sowie die kostenlose Gesundheitsversorgung sind auf die umfassende Befriedigung der menschlichen Grundbedürfnisse ausgerichtet. Die Weltrechte sollen außerdem vor Gewalt schützen.

Allen Menschen steht die Gestaltung ihres Lebens, der Stadt und nicht zuletzt der Gesellschaft offen. Veränderungsoffenheit herrscht nicht nur in der Gesellschaft, sondern lässt sich auch auf alle Strukturen und Organisationsprinzipien anwenden. Diskurs, konstruktive Kritik, aber auch Reibung, z.B. in Form von Protest, sind maßgebliche Bestandteile des ständigen Wandels. Die Transformation wird gefeiert und als Prozess verstanden zu dem jede*r leicht und frei Zugang hat.

Demokratie Alle Menschen haben die gleichen Rechte und können die Gesellschaft betreffende Entscheidungen mitgestalten. Bürger*innenräte sollen die Meinung der Bevölkerung in der politischen Entscheidungsfindung vertreten.

Solidarität, Inklusivität & Verantwortung Die Menschen gehen achtsam miteinander und mit ihrer Umwelt um und schätzen die Unterschiedlichkeit und kollektive Freiheit. Es herrscht Einigkeit darüber, dass alle miteinander, wie auch mit der Erde als Lebensgrundlage, existenziell verbunden und voneinander abhängig sind. In der Verantwortung füreinander ist vorausschauendes Handeln grundlegend. Kollektiv, demokratisch und umsichtig wird darüber entschieden, ob und wie in die Natur eingegriffen wird.

91


Code: Arbeiten 20h - Woche und Freizeit

SCHLAFEN

Zierpflanz Biografie Fantasy Krimi

Be

Liebesroman Horror

Bibliothek Ratgeber

Historischer Roman

Science Fiction

Sachbuch

Thriller

Familie

Spazieren

Joggen

Bewegung Schwimmen

Kenn Entdecker Konstruktionssp Wahrneh Intelligenz-Spiele Sozialverwalter/in Klats Geschicklichkeit-Spiele Konzentr Radfahren Geländespiele Sozialmanagement Offline Vertrauensspiele Fachkraft - Pflegeassistenz ArkadespieleQuiz Assistent/in - Gesundheits- und Sozialwesen Heilerziehungspflegehelfer/in Ballspiele Adventure-S Brettspiele St Behinderung Erzieher/inSportlehrer/in Mathemat Musiklehrer/in Förderlehrer/in Musiker/in - Kirchenmusik Orthopädietechnik-Mechaniker/in Sozialassistent/in Pastor/in Erziehung, Schule, Sozialarbeit Religion Sozialpflege Verwaltungsfachangestellte/r Pflegefachmann/-frau Assistent/in - Gesundheits- und Sozialwesen Aus- und Weiterbildung Kosmetik, W Sozialpädagogische/r Assistent/in / Kinderpfleger/in Ältere Menschen Altenpflegehelfer/in Haus- und Familienpfleger/in Bestattungsfachkraft Tourismus Bestattung Gleisbauer*in Glaser*in Bodenleger*in Brunnenbauer*in Stuckateur*inAusbauKanalbauer*in Hardware Zimmerer*in Tiefbau Asphaltbauer*in Tischler*in Administration Wasserbauer*in Florist/in Buchhändle D Hotelfachmann /-frau Dachdecker*in Handel Koordination Architekt*in Leben HochbauMaurer*inVermessung Hotel Holzbauer*in Internet Koch / Köchin Gerüstbauer*in Vert Kundenbetreuung Elektroniker*in Programmierer*in Kaufmann /-fra Büchsenmacher/in Gebäudetechnik Haushalt Callcente Geoinformation Präzisionswerkzeugmechaniker/in Uhrmacher/in Mechatroniker*in Telefonist* Ernährung Feinmechanik Metallwerker/inMechatroniker Chirurgiemechaniker/in Bautechnik Sicherheit Fluggerätelektroniker/in Maschinen- und Anlagenbau BekleidungSchneider/ Automatisierung Energie Designer/in Schweißwerker/inAnlagenmechaniker/in Luft- & Raumfahrt Verund E Leichtflugzeugbauer/in Stanz- und Umformmechaniker/in Bogenmach Musikinstrumentebau Fluggerätmechaniker/in Bauzeichner/in Geigenbaue Handzuginstrumente Bauzeichner/in Wasserwirtschaft Holzblasinst Klempner/in Klavier- und Cembaloba Erneuerbare EnergienBaustoffprüfer/in Werkstoffprüfer/in ModellbauApparatebauer/in Metallbau Metallblasinstrumentenmach Bootsbauer/in Bautechnik Energietechnikmanagement Werkstofftechnik Konstruktionsmechaniker/in Orgelbauer/in Zupfinstrumente Technische/r Assistent/in - Metallografie/Werkstoffkunde

Soziales

IT, Computer, Digitalisierung

Laufen

FREIZEIT

% der Bevölkerung

Pflege

Rettungsdienst

Gesundheit

LOHNARBEIT 00:00

01:00

02:00

03:00

Wirtschaf

Bau

Elektro

Sport und Bewegung

BERUF

Dienstleistung

Architektur

Landwirtschaft, Natur, Umwelt

Therapie

04:00

Metall, Maschinenbau

05:00

06:00

07:00

Technologie 08:00

09:00

Dienstleis

Produktion

10:00

11:00

Die neuen 24 Stunden

In einer Gesellschaft, in der jede*r die Freiheit eines bedingungslosen Grundeinkommens genießt, scheint unser heutiges Verhältnis zur Arbeit überholt. Mittlerweile gibt es freiwillige, zusätzliche Erwerbsarbeit in einer 20-StundenWoche, die von der eigentlichen Berufung getrennt sein kann.10 Wir gehen davon aus, dass die 24 Stunden eines Tages in der Zukunft anders verteilt

92

sein werden. Den Menschen steht mehr Freizeit zur Verfügung und damit die Möglichkeit, den eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen nachzugehen. Daraus ergibt sich nicht nur eine zufriedene Bevölkerung, sondern Arbeit, die mit Leidenschaft getan wird und aus wirklichem Interesse wachsende Innovation hervorbringt.

12:


zen

NICKERCHEN

Botanischer Garten

Garten

ewässerung Erholung

r

Nutzpflanzen

ApnoeHochsprung Badminton Kickboxen TauchenTiefsee Boxen Fußball Mountainbike Kunstfahren Gehen Basketball Klettern Radfahren Billiard Inliner Rennen Sport Skispringen RennradTurnenDirtbiken Spaceball SkiTrickski Kegeln EinzelDLanglauf oppel Hochseeangeln Baseball Graveln MotoXEnduro Handball Angeln Judo Tischtennis Freeski Motorsport Skaten Armdrücken GolfBergsteigen Wandern SupermotoTrial BobEinzel Aerobic Gymnastik Doppel Sportgymnastik Karate RingenRythmische Biathlon Bergsteigen Erholung

Konsole Sportspiele Postspiel Shooter Virtual Reality nenlernspiele Rollenspiele Simulationen Brettspiele rspiele Online-Gaming Sudden-Life piel Play-by-E-Mail hmungsspiele Jump‘n‘Run Quiz Intelligenz-Spiele schspiel Strategie-Spiele e rationsspiele Sprachspiele Gesellschaftsspiel Legespiel e-GamingWürfelspiele Quiz zRollenspiele Geduldsspiele Spieöe Kartenspiele trategie-Spiele tische Rätsel

SCHLAFEN

Atelier Skulpturen

Museum

Kunst

Ausstellung

Online-Ausstellung

Skulpturengarten Museum Ausstellung

Heim-Kino

Komödie Bühnentänzer/in

Förderlehrer/in Heimerziehung

Spiel

Kinder und Jugendliche

Tanz

Erzieher/in

Studio Kerzenhersteller/in Pädagogik Metall- und Glockengießer/in

Theater

Kultur

Musik

Schauspiel

Konzert

Schauspiel Figurenkeramformer/in Musiklehrer/in Manufakturporzellanmaler/in Drechsler/in Graveur/in Goldschmied/in Online-Ausstellung Sozialpädagogische/r Assistent/in Kunsthandwerk Kino Party Band Bildhauer/in Party Denkmalschutz Keramiker/inGlasbläser/in Glasveredler/in Silberschmied/in Malerei Plastik Grafik Schauspieler/in Wellness Bühnentänzer/in Musiker/in - Kirchenmusik t Maler/in und Lackierer/in Kunst und Kultur Fotografie Design Literatur Gesang Museen Bühne und Theater Bühnentänzer/in Sänger/in Ensembleleiter/in Ensembleleiter/in Textillaborant/in Musik Veranstaltungsgewerbe Physik Pflanzentechnologe/-technologin Schmuck Musiker/in - Kirchenmusik Labor Werkstoffprüfer/in er/in Landwirtschaftlich-technische/r Assistent/in Musiklehrer/in Musikfachhändler/in Sänger/in Drogist/in Justiz Feuerwehr nsmittel Film Restaurierung Handwerk Denkmaltechnische/r Assistent/in Sozialverwaltung ArchivdienstRecht Handwerk Präparationstechnische/r Assistent/in Geologie Biologie Mathematik Design und Gestaltung Medizinische/r Sektionsund Präparationsassistent/in Vlogging triebVerkauf Wetterdienst Biologielaborant/in Medienkaufmann/-frau Digital und Print Flugdienstberater/inStatistik au Mediengestalter/in Digital und Maler/in Print und Lackierer/in Verkehrsflugzeugführer/in Fluggerätelektroniker/in Mediengestalter/in - Bild und Ton er Luftverkehrsassistent/in Buchhändler/in Luftfahrt Medientechnik *in Maskenbildner/in Fluggerätmechaniker/in Informatik (Medieninformatik) Kundenbetreuung Video-Journalist/in Video-Journalist/in Schauspieler/in Druck und MedienBuchbinder/in Kommunikationsdesigner/in Hafenschiffer/in Segelmacher/in audiovisuelle Medien Fischwirt/in Kaufmann/-frau - audiovisuelle Medien Medien /in Messemenagement Leichtflugzeugbauer/in Grafiker/in Wasserbauer/inSchifffahrtBootsbauer/in Mediengestalter/in - Bild und Ton Entsorgung Film, Funk und Fernsehen Eisenbahner/in - Betriebsdienst Schifffahrtskaufmann/-frau her/in Binnenschiffer/in Fachangestellte/r für Medien- und Informationsdienste Buchbinder/in Gleisbauer/in Papier er/in Schienen Technische Kommunikation und Dokumentation Papiertechnologe/-technologin enmacher/in Kaufmann/-frau Verkehrsservice Fotomedienfachmann/-frau trumentenmacher/in Archiv, Bibliothek und Dokumentation Medizinische/r Dokumentationsassistent/in Fachkraft - Fahrbetrieb Fruchtsafttechnik Designer/in - Foto Spielzeughersteller/in auer/in Mediengestalter/in - Bild undFachangestellte/r Ton her/in GetränkenDestillateur/in Holz Bootsbauer/in Tischler/in Zimmer/in Foto- und medientechnische/r Assistent/in für Medien- und Informationsdienste enmacher/in Holz- und Bautenschützer/in Foto Fotograf/in Journalismus, Redaktion Holzbildhauer/in Brauer/in und Mälzer/in Religion und Kirche

Kunst, Kultur, Gestaltung

g

Gestaltung

ft Verwaltung

Naturwissenschaften

:00

Verkehr

Logistik

stung

Medien

Fertigung

13:00

14:00

15:00

16:00

17:00

18:00

19:00

20:00

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22:00

23:00

00:00

„The acceptance of a degree of inefficiency often proved necessary to find new freedoms (…) Creating a system that destabilizes expectations and fosters encounters means letting go of the standard and allowing a certain discomfort or inefficiency to occur.“11

93


Code: Wohnen Sieben Thesen zum utopischen Habitat Die vorausgehend beschriebene utopische Imagination der Zukunft, mit ihrer Gesellschaft und Art der Arbeit wird nicht unmaßgebliche Veränderungen im Leben mit sich bringen. Diese wird sich sowohl auf architektonischem Maßstab als auch auf urbanem wie suburbanen Niveau niederschlagen. Die folgenden Thesen beschreiben unser utopisches Habitat Berlin. Könnten jedoch ebenso national oder gar global Anwendung finden.

0% Neuversiegelung & minimale Umweltbelastung Vorhandene Strukturen sind bauliche und damit kulturelle Ressourcen. Eine Aufwertung oder Umnutzung ist immer dem Abriss vorzuziehen.12

Leben an der Luft Frische Luft erweckt die Lebensgeister und erquickt die Seele. Den Menschen wird daher großzügig die Möglichkeit gegeben, ihr Leben draußen stattfinden zu lassen. Sich im Außen zu begegnen, zu spielen und auszutauschen.

Wohnrecht & Selbstverwaltung Alle Menschen haben das Recht auf Wohnraum. Wohnen ist für alle leistbar. Die Selbstverwaltung des Wohnraums ermöglicht einfache Zugänglichkeit und eine möglichst vielseitige Interessensvertretung.

Bodensicherung Eine umfassende Bodenreform übergibt den Boden schrittweise wieder in die Obhut der Stadt. Boden und Immobilie werden als getrennte Elemente gesehen (s. Abb. Boden-Diagramm und Transformationsmeilensteine ab Seite 96). Der Boden ist Gemeingut und so von Spekulation ausgeschlossen. Über Erbpacht und Konzeptvergabe wird er - an Community Land Trusts oder Mietshäusersyndikate gegeben. Diese entwickeln das Gebäude als Projekt in enger Rückkopplung mit Nutzer*innen,

94


Nachbarschaft und Stadtöffentlichkeit. Das urbane Akteur*innensystem wird durch eine Reihe von Komitees und Gruppen divers und offen gestaltet. Damit soll das Handeln nach singulären Interessen verhindert werden.

Vielfalt & Synergien durch Dichte In heterogener Mischung teilen sich eine Vielzahl der Menschen ihren Lebensraum. Daraus entstehen Synergien, die das Gemeinschaftsgefühl der Bewohnerschaft stärkt und dem Solidaritätsgedanken der Gesellschaft folgt.

Prosumerismus Die Gebäude werden zu Prosumenten, indem die notwendige Energie vor Ort erzeugt wird. Über gemeinschaftliche, dezentrale Micro-Stromnetze kann überschüssige Energie an die Nachbarschaft abgegeben werden.13

Am Menschen orientiert Gebäude und Stadt sind mit der Natur im Einklang und am menschlichen Leben orientiert. Letzteres bedeutet, dass sie dem menschlichen Maßstab entsprechen und an die vielfältigen Lebensentwürfe adaptiert sind.

95


Bodendiagramm

96


97


Meilensteine der urbanen Transformation

98


• 1

Vgl. Ehlers, M (2017). Was wäre, wenn Städte gut für das Klima

wären? Nie wieder abreißen. Was wäre wenn. https://www.wwwmag.de/debatten/beitrag/nie-wieder-abreissen [07.12.2020] 2

Vgl. Zeddies, L. A. (2021). Utopia 2048 (4. Aufl.). Norderstedt:

Books on Demand 3

Vgl. Latour, B. (2020). Das terrestrische Manifest (4. Aufl.).

Berlin: Suhrkamp Verlag 4

Vgl. Dion, C., Laurent, M. (2015). Tomorrow: Die Welt ist

voller Lösungen (Film) https://www.amazon.de/gp/video/detail/ B01M2WP0FI/ref=atv_dp_share_cu_r [25.04.2021] 5

Vgl. Klöckner, T. (2020). Kreisläufe schließen. In: Urania Berlin

e.V. (Hrsg.). StadtNatur - Berlin ökologisch denken. Berlin: Urania S. 35 - 37 6

Jan Gehl zitiert nach Dion, C., Laurent, M. a.a.O.

7

Vgl. Feyen, L., Steinert, S. (2020). was wäre wenn | Gesundheit.

Eine freie Versorgung für die Zukunft?. Detektor FM. https://detektor.fm/gesellschaft/was-waere-wenn-gesundheit [24.04.2021] 8

Williams, J. (2016). The ReSOLVE framework for a Circul-

lar Economy. The Earthbound Report. https://earthbound.report/2016/09/12/the-resolve-framework-for-a-circular-economy/ [24.04.2021] 9

Vgl. Kuhnhenn, K., Pinnow, A., Schmelzer, M. Treu, N. (2020). Zu-

kunft für alle. Eine Vision für 2048. Leipzig: oekom Verlag 10 Vgl. Bregman, R. (2019). Utopien für Realisten (16. Aufl.). Hamburg bei Reinbek: Rowohlt Taschenbuch 11 Persyn, F. (2016). Office+. 51n4e. https://www.51n4e.com/ reflections/office-climate-sensitive-workspace [25.04.2021]. 12 Stumm, A. (2021). Die Moderne ökologisch umbauen. Zur Nicht-Debatte über das Arabellahaus in München. Baunetz. https://www.baunetz.de/meldungen/Meldungen-Zur_Nicht-Debatte_ueber_das_Arabellahaus_in_Muenchen_7549871.html [25.04.2021] 13 Vgl. Gameau, D. a.a.O.

99


Was wäre, wenn allen die Produktion positiver Zukunftsvisionen offen stünde? Wir haben die Kinder der Thalia-Grundschule in Kreuzberg gebeten, ihr Berlitopia in einem Bild festzuhalten. Das kreative Potenzial und die verrückten Ideen der Kinder dienen als Beitrag zur Bereicherung unserer Utopie. Im beigelegten Heft finden sich ihre Bilder und Geschichten. 100


Quelle: Haus-Rucker-Co (1986). Flyhead. Foto: Winkler, G. Spatial Agency. https://spatialagency.net/database/haus-rucker-co [16.01.2021]

EXKURS: BERLITOPIA

101


Was bedeutet die Imagination dieser nachhaltigen Zukunft mit sozialer Verantwortung und Solidarität für die Architektur? Im folgenden Kapitel soll der Kreis zum ehemaligen Postscheckamt als beispielhaftes Transformationsobjekt geschlossen werden. Das Fazit reflektiert die Ergebnisse der Arbeit und eröffnet abschließend einen kleinen Ausblick über die Möglichkeiten der Methodik. 102


Quelle: Wines, J. & SITE (1981). High Rise of Homes. Behance. https://www.behance.net/gallery/8440373/High-rise-of-Homes [17.04.2021]

FRAGMENT UNSERER UTOPIE

103


Das ehemalige Postscheckamt als Projektionsfläche

Utopisches Fragment Projektionsfläche Postscheckamt Das ehemalige Postscheckamt in Kreuzberg eignet sich nicht nur wegen seiner reichen Wandlungsgeschichte ideal als Projektionsfläche für unsere mögliche unmögliche Vision. Durch seine Omnipräsenz im Berliner Stadtraum bietet es sich als weiße Leinwand in unserem Experiment

104

an. Anhand dieses Gebäudes soll beispielhaft die Transformation gezeigt werden. Was bedeutet die Imagination einer positiven Zukunft für die Architektur? Welche Möglichkeiten eröffnen sich? Wie kann die Architektur selbst rekonfigurierbar


und ein Verhandlungsort über die Zukunft sein? Der Code der imaginierten Zukunft soll in einem exemplarischen Stegreifentwurf sichtbar gemacht werden. Dabei wenden wir das Gedankenexperiment der Utopie auf die Architektur an und untersuchen, was es bedeutet, sie in der

Metaebene als Instrument zu verwenden. Nicht zuletzt wollen wir aufdecken, wie zukunftsfähig Architektur ist, wenn man der Integration in eine zukünftige Gesellschaft einen höheren Wert beimisst, als der tatsächlich gebauten Realität.

105


Öffentlichkeit Zur späten Mittagszeit ist am meisten los auf der vertikalen Promenade. Einige kommen gerade vom Sport und holen sich noch eben eine Erfrischung beim Späti, um dann gemeinsam auf Bänken zu sitzen und in die Weite zu schauen. Andere sind zu spät für ihre Verabredung im Kino und nehmen hastig jede zweite Treppenstufe. Wieder andere warten in der DrohnenStation auf ihr Paket oder steigen in ein Lufttaxi. Das Gebäude surrt voll umtriebigem Leben. Nur an manchen Ecken scheint die Zeit still zu stehen. In die analoge Bibliothek dringen kaum Geräusche des Treibens. Eine Bewohnerin liest Kindern Abenteuergeschichten vor, während oben, weit oben auf dem Dach getobt wird. An allen Ecken und Enden lässt sich etwas Neues entdecken, sodass es sich wunderbar entlang der Fassade flanieren lässt, während über einem die nächsten Balkone schweben. 106

Öffentlichkeit


107


Menschlicher Maßstab und vertikaler Kiez Eine Stadt bedeutet mehr als nur Dichte. Stadt ist: in Schaufenster schauen, auf Stufen sitzen, auch einmal in einer Schlange warten oder sich zufällig überrumpeln. Diese unterschiedlichen Arten der Reibung und Transgression, die das städtische Gefüge ausmachen, können in einem monofunktionalen Hochhaus kaum geleistet werden. Der Turm muss demnach an den menschlichen Maßstab und die menschlichen Sinneswahrnehmungen angepasst werden. Um Menschen zu begegnen sollen die richtigen Räume dafür geschaffen werden. Auf eine Entfernung von rund 100 m lassen sich ansatzweise Bewegungen und Körpersprache deuten. Weitere Details wie Alter, Geschlecht oder Haarfarbe werden erst ab einer Entfernung von 50 bis 70 Metern möglich. Um Emotionen zu erkennen ist eine Distanz von 22 bis 25 Metern notwendig. In diesem Bereich ist die Person, wenn sie mit lauter Stimme spricht, auch schon hörbar. Echte Gespräche werden schließlich ab einer Entfernung von 7 Metern möglich. Je geringer der Abstand, desto intensiver kann die Begegnung sein. Man nimmt Gerüche wahr, erkennt liebevolle oder zornige Blicke oder kann sich berühren.1 Um diesen Austausch zu provozieren, soll der Turm kleinteiliger werden und komplexere Begegnungsflächen anbieten, als lange Büroflure oder dunkle Fahrstuhlvorräume es vermögen. Daher wird in einem ersten Schritt, in Anlehnung an die Berliner Blockbebauung mit festgelegter Traufhöhe, das Gebäude in vier Blöcke unterteilt. Diese Gliederung bricht mit dem ursprünglich stark vertikal gerichteten Turm und zoniert die Großform. Ein Block umfasst jeweils ein öffentliches Geschoss unten und vier weitere Ebenen des Wohnens darüber. Durch dieses neue Straßenniveau können zusätzliche Sichtbezüge hergestellt werden.

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Simultan zur vertikalen Blockidee wird in einem nächsten Schritt das Gebäude mit Höfen und weiteren Begegnungsflächen durchzogen. Diese erinnern traditionell an die horizontale Aneinanderreihung der (oft produktiven) Hinterhöfe ehemaliger Mietskasernen. So wird das ehemalige Postscheckamt durch die vertikale Stapelung von Wohnblocks plus die Aneinanderreihung von öffentlichen Plätzen und nachbarschaftlichen Hofsituationen zu einer porösen Struktur. Es zeigt sich damit ein, für die Nutzer*innen apropriierbares, Gebäude - als vertikales Stadtfragment.

• 1

Vgl. Gehl, J.,Wiethüchter, A. (2019). Städte für Menschen (5.

Aufl.). Berlin: Jovis Verlag, S. 51


Ist-Zustand: erschwerte Sinneswahrnehmung

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Berliner Altbau und Hinterhöfe

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Transformation: vertikale Blöcke und Höfe ermöglichen menschliche Sinneswahrnehmung

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Vertikale Straßen Die vertikale Schichtung der Blöcke ermöglicht eine konsequente Durchlässigkeit und Öffnung des Gebäudes, nicht nur für die Nutzer*innen, sondern auch für Besuchende. Wenn die Stadt in die Vertikale wächst, braucht es auch vertikale Straßen und Wege. Wir greifen dabei auf das Prinzip der Streets in the Sky von Alison und Peter Smithson1 zurück. Dem Gebäude wird ein Erschließungsgerüst als verbindendes Element vorgelagert. Darin bilden zwei Ebenen aus Balkonelementen und Treppen ein minimal-hierarchisches Erschließungsprinzip: Am äußeren Rand des Regals führt die breite Promenade bis aufs Dach, verbindet so die öffentlichen Geschosse und bildet kleine Vorplätze aus. Dahinter liegen schmalere Wege, die in Nischen Treffpunkte für die Nachbarschaft bieten und den Bewohner*innen als Shortcuts zu den umliegenden Geschossen dienen sollen. Sie unterstreichen den Gedanken der Solidarität und Kollektivität, welcher die Gesellschaft der Zukunft prägt und daher maßgeblicher Bestandteil des Gebäudes ist. Die Treppen führen vom Erdgeschoss und dem dreigeschossigen, öffentlichen Sockel über die gestapelten Blöcke bis auf die öffentliche Dachfläche, ohne Notwendigkeit das Gebäude zu betreten. Sie können daher beinahe wörtlich als vertikale Straßen verstanden werden.

• 1

Borges, J.C., Marat-Mendes, T. (2019). Walking on streets-in-

the-sky: structures for democratic cities. In: Journal of Aesthetics & Culture, 11:1. https://doi.org/10.1080/20004214.2019.1596520 .8 [02.05.202]

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Erschließungsstruktur

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Räumliche Schichtung und soziale Interaktion Beide Treppenstrukturen finden dennoch immer wieder Überschneidung und erzeugen Reibungsfläche für die soziale Interaktion der Nutzer*innen. An die Erweiterung der öffentlichen Podestflächen angeschlossen, liegen Blumenladen, Friseursalon, Kneipe oder Späti sowie Versorgungsstrukturen wie Apotheke und Pflege oder nachbarschaftlich nutzbare Fahrradstellplätze. Das Erschließungsgerüst soll das Gebäude für die Öffentlichkeit permeabel machen. Gleichzeitig vermitteln die geteilten Infrastrukturpunkte im Zwischenraum Anreiz zur Nutzung der Treppen. Öffentlichkeit und Nachbarschaft liegen eng aneinander und können vom regen sozialen Austausch profitieren. Generell dreht sich beim Wohnen und Leben im Turm alles um Durchmischung, Vielfalt und Interdisziplinarität. Dies umfasst nicht nur die Nutzungsmischung (verschiedener öffentlicher Funktionen), sondern auch Bewohner*innen unterschiedlicher Herkünfte, Altersklassen, Lebensstile oder Interessen. Vier öffentliche Sockel und das Dach bieten Raum für die unterschiedlichsten Nutzungen. Jede Fläche organisiert sich um eine gemeinschaftliche Katalysator-Nutzung, die das Herzstück des jeweiligen Geschosses bildet und die umliegenden Aktivitäten zusammenbringt.

Räumliche Schichtung

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Grundriss 3. Obergeschoss: Kollektiv / Produktiv

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Grundriss 8. Obergeschoss: Kollektiv / Leben

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Grundriss 13. Obergeschoss: Öffentlich / Produktiv

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Grundriss 18. Obergeschoss: Öffenlich / Leben

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Grundriss Dach: Öffentlich / Leben

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Wohnen Eine bunte und laute Nachbarschaft mischt sich unter die Öffentlichkeit. Sie tummeln sich vor ihren Wohnungen, sitzen auf den Treppenstufen, reparieren ihre Fahrräder. Ein paar Kinder spielen Fangen. Der nachbarschaftliche Pflegedienst ist gerade zu Besuch in der Senioren-WG. Von oben hört man die schrägen Töne eines übenden Saxophonisten. Die Trennwände zu den Balkonen sind meistens geöffnet, sodass das Leben sich bis auf den Laubengang erstreckt und zum großen Teil wieder an der frischen Luft stattfindet. Die Bewohner*innen leben in Selbstverwaltung. Jede*r kann sich eine Wohnung leisten und Teil der Nachbarschaft sein.

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Nachbarschaft


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Mischung Jeder der vier Blöcke umfasst vier Wohngeschosse, die vom westlichen Laubengang erschlossen werden. Die durchgesteckten Wohnungen orientieren sich mit den ruhigen Bereichen vorrangig nach Osten, während Küche, Ess- und Wohnraum im Westen liegen. Das Rückgrat, im Kern der Wohngeschosse, bilden Nassbereiche und Lagerräume. Zu beiden Längsseiten öffnen sich die Wohnungen großzügig zur Umgebung: Eine flexible Faltwand aus Polycarbonat ermöglicht entweder die Erweiterung des Wohnraums in Richtung des Regals oder kann als Puffer genutzt werden. Auf der Ostseite des Gebäudes macht die bodentief verglaste Fassade das Private für die Stadt sichtbar. Sowohl auf typologischer, wie auch auf der Gebäudeebene steht die vielfältige Mischung im Vordergrund. Sechs Typologien ermöglichen eine heterogene Struktur der Nutzer*innen. Die unterschiedlichen Größen und Arten der Apartments - von 52 bis 309 m2 und von SingleApartments bis zu WG-Clustern - bieten Platz für diverse Lebensentwürfe. Gleichzeitig sind die privaten Räume eher kompakt und animieren zur Nutzung der kollektiven Nachbarschaftsflächen und Außenräume. Rund 60 Wohnungen, die blockweise bunt zusammengestellt werden, stärken in ihrer Dichte und in der Überlagerung gemeinschaftlicher Flächen das heterogene Nachbarschaftsgefüge. Es gibt viele größere Wohnungen, die Platz für gemeinschaftliche Wohnformen bieten. Ob Familien-WGs, Cluster- oder betreutes Wohnen - jede Person kann das eigene Zimmer als Rückzugsort genießen und hat dennoch die Möglichkeit gemeinschaftlich zu wohnen.

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Jede Nachbarschaft verfügt außerdem über zwei Joker-Räume, mit eingebauter Nasszelle und Küchenzeile, die wahlweise hinzugemietet oder an Gäste vergeben werden können.


Typologische Mischung

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Synergien Der solidarische Grundgedanke der Gesellschaft, die heterogene Bewohnerschaft, alternative Wohnformen sowie die räumliche Dichte ermöglichen Synergien zwischen den Nutzer*innen, die das soziale Gefüge stärken. So kann u.A. ein interdisziplinärer Austausch von Wissen stattfinden. Darüber hinaus können sich unterschiedliche Denk- und Lebensweisen gegenseitig befruchten und unterstützen. Wir gehen von einer solidarisch organisierten Zukunft aus, in der Alte und Kranke weiterhin Teil des gesellschaftlichen Lebens bleiben können und in der Pflege und Fürsorge innerhalb der Nachbarschaft stattfindet.

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Gäste Besuchende Betreibende Interessierte Angestellte

Einkaufen, Schwimmen, Besuchen, Fußball, Veranstaltung...

Nutzungssynergien

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Wohngeschoss 4 / 10 / 16

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Wohngeschoss 5 / 9 / 17 / 21

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1:200 135


Wohngeschoss 6 / 12 / 14 / 20

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Wohngeschoss 7 / 11 / 15 / 19

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Natürliche Lüftung

Sichtbarkeit

Nutzungshierarchie

Schnittperspektive: Ausschnitt Wohnen

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Öffentlich

Puffer

Gemeinschaftlich


Privat

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Zukunft verhandeln Während man durch das Grün streift, vorbei an Feldern und Gärten, nähert man sich langsam dem Gebäude, welches von jedem Blickwinkel anders auszusehen scheint. Es ist offen und ehe man sich versieht, ist man schon hindurch gegangen. Unten sitzt eine Gruppe von Menschen und diskutiert angeregt. Immer wieder fallen die Worte „Zukunft“ und „was wäre, wenn...?“. Auch im Park herrscht reges Treiben, einige Menschen sitzen am Wasser und lassen ihre Füße im klaren Wasser baumeln. Im ersten Stock scheint es ein Konzert zu geben. Durch die Fenster sieht man die Hand des Dirigenten rhythmisch auf und ab huschen. Vor dem Berufungsamt im zweiten Geschoss steht eine Menschenmenge. Gerade erzählt eine Frau mit leuchtenden Augen: „Ich möchte einen Flugroboter bauen, der Müll anzieht!“ 142

Sockel


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Sockel und Freiraum Der dreigeschossige Sockel fungiert als Schnittpunkt und Kommunikationselement zwischen der Stadt und dem Gebäude. Der Devise der nullprozentigen Neuversiegelung folgend, wird die Freifläche rund um das Gebäude als Park, Garten-, Naherholungs- und Spielfläche genutzt. Alle drei Geschosse tragen vorrangig öffentliche Nutzungen. Im Erdgeschoss übernimmt das Café gleichzeitig die Rolle eines Treffpunktes und Portiers. Für die Gestaltung der Zukunft steht die ständig und für alle geöffnete Fläche rund um das Café als Diskursraum zur Verfügung. Hier kann über die Zukunft von Gebäude und Stadt diskutiert und verhandelt werden. Außerdem sind zwei flexibel nutzbare Veranstaltungssäle Bestandteil des Konzepts. In der Gesellschaft von Morgen, in der das bedingungslose Grundeinkommen die Notwendigkeit der Erwerbsarbeit drastisch reduziert hat, gewinnen Tätigkeiten, die mit Leidenschaft getan werden immer mehr an Bedeutung. Was man 2021 als Arbeitsamt kennt, wird durch das Berufungsamt ersetzt. Im zweiten Stock des Gebäudes können dort, im analogen Gespräch, die eigenen Interessen eruiert werden. Das Amt steht in engem Kontakt zu den Werkstätten und Manufakturen des Gebäudes und der Stadt, sodass mögliche Berufungen direkt getestet werden können. Als öffentliches Verwaltungsorgan zieht das Berufungsamt darüber hinaus Publikumsverkehr an und macht auf diese Weise das Gebäude in seiner Funktion abermals für die Stadt sichtbar.

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Schnittperspektive: Ausschnitt Sockel


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Grundriss Erdgeschoss

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Grundriss 1. Obergeschoss

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Grundriss 2. Obergeschoss

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Querschnitt

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Querschnitt Zoom-In

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Blick von Westen

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Ausblick und Fazit Über das Postscheckamt hinaus Aus den oberen Geschossen des Turms fällt der Blick auf die Stadt - auf die umliegenden Kieze und in die weite Ferne. Im Umkehrschluss bedeutet dies auch die Sichtbarkeit des Gebäudes von vielen Orten, die uns unter Anderem zum Titel der Arbeit geführt hat. Mit dieser Sichtbarkeit geht darüber hinaus auch eine gewisse Leuchtturmwirkung des Projekts einher, die uns über die Tragweite der Entwurfsprinzipien nachdenken lässt. Das Projekt soll einen Beitrag für eine bessere, aus unserer Sicht lebenswertere Welt zu leisten. Auch wenn wir eine schöne, neue Welt (Vgl. Huxley1) zeichnen, fordern wir, in ihren Grenzen und unserer eigenen Befangenheit, Reaktionen heraus. Wir stellen Thesen auf und möchten Themen anschneiden, die polarisieren dürfen. Was die Arbeit vor allen Dingen bezwecken soll, ist die Eröffnung des Diskurses über die Zukunft. Wie wollen wir leben? Und welche Rolle spielen wir als Architekt*innen in der Gestaltung dieser Zukunft? Nach der exemplarischen Transformation des Gebäudes bleibt die Frage, was dieser Wandel für die Umgebung bzw. die Stadt bedeuten kann? In der Veränderung der Art und Weise wie wir leben und arbeiten, aber auch mit einer voranschreitenden Transformation des Stadtraums, wird viele Gebäude in Berlin, Hochhäuser und Bürotürme, in der Zukunft unter Umständen ein ähnliches Schicksal, wie das ehemalige Postscheckamt ereilen.

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In der Sichtbaren Stadt haben wir uns gefragt, welchen Einfluss positive Zukunftsvisionen auf die Architektur haben. Der vorangegangene Entwurf soll dabei den Möglichkeitsraum verdeutlichen, welcher sich durch die Imagination der Zukunft ergibt. Als Reallabor für die Zukunft und gleichzeitig Transformationsobjekt sprechen wir uns damit für eine Imagination der wünschenswerten Zukunft aus. Eine Erprobung dieser Methode an anderen Standorten der Stadt und die Erweiterung der Transformation zu einem Netzwerk aus utopischen Fragmenten wäre denkbar und sicherlich interessant. Damit würde die Transformation als pars pro toto für die zukunftsfähige Wandlung der Stadt stehen.


Ausblick Süd-Ost

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„Without collaboration there can be no invention“

2

Wie bereits erwähnt, durchzieht die Arbeit unweigerlich ein persönlicher Bias. Um an das Zitat Rem Koolhaas’ anzuknüpfen, wäre es daher ratsam und wichtig eine Vielzahl unterschiedlicher Akteur*innen in die Produktion von Zukunftsvisionen einzubeziehen. Mit den Kindern der Utopie (siehe beiliegendes Heft) haben wir versucht ein Exempel zu statuieren, welches die Schüler*innen der Thalia Grundschule in Kreuzberg mit Bravour gemeistert haben. Wir waren überrascht und überwältigt von der Menge an gleichsam wahnwitzigen, wie innovativen Ideen der Kinder, die uns auf eine wunderbare Zukunft hoffen lassen. Wir sind der Meinung, dass Visionen im Zusammenwirken vieler Köpfe entsteht. In einer weiteren Untersuchung wäre es interessant, weitere Menschen in die Gestaltung mit einzubeziehen, um ein vielschichtiges, diverseres Zukunftsbild zu erhalten. In unserem Plädoyer für das mögliche Unmögliche haben wir versucht, die Grenzen der Planbarkeit zu testen. Doch - wie können wir für eine Zukunft planen, von der wir nicht wissen, wie sie aussehen wird? Indem wir uns ein subjektives Bild des wünschenswerten Morgen machen, fällt es uns leichter für die darin lebende Gesellschaft zu planen. Dass unsere Vorhersagen falsch sein können und vermutlich niemals exakt auf diese Weise eintreffen werden, bedeutet auch, dass Architektur zukunftsoffen und flexibel sein muss, um handlungsfähig zu bleiben. Es genügt nicht, ein Gebäude für ein bestimmtes Szenario auszustatten bzw. es dementsprechend zu transformieren. Stattdessen muss die Transformation als Prozess gesehen werden,

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dessen Ausgang nicht determiniert ist. Wir müssen in der Planung daher Aktionsspielraum für Veränderungen lassen. Architektur muss nicht nur transformiert werden, sondern transformativ bleiben. Sie muss Reibungsfläche und Raum zum Diskurs bieten. In der Sichtbaren Stadt, in den Krisen und der Notwenigkeit der Utopie sowie im abschließenden Entwurf haben wir die Methode der Imagination angewendet und getestet. Sie hat uns zu einem Ergebnis geführt, welches wir als möglich unmöglich beschreiben würden. Für die Transformation zur Stadt von Morgen plädieren wir für motivierende Ideen, mutmachende Visionen und für utopische Wirklichkeiten.

• 1

Huxley, A. (1983). Schöne neue Welt: Ein Roman d. Zukunft. (6.

Aufl.). Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 2

Koolhaas, R. (2021). The Future of Progress. Auf dem F.A.Z.

Kongress am 12.03.2021. FAZ. https://www.faz.net/aktuell/fazkongress-zwischen-den-zeilen/rem-koolhaas-the-future-of-progress-17240925.html [08.04.2021]


Ausblick Nord-West

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„Danke“ möchten wir an dieser Stelle all den Menschen sagen, die uns durch diese Zeit der Masterthesis begleitet und unterstützt haben: Jörg, Jan, Lea, Andy, Uli, Yannick, Ayi, Lukas, Olli, Georg, Laura, Linda, Paolo, den zwei SchmidtFamilien und natürlich den Thalia Kids.

Begleiterscheinungen der Masterthesis: Zoom Calls, Covid-Tests, 5 Umzüge, 1 Hackerangriff, Wut, Freude, Schöpferische Hochs, Dank, Erschöpfung, Diskussionen, Spaß, Kreativität ... 160


Quelle: OMA, Zenghelis, Z. (1976) The City of the Captive Globe. Il Mitte Berlino. https://ilmitte.com/2014/07/museo-architettura-postmodernismo/ [17.04.2021]

ZUM SCHLUSS

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