Zwischen Islam und Kommunismus Die Demokratie hat es schwer in den mittelasiatischen Republiken

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POLITIK ZWANZIG TAGE LANG IST UNSER MOSKAUER KORRESPONDENT DURCH DIE REPUBLIKEN DER GUS GEREIST ER BEGLEITETE HANS-JOCHEN VOGEL, DER SICH IM AUFTRAG DER SOZIALISTISCHEN INTERNATIONALE INFORMIERTE. IM ZWEITEN TEIL SEINER SERIE BERICHTET CHRISTIAN SCHMIDT-HÄUER AUS MITTELASIEN.

Zwischen Islam und Kommunismus Die Demokratie hat es schwer in den mittelasiatischen Republiken VON Christian

Schmidt-Häuer | 27. März 1992 - 07:00 Uhr

Von Christian Schmidt-Häuer Duschanbe, Ende März Tag für Tag dokumentieren Inserate den Rückzug der Russen aus Mittelasien. „Eilig! Haus mit vier Zimmern, Bad, Garage, Anbau zu verkaufen“, lauten die Anzeigen in den tadschikischen Zeitungen. „Eilt sehr! Waggon für Umzug gesucht.“ Nicht nur die Russen verlassen die gebirgige Region im Herzen Asiens, die ihre Vorfahren im 19. Jahrhundert erobert hatten. Auch die Ukrainer ziehen ins Ungewisse, die Deutschen ohnehin, die eingewanderten Europäer insgesamt: „Wir sind jetzt die Weißen! Bürger zweiter Klasse.“ Auf dem Markt Schachmansur, dem grünen Gemüseparadies, suche ich die Deutschen, die früher an den langen Schlachtertresen immer Schweinefleisch verkauft hatten. „Sie sind schon bei Ihnen“, sagt eine Russin trübe, „und fahren Mercedes.“ Solche Vorstellungen über die Zukunft kann sich Jurij, der alte Freund, nicht einmal als Tagtraum leisten. „Seit 35 Jahren lebe ich in Duschanbe. Ich liebe die Stadt, aber sie mich nicht mehr. Ich kann sie nicht verlassen, aber ich werde hinausgedrängt. Der Druck ist nicht direkt rassistisch, einfach nur biologisch. Die Tadschiken haben die höchste Geburtenrate in der GUS. Sie brauchen Wohnungen, Schulen, Arbeitsplätze. Sie sagen: ‚Warum sitzen da überall Russen?‘ Jetzt soll bis 1996 in allen Ämtern die tadschikische Sprache einziehen. Aber auch wenn wir weg sind, wird der Bevölkerungsdruck nicht nachlassen. Und woher kommen dann die Techniker, die Telephonistinnen, die Ärztinnen? Die Tadschiken haben sich bisher nur in zwei Studienfächer gedrängt: in die Ökonomie wegen der Posten im Versorgungsnetz und in die Jurisprudenz, weil sie Zugang zur Macht verspricht.“ In Jurijs Liebe zu Duschanbe mischt sich Bitterkeit. Die Puschkin-Straße wirkt ärmlich und düster wie Gorkijs „Nachtasyl“. Im Abblendlicht des Taxis schleppen Männer riesige Koffer in ein blaugestrichenes Haus. Waren aus Afghanistan, in dessen nördlicher Hälfte Tadschiken die Mehrheit bilden. Von dort kommt alles, was die Mudschaheddin gegen Schutzgelder von Pakistan nach Kabul lassen. Billige Elektronik aus Südostasien, Shampoos aus Deutschland, Taschenrechner und Kugelschreiber; über Waffen und Drogen wird nur spekuliert. Zu den Überbringern gehören kommunistische Funktionäre und Offiziere aus Kabul, die vor dem Ende des dortigen Regimes für ihre Zukunft in Tadschikistan sorgen. Für den Erlös ihrer 1


POLITIK Waren kaufen viele dieser Genossen auch die von den Russen in Inseraten angebotenen Wohnungen. Der Innenminister kennt das blaue Haus in der Puschkin-Straße. Er zuckt nur mit den Schultern. Rostbraun, weiß und prachtvoll ist das Haus Nr. 18 in der Gorkij-Straße – pardon, in der Teheran-Straße. Sie ist gerade umbenannt worden. Denn das Haus Nr. 18 hat der Iran als Botschaftsgebäude angemietet. Es liegt direkt hinter dem Regierungssitz. Der Botschafter ist schon da. Er überwacht die Renovierung vom Hotel „Tadschikistan“ aus. Dort begegnet er verwandten Völkerscharen: Fliegende Händler aus Afghanistan haben sich dort ebenfalls einquartiert. Einen Buchladen will der Iran ebenfalls einrichten. Die Regale sind noch leer, aber die Wände schon mit Chomeini-Bildern beklebt. In vielen Winkeln der Hauptstadt dieser laut Statistik ärmsten GUS-Republik wird frisch getüncht und gewerkelt. Moscheen werden hergerichtet, daneben Koranschulen für die Kinder. Noch vor wenigen Jahren gab es nur 17 große islamische Gotteshäuser in Tadschikistan, heute sind es 128 große und fast 5000 kleine Moscheen. Aus Teheran fließen die meisten Spenden, darunter Stipendien für 370 islamische Studenten. Tadschikistan, die Provinz Transoxana des westöstlichen Diwans, gehörte schon zum Persischen Reich. Die Verbindungen dieses ostiranischen Volks zu seiner Region lassen sich länger zurückverfolgen als die aller Nachbarn. Der lange Assimilierungsdruck der Turkvölker ringsum hat heute ein Nationalbewußtsein entstehen lassen, das nicht nur die Polarisierung gegenüber den „Weißen“, sondern auch Abgrenzung und territoriale Ansprüche gegenüber Usbekistan fördert. Die Amerikaner haben sich unter dem Dach der Welt zunächst zurückgehalten. Immerhin hatten in Duschanbe orthodoxe Kommunisten die Wirren des Moskauer August-Putsches genutzt und unter der Führung des 1983 geschaßten Breschnjew-Freundes Rachman Nabijew die Macht an sich gerissen. Doch als sich Iran und Türkei , Pakistan und China drängten, als gezielte Horror-Spekulationen über tadschikisches Uran für eine „asiatische Atombombe“ ausgestreut wurden – da hielt es Washington nicht länger. Im Februar sprach Außenminister Baker lange unter vier Augen mit Präsident Nabijew. Seit Mitte März sind nun auch die Vereinigten Staaten in Duschanbe diplomatisch vertreten. Anhänger der Demokratischen Partei und der gemäßigt islamischen Volksfront Rastoches, die im Herbst wochenlang in Jurten vor dem Regierungssitz campierten und gegen Nabijews Rückkehr demonstrierten, argwöhnen heute, erst Amerikas Zuschlag habe den Kommunisten freie Hand gegen die Demokraten gegeben. Der 61jährige Präsident mit der barocken Figur und weißen Haartolle fühlt sich jetzt sicher im Sattel. Aus seinem Wortschatz der Breschnjew-Zeit rutscht ihm schon mal die Formulierung von den „amerikanischen Genossen“ heraus. Opposition? Da strahlt Nabijew treuherzig: „Gerade gestern haben sich fünf von ihnen in einem offenen Brief zu meinem Programm bekannt.“ Was der Präsident nicht sagt: Eben war Bürgermeister Maksud Ikramow ohne vorherige Zustimmung der Stadtregierung verhaftet worden. Er hatte nach dem August-Putsch den Sturz des Lenin-Denkmals angeordnet. Nabijew ließ ihm nun Korruption anhängen. Die 2


POLITIK Demokratische Partei ist geschockt und zersplittert. Zu einem Interview wagt sich niemand heraus. Bei Rastoches, im kleinen Haus des Kinos, ist freundliche, aber vorsichtige Auskunft zu erhalten. Die fundamentalistische Opposition, von der niemand weiß, wer sie wirklich steuert, schweigt. Sie kann warten. In Tadschikistan hat der islamische Staat langfristig die besten Chancen. Taschkent Usbekistan ist die Macht, die alle Nachbarn fürchten und hegemonialer Gelüste verdächtigen. Die Usbeken, die vom östlichen Teil der „Goldenen Horde“ abstammen, bilden den größten islamischen Staat der GUS und sind die zweitgrößte turkmenische Nation der Welt. Islam Karimow, 54jähriger Exparteichef, gewann im Dezember 1991 die Präsidentschaftswahl mit 86 Prozent gegen den sympathischen Poeten Muhammad Salih (12 Prozent). Bei seiner Vereidigung legte der alte und neue Herr über graue Wüsten und glanzvolle Kulturstätten wie Sarmakand, Buchara und Chiwa die Hand auf den Koran. Vogels Delegation erklärte er: „Wir folgen dem türkischen Modell. Dort werden die nationalen Traditionen sorgfältig und die islamischen würdig bewahrt – Vorrang aber hat die moderne Gesellschaft.“ Dem erstaunten türkischen Außenminister Cetin vertraute Karimow unmittelbar zuvor sogar an: „Der Tag wird kommen, da Usbeken und Türken in einem Parlament sitzen.“ Zumindest Karimows Präsidentengemach würde eine solche gemeinsame Versammlung schon heute gestatten. Der achteckige, dunkelrot getäfelte Saal mit weißer, herrlich ornamentierter Decke und prachtvollen Lüstern läßt vergessen, wie krank Usbekistan ist. Karimow behauptet mit gesenktem Blick und monotoner Stimme über dreißig quälende Minuten das Gegenteil: ein Land, so groß wie Frankreich , das über 32 Prozent des reinsten Goldes der GUS fördert und der Welt ein Fünftel aller Baumwolle beschert. „Ich kann Sie im übrigen als erste informieren: Soeben sind wir auf Erdölvorkommen gestoßen.“ Doch dann hebt der Präsident zur dramaturgischen Wende an: „Und angesichts all dessen fragt das Volk: Warum ist ein so reiches Land so bitterarm? Die Antwort lautet: Weil wir eine Rohstoffkolonie waren. Ich war hier lange Finanzminister und Chef der Plankommission. Aber die Moskauer Ministerien ließen nicht einmal mich erfahren, wieviel Gold wir Usbeken besaßen und welche Preise unsere Baumwolle erzielte.“ Nichts gewußt, aber alles gebilligt: Die berüchtigte Baumwoll-Mafia der usbekischen KP lebte wie in einem steinreichen Emirat. Die zu Beginn der Perestrojka wegen Korruption überführten Genossen werden längst wieder rehabilitiert. Im Gästepalast des 1983 verstorbenen Baumwoll-Paten und Breschnjew-Intimus Scherif Raschidow bewirtet uns die gut geschulte Elite einer neuen Partei. Im Waschzettel steht: „Mit der Verkündung der staatlichen Unabhängigkeit entsteht ein gesellschaftliches Mehrparteiensystem. Als erste Parlamentspartei bildet sich die Volksdemokratische Partei heraus.“ Die in der Baumwolle gefärbten Demokraten haben bereits über 350 000 Mitglieder, 74 Prozent der Parlamentsmandate und einen Vorsitzenden namens – Islam Karimov.

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POLITIK So sorgen die Kommunisten weiter für sich selbst und auch noch für die Opposition. In unsere streng abgeschirmte Residenz bringen sie am nächsten Abend die Führer der demokratischen Partei Erk (Freiheit) und der Volksfront Birlik (Einheit). Einer unserer Gastgeber von den Volksdemokraten bleibt bei den Gesprächen unbekümmert im Raum und führt Protokoll. Vogel versucht es mit lauten Anspielungen, der Volksdemokrat schreibt weiter. Der Dichter Salih – Karimovs unterlegener Gegenkandidat – winkt ab: „Das mag im Westen vielleicht abnormal erscheinen, hier ist es nichts Besonderes. Wenn wir uns stark in der Parteiarbeit engagieren, werden wir auch immer mal verhaftet. In unserer Situation ist das ganz normal.“ Die Oppositionellen wollen den türkischen Weg mit Karimow zusammen gehen. Bei den Bürgerrechten und der Umweltkatastrophe trennen sich die Wege. Das Sterben des Aralsees und die Leiden der Opfer der Baumwollpestizide gehören zu den furchtbarsten und fortwirkenden Sünden des Systems. Neunzig Prozent der Menschen, die direkt um den Aralsee wohnen, sind krank, berichten die Birlik-Leute. Fünf Millionen Einwohner Usbekistans, so die Erk-Führer, litten 1991 an Hepatitis – durch die Herbizide zum Schutz der Baumwollpflanzen. „Wir haben geschwiegen bei der systematischen Zerstörung unseres Volkes“, klagt Professor Chodshajew vom Virologischen Institut, „geschwiegen über den Aralsee, über die Baumwolle, über das Schweinefleisch, das es zuvor nie gab in Mittelasien. Das Schweigen liegt auf unserer Seele. Heute können wir nur noch weinen.“ Einer seiner Kollegen setzt hinzu: „Wenn wir den Aralsee endgültig verloren haben, fällt hier in Taschkent im Juli Schnee.“ Was hat all der Raubbau gebracht? Usbekistan zerfällt weiter in zwei Gesellschaften. 53 Prozent der Usbeken arbeiten in der Agrarwirtschaft – sprich Bauwolle –, aber nur 2,5 Prozent Russen. In der Industrie sind 33 Prozent der Russen und nur 11 Prozent der Usbeken beschäftigt. Die Industrie ist ein Fremdkörper geblieben. Sie lebte vom Import russischsprachiger Arbeitskräfte und den Injektionen des Zentrums. Noch 1991 wurde fast die Hälfte des usbekischen Haushalts von Moskau finanziert. Mit dem Ende der UdSSR ist das alles vorbei. Anders gesagt: Die Republik die 8,5 Millionen Tonnen Öl mehr verbraucht als erzeugt, muß zwei Drittel ihrer Baumwolle allein für das fehlende Öl exportieren. So lassen sich in diesem Staat mit einem fast zusammengebrochenen Gesundheitssystem und einem völlig unzureichenden Bildungssystem, das die Jugendarbeitslosigkeit fördert, ein beträchtliches Gewaltpotential und lokale Anfälligkeit für militant-religiöse Umbrüche orten. Der „schreckliche Tornado des Vandalismus“ (so der damalige Ministerpräsident Ryschkow), mit dem die Usbeken 1989 im Fergana-Tal über die türkische Minderheit der Mescheten herfielen, und die Zusammenstöße mit den Kirgisen 1990 im gleichen Tal bei Osh sind Warnsignale. Taschkent war zu Beginn dieses Jahres der einzige Ort der GUS, in dem die Preiserhöhungen zu Massenunruhen und Todesopfern unter Studenten und

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POLITIK Jugendlichen führten. Das erklärt, warum Präsident Karimow mit pantürkischen Visionen Ablenkung sucht. Aschchabad Westliche Politiker und Publizisten, die Nostalgie für die einstige Ordnungsmacht UdSSR empfinden und für Klagelieder der alten Garde ein offenes Ohr haben, sollten Turkmenistan besuchen. In der südlichsten Republik lebt der Sowjetstaat noch. Hier wird „die Straße“ auf absehbare Zeit nicht regieren. Es gibt keine nationalen Konflikte, keine autonomen Gruppierungen, keine Demonstrationen und keine böse Presse, die über finanzielle Transaktionen berichtet. Das administrative System Moskaus hat sich als ideal erwiesen, um die mittelalterliche Tradition des Clans zu bewahren. Die KP ist nie verboten worden – aber es gibt sie natürlich nicht mehr. Demokratische Partei heißt sie jetzt, und ihre Führung empfängt uns auf dem Rollfeld, direkt neben einem Düsenriesen aus Teheran. Gleich hinter dem Gebirgszug beginnt der Iran. Wenn es nun auch die alte KP nicht mehr gibt, so lernen die Kinder aus einem 1991 gedruckten Schulbuch doch weiterhin: „Lang lebe die Oktoberrevolution“ und „Wir lieben die Sowjetarmee“. Auch Lenin ist überall auf dem Teppich geblieben. Seine riesigen geknüpften Portraits hängen auf den Fluren des Parlaments. In der zu Recht berühmten Teppichfabrik von Aschrabad sagt ein alter Funktionär mit neuem Stolz: „Bei und hieß es schon immer: Eine Frau, die keinen Teppich knüpfen kann, soll auch nicht essen.“ Folgerichtig sind in der – durch die Baumwoll-Monukultur – zuwenig Lebensmittel produzierenden Republik in den vergangenen Jahren auch nur geschwächte Mütter und Kinder an Unterernährung gestorben. Über den Hungertod eines Mannes hat selbst der „Feindsender Nummer eins“, der russische Rundfunk, nie berichtet – wohl aber über die Selbstverbrennung von Frauen und über hohe Kindersterblichkeit. Die liberale Presse in Moskau, in der ab und an ein Dissident aus Aschrabad schreibt, ist das einzige, was die turkmenischen Genossen nicht kontrollieren. Den Islam hingegen überwachen sie genau: Nicht der Ajatollah, sondern Bruder Orwell herrscht in den Oasen dieses zu neunzig Prozent aus Wüsten bestehenden Staats. Zu seinen Erfüllungsgehilfen gehört Genosse Podalinskij, Vorsitzender des Komitees für Gesetzgebung. Wir fragen ihn, ob Intellektuelle während Außenminister Bakers Besuch unter Hausarrest gestellt worden seien. „Das sind Sensationsberichte von Moskowskije Nowosti. Da war nichts. Wir Juristen halten uns nur an die Fakten.“ Die sind vier Stunden später zu erfahren. Der Historiker Schachat Kadirow kutschiert mich mit einem alten Wolga durch die Stadt, um ungestört zu sprechen. „Mir wurden während Bakers Besuch drei KGB-Leute zugeteilt, damit ich der Empfehlung folgte, zu Hause zu bleiben.“

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POLITIK Präsident Nijasow ist ein geschmeidiger Mann. Er hat ein nettes Lächeln und viel Zeit für uns. Ende 1985 trat er an die Parteispitze, „von Anfang an ein Reformator“, sagen seine Getreuen. „Deutschland und Frankreich“, erläutert er, „haben ihre Parteien ja auch nicht an einem Tag geschaffen.“ Nijasow will seine Parteien jetzt aus einer Partei schaffen. Pluralismus aus der ehemaligen KP: Die urbane Apparat-Intelligenz hat bereits ihre Demokratische Partei. Die Veteranen dürfen wieder eine kommunistische Partei gründen. Und die Landwirtschafts- und Provinzfunktionäre sollen eine Bauernpartei bilden. Auch sonst ist der Präsident optimistisch. Er zählt auf, wieviel Erdgas die GUS-Staaten aus den reichen Feldern West-Turkmenistans erhalten. Selbstbewußt schildert er, wie er den Ukrainern gerade den Gashahn abgedreht hat, weil diese nicht den geforderten Preis zahlen wollten. Nijasow ist entschlossen, erheblich mehr Gas und Öl in den Iran zu liefern. „Gestern haben die Iraner hier eine Bank eröffnet“, schließt er zufrieden. „Wir werden die toleranten Kräfte des Islam stärken.“ Aus Turkmenien kann sich Teheran das gefallen lassen. Bischkek Nur über einem der offiziell anerkannten GUS-Staaten weht weiter eine rote Fahne – über Kirgystan. Doch aus dem Rot scheint eine Sonne mit vierzig goldenen Zungen, die vierzig junge Mädchen symbolisieren. Ähnlich sanft und etwas sagenhaft wie dieses Emblem erscheint der Präsident der Kirgisen, die Machmud Kaschgari im 11. Jahrhundert „das östlichste Turkvolk, das nahe an China liegt“, nannte. Heute hat das ferne Kirgystan die am weitesten westlich orientierte Führung innerhalb der GUS. „Gospodin Wogel“, beginnt der 48jährige Askar Akajew , ein feingliedriger Physiker im Präsidentenamt, mit feierlichem, fast maniriertem Singsang, „ich betrachte dieses Treffen als Begegnung mit Gleichgesinnten. Früher bewegten mich die sozialdemokratischen Ideen als Bürger. Heute kann ich selber versuchen, sie ein wenig zu verwirklichen. Wir haben aber alle keine Erfahrung. Besonders die soziale Partnerschaft zwischen Angestellten und Unternehmern beim Übergang zur Marktwirtschaft interessiert uns. Als wir die Unabhängigkeit erkämpft hatten, habe ich einen Brief an Herrn Brandt geschrieben. Und ich habe mich sehr gefreut über die hoffnungsvolle Antwort, Gospodin Wogel.“ Gospodin Vogel zeigt sich gerührt wie selten auf dieser Expedition: „Ich könnte mir“, so greift er den Wink Akajews auf, „sehr gut eine starke sozialdemokratische Partei Ihres Landes vorstellen, die in der Sozialistischen Internationalen eine wichtige Rolle spielt.“ Vogel weiß, daß der frühere Präsident der Akademie der Wissenschaften nicht nur artige Komplimente macht. Er hat für die Unabhängigkeit seines Landes in der Tat mit vollem Einsatz gekämpft. Er war der einzige Präsident der mittelasiatischen Republiken, der dem Moskauer Putschversuch im August sofort und kompromißlos entgegentrat. Während der Staatsstreich im alten Parteiapparat Kirgystans Zustimmung fand, ordnete Akajew an, Jelzins Aufruf gegen den Putsch alle zwei Stunden über das örtliche Fernsehen auszustrahlen. Er trat selber vor die Kamera und nannte den Coup einen 6


POLITIK „Militär- und Parteiputsch“. Und alle orthodoxen Spitzenfunktionäre in Bischkek stellte er vorsichtshalber unter Hausarrest. Akajew ist eine Ausnahmeerscheinung an der Spitze einer traditionell gebundenen Gesellschaft. Aber er steht nicht allein. Regierungschef Tsyngyschew mit seiner jungen Mannschaft will die deutschen Gäste „gar nicht erst mit meinen Ausführungen langweilen, sondern gleich Fragen hören“. Rosa Otumbajewa ist die einzige Außenministerin in der GUS. Sie spricht so gut Deutsch, daß sie sich für ihre Dissertation mit den Soziologen der Frankfurter Schule beschäftigte. „Natürlich“, sagt sie, „werden wir versuchen, uns mit jenen Ländern, von denen islamischer Druck auf uns ausgehen könnte, gutzustellen. Aber der Islamischen Konferenz werden wir nicht beitreten. Und wir werden uns in unseren außenpolitischen Beziehungen auch nicht von anderen vertreten lassen, wie jetzt Usbekistan durch die Türkei. Aber was die Infrastruktur betrifft, hat die Zusammenarbeit mit Europa für uns Priorität.“ Und nachdenklicher fügt sie hinzu: „Natürlich ist der Islam bei uns sehr verbreitet. Wir waren ja gezwungen, seine ... wie heißt das deutsche Wort ... seine Einpflanzung hinzunehmen, um in dieser mohammedanischen Ecke überleben zu können.“ Tschingis Aitmatow, der große kirgisische Dichter, hat in seinen Büchern die vorislamischen Traditionen seines Volkes anklingen lassen: Naturkult, eine Art ökologische Weltanschauung, individualistische Züge, die der Islam nicht kannte. Akajews Mannschaft hat das verdiente Glück, hier mit ihrem Modernisierungsversuch anknüpfen zu können. Nächste Folge: Die Atommächte der GUS COPYRIGHT:

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