Finale – Die Abschlusspublikation zum Literatur Labor Wolfenbüttel

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Viola Gassenschmidt

Jeden Tag Fazane starrte auf ihre blinkenden Schuhe und auf den grauen Asphalt. Heute Morgen hatte sie sich noch über die Schuhe gefreut. Sie waren neu, Frau Baumann hatte sie ihr mitgebracht, als sie gestern zu ihnen gekommen war. Sie brachte nicht oft Sachen mit, obwohl sie sicher ein großes Haus und viel Geld hatte. Ein Auto hatte sie auf jeden Fall. Aber sie war eine seltsame Frau, sicher schon hundert Jahre alt, und wenn sie etwas mitbrachte, dann nie Süßigkeiten, immer nur Mandarinen und Äpfel, weil da Vitamine drin sind. Aber über die Schuhe hatte Fazane sich gefreut. Sie hatte es kaum erwarten können, sie den anderen zu zeigen. Aber dann hatte Arbana erzählt, dass ihre Familie jetzt einen Aufenthaltstitel hatte. Allen hatte sie es erzählt, in der großen Pause, und alle waren sofort still geworden. »Wieso?«, hatte Fazanes Bruder Hassan gefragt. Es hatte aggressiv geklungen, so als wäre es Arbanas Schuld, dass ihre Familie das nicht hatte. »Heißt das, ihr bleibt für immer hier?«, hatte Miriam gefragt und Fazane hatte trotzig gesagt: »Wir bleiben auch für immer!«, denn sie wollte auf jeden Fall bleiben. »Aber ihr habt keinen Titel, du Ausländer!«, hatte Arbana laut lachend gerufen und ihr in die Seite geboxt. Sie nannte alle Ausländer, auch sich selbst. Also hatte Fazane niemandem von ihren neuen Schuhen erzählt. Und niemand hatte sie bemerkt. Sie stieß die Haustür an der Löwenstraße auf. Im Flur lagen Zettel verstreut, jemand hatte sie vom Schwarzen Brett an der Wand abgerissen. Vielleicht Hassan. Oder Herr Ivanovic. Fazane hatte Angst vor Herrn Ivanovic. »Der schlägt seine Frau«, hatte Hassan ihr gesagt, »und sie schlägt ihn!« Fazane konnte sich das gut vorstellen. Herr Ivanovic wohnte im dritten Stock und alle Kinder hatten Angst vor ihm. Er schrie sie jedes Mal an, wenn sie in den Fluren Fangen oder Diebe oder Krieg spielten. »Ihr scheiß Araberkinder!«, brüllte er. »Spielt woanders! Ihr seid zu laut, habt ihr kein zu Hause oder was?!« Einmal hatte Hassan ihn angespuckt und danach waren sie alle lachend weggerannt, raus aus der Löwenstraße, bis zu ihrer Schule, und Hassan war sehr stolz gewesen. Aber abends, als sie zurückgegangen waren, hatte er es eilig gehabt, wieder in ihr Zimmer zu kommen, und er hatte Mama und Papa nichts davon erzählt. Fazane machte einen Bogen um die Papierfetzen auf dem Boden und ging zu den Briefkästen. Das war ihre Aufgabe. Sie war stolz, dass sie das machen durfte und nicht Hassan oder Adnan


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