A1 leseheft cuenca

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João Paulo Cuenca

Mastroianni.

Ein Tag Roman Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Michael Kegler

Leseprobe, Portrait & Gespräch

Impressum © für diese Ausgabe A1 Verlag 2013 © João Paulo Cuenca Das Buch erscheint am 28. August 2013 ca. 144 Seiten, gebunden, ca. 16,90 R [D] / 17,40 R [A] ISBN 978-3-940666-43-7

Hippmannstraße 11, 80639 München Telefon 089-17 11 92 80, Telefax 089-17 11 92 88 info@a1-verlag.de, www.a1-verlag.de

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Foto: Jorge Bispo

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João Paul Cuenca, 1978 in Rio de Janeiro geboren, schreibt Romane, Theaterstücke und Drehbücher. Das renommierte Literaturmagazin „Granta“ wählte ihn 2012 auf die Liste der 20 besten jungen brasilianischen Autoren. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er als Kulturjournalist für verschiedene brasilianische Medien. Er lebt in Rio de Janeiro.

Der Übersetzer: Michael Kegler wurde 1967 in Gießen geboren und hat einen Teil seiner Kindheit in Liberia und Brasilien verbracht. Er arbeitete als Buchhändler und Journalist und übersetzt seit Ende der Neunzigerjahre aus dem Portugiesischen, u. a. José Eduardo Agualusa, Michel Laub und Luiz Ruffato.

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Zum Inhalt „Wie viele Minuten in deinem Leben gibt es, über die du sagen kannst, dass wirklich etwas passiert ist?“ Mit diesen Worten weckt Pedro Cassavas seinen Freund Tomás Anselmo, dessen Name nicht zufällig an Guido Anselmi erinnert, den gescheiterten Regisseur aus Fellinis Meisterwerk „8 ½“. Nur dass Anselmo ein ganz gewöhnlicher Looser ist und Pedro Cassavas ein Möchtegern-Flaneur, Möchtegern-Dandy, Möchtegern-Schriftsteller, der sich seiner eigenen Existenz versichern will.

Ein Tag irgendwo in der Stadt, keine vierundzwanzig Stunden, in denen Trugbilder und Inszenierungen ineinander verschwimmen, im trüben Scheinwerferlicht einer stilisierten Welt aus Karaokebars, Barbierläden, Hotelzimmern und Villen, durch die Pedro Cassavas, Tomás Anselmo, Verônica und die „süße Maria“ ihre Spur von Exzess und Verzweiflung ziehen.

Die Protagonisten zitieren, loben sich selbst und geben sich in ihrer grenzenlosen Selbstdarstellung der Lächerlichkeit preis – immer auf der Suche nach Sinn, Sinnlichkeit und dem perfekten Moment.

João Paulo Cuenca erzählt mehr als eine Geschichte. Expressiv und ironisch schildert er das Lebensgefühl einer Generation, genauer, die Klischees einer Generation, die sich vor Idolen und Vorbildern nicht mehr retten kann und aus lauter Furcht vor Gemeinplätzen sich untrennbar mit diesen vermischt.

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Leseprobe

Mastroianni-Tag – [Adj.]: Lt. Großwörterbuch (von Marcello, it. Schausp., 1924-1996) ein spielerisch in Begleitung schöner Mädchen flanierend und frei von jeder Zweckbestimmung den Launen der Umstände folgend vergeudeter Tag. Unabdingbares Zubehör eines klassischen „Mastroianni-Tages“ sind Anzug, Sonnenbrille und vorzugsweise Hut. Außerdem, lt. einigen Lexikografen: zwanghafte Selbstbeweihräucherung, die Einnahme von Dry Martini und/oder Gin-Tonic, Pferdewetten, Anflüge von metaphysischen Krisen sowie die Anwesesenheit bei Gesellschaften und Parties, ohne eingeladen zu sein.

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12:58 Während träge Kathodenstrahlen in Grautönen Bilder auf den Fernsehschirm malen, reicht mir Tomás den Schlauch mit dem Mundstück und umgekehrt, bis sich aller Tabak in Rauch und einer Ansammlung unmotivierter Neuronen aufgelöst hat. Ich hebe an zu einem langweiligen Monolog über eine Filmsequenz, begeistere mich für ein Detail, was Tomás, dessen Kopf mit Blick zur Decke im Sofa versinkt, mit vollkommener Gleichgültigkeit honoriert.

Als ich innehalte, um einen Schluck zu trinken, erwacht er aus seiner Lethargie. „Ich muss jetzt wirklich was essen“, sagt er und reckt den Hals, als müsse er Worten aus dem Mund eines unsichtbaren Wesens lauschen, das sich vor ihm aufgebaut hat. „Trink noch ein Bier, während ich duschen gehe.“ „Duschen? Um diese Zeit?“ Tomás, viel anfälliger als ich für diese Art von Tätigkeit, verliert jedes Mal komplett das Gefühl für Zeit und Raum – oder löst sich aus der kollektiven Wahrnehmung von Zeit und Raum in den Filmen oder der Leute dort draußen – und verkriecht sich in einer von Rauch angetriebenen Konstruktion aus Zahnrädern, Federn und Pendeln. Die Zeit zwischen dem Gedanken daran, nach der Bierdose zu greifen, und dem nach der Bierdose Greifen selbst, wird derart verdunkelt von einem chemischen Dämon, dass an etwas zu denken dasselbe Gewicht bekommt wie die Tätigkeit selbst. „Habe ich meinen Arm bewegt oder nur daran gedacht, meinen Arm zu bewegen?“ Also nimmt sich Tomás vor, nach der Bierdose zu greifen und zu trinken, doch Sekunden später weiß er schon nicht mehr, ob er bereits getan hat, was er tun wollte, oder alles nur Einbildung war, und verbringt ganze Augenblicke oder Stunden in diesem existenziellen Stotterzustand, ohne auch nur an dem Bier zu nippen, bis ich zurückkomme und er aufhört, 5

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die Risse an der Zimmerdecke anzustarren, und mich endlich wahrnimmt: „Dandy! Schwuchtel!“ Ich komme in einem Nadelstreifenanzug aus dem Flur. Anselmo lacht laut auf und grinst: „Glaubst du, du bist Claudia Cardinale, du Schwachkopf?“ „Warum soll ich mich nicht nett anziehen? Und eines ist klar, mein Lieber, ein eleganter Mann wie ich jetzt sollte nicht mit einem abgerissenen Typen wie dir gesehen werden.“ „Aber ich bin nicht schwul. Deine Klamotten passen nicht zu mir. Weil ich groß bin, und du bist klein!“ Und wieder lacht der arme Kerl in seiner abgewetzten Bermuda, dem T-Shirt aus dem Wahlkampf irgendeines Parlamentsabgeordneten und mit schwarzen Plastikbadelatschen an den Füßen hemmungslos.

Bevor ich auf einem Paar Italienern nach draußen schwebe, greife ich mir noch einen Panamahut und eine dunkle Sonnenbrille vom Tisch neben der Tür. „Aber jetzt.“ „Oscar Wilde, wie er im Buche steht.“ Die badelatschigen Sprüche des bekifften Tomás lassen mich ihn zur Strafe und mit der Aussicht auf Mittagessen über die Straße schleifen zu einem gewissen Maison aus perlenverziertem Marmor. Nachdem wir den Boulevard des Capucines heruntergelaufen sind, durch romanische Bögen und shintoistische Portale, gehen wir drei Treppen in einem Einkaufszentrum in die Tiefe und gelangen in einen weitläufigen Salon, in dem über Kilometer von entlang der Wände verlaufenden Stangen Kleidung hängt.

Alles beleuchtet von weißem Scheinwerferlicht und Reflektoren. „Genau so möchte ich meinen Freund“, sage ich der Verkäuferin und halte ihr Jackie O. unter die Nase. Das Mädchen schnipst mit den Fingern und ruft zwei Kolleginnen herbei. „Was soll das, Pedro?“, flüstert Tomás, und dann mit unglaublicher Affektiertheit: „Cazzo!“ Ich antworte: „So ist das Leben.“ „Versteh einer die Weiber!“ 6

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„Buñuel, Éluard … Jorge Ben!“ Oder auch: „Es soll überhaupt nichts, Anselmolein.“ Unterstützt von zwei sehr rothaarigen, in Tweedkostüme gezwängten Nymphen mit Pferdeschwänzen und schüchternen Füßchen in roten Pumps Größe vierunddreißig, wird mein noch immer in Trance befindlicher Freund ausgezogen und wieder eingekleidet, wie ein gerade ins Krankenhaus eingelieferter Patient. Die Verkäuferinnen achten nicht im Geringsten auf die Privatsphäre ihres besonderen Kunden und reißen immer wieder die Tür der Umkleidekabine auf, in der Hoffnung, etwas von der bis dahin erst wenig gewürdigten Nacktheit meines Freundes zu erhaschen.

Ich schlage auf einer Chaiselongue meine Beine übereinander und schaue all dem mit dämlichen Grinsen zu. Ich überlege mir, eine Zigarre anzuzünden und gleich hier zu rauchen, dann aber fällt mir ein, dass ich gar keinen Tabak rauche. Ich kneife die Augen zusammen und halte Daumen und Zeigefinger zu einem „L“ ausgestreckt vor mein Gesicht, simuliere eine Kameraeinstellung, die es nie geben wird.

Und dann würde ich Plattitüden schreiben wie: „Ich lebe eine fiktive Illusion, die nicht nur autobiografisch, sondern vor allem filmisch ist und mir selbst mein eigenes Leben erzählt (die Bar, den Friseurladen, diese Boutique). Ich lebe das Leben, das ich erzähle, und sehe das, was ich lebe in Echtzeit und 16:9, während ich bei vollem, glasklarem Bewusstsein der „junge“ Pedro Cassavas zu sein, die Straße entlanggehe, um die Ecke biege, ein neonbeleuchtetes Aquarium betrete und dort in sepia gefärbtem Gegenschnitt meinen Freund (ein großes Kapitel dieser Biografie!) Tomás Anselmo erblicke, der von zwei gut ausgestatteten Damen eingekleidet wird. Und wer weiß, ob sie nicht irgendwann staunend mein Bild in der Zeitung entdecken, und dann wird die eine die andere antippen und flüstern: „Den Typen kenne ich doch, er war doch mal bei uns im Laden?!“ Und dann werden sie meinen Namen erfahren, „Pedro Cassavas“ in Anführungszeichen, wie den Namen eines irgendwie Legendären, eines Abenteurers und Globetrotters und …“ 7

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Aber natürlich strebe ich überhaupt gar nichts an. („Diplomatie des Diplomaten!“) Bin zu gar nichts bereit. („Regierungssubventionen in Paris!“) Und kenne die Freude über einen verwirklichten Plan nicht.

In dem Moment, in dem mir diese byzantinische Weisheit bewusst wird, bin ich Tomás, der keine Ahnung hat, ob das, was er getan hat, Realität ist: Zwischen der Zeit der Protagonisten und meiner eigenen klafft eine Pause des Schweigens, eine Lücke in der Handlung. Ich bin allein auf der Welt, abgetrennt von den anderen, sitze in der Tiefe des Raums und bin Zuschauer dessen, was nie geschah (mich inbegriffen), alle Szenen sind schon gedreht und geschnitten.

Und dann würde ich schreiben: „Ich lebe meine Vergangenheit, habe aber keinen Zugang zu dem Teil von mir, der die Zukunft kennt, in der jener Mensch, der ich jetzt bin, sich befindet und erschrocken, die Hände in den Hosentaschen, zurückschaut!“ Und: „Es ist alles Erinnerung, und alles ist noch nicht geschehen!“ Oder: „Ich habe nichts zu sagen, aber ich sage es trotzdem!“ Tomás’ alte Klamotten bleiben in einer Tüte zurück, die eine der Krankenschwestern mit spitzen Fingern aufnimmt und mit dem Blick einer Sphinx fragt: „Das hier kann ich wegschmeißen, jaaa?“ Wir gehen hinaus ins Faubourg, pfeifend und in Tomaten beißend, elegant in gerade Hosen gekleidet, deren Saum genau über den spitzen Schuhen endet. Tomás trägt einen hellen Anzug, wie ein mediterraner Kellner, im Kontrast zu meiner eher dunklen Aufmachung. Zwei Straßenecken und eine Fußgängerbrücke weiter beginnt sich mein Freund an seine neue Montur zu gewöhnen, als er neue Blicke auf sich gerichtet sieht, stumm gegrüßt und goutiert wird von distinguierten Jugendlichen und älteren Herren mit Hut, als gewährte ihm seine Kleidung Zugang zu einer diskret eleganten Bruderschaft. Männern, die einander vertraut abschätzen, 8

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welche Position einer in seiner Firma einnimmt, woher seine Kleidung stammt, wie gut und wie teuer seine Schuhe sind. Tomás Anselmo, der sich bis dahin kaum je Gedanken über die Existenz einer geheimen Bruderschaft von Anzugträgern gemacht hatte, ist hin- und hergerissen zwischen einer gewissen Eitelkeit um die Lippen und gleich darauf dem Gefühl, all das ziemlich beklemmend zu finden. „Dom Pedrones, es ist doch nicht Karneval …“ „Sieh nur, wie herrlich. Wir zwei hier, bekifft und herausgeputzt wie zwei Berühmtheiten aus dem Radio, und es ist noch nicht einmal drei Uhr!“ „Du magst recht haben.“ „Das muss gefeiert werden!“ Ich springe auf und klopfe meinem Freund auf die Schulter. „Was denn?“ „Egal“, antworte ich, wie immer auf unbequeme Fragen aus senem Mund.

Zwei kupferne Fräulein in Schleiern aus Orleans zupfen uns am Eingang zu einer Moschee am Ärmel. „Hier entlang. Hier entlang!“ Wir brauchen einen Moment, bis wir begreifen, was sie uns sagen: Sie laden uns exklusiv ein, durch eine makabre Pforte zu treten, die unter dem Minarett des Bauwerks kaum zu erkennen ist. Wie zu erwarten sagt mir Tomás Anselmo mit erschrockenem Blick, dass wir sofort hier verschwinden sollen, doch ich lasse mich von den bemitleidenswerten Damen verlocken, die uns Gratisgetränke versprechen und verbotene Lüste. „Darf man nicht verpassen!“, sage ich, und Tomas folgt mir nach einem Stoß in die Rippen. „Moral ist eine Schwäche des Geistes, Anselmo!“ Ich gebe den Alten großzügig Baksheesh, und die Türe fällt hinter uns dumpf ins Schloss. Wir steigen eine steile Treppe hinab, die uns dazu zwingt, den Kopf einzuziehen, bis wir in einen unterirdischen Raum kommen, der dunkel genug ist, um die Gesichter der anderen Männer nicht erkennen zu können. Orientalische Kellner empfangen uns, heften uns römische Ziffern an den Hals und plat9

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zieren uns an einem der Tische direkt vor der Bühne, auf der eine Kapelle in ohrenbetäubender Lautstärke folkloristische Weisen vom Ende der Welt spielt. Es gibt bitteren Schnaps, eine Wasserpfeife mit Mate-Essenz, Bauchtanz, halb nackte Frauen und den Geruch nach Ammoniak.

Ein Herr mit Turban und Spazierstock stopft einer Tänzerin ägyptische Pfundnoten zwischen die Brüste. Am Nebentisch verspeisen Ölmagnaten ein Zicklein, umgeben von fünfzehnjährigen Mädchen mit schwarz geränderten Augen. Ich versuche, eine davon für Tomás zu interessieren, werde vom Manager des Hauses aber daran gehindert: „Sie dürfen nicht mit den Damen reden.“ „Wozu sind sie dann hier?“ „Um bei den Kunden zu sein.“ „Mein Freund hier möchte bei ihnen sein.“ „Ja. Aber Sie dürfen nicht mit den Frauen reden.“ Als die Stunde der Gebete kommt und sich alle in Richtung Madureira verneigen, wollen wir gehen. Der Maître hält uns auf und kassiert und erzählt uns eine Fabel. Dann umarmt er uns kräftig und drückt uns einen feuchten Kuss auf die weißen Wangen.

Als wir die Treppe hinaufgehen und unsere Gesichter mit dem Jackettärmel abwischen, sagt Tomás gewichtig: „Ich muss jetzt was essen!“ Zuvor jedoch werden wir noch wie Edelleute Paris sehen, auf Siegerpferde wetten, Boxkämpfen beiwohnen, Flipper-Rekorde brechen, in finsteren Höhlen, in denen Greise mit Jugendlichen mit festen Schenkeln und hervorstechenden Brustwarzen Foxtrott tanzen, falsche Lebensdramen besprechen, werden Benzedrin mit Kaffee und Kognak herunterspülen und mit übereinandergeschlagenen Beinen der Modenschau auf dem Pflaster des Pantheon zuschauen. Werden von schwarzen arabischen Tirolerinnen, Frauen aller Art, jeden Alters und jeder Größe belagert und bleiben aber unbesiegt, hinreichend unüberwindbar und mit reinem Gewissen!, sparen uns auf für die große Nacht.

Unterwegs brüllt ein Aborigine die neuesten Nachrichten, um von der Straße weg einen Stapel von Zeitungen zu verkaufen.

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Wäre es wenigstens eine sommersprossige Amerikanerin und die Herald Tribune … Wir halten uns die Ohren zu. Keine Ahnung, wann ich zum letzten Mal eine Zeitung gelesen habe. Doch als ich es das letzte Mal tat, weiß ich noch, dass es mir wie Schuppen von den Augen fiel: Zu erkennen, dass gar nichts passiert. Das größte aller Geheimnisse. Danach konnte ich nie mehr verstehen, warum sie Tageszeitungen lesen, sich über die letzten (Nicht-)Nachrichten unterhalten, über das, was sie „Realität“ nennen, „Welt“. Für mich macht das alles keinerlei Sinn.

Und wenn doch, wäre es trotzdem unendlich sinnlos. „Das Leben ist wunderbar, Tomás. Ich muss gar nichts tun.

Solange ich von anständigen Leuten wie dir! umgeben bin, die schöne und nützliche Dinge tun, muss ich mich damit nicht belasten, etwas Brauchbares zu leisten. „Du brauchst doch nur jemanden, der deine Witze versteht.“ „Weil ich sowieso in allem gut wäre, wenn ich nur wollte! Es gibt keine Herausforderungen …“ Wir nehmen eine der großen Avenidas bis zum Grand Hotel und beschließen, im Drehrestaurant über dem Marmorturm Mittag zu essen. Geleitet von einem Rezeptionisten in weißen Handschuhen und goldenem Cape, fahren wir neunundfünfzig Stockwerke hinauf.

Nach einem Anflug von Übelkeit, einem kurzen Schwindelgefühl, hält der Aufzug an. „Gang oder Fenster, meine Herren?“ Aus dem verglasten Saal schauen wir hinunter auf violett schimmernde Kanäle, die das mittelalterliche Häusermeer durchziehen, Stadthäuser wie Schnecken im Sand, Brücken zwischen Stadtvierteln und kleinen Inseln, das Finanzzentrum und seine Wolkenkratzer, die Kräne auf metallenen Skeletten, die strengen Kuppeln der Kathedralen, die großen Art-déco-Theater und hinter allem, den Hügeln des historischen Zentrums, die Wüste und ihre Ausläufer. Aus der Höhe wirkt die Stadt wie in Stille getaucht. „Willkommen im Weltraum, Tomás.“

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Ein Mann ist die Summe seiner Obsessionen Isabel Coutinho im Gespräch mit João Paulo Cuenca

João Paulo Cuenca glaubt, dass das Gute an der Literatur in ihrer Nutzlosigkeit liegt. Wenn man ihm damit kommt, wie schwierig es sei, Schriftsteller zu sein, widerspricht er sofort. „Das ist doch Unsinn, dann machen Sie doch einfach was anderes und gehen den Leuten nicht auf die Nerven!“ Seine Mutter brachte ihm schon zu Hause das Lesen bei, mit beschrifteten Holzwürfeln, sodass er bei seiner Einschulung bereits lesen konnte. Es war eine Nonnenschule, und Cuenca lernte schnell, die Nonnen in der Schulbücherei zu umdribbeln, um das lesen zu können, was sie ihn nicht lesen lassen wollten. Es sei Dostojewski gewesen, der ihn fürs Leben verdorben habe, sagt er.

Cuenca studierte Betriebswirtschaft, schuf 1999 seinen ersten Blog (der ziemlich erfolgreich war, was er heute bestreitet) und schrieb, während er an einer „langen und fragmentierten Geschichte“ arbeitete, die später sein erster Roman wurde, ein Tagebuch, in dem er von seinen „Ängsten, Beklemmungen, Blockaden und von fremdbestimmter Motivation“ erzählte und von allem, „was mit dem Schreibprozess zu tun hat, von chemischen Substanzen bis hin zu Gedankenspielen und Selbsthilfe“. Einen Auszug seiner langen Erzählung (die Beschreibung eines „Favela Funk“) schickte er an die brasilianische Zeitschrift „Ficções“, die junge Autoren zusammen mit arrivierten veröffentlicht, und wurde gedruckt. „Die Reaktionen waren überwältigend, der Verlag Planeta bot mir an, den Roman zu veröffentlichen. Ich hatte viel Glück. Ich glaube nicht, dass ich die Kraft gehabt hätte, lange nach einem Verlag zu suchen“, sagt Cuenca (…)

Es ist ein heftiges Buch (…) Ob seine Mutter es gelesen habe, wisse er nicht, sagt Cuenca. „Sie war auf der Präsentation, ich ha12

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be ihr das Buch auch geschenkt, aber hineingeschrieben, dass sie es nicht lesen soll.“ So sah João Paulo Cuenca mit 25 Jahren in den Buchläden dieses Buch, an dem er drei Jahre lang geschrieben hatte, ohne zu wissen, ob es je veröffentlicht, je gelesen würde. Eines Tages sagte Chico Buarque in einem Interview der BBC „Es gibt einen neuen Autor, den ich sehr mag, das ist João Paulo Cuenca“. Für den brasilianischen Schriftsteller Marçal Aquino gab es schon lange kein Buch mehr, das ihn so beeindruckt hätte, Marcelo Rubens Paiva lobte das Buch als „begeisternd“, das die Copacabana und seine Protagonisten bis an die Grenze ausreizt.

João Paulo Cuenca bekam Briefe und E-Mails von Lesern, vor allem aber von Leserinnen, die sein Buch interpretierten und sagten, es hätte sie aufgewühlt. Eine Leserin verfolgte ihn sogar durch Copacabana.

Was zunächst wie ein Traum erschien für einen jungen Schriftsteller wurde zu einem enormen Druck. Cuenca hatte seine Unschuld verloren, war zu einem veröffentlichten Autor geworden und wurde sich bewusst, dass alles, was er von da an schreiben würde, gelesen werden könnte. „Du nimmst verschiedene Blickwinkel ein, wenn du alleine bist und schreibst. Bekommst eine Verantwortung, ein Gewicht, das du bis dahin nicht hattest. Deswegen brauchte ich vier Jahre, bis ich meinen zweiten Roman veröffentlichte, und deswegen ist er auch so radikal anders“. Es scheint, als wolle dieser zweite Roman „Mastroianni. Ein Tag“ all dies durch Satire reinwaschen. „Unter meinen Freunden in Brasilien gibt es einen Insiderwitz, diesen Privatjargon des ‚Mastroianni-Tages‘. Ein lustiger Tag, an dem unerwartete Dinge passieren, und die Dinge plötzlich glamourös werden. Du dich plötzlich ‚Dry Martini‘ schlürfend auf der Dachterrasse eines Hotels wiederfindest oder auf der Party einer Modelagentur aus New York, das ist ein Mastroianni-Tag“, erklärt Cuenca. „Immer, wenn sowas passierte, sagten wir: ,Hey, das wird wieder so ein Mastroianni-Tag.“ Und um diese Idee herum, Lebenszeit zu verschwenden, begann ich diese Geschichte 13

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zu entwerfen, die einen Tag beschreiben sollte und die Geschichte zweier Freunde erzählt, noch ziemlich jung und idiotisch, Möchtegernkünstler, die episodenhaft durch die Stadt ziehen.“ Neben den Filmreferenzen, die schon der Titel aufwirft, ist das Buch voller literarischer Bezüge und Spielereien. Pedro Cassavas, der Erzähler, ist ein selbst erklärter Künstler, voller Pläne und Absichten, die er nie umsetzt. Cuenca zeichnet in ihm eine Generation nach, die viele Projekte hat, aber im Grunde nichts tut. Die Protagonisten trinken auf frühreife Dandys, die Schriftsteller ohne Buch, Musiker ohne Platte und Filmemacher ohne Film, „Leute, die Pläne und vieles vorhaben, den kompletten Diskurs, aber kein Werk.“ Fellinis „Achteinhalb“ und Godards „Außer Atem“ blitzen in dem Roman auf. Es sind die Referenzen einer Generation Brasilianer, der Cuenca angehört, die gern vor vierzig Jahren gelebt hätte. „Es gibt eine Nostalgie, die gestohlen ist, die ich aber habe, und ich kenne viele Leute, die sich nach einer Zeit sehnen, die sie nicht erlebt haben. Ich habe Sehnsucht nach den Sechzigerjahren, wenn ich manche Filme sehe. Sachen, die ich nie erlebt habe und nie erleben werde. Die Welt, die ich erlebt habe, war viel witzloser.

Mein Buch hat ein bisschen davon, diese Ernüchterung. Dieses Leben, das die zwei Protagonisten in dieser Stadt verplempern, ist ein Leben ohne Ideologie, ohne große Liebe, ohne ein Ziel in einer Welt, in der zu leben nicht einfach ist. Pedro Cassavas und Tomás Anselmo aus diesem Buch wären gern Mastroianni, würden gern im Rom der Siebzigerjahre leben, in Paris oder in einer Mischung aus diesen Städten, auf jeden Fall nicht in der Stadt, in der sie tatsächlich leben.“ In Brasilien hat „Mastroianni. Ein Tag“ eine Kontroverse ausgelöst. „Wenn ein Leser sich nicht auf das Buch einlässt, wird er seine Protagonisten hassen, und alles, was ich darin sagen will.

Umso mehr, wenn der Leser ein junger Schriftsteller ist oder einer, der gern einer wäre. Der Roman hatte sehr gute Rezensionen, hat aber auch einiges einstecken müssen. Weil es ein gewagtes und mutiges Buch ist. Es ist eine vernichtende Kritik – glaube ich jedenfalls – an meiner Generation. Auch wenn ich mich sehr 14

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bemüht habe, das Buch unterhaltend zu gestalten, ist es doch sehr vernichtend.“ Zugleich ist es aber auch universell. „Das Buch macht sich lustig über diesen Kosmopolitismus, in dem wir leben. Es spielt in einer Stadt, die eine Mischung aus verschiedenen Städten ist. In einer Großstadt hast du ein chinesisches Viertel, ein japanisches Restaurant, ein ägyptisches Restaurant, in dem Haschisch geraucht wird und eine Frau Bauchtanz aufführt. Mulattinnen tanzen Samba. In einer Großstadt in Europa oder Lateinamerika hast du ein Kaleidoskop von Stadtlandschaften, und ich überdrehe in meinem Buch dieses Bild. Es ist eine komplett ausgedachte und vermischte Stadt.“ „Ich will gerne glauben, dass das Buch universell ist, der Weg dieser zwei jungen Männer, all die Dramen der Protagonisten, ihr Reifeprozess, gerne würde ich glauben, dass das nicht nur in Brasilien angesiedelt ist.“ „Mastroianni. Ein Tag“ hat außerdem eine metaliterarische Komponente: „Es macht sich über sich selbst lustig.“ Cuenca macht sich einen Spaß daraus, einen Roman damit zu beginnen, dass der Protagonist verhört wird. „Der Protagonist befindet sich in einem Verhör, als Gefangener einer Stimme. Er sitzt auf einer Schaukel in den Wolken, mitten im Himmel, und da ist eine mächtige Stimme, die zu ihm spricht. Diese Stimme, die Gott sein könnte oder ein Literaturkritiker oder der Leser selbst, bin in Wahrheit ich, es ist meine Stimme. Das ist wohl das provozierendste in dem Buch – es gibt Leute die das hassen – aber ich glaube, es funktioniert, auch als Stilmittel.

Da ich den Lesern auch eine gewisse Leichtigkeit geben wollte, bat ich einen Illustrator, ein paar Zeichnungen zu machen, die den Ton unterstützen. „Wie im Kleinen Prinzen von Saint-Exupery, dem Lieblingsbuch der Models in aller Welt. Diesen Gedanken gab ich meinem Zeichner und bat ihn, eine Ananas zu zeichnen, einen Hummer, Flip-Flops, Brasilien ist ja das Land der Gummilatschen.“ Und dann ist da noch seine Art, Frauen zu beschreiben als „immer weniger anspruchsvolle und immer verzweifeltere Hormonbomben“. Carmen in „Corpo Presente“, die süße Maria in 15

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„Mastroianni. Ein Tag“. Es sind Bücher, die nur von einem Mann hätten geschrieben werden können, doch zugleich sieht João Paulo Cuenca die Frauen so, dass sie sich darin wiedererkennen. „Mein Blick auf die Frauen ist ziemlich kindisch, einfach strukturiert. Es ist entsetzlich. Mein Text mag erwachsen sein, aber der Blickwinkel ist der eines schockierten Kindes. Eine Reporterin war einmal sehr sauer auf mich und fragte: ‚Sie schreiben das, um zu provozieren, nicht wahr? Sie wollen schockieren.‘ Und ich sagte: ‚Nein.

Ich schreibe das, weil ich schockiert bin, weil es mich schockiert und ich darauf reagieren muss.‘ Die einzige Art für einen Mann, eine Frau wirklich kennenzulernen, ist, sie zu erfinden. Ein Mann kann eine Frau niemals kennen. Niemals. Es ist eine Illusion zu glauben, du könntest erahnen, was eine Frau denkt. Sie ist undurchdringlich. Und du kannst dein ganzes Leben darin verlieren. Genau das tue ich. Und erfinde. Du lernst sie kennen, indem du sie erfindest.“ Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler

Auszüge eines Gesprächs von Isabel Coutinho mit João Paulo Cuenca, erschienen in: Ípsilon 2009, Lissabon

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