Das grosse Notzeichen

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DAS GROSSE NOTZEICHEN Jens Rusch


Umschlag innen


Das große Notzeichen

“Es ist nicht wahr, aber ich glaube daran.” Umberto Eco


Jens Rusch ist ein norddeutscher Künstler. 1950 geboren und seit 1994 Freimaurer. Neben zahlreichen Illustrationszyklen in Radiertechnik, beispielsweise zu Goethes “Faust” und Arno Schmidts “Schule der Atheisten” schuf er großformatige Gemälde. Darunter das “Symbolgemälde” für die schleswig-holsteinische Landesregierung. Naturalistische,lebensgroße Bronzeplastiken und zahlreiche weitere Arbeiten runden sein Lebenswerk ab. Als sein zweites “Lebenswerk” bezeichnet er die größte thematische europäische Online-Enzyklopädie “FreimaurerWiki”. Die jahrzenhntelange Arbeit hieran inspirierte ihn zu diesem Buch.

Dieses Buch ist ein Roman, basierend auf faktischen Recherchen. Alle Namen und Orte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.


Jens Rusch

Das groĂ&#x;e Notzeichen

Selbstverlag


Bibliografische Informationen


Widmungen und Kooperationen


Zitate Die Vergangenheit kennen, Bedeutet nicht, sie zu verstehen


Inhaltsverzeichnis Seite 9

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Inhaltsverzeichnis Seite

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Auftakt

Der echte Norden hatte ganz wesentlich zu seiner Genesung beigetragen. Heute liebte er die Nachtfahrten wieder und ganz besonders diese in Richtung Sylt. Nur schade, dass seine Frau noch in Stuttgart lebte, die Wohnungssuche auf dem flachen land gestaltete sich behäbiger als er befürchtet hatte. Nur selten schreckte Norbert Breitenbacher noch aus dem Schlaf hoch und noch seltener hörte er das Geräusch zerberstender Melonen in seinen unruhigen Träumen. Mit der Bahntherapeutin hatte er tiefschürfende Gespräche hierüber geführt und gemeinsam hatten sie sich empört, dass die Bahn immer noch von den Zugführern verlangte, das Fahrgestell selbst zu reinigen. Nun gut, im Wesentlichen beschränkte sich das auf Kärcherarbeit, um das Blut zu beseitigen. Die Leichenteile hatten die Pathologen zu ihrer "Puzzle-Session" mitgenommen, wie sie es nannten. Überhaupt schien Sarkasmus den aufräumenden Mitarbeitern des Stuttgarter Kriminalamtes die Arbeit erst zu ermöglichen. Breitenbacher hatte sich am Bahndamm übergeben müssen. Es war ihm immer wieder unangenehm, wenn er sich daran erinnerte. Seltsam, dass die Therapeutin nichts vom guten alten "Totmannschalter" wusste. Das gute alte Stück ist auch heute noch bei Schienenfahrzeugen gebräuchlich. Dabei muss der Triebfahrzeugführer in regelmäßigen Abständen ein Bedienelement betätigen, um zu signalisieren, dass er noch wachsam ist. Bleibt dies aus, weil er nicht mehr handlungsfähig ist, wird automatische eine Zwangsbremsung eingeleitet. Er hatte die Gelegenheit genutzt um der hübschen Betreuerin die CD "Dead man´s handle" von Steve Strauß zu schenken. Überhaupt hatte die Behandlung besonders in der Schlußphase manchmal flirtähnliche Züge angenommen. Nein, übermüdet war er damals absolut nicht gewesen. 9


Manchmal, aber nur manchmal hatte er noch kurz aufflackernde Visionen. Meistens lag das an den stroboskopartigen Lichtern am Bahndamm, wenn sie hellerleuchtete Ortschaften passierten. Aber das war dann immer schnell vorüber und die Nachtlandschaft nahm wieder ihre Aufgabe als Beruhigungsfaktor in seinem Zugführerdasein ein. Seine Hände hatten bereits instinktiv den Nothalt ausgelöst, während er noch seinen Gedanken nachhing und den Schornsteinfeger bemerkte, der auf den Gleisen stand. Die Straßenlaternen auf der Brücke in seinem Rücken ließen ihn schemenhaft erscheinen. Mit seinem Zylinder sah er wie ein Scherenschnitt aus, den Breitschneider seiner Frau einmal auf dem Stuttgarter Weihnachtsmarkt gekauft hatte. Und da war es wieder. Das Melonen-Geräusch. Als würde man sie aus dem zweiten Stock auf das Straßenpflaster fallen lassen

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2 Beginn der Ermittlungen Der ermittelnde Beamte, Kriminaloberkommissar Robert Rosentreu schritt im Stelzgang über Erbrochenes hinweg. Im Hintergrund wurden Fahrgäste in einen Bereitschaftsbus der Bahn bugsiert. Viele waren es nicht und für fast jede der erblassten Gestalten stand ein Sanitäter zur Verfügung . Na wenigstens darin hatte die Bahn Routine. In einem Wagen der Bahnpolizei saß der Zugführer und summte irgendetwas vor sich hin. Seine Hände zitterten. Sein Blick richtete sich nach innen. Auf etwas, was andere nicht sehen können. Er schien unter Schock zu stehen und man bedeute Reusentreu, dass dieser ihr einziger Zeuge- im Moment nicht ansprechbar sei. Mehr als: "Ein Schornsteinfeger ?" hatte er bisher nicht zu den Sanitätern gesagt. Die Szenerie um den Zug herum wurde von wenigen Scheinwerfern erhellt. Das Ganze erinnerte Reusentreu an ein FilmSzenario. Auf dem hochgelegenen Bahndamm standen Gaffer mit ihren Smartphones vor einer dunklen Waldkulisse. Sein Assistent, den das ganze Kommissariat nur Johann Lennon nannte, reichte ihm einen Asservatenbeutel, in dem ein blutiger, weisser Handschuh steckte. "Seit wann tragen Schornsteinfeger denn weiße Handschuhe?" fragte er sich. Mit einer Pinzette holte der hagere Assistent mit der runden John Lennon-Brille einen abgetrennten Finger aus dem handähnlichen Gemetzel hervor. Deutlich war der Fingerring zu erkennen und das Symbol darauf kam ihm merkwürdig bekannt vor. „Können wir mit ihm reden?“ „Er hat ein Sedativum erhalten. Ich denke, was immer er Ihnen vormurmeln wird, können Sie später ohnehin nicht verwerten.“ Der Sanitäter hakte den Lokführer unter, um ihn zum Rettungswagen zu geleiten. „Medikamente dieses Kalibers doch wohl nur bei Schock oder Trauma. 11


Aber er ist doch überhaupt nicht verletzt?“ Der Assistent hatte bereits von den schockiert herumstehenden Bahnbeamten in Erfahrung bringen können, dass dieses bereits der zweite „Schienensuizid“ für den abwesend dareinblickenden Breitenbacher sei. „Na, ob das ein Suizid war, steht doch noch gar nicht fest. Welche weiteren Optionen wir zusätzlich abwägen sollten, steht mir allerdings auch nicht unbedingt vor Augen. Was hat man denn bislang zusammentragen können ?“ Lennon hielt sich eine Hand vor den Mund und rülpste zur Seite: “Die Hälfte des Schädels lag verkeilt unter dem Triebwagen. Die andere Hälfte suchen wir noch. Die Teile muss der Pathologe dann zusammensetzen. Ich schätze, er muss einiges an kreativer Phantasie dabei aufbringen. „ Wieder brummte eine dieser winzigen Kamera-Drohnen über ihre Köpfe hinweg. „Könnt Ihr den Pressfuzzis hinter der Absperrung mal bitte miteilen, dass wir befugt sind, ihre Spielzeuge für Schießübungen zu nutzen ?“ Das stimmte zwar nicht, aber in der Regel reichte diese Warnung für einen geordneten Rückflug. Jetzt, in der Nacht waren die Dinger ja leicht auszumachen, denn sie benutzten erstaunlich lichtstarke LED-Strahler, um den blutverschmierten Triebwagen auszuleuchten, während sie filmten. Manchmal wünschte sich Reusentreu, seine Abteilung in Elmshorn würde auch über solche Dinger verfügen . “Was denken Sie, wie lange wir die Bahnstrecke noch sperren müssen ?“ Die Bahnbeamten hatten einen weiteren Triebwagen rückwärts vor den blutverschmierten Unglückszug bugsiert. “Das sagt Ihnen die Spurensicherung. Aber bei diesem kleinteiligen Puzzle kann das dauern.“ “Dieses ist die Hauptstrecke Hamburg- Sylt und auf der Insel ist Morgen Bettenwechsel angesagt. Da hängen Existenzen in der Luft, die ganze Insel lebt vom Tourismus.“ 12


„Wir kümmern uns aber jetzt erst einmal um den, der nicht mehr in der Luft hängt, sondern unter diesem Triebwagen.“ Reusentreu hatte das Bedürfnis, in Ruhe nachdenken zu dürfen. “Wir haben da etwas gefunden. Genau an der Stelle, am Rande des Bahndammes an der dieser Schornsteinfeger gestanden haben muss.“ Kriminalhauptkommissar Lennon hielt einen kleinen Lederkoffer in seinen Händen. Oben am Waldrand trat einer der Gaffer etwas zur Seite und sprach leise in sein Smartphone: “Er hat´s gemacht“.

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3 Erster Tag, Nächtliche Szene “Gib mal den Vibrator“. Das winzige Gerät zitterte wenige Momente im Sicherheitsschloss des alten Gutshofes, dann ließ sich die Tür mühelos öffnen. Die vier Männer trugen Skimasken. „Sucht Euch Trittleitern, im Atelier müsste eine stehen, eine weitere im Hauswirtschaftsraum.“ Sie waren niemals in diesem Haus gewesen, schienen sich aber sehr gut auszukennen. „Nehmt die Masken erst ab, wenn alle Kameras demontiert sind. Wenn Ihr den FestplattenRecorder gefunden habt, sofort Meldung an mich. Vergesst nicht, die Spachtelmasse mit dem Föhn zu trocknen!“ Sein Handy vibrierte. Er vernahm die geflüsterte Nachricht: “Er hat´s gemacht“. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das würde ein guter Tag für seinen Auftraggeber werden. Der zweite Erfolg in kurzem Abstand. Wenn sie jetzt noch den Festplatten-Recorder finden würden. Nachdem die ersten Kameras im Atelier, der Diele und im Büro abgebaut und die Schraublöcher zugespachtelt waren, hörte man den leisen Akku-Föhn unter den hohen Decken summen. Danach pinselten sie etwas vom Umgebungsstaub über die kleinen weißen Punkte an der Decke. „Keine Kabel, kein Recorder“ meldete einer der Vermummten. „Aber das hier.“ Er wies auf das kleine Gerät auf dem Arbeitstisch über dem PC im Büro. „Sieht aus wie eine Fritz-Box, ist aber der Empfänger für die FunkKameras. Ich fürchte, wir müssen doch an den PC. Anscheinend hat er die Kamera-Daten in einer Cloud gespeichert.“ “Auf gar keinen Fall. Um den Computer kümmern sich unsere Schweizer Freunde, die haben den voll im Griff. Dürfte nicht schwer sein, den Zugang zu den Cloud-Daten zu erlangen. Aber das muss sofort geschehen. Morgen wird es hier von Ermittlern nur so wimmeln. Ihr könnt die Masken jetzt abnehmen.“

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.“ Er ging noch einmal durch alle Räume und überprüfte die Stellen, an denen sich die Kameras befunden hatten. Nichts wies mehr darauf hin, dass sich in diesem Haus überhaupt einmal ein Überwachungssystem befunden hatte. Und somit könnte auch niemand mehr feststellen, wer Zugang zu diesem System hatte.

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Frühstück „Weshalb nennst Du ihn eigentlich immer „Lennon? Er heißt doch Johann Leonhard.“ “Na, Du solltest mal in seinem Wagen mitfahren, wenn er eine seiner Beatles-CDs einlegt und laut mitsingt. Aber immer nur die Stimmlage von John Lennon, die anderen kann er nicht.“ Reusentreu wusste genau, dass dieser kurze Augenblick von Frühstücksrealität mit seiner Frau oft den einzigen Lichtblick in seinem Berufsalltag darstellte. Deshalb vermied er es nach Möglichkeit, Ihr von seinen mitgeschleppten Eindrücken zu erzählen. Aber er beantwortete durchaus ihre Fragen, auch die bezüglich laufender Ermittlungen. “Wieso geht Ihr eigentlich von einer Straftat aus“ wollte sie wissen. „Weil es einen ganz ähnlichen Fall in der Nähe Hildesheims vor einigen Wochen gab. Als der Polizeibeamte der Dienststelle St. Michaelisdonn nun diesen Fall mit wenigen Anhaltspunkten meldete, spuckte unser Computer sofort die Deckungsmenge aus. „Kongruenzen“ nennen die Programmierer das wohl. Frag mich nicht, weshalb. Als wir den Computer des Opfers untersuchten, fanden wir heraus, dass der Mann geradezu in diese sehr spezielle Form von Selbstmord getrieben worden war. Das ganze Szenario war vorab akribisch beschrieben worden. Das wird nun auch unser Ansatz sein. Ich muss los.“

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Briefing Seine Assistenten standen bereits an der Pinnwand. Lennon hatte seine digitalen Schnappschüsse ausgedruckt und chronologisch befestigt. Man musste schon genau hinschauen, um die blutigen Fleischfetzen von den rostfarbenen Eisenrädern zu unterscheiden. Einzig der halbe Schädel und der Fingerrest im weissen Handschuh waren einigermaßen gut zu erkennen. Lennon musste Otto Göpfert und Hilal Abdulhamid, die als jüngste Kommissarin schon wegen ihrer Übersetzungskünste von den Kollegen sehr geschätzt wurde, die grausigen Fotos erläutern. “Die letzten Reste fand man unter dem achten Fahrgastwagen bis dahin war der ganze Mann unter dem Zug verteilt. Im Vergleich mit anderen Schienensuiziden keine Besonderheit. Und das passiert weit häufiger, als man vermutet. Ich suche nachher mal die Statistik heraus.“ Göpfert gab einen kurzen Bericht an Reusentreu: „Die Polizeiwache in St. Michaelisdonn hat sich einen Kühltransporter aus einer nahen Käserei ausgeliehen und die Leichenteile in die Pathologie des UK-SH nach Kiel geschafft. Die Strecke wurde gegen 8 Uhr wieder freigegeben und der Zug nach Altona geschafft. Dort wird er gereinigt und auf mögliche Schäden untersucht.“ „Welcher Pathologe ist im UK-SH zuständig?“ wollte Reusentreu wissen. „Ruf da jetzt bloß nicht an, die haben mich gerade so was von abgebügelt“ warnte Göpfert. „Vor morgen Mittag wird das nichts. Zuständig ist übrigens Dein alter „Freund“ Moltke.“ “Auch das noch“ murmelte Reusentreu. „Weitere Neuigkeiten?“ “ Durchaus“. Hilal Abdulhamid fügte ein weiteres Foto hinzu. Es zeigte eine Art weiße Lederschürze mit einigem „Gebamsel“, wie Göpfert die Applikationen nannte. Obwohl von Weiß eigentlich kaum noch die Rede sein konnte. Das Objekt war von bereits leicht angedunkeltem Blut überzogen. 17


“Kann man das Ding nach der DNA-Analyse und Archivierungsaufnahmen reinigen? So ist schwer zu erkennen, was das sein soll.“ “Brauchen wir nicht Robert. Ich habe mir die Hildesheimer Fotos mailen lassen, dort gab es genau solch ein Ding. Und die hatten das genau so gereinigt, wie Du es Dir vorstellst. „Hier!“ Er pinnte ein weiteres Foto an das Board. Die Kollegen schrieben auch, das sei ein sogenannter „Schurz“, wie ihn die Freimaurer tragen.“ Schlagartig fiel Reusentreu ein, woher er das Symbol auf dem matschigen Ringfinger kannte. “Zirkel und Winkel“ murmelte er, das internationale Freimaurer-Symbol. „Nix Burschenschaft und schlagende Verbindung.“ “Na, da sollten wir uns das Köfferchen wohl mal genauer ansehen. Hilal und Lennon, Ihr Fahrt zur Wohnung des Toten in Glückstadt. Adresse und Schlüssel waren seltsamerweise geradezu bereitgelegt.“ “Da gab es noch eine weitere Besonderheit. Wir fanden den Wagen unabgeschlossen und mit steckendem Zündschlüssel auf einem Waldweg in Christianslust.“ Göpferte legte den Autoschlüssel zu den anderen Fundstücken. “So besonders finde ich das nicht“, meinte Reusentreu. „Wenn ich mein Leben beenden will, ist es mir sicher nicht mehr so wichtig, ob mir jemand den Wagen klaut oder nicht. Wohin hat man den Zugführer gebracht und ist er inzwischen vernehmungsfähig ?“

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“In die psychiatrische Tagesklinik hier im Klinikum Itzehoe,“ sagte Göpfert. Ich habe dort bereits angerufen, er ist so halbwegs wieder beieinander. Aber sie wollen noch ein EKG machen, um sicher zu sein, dass er keine Attacke hatte. Da haben die Rettungssanitäter gestern Nacht gut mitgedacht.“ „Inwiefern“ wollte Reusentreu wissen. „Na, eigentlich hätte er ins Klinikum Heide verbracht werden müssen, weil der Vorfall in deren Zuständigkeitsbereich fiel. Aber wir hatten sie darum gebeten, ihn nach Itzehoe zu bringen, weil wir ja von hier aus die Ermittlung koordinieren.“ „Dann schau Du Dir unterdessen mal den weitern Inhalt des Köfferchens an, insbesondere die beiden Umschläge. “

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4 Der Koffer Die weissen Handschuhe, die Lennon übergestreift hatte, um den schmalen Lederkoffer zu öffnen, erinnerten Reusentreu fatal an das Fingerhackfleisch und den eigenartigen Ring. Lennon hielt sich das Zahlenkombinationsschloß ans Ohr, während er konzentriert daran herumdrehte. Mit leisem Klicken sprang das Schloß auf. Lennon hatte ein triumphierendes Lächeln aufgesetzt: „Das muss man schon vor dem ersten Semester auf der Polizeiakademie draufhaben, sonst kann man locker fast jede Runde in der Polizeikantine bezahlen“. “Das ist ja eine richtige Wundertüte für ermittelnde Untersuchungs-Absolventen. Was haben wir denn da? Seltsame Abzeichen oder Orden. Was kann man da lesen? Lassen Sie mich bitte mal ins Licht. „Neocorus-Loge“. Na, von mir aus. Sieht nach einer Studentenverbindung aus. Ich geh´ mal davon aus, dass sich „Schmisse“ oder andere Gesichtsnarben nicht mehr feststellen lassen. Ein Schlüsselbund. Fahrzeugpapiere, Personalausweis und zwei große Umschläge. Nix da, Finger weg! Das öffnen wir im Büro. Hier ist für uns Feierabend. Was wir nicht von der Spurensicherung erfahren, wird sich uns hier am Bahndamm heute Nacht auch nicht unbedingt erschließen. „ Reusentreu war ganz sicher genau so müde, wie seine beiden Assistenten. Er verabschiedete sich vom leitenden Polizeibeamten, der ihn zum Ort des Geschehens hinzugerufen hatte und machte sich auf den Heimweg. Es hatte zu nieseln begonnen. Nun, die meisten Spuren dürften unter dem Triebwagen und den Fahrgastabteilen kaum etwas davon abbekommen. Er hasste es, wenn norddeutscher Regen ihre Arbeit in Stress ausarten ließ, weil womöglich etwas fortgespült werden könnte. Wobei ihm ein Starkregen, der das umständliche Aufbauen von provisorischen Spusi-Zelten rechtfertigte, fast lieber war, als dieses „heimliche Nassmachen unbescholtener Bürger“, wie er es nannte. 20


Seine Frau hatte immer einen leichten Schlaf, wenn er sich im Einsatz befand. Sonst schlief sie tief und fest. Obwohl er sich bemühte, ihr Haus in Bönningstedt besonders leise zu betreten, saß sie im Bett und erwartete zumindest eine kurze Schilderung. Jetzt erst beschlich ihn eine bittere Übelkeit. Die Bilder des halben Kopfes würden ihn in seine Träume begleiten. Nur gut, dass er sich an diese bereits beim Frühstück nicht mehr erinnern konnte.

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5 Vernehmung Breitenbacher

Erster Tag

Die Parkplätze vor der psychiatrischen Tagesklinik waren wie Reusentreu erwartet hatte, bis auf den letzten Platz belegt. Aber er hatte Glück. Nach kurzem Warten wurde ein Platz frei. Nach einem kurzen Gespräch mit dem behandelnden Therapeuten wurde ihm sogar ein kleiner Behandlungsraum für die Vernehmung zur Verfügung gestellt. Die Nachricht vom grausamen Vorfall hatte anscheinend schnell die Runde gemacht und man ging betont behutsam mit dem Zugführer um. “Bitte sagen Sie uns, zu welchem Zeitpunkt wir die Erstbetreuer der Bahn benachrichtigen sollen, damit Herr Breitenbacher abgeholt werden kann. Die werden sich dann kompetent weiter um ihn kümmern. Für solche Fälle hat die Bahn ein Kriseninterventionsprogramm, das kennen wir bereits. Die haben recht gute Seelsorger in ihrem Team.“ “Das ist nicht der erste Fall dieser Art für Sie?“ wollte Reusentreu wissen. “Keineswegs, aber in erster Linie kümmern wir uns um die missglückten Suizidversuche, so paradox es klingen mag. Hier geht es um eine akute Belastungsreaktion.“ Breitenbacher machte einen konsternierten Eindruck, als er sich setzte. Das Zittern der Hände war jedoch kaum noch zu bemerken. “Und ich dachte, ich wäre damit durch. Das ist nicht das erste Mal, verstehen Sie?“ fast hat der Blick des Zugführers etwas Hilfesuchendes. “War der andere Vorfall auch hier bei uns in Norddeutschland“ ? wollte Reusentreu wissen. “Nein, in der Nähe Stuttgarts. Deshalb hatte ich mich ja versetzen lassen. Ich fühle mich richtig verfolgt, als hätte ich etwas verbrochen, als wäre ich stigmatisiert. 22


“Ich bin sicher, dass Sie sich keine Vorwürfe machen müssen, Sie haben den Suizid ja nicht verursacht“. “Nein, aber ja auch nicht verhindert. Dieser verdammt lange Bremsweg. Ich habe ihn ja deutlich gesehen, stand ja unter einer der wenigen Laternen vor der Brücke. So, als wollte er gesehen werden. Komischer Anblick, schwer zu vergessen, fürchte ich. Sah aus wie ein Schornsteinfeger in „Hände hoch“- Stellung. Wie bei den Karl May-Festspielen. Was einem da so rasend schnell durch den Kopf geht. „Ein Cowboy mit Zylinder“ dachte ich noch, „aber ich sehe keine Indianer“. Nur dummes Zeug, während ich die Notbremsung einleitete, ohne genau zu realisieren, was ich da eigentlich mache.“ “Vielleicht die abgespeicherte Erfahrung dessen, was Sie in Stuttgart erleben mussten?“ “Kann sein. Und dann dachte ich: Jetzt kommt gleich das Geräusch der zerplatzenden Melone. Ich kann wirklich nicht sagen, ob ich es wirklich wieder so gehört habe, oder ob das nur die Erinnerung war. Wirklich nicht. Immerhin sind die Bremsgeräusche der Stahlräder recht laut und kreischend. Aber in meiner Erinnerung hat es auch hier wieder so geklungen.“ Nun begannen seine Hände doch wieder zu zittern und Tränen traten in seine Augen. “ Und dieser Blick. Ein Bruchteil von Sekunden, aber die Augen waren weit aufgerissen. Wie wird man solch eine Erinnerung nur wieder los?“ Reusentreu notierte sich noch die Kontaktadresse, beschloss aber, den verstörten Zugführer vorerst nicht weiter zu belasten. Er informierte die Stationsleiterin, dass sich die Bahn-Seelsorger nun um den Zugführer kümmern sollten. 23


6 Wohnung des Toten in Rellingen

Zweiter Ermittlungstag

„Wunderbarer Kaffeeautomat!“ Göpfert streichelte den Apparat und nahm seine Tasse Milchkaffee mit in das Hauptbüro des Kommissariats. Er hasste Filme, in denen unweigerlich störrische, eigenwillige oder kaputte Automaten eine dumme Rolle spielten. Lennon und Abdulhamid hatten einen Tisch vor dem großen Pinboard aufgestellt. Darauf lagen weitere Aktenordner, einige eigenartige Gegenstände mit der Symbolik, die Reusentreu am Fingerring des Toten bemerkt hatte. Neu angeheftete Fotos zeigten die Wohnung des Toten in Glückstadt. An den Wänden waren Unmengen an engbeschriebenen Notizzetteln, Kopien und Fotos zu sehen. “Wir haben die Spusi gebeten, diese Zettel-Orgie einzusammeln und hierher zu bringen, wenn alle Wände hinreichend dokumentiert wurden. Die sind noch vor Ort.“ „Das halte ich für keine gute Idee, bitte rufen sie sofort dort an und lassen sie die Zettelwirtschaft zunächst an Ort und Stelle. Möglicherweise könnten die Relationen der Notizen zueinander sich als aufschlussreich erweisen. Von wie vielen Zetteln reden wir?“ wollte Reusentreu wissen. “Unglaublich vielen. Alle vier Wände des großen Büros waren völlig damit übersäht. So, als hätte jemand Schwierigkeiten, sich in ein komplexes Thema hineinzuarbeiten. Es gab mal einen Hamburger Schriftsteller im Rotlichtmillieu, der so seine Romane erarbeitete, ich komme grad nicht auf seine Namen. Jedenfalls ist unsere Pinntafel hier Kinderkram dagegen.“ Lennon versprach, herauszufinden, wie dieser Hamburger Schriftsteller hieß: „ Muss aber nicht wichtig sein. Er war schwul und ist tot“. “Nun ja, im Grunde könnte man das ja vielleicht tatsächlich mit unserer Arbeit vergleichen. Ich habe jedenfalls spontan daran denken müssen, als ich die Wohnung betrat.“ Hilal Abdulhamid wies auf zwei der fotografierten Zettelgruppen: „Justiz im Nationalsozialismus“ stand auf einem und auf dem anderen „German Freemasonry in the time of Fascism and National Socialism“. 24


“Was sehen wir in den Ordnern hier?“ Reusentreu wies auf die Ansammlung auf dem Tisch. “In einem befinden sich getippte und handgeschriebene Briefwechsel mit einer Organisation, die sich „Myositis“ nennt. Und jetzt kommt´s ……..“ Lennon schien die gespannte Aufmerksam zu einer Kunstpause nutzen zu wollen, aber Reusentreu wurde ungeduldig: „Komm, mach hin, ich habe einige Fragen!“ “Ganz ähnliche Briefwechsel hat man auch bei dem Schienensuizids-Toten in Hildesheim gefunden! Und auch der gehörte anscheinend dieser Gruppe an, die sich „Myosotis“ nennt. Auch auf dem PC haben wir verschlüsselte Ordner mit dieser Bezeichnung gefunden. Den haben wir allerdings mitgebracht und unserer IT-Abteilung übergeben.“ Lennon setzte sich und deutet damit an, dass er das zunächst einmal für einen völlig hinreichenden Informationsschub hielt. “Hast Du im Kofferinhalt möglicherweise etwas gefunden, was unseren IT-Trüffelschweinchen die Arbeit erleichtern könnte. Zettel mit Passwörtern oder so was?“ wandte sich Reusentreu an Otto Göpfert.

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7 Der geöffnete Koffer

Zweiter Ermittlungstag

“Spickzettel mit Passwörtern ? Wir sind hier doch nicht bei Harry Potter. Nein, so etwas habe ich nicht gefunden, aber zwei „Logenausweise“. Die werde ich mal kopieren und an die ITFuzzis weitergeben. Vielleicht hat er ja aus diesem Fundus seine Passwörter gebastelt. Ich mache das jedenfalls so.“ Göpfert zuckte zusammen: „Also das vergesst Ihr bitte sofort wieder, ja ?“ “Ja klar. Und ich habe einen Zettel mit all´ meinen Passwörtern in meiner Brieftasche. Die kann ich mir schon lange nicht mehr alle merken. Deshalb fragte ich ja.“ sah nun auch Reusentreu eine Chance, seinen Lapsus zu rehabilitieren. Und was ist mit den großen Umschlägen ? “Das Zeugs in dem braunen Umschlag ist durchweg kryptisch. Scheint so eine Art Geheimschrift zu sein. Rechte Winkel, Punkte und Striche. Mal links am Rand, mal rechts. Das war mir zu speziell und ich habe versucht, das zu googeln. War aber ohne Erfolg. Dann habe ich davon ein Foto gemacht und es über „Search by image“ versucht. Das ist ja für uns eine großartige Neuerung. Google sucht dann einfach ähnliche Bilder und mit etwas Glück erhält man dabei Hinweise auf Quellen und weitere Informationen. Die benutzen dafür übrigens die gleiche Software wie für die Gesichtserkennung, die wir ja auch verwenden. Bei der Analyse der Algorithmen ist es dann egal, ob die eine Blumenvase oder ein Fahrrad analysieren.“ Göpfert holte einen Ausdruck von seinem Schreibtisch: “Es handelt sich dabei um eine Geheimschrift, die Freimaurer früher mal benutzten, um wichtige Urkunden und Dokumente zu verschlüsseln. Die nennt sich „Noachitische Schrift“, fragt mich bitte nicht, warum. Bekannt wurde der Code unter der Bezeichnung „Hühnerstallcode“, das kann ich mir auch viel besser merken. Heute wird der angeblich nur noch in der amerikanischen Freimaurerei benutzt. I 26


. Ich denke mal, der wird hier nicht mehr benutzt, weil er recht leicht zu entschlüsseln ist. Okay, aber Arbeit ist es allemal. Ich habe bereits eine Praktikantin drangesetzt. Im Internet gibt es zahlreiche Hinweise auf die Möglichkeit, solche Chiffren zu entschlüsseln.“ “Soweit, so gut. Und was befindet sich in dem anderen A4Umschlag ?“ Reusentreu wurde ungeduldig. “Durchweg Korrespondenzmaterial und alle handgeschrieben. Schwer zu lesen. Teilweise Sütterlin und oft zittrige, häufig durchgestrichene und korrigierte Texte Einige mit Tinte und Federhalter geschrieben. Bei einigen sieht es so aus, als wären sie nass geworden und dadurch fast unleserlich verschwommen. Was besonders auffällig ist: Sie wurden überwiegend in amerikanischem Jiddisch geschrieben. Einige in deutschem Jiddisch. Einen dieser deutschen Briefe habe ich mir vorgenommen. Er fiel mir auf, weil er so aquarelliert wirkte. Die braune Sepia-Tinte war an einigen Stellen arg verschwommen. Eine sehr alte Frau schilderte darin ihre Flucht als Kind unter einem Stapel Leichen, die man aus dem Warschauer Ghetto schaffte. Über ihr lagen ihre toten Eltern und Nachbarn. Als ich begriff, dass die „aquarellierten“ Passagen von Tränen stammten, konnte ich nicht weiterlesen. Auf dem Umschlag stand übrigens ebenfalls „Myosotis“.

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8 Schienensuizid

Zweiter Ermittlungstag

“Ich hab mich mal ein wenig schlau gemacht“. Kriminalhauptkommissar Göpfert wies auf einige Notizzettel auf seinem Schreibtisch. Es mag Euch kurios erscheinen, aber es gibt tatsächlich einen Fachbegriff für das, was wir hier gerade erleben: „Schiensuizid“ nennt man das im Bahnjargon. Genauer ausgedrückt, und das lernt der Zugführer tatsächlich während seiner Ausbildung: Selbsttötung durch ein fahrendes Schienenfahrzeug. Sonderlich empfehlenswert ist diese Methode allerdings nicht. Viele dieser Versuche scheitern und neben den eigentlichen Ursachen für diese Verzweiflungstat müssen die Überlebenden dann auch noch verkrüppelt und nicht selten mit abgetrennten Gliedmaßen ihr Restleben über die Bühne bringen. Keine wirklich schöne Vorstellung. Hinzu kommen dann in aller Regel auch noch Klagen durch die Bahn, wegen Verdienstausfall oder Beschädigung.“ “Das ist jetzt nicht Dein Ernst“, warf Lennon ein. „Die Bahn verklagt die Verstümmelten?“ “Jupp, gnadenlos. Und das gilt auch im Erfolgsfalle, also dann, wenn der Selbstmord wie in unserem Fall ablief. Dann werden die Erben als schadenersatzpflichtig betrachtet. Die Deutsche Bahn Ag verzichtet zwar zumeist auf ihre Ansprüche, aber regionale Betreiber müssen per Gesetz oft darauf bestehen. Leute, wir sind in Deutschland ! Ich lese Euch mal einen meiner Lieblingsparagraphen vor.“ Göpfert baute sich in theatralischer Pose auf und zitierte und erinnerte ein wenig an Karl Valentin, der aus dem Faust zitiert: “Wenn der Suizident allein diese Bezeichnung muss man sich auf der Zunge zergehen lassen rechtswidrig und schuldhaft Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert- also in unserem Falle wäre das der Triebwagen- gefährdet, macht er sich nach Paragraph 315 StGB eines gefährlichen Eingriffes in den Bahnverkehr strafbar. 28


Und nun kommt der eigentliche Hammer: Nur wenn es zum Tod des Suizidenten kommt, stellt dies ein Verfolgungshindernis dar, was zur Einstellung des Verfahrens nach § 260 Abs. III StPO führt“. Er verneigte sich mit weitausholender Gebärde und alle Kollegen klatschten verhalten. “Du wolltest noch recherchieren, wie häufig solche „Schienensuizide“ vorkommen“, wollte Hilal Abdulhamid wissen. Mir erscheinen bereits unsere beiden Fälle schon wegen der kurzen zeitlichen Abfolge ungewöhnlich häufig.“ “Na, dann haltet Euch mal fest, meine Guten. Das Eisenbahnbundesamt hat einen Jahresdurchschnitt von 838 Suiziden errechnet und hier reden wir nur von den „erfolgreichen“ Suiziden. Deutschland nimmt hier im europäischen Vergleich mit Abstand eine Spitzenposition ein. Die EU-Statistik weist im Jahre 2015 beispielsweise insgesamt 2762 Schiensuizide auf. Das hat mich echt umgehauen. Ich kann Euch gern die Statistiken weiterer Jahrgänge heraussuchen, die variieren aber selbstverständlich. Ist ja schließlich kein Wettbewerb.“ Hilal hielt sich eine Hand vor den Mund und wirkte konsterniert: „Das haut mich jetzt aber echt um. Das wären dann ja zwei bis drei Suizide pro Tag. Mal abgesehen davon, dass wir hier von statistischen Größen reden wie werden denn die Zugführer auf solche möglichen Fälle vorbereitet. Schließlich kann ja niemand davon ausgehen, dass er davon nicht einmal betroffen würde.“ „Nee, absolut nicht. Man geht davon aus, dass jeder Zugführer im Laufe seines Berufslebens zwei bis drei Suizide verkraften müsse, warf Reusenberger ein. Das hat mir jedenfalls der Zugführer im Klinikum Itzehoe erzählt. Bei ihm war es gerade der zweite Vorfall. Er steht zwar noch deutlich unter dem posttraumatischen Eindruck des Geschehens, aber man hat ihn einigermaßen stabilisiert. 29


Dabei war es von Vorteil, dass er bereits eine dieser miesen Erfahrungen hinter sich hat. Der Junge ist fix und fertig. Er hat in erster Linie Angst davor, er könne seine Zulassung verlieren, das kommt nämlich auch vor. Inzwischen hat die Krisenintervention der Bahn die Erstbetreuung übernommen. Die haben da so eine Art internen Rettungsdienst.“ “Wieso hört man denn davon so wenig?“ wollte Hilal wissen, die sehr betroffen auf diese Information reagierte. “Ich denke mal, dass sich Journalisten hier einem ähnlichen Pressekodex unterwerfen, wie bei der Darstellung von Katastrophen oder Kriegsereignissen. Da werden ja auch keine Leichen oder verletzte Opfer gezeigt. Wir haben ja gesehen, welche verzerrenden Folgen die Fotos der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingskinder hatten.“ „Leider gilt dieser Kodex nicht für Schaulustige und Gaffer, die mit ihren Smartphones Unfallopfer knipsen und dann bei Facebook oder Instagram posten“ ereiferte sich Lennon.

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9 Briefing (Breafing) Dritter Ermittlungstag Hilal Abdulhamid hielt einige Notizen hoch „Unsere ITTrüffelschweine sind ihr Geld wert. Wir sind drin. Unser erster Gedanke, unter den Logenunterlagen könnten sich Hinweise auf Passwörter befinden, hat sich als goldrichtig erwiesen. Mit dem Logennamen „Neocorus“ waren wir ratzfatz im Hauptverzeichnis. Das war also ein Kinderspiel, aber bei den Unterverzeichnissen war es dann schon etwas schwieriger. Ganz besonders bei denen, die in hebräischer Sprache daherkommen. Unser IT-Dieter Anonymus Müller musste sich ein besonderes Übersetzungsprogramm besorgen, mit dem die Buchstaben von rechts nach links angeordnet werden“. “Wieso das denn?“ wollte Göpfert wissen, das kann doch jedes herkömmliche Schreibprogramm.“ “Das haben wir zunächst auch gedacht, aber bei unseren Standard-Programmen werden dabei die Buchstaben zum Teil wie auf einer Achse umgedreht, hautsächlich die Versalien“, wusste Hilal Abdulhamid. „Aber unseren Kollegen in Tel Aviv war das Problem durchaus bekannt. Kleines Software-Update und wir waren drin. Der Datenumfang ist allerdings enorm, da müssen wir uns erst einmal einarbeiten. Lennon hat sich bereits damit zurückgezogen. Zu dem, was wir bereits erkennen konnten, habe ich mir einige Notizen gemacht.“ “Wir werden gleich Zuwachs bekommen“, unterbrach Reusentreu. „Das LKA hat eine Sonderkommission ins Leben gerufen und ist unserem Vorschlag gefolgt, diese „ SOKO Myosotis“ zu nennen. Das bedeutet, wie Ihr ja bereits wisst, „Vergissmeinicht“, weil wir unter dieser Bezeichnung bei beiden Suizid-Opfern so bezeichnete Unterlagen fanden. Es stößt also ein Kriminalhauptkommissar namens Gershon Rosenfeldt aus Hamburg hinzu, der bereits mit dem Hildesheimer Fall betraut ist. Er steckte in Stellingen im Stau, wird aber gleich erscheinen.

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Inzwischen kann ich Euch etwas über die Identität unseres Opfers berichten. Sein Name ist, bzw. war laut Personalausweis Friedensreich Peter Blumenthal, geboren im April 1950. Auf seinen Visitenkarten, die wir in seinem Köfferchen fanden, stand allerdings Peter Blume. Als Berufsbezeichnung stand da „Künstler“. Mein erster Gedanke war also, dass es sich hier um seinen Künstlernamen handeln könnte. Dieses zumal, weil Hilal und Otto davon berichteten, dass sich in seinem Haus in Rellingen ein ziemlich großes Atelier befindet. Als ich mir dann die Unterlagen des Hildesheimer Falles genauer ansah, bemerkte ich allerdings, dass der Name des dortigen Opfers Mordechai Ernst Lebensbaum, geboren im Oktober 1946, auf den Geschäftsunterlagen verkürzt mit Ernst Baum angegeben wurde. Da dieser kein Künstler, sondern Großhandelskaufmann war, ging ich der Sache nach. Ich erhielt aber ernüchternde und aus meiner Sicht beklemmende Informationen vom Zentralrat der Juden in Berlin. In der unmittelbaren Nachkriegszeit gingen die wenigen noch in Deutschland lebenden Juden- vermutlich noch unter dem Arisierungstrauma- dazu über, ihre Namen so anzugleichen, dass sie nicht auf den ersten Blick als Juden erkennbar waren. Jüdische Familiennamen sind ja oft recht poetisch. Diese Wortschöpfungen fand ich eigentlich immer sehr sympathisch und wesentlich phantasievoller als Schmidt oder Müller. Dieses legale „Umtaufen“ hatten ja bereits deutsche Auswanderer in den USA vorgemacht. Dort zwar primär, weil die Amerikaner deutsche Zungenbrecher wie „Kramp Karrenbauer“ nur unter Verletzungsgefahr aussprechen können, aber sicherlich hat auch dort ein latenter Antisemitismus eine Rolle gespielt. In den fünfziger Jahren hatte man dafür in Deutschland behördlicherseits sicherlich ein gewisses Grundverständnis, denn inzwischen dürften sich die ansonsten angeblich von niemandem bemerkten Greueltaten der Nazis wohl herumgesprochen haben. 32


Es gibt übrigens kuriose Parallelen zur sogenannten „Amerikanisierung“ deutscher Einsiedlernamen. In der neuen Welt gingen bestimmte Buchstaben und Identitätsmerkmale verloren. Umlaute und schlicht für Amerikaner unaussprechliche Namensbestandteile. So wurde eben aus Schmidt kurzerhand Smith und aus Schneider Taylor, aus Müller wurde Miller, aus Schreiner wurde Carpenter, aus Bäcker wurde Baker und aus Schuhmacher dann eben Shoemaker. Ein buntes Sammelsurium von Anekdoten, die auch ihren Weg in die Literatur und in Drehbücher fanden. Es verbirgt sich also hinter den angepassten Namen Peter Blume und Ernst Baum kein sonderlich grosses Geheimnis, dem wir grössere Aufmerksamkeit widmen müssten. „ Es klopfte, Gershon Rosenfeldt stellte sich kurz vor. „Ein smarter Bursche“, dachte Reusentreu, „hat was von diesem Robert Habeck.“ Nachdem Göpfert ihm einen Milchkaffee angedient hatte und der Neuankömmling komprimiert und präzise ins Bild gesetzt wurde, ergriff dieser das Wort. “Dass die beiden miteinander bekannt waren, wissen wir seit ungefähr einem Jahr. Aus den Unterlagen Ernst Baums erfuhren wir zunächst von einer gemeinsamen Reise der Beiden nach Israel. Dort besuchten sie die Loge „Müffelmann“. Diese hat eine besondere Bedeutung für die deutsche Freimaurerei, weil sie genau wie eine weitere Loge in Chile während der Nazizeit als Exilloge diente.“ Reusentreu unterbrach ihn und wandte sich an seine Mitarbeiter: „Der Kollege Rosenfeldt wurde uns vom Landeskriminalamt nicht nur deshalb zugeteilt, weil er bereits mit dem Parallelfall in Hildesheim vertraut ist, sondern auch, weil er selbst ein Freimaurer ist.“ An Rosenfeldt gewandt: „Sie haben hoffentlich nichts dagegen, wenn wir hier untereinander offen mit Ihrer Mitgliedschaft umgehen ?“ 33


“Nein, ganz im Gegenteil. Immerhin ist das zunächst einmal der sogenannte „rote Faden“, der beide Fälle miteinander verbindet. Aber soweit wir bislang herausgefunden haben, ist das auch noch aus übergeordneter Sicht von bedeutender Relevanz.“ Hilal Abdulhamid hielt ihre Zettelsammlung hoch und wollte etwas dazu sagen. Rosenfeldt kam ihr zuvor: „Darf ich Sie mit einem Gedankenspiel konfrontieren? Mit einer kleinen Spekulation?“ “Nur zu“ antwortete die Kommissarin. “Sie haben festgestellt, dass Blumes Computer vor einigen Monaten gehackt wurde ?“ Sie nickte. “Und dann haben Sie in mehreren verschlüsselten Ordnern kinderpornografisches Belastungsmaterial gefunden ?“ Wieder nickte Hilal Abdulhamid. “Dann sagen Sie Ihrem IT-Beamten bitte, er möge nach Ordnern mit gespeicherten Mails suchen, die einem schweizerischen Mail-Provider namens „Bluewin“ zuzuordnen sind. Außerdem soll er sich in den GMXAccount Blumes einloggen und dort nach einem Ordner mit der Bezeichnung „Myosotis“ suchen.“ Der Milchkaffee, den Göpfert ihm hingestellt hatte, war zwar inzwischen kalt geworden, aber das schien ihn nicht zu stören.

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10 Myosotis

Dritter Ermittlungstag

“Dann erzähle ich Ihnen mit dem, was wir über „Myosotis“ herausgefunden haben, sicher nicht viel Neues“ richtete sich Göpfert an den Neuankömmling. “Wir können unsere Informationen gern abgleichen, aber setzen Sie doch bitte auch Ihre Kollegen bei dieser Gelegenheit ins Bild“. Rosenfeldt setzte sich mit seiner erkalteten Tasse an einen der hinteren Schreibtische im Großraumbüro und schaute sich interessiert um. Es schien sich um nette Mitarbeiter zu handeln, die ihn ohne große Probleme akzeptierten. “Gut, dann schauen wir mal.“ Göpfert hatte ein kleines Tablet in der Hand und las seinen Kollegen vor: „Die Gruppe „Myosotis“ hat ihre Bezeichnung von einer für sie recht bedeutungsvollen Symbolik im deutschen Widerstand nach 1933 entlehnt. Am „Vergißmeinicht-Zeichen“ erkannten sich die wenigen verbliebenen Freimaurer, die sich nicht der Nazi-Ideologie angepasst hatten. Nach dem FreimaurerVerbot war es lebensgefährlich, sich anders kenntlich zu machen. Viele Freiomaurer waren bereits in Konzentrationslagern gelandet. Die Gruppe Myosotis lässt sich lokal nicht verorten, ist vielmehr international aufgestellt. Drei Schwerpunkte ihrer Aktivitäten lassen sich in Deutschland, den USA und Israel ausmachen.“ „Waren denn unsere beiden Suizid-Opfer in besonderer Funktion im Rahmen dieser Aktion tätig ?“ wollte Reusentreu wissen. “Bei Ernst Baum wissen wir, dass er sich gemeinsam mit amerikanischen Freimaurern mit der Material-Recherche für mehrere Prozessvorbereitungen befasste“, warf Rosenfeldt ein. „Da geht es um Wiedergutmachungsansprüche, Kunsttransfer und kuriose Prozessvollmachten undUnterlagen. So wie es in den verfügbaren EntnazifizierungsAkten der sogenannten „Spruchkammern“ nachzulesen ist, gleicht es eher einer grotesken Satire.“ 35


“Wieso ging das ausgerechnet diesen Weg über freimaurerische Verbindungen? Es gibt doch doch hinreichend offizielle Institutionen im Rahmen der Holocaust-Aufarbeitung“, wollte Hilal Abdulhamit wissen. “Das wissen wir noch nicht genau. Ein Anfangsverdacht lässt aber die heutige Selbstdarstellung der Freimaurerei als ethisch hochanspruchsvolle Institution in einem recht fragwürdigen Licht erscheinen. Es schmerzt mich, das sagen zu müssen, aber anscheinend ist die Zeit zwischen 33 und 45 nicht unbedingt ein Ruhmesblatt für die deutsche Freimaurerei. Da wo man sich heute plakativ zu einem Nachhilfeunterricht in Ethik und Moral stilisiert hat, arrangierte man sich nach 1933 . Da die Freimaurer ja als Verfolgte eingestuft wurden, war es wohl auch besonders leicht, in den Entnazifizierungsverfahren rehabilitiert zu werden. Kreidefresser gab es in allen Gesellschaftsschichten. Es ist also nicht verwunderlich, dass man den Deckel auf dieser Büchse der Pandorra eher verlöten, als öffnen möchte. Damals wie heute. “Ich würde mir gern das Atelier von Peter Blume in Rellingen ansehen.“ Rosenfeldt sah Hilal Abdulhamid an, die ihm zunickte. Auf dem Weg zum Wagen fragte sie : “Wieso hatten Sie eine so konkrete Vorstellung dessen, was wir auf dem Computer vorfinden würden?“ “Ein wenig ins Blaue habe ich dabei schön spekuliert, aber ich dachte mir, als Einstieg wäre es nicht schlecht, wenn ein Teil meiner Vermutungen zutreffen würde“. Er grinste verschmitzt, was Hilal Abdulhamid mit einem Seitenblick bemerkte. “Ich habe dabei noch gar nicht alle Trümpfe ausgespielt“. “So, was haben Sie denn noch im Ärmel ?“ “Sie werden als Absender einiger Mails die gleichen Nicknames finden, die wir bereits aus dem GMX-Postfach von Ernst Baum kennen. Auch die gleichen oder doch zumindest ähnliche Mailadressen.“ 36


“Als da wären?“ “Stresemantel, Stressman, Distressman und Stresemandarin. Möglicherweise weitere, die aber diesem nicht sonderlich phantasievollen Schema folgen. Anscheinend macht es sich der Absender leicht oder hat wegen einer latenten Überlastung in seinem Gedächtnisspeicher ein krudes Schema für sich entwickelt. Das ist für uns so leicht zu durchschauen, wie der fünfmal geschiedene Fußballstar, der die Vornamen seiner abgelegten Ehefrauen als Passwörter nutzt. Kennt man die Kosenamen der verstorbenen Haustiere, hat man bei Anderen ebenfalls schnell Zugang zum Intimbereich des Computers. Für komplizierte Feinheiten haben wir allerdings unsere IT-Spezialisten und eine hochentwickelte Software. Aber das ist bei Euch sicher nicht viel anders, oder?“ Übergangslos war er zum freundschaftlichen „Du“ übergegangen, ohne Hilal um ihre Zustimmung zu fragen.

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11 Das Atelier in Rellingen

Dritter Ermittlungstag

Der ehemalige Gutshof sah zwar etwas renovierungsbedürftig aus, hatte aber durchaus noch etwas Würdiges. Fast ein wenig zu groß für einen Single. „Wann ging denn die Ehe Blumes auseinander ?“ wollte Hilal Abdulhamid wissen, während sie einige Schlüssel des kleinen Bundes ausprobierte, den sie im Köfferchen des Toten gefunden hatten. „Kann man schlecht sagen, darüber gibt es keine Unterlagen. Aber wir werden seine Frau ohnehin vernehmen müssen. Geschieden sind sie wohl noch nicht. So etwas kann zu einem zähen Prozess werde. Ich weiss, wovon ich rede.“ Rosenfeldt markierte den Haustürschlüssel mit einem Filzschreiber: „Damit wir nächstes Mal nicht noch einmal alle Schlüssel ausprobieren müssen“, grinst er. Es war kalt in dem großen Haus. Offensichtlich hatte Blume die Heizung abgestellt, als er das Haus zum letzten Mal verließ. Das kam den beiden pedantisch vor, allerdings sei der Künstler wohl auch gewohnt gewesen, seine Haushaltung im Auge zu behalten. Nach Reichtum sah hier nichts wirklich aus, wenn man von der Riesenmenge herumstehender und gehängter Bilder einmal absah. Wäre er ein Kunstsammler gewesen, hätte man auf ein stattliches Vermögen schließen können. So aber waren das ja lediglich nicht verkaufte Bilder und signalisierten eher das Gegenteil. Durch die Diele traten sie direkt in das große Atelier mit den zugezogenen Fenstern. „Auch bemerkenswert,“ meinte Rosenfeldt. „das machen Künstler, um ihre Bilder keiner unnötigen Lichtmenge auszusetzen, damit diese nicht verblassen. Irgendwie fürsorglich, wenn man bedenkt, was der Mann vorhatte.“ Als er die Vorhänge aufgezogen hatte, sah man auf einem kniehohen Podest zwei lebensgroße Statuen. „Die haben wir gestern bereits fotografiert“ bemerkte Abdulhamid. “Ja, ich habe die Fotos an Eurer Pinwand gesehen, war mir aber nicht sicher, wen sie darstellen. 38


Das ist auch der Hauptgrund, weshalb ich das Atelier sehen wollte. Das ist in diesem Stadium immer so eine Sache, man muss Plastiken im Original sehen.“ Er ging um die Plastiken herum und nahm einige Skizzen und Studien in die Hand, die auf dem Sockel lagen. “Das sind anscheinend Rohformen, die er hier für einen Bronzeguss vorbereit hatte.“ “Und wen stellen die Figuren dar?“ “Der Lange ist eindeutig zu erkennen als Friedrich Ludwig Schröder. Freimaurer kennen den. Ein lebensgroßes Portrait hängt in unserem Logenhaus in der Nähe der Staatsoper. Der Andere könnte Leo Müffelmann sein, aber den kenne ich lediglich als Portrait. Eine Ganzkörperaufnahme existiert meines Wissens nicht von ihm. Auch von dieser SchröderStatue gibt es meines Wissens nur ganz dürftiges Bildmaterial.“ “War Müffelmann nicht auch der Name der Loge, den die beiden in Tel Aviv besuchten“ erinnerte sich Abdulhamid. “Gut aufgepasst. Möglicherweise machten die Beiden die Reise, um ebendiesen Auftrag dort zu besprechen“ Rosenfeldt stutzte: „Warte mal, mir kommt da grad ein Gedanke, sicher bin ich zwar nicht, aber ich habe mal gelesen, dass dieser Friedrich Ludwig Schröder in seiner Zeit als Leiter des Hamburger Nationaltheaters in Rellingen gewohnt haben soll.“ Er schaute sich ehrfürchtig um: „Das wäre nun aber echt ein Knaller, wenn wir uns hier in dessen Gutshof befinden würden. Den hat sich Künstlerbruder Blume dann aber ganz sicher nicht ohne Grund zum Atelier umgebaut. Sei so nett und überprüfe das“.

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Witwengespräch Dritter Ermittlungstag Reusentreu hasste es, Überbringer einer solchen Nachricht zu sein.“ Das machen Frauen nun definitiv besser“ war seine Standard-Ausrede. Andererseits war die Reaktion auf eine Todesnachricht oft sehr aufschlussreich. In der Analyse der Mimik und Körpersprache steckte nicht selten der Schlüssel für alle weiteren Deutungen einer Aussage. Die weitläufige Galerie „Timeless ART“ in der RothenbaumChaussee verlangte jedem Besucher bereits am Eingang ein wenig Ehrfurcht ab. „Vermutlich ist Demut eine gute Voraussetzung für Preisverhandlungen“, schmunzelte er in sich hinein, setzte aber sofort wieder ein ernstes Gesicht auf, als er der schlanken Frau gegenüberstand, die er für die Galeristin hielt. “Eine sehr schöne Galerie haben Sie hier“. “Schön wäre es, wenn es denn meine wäre. Ich bin hier eigentlich nur für einige Spezialbereiche zuständig. Heute vertrete ich die eigentliche Besitzerin, Frau von Hohenfels, im öffentlich zugängigen Teil unserer Galerie.“ Nachdem er sich vorgestellt hatte und die Fragen in ihren Augen sah, bat sie ihn in ihr Büro im hinteren Teil der Galerie. Susanne Blume war in einem der weißen Ledersessel in sich zusammengesunken und starrte Reusentreu zunächst mit weit aufgerissenen Augen an. Dann fixierte sie eines der Gemälde neben einer Vitrine mit Kleinplastiken. Ihre Schultern waren herabgesunken und ein leichtes Beben der Lippen machte ihre ersten Worte schwer verständlich. Auf Reusentreus Bitte wiederholte sie: „Er hat es nicht durchgestanden“. Dann wiederholte sie den Satz ein drittes Mal, als wäre dieser an sie selbst gerichtet. „Was für eine Tragödie“. Reusentreu fragte leise, fast behutsam: „Was meinen Sie mit Tragödie?“ 40


Gleichzeitig fragte er sich, ob dieses der richtige Moment sei, die genauen Umstände des Suizides zu erwähnen. Er hatte sich so allgemein wie möglich ausgedrückt. Ein völliger Zusammenbruch wäre für seine Ermittlung ohne Wert gewesen. Das musste warten. “Ich hätte ihn damit nicht allein lassen dürfen. Er ist zu empfindsam für diese Dinge“. Sofort korrigierte sie sich: „Er war zu empfindsam“. “Sie sind geschieden? Wir konnten das seinen Unterlagen nicht genau entnehmen.“ Jetzt erst suchten sich ihre Tränen einen Weg und sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, als würde sie sich schämen. Der Körper zitterte, als sie sich bemühte, die richtigen Worte zu finden: „Wir lebten schön länger getrennt, besuchten aber noch gelegentlich eine Paar-Therapie. Irgendwie klammerten wir uns beide daran wie an einen Strohhalm. Aber eigentlich hatten wir beide längst resigniert und eine Scheidung schien uns unausweichlich.“ “Wie Sie es darstellen, gab es ja durchaus noch intakte Gefühle zwischen Ihnen beiden. Was hat sie denn so sehr auseinandergebracht? “Unsere Welt war völlig in Ordnung, als ich mich noch ausschließlich um den Kunsthandel mit Peters Bildern gekümmert habe. Aber Sie sehen ja selbst welchen Stellenwert diese im tatsächlichen Kunstgeschäft haben“. Sie wies auf die Exponate an den Wänden ihres Büros. „Nur in diesem kleinen Raum finden Sie in dieser Galerie einige seiner Arbeiten und das auch nur, weil ich hier arbeite und die Besitzerin mir das nicht ausschlagen mochte.“ Sie tupfte die Tränen mit einem Taschentuch und wirkte jetzt fast verbittert. “Was verstehen Sie unter dem tatsächlichen Kunstgeschäft“, wollte Reusentreu wissen und war ein wenig erleichtert, weil das Gespräch eine weniger emotionale Richtung einschlagen konnte. 41


“Ach, da gibt es ein breites Spektrum an Spezialgebieten, das wäre ein zu umfassendes Thema. Für dieses Thema fehlt mir jetzt absolut die Kraft.“ “Hat diese Galerie ein solches Spezialgebiet?“ “Ja, seit dem Mauerfall widmet sich die Galerie hauptsächlich bis fast ausschließlich der Restitution von Raubkunst, also der Rückführung und Wiederherstellung von Eigentumsverhältnissen“. “Gab es denn in der ehemaligen DDR noch soviel Kunst zu holen?“ “Das ist eher sekundär. Die Gesetze änderten sich aber durch diese Situation. Und zwar ganz gravierend. Die Verjährung von Ansprüchen, die nach 1945 völlig unbefriedigend geregelt waren, wurden in der sogenannten „Washingtoner Erklärung“ neu definiert. Die Leitsätze wurden aber erst 1998 unterzeichnet, sogar vom Vatikan. Das hatte eine Reihe Aufsehen erregender Prozesse zur Folge.“ “Und sicherlich haben sich auch Kunsthändler in diesem Zusammenhang ganz besonders engagiert ?“ wollte Reusentreu nun wissen. „Schließlich ging es plötzlich um sehr viel Geld“. Dann fügte er beschwichtigend hinzu: „…. Und natürlich auch um die Herstellung von Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, soweit man davon überhaupt reden kann“. Das Terrain erschien ihm zu fremd und er wollte nicht über ein Mienenfeld stolpern. Schon nach diesen wenigen Informationen war ihm bewusst geworden, dass dieser Bereich außerordentlich komplex sein musste. Hier würde die neue SoKo kaum ohne fachliche Unterstützung auskommen. Ihn jedenfalls würde das zu sehr von der eigentlichen Ermittlung fortführen. Gleichwohl schien hier eine der Ursachen für das Auseinanderleben des Ehepaares zu liegen.

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“Sagt Ihnen die Organisation Myosotis etwas?“ “Davon wissen Sie?“ Sie schien jetzt sichtbar abwesend und in sich zusammen zu sacken. Da Reusentreu das aber auf die schlimme Nachricht zurückführte, beschloss er, die Frau erst einmal ihrer Trauer zu überlassen. Sie kamen überein, dieses Thema in einem der kommenden Tage erneut aufzugreifen. Reusentreu beschloss, die erstaunte Frau zunächst ihrer Trauer und Erschütterung zu überlassen. Mit dem sicheren Gefühl, mit einem wichtigen Schlüssel in der Hand zurückzukehren, formulierte er während der Rückfahrt nach Itzehoe sein Gedächtnisprotokoll in das Diktiergerät seiner Freisprechanlage. Das hatten ihm seine IT-Jungs installiert, weil er mit seinen Aufzeichnungen generell hinterherhinkte und ständig an seine Hausaufgaben erinnert werden musste. Danach erkundigte er sich in der Pathologie, ob die „Rekonstruktion“ der Leiche ein „konstruktives Gespräch“ zulassen würde. Er wurde auf den nächsten Tag verwiesen.

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13 IT- Datenöffnung Vierter Ermittlungstag Gershon Rosenfeldt half dem IT-Trüffelschwein beim Einrichten des Beamers. Es erschien ihm langsam sympathisch, dass in diesem Dezernat ein lockerer Umgangston vorherrschte. Dieter „Anonymus“ Müller, wie das Trüffelschwein von Allen genannt wurde, hatte fast ein Terrabyte an Daten vom Rechner Peter Blumes extrahieren können: „Nichts, worauf man sonderlich stolz sein könnte, die Daten waren geradezu lächerlich abgesichert“. Rosenfeldt holte seine mitgebrachte externe Festplatte hervor und reichte auch diese dem IT-Fachmann, der sie in einen zweiten USB-Port steckte. Nachdem alle Mitglieder der Sonderkommission nach und nach eingetroffen waren, kündigte er seinen kleinen Vortrag an: „Seid bitte auf eine Flut von Perversionen gefasst. Es ist nicht das erste Mal, dass wir über solch einen Schund reden müssen, aber ich weiss ja, wie sehr das besonders Hilal beim letzten Mal mitgenommen hat. Ihr könnt Euch ja später die gesamte Datenmenge ansehen, ich werde mich hier zunächst einmal auf das beschränken, was mir bei erster Einsicht am Wesentlichsten erschien. Neben diversen Mail-Ordnern fiel mir der weitaus größte Datei-Ordner auf, der durchweg perverse kinderpornografische Fotos und Videos enthält. Er war zwar zusätzlich durch ein Passwort abgesichert, war auch in der Registry anders versteckt, als die übrigen Daten, aber so richtig vergraben war er dort eigentlich auch wieder nicht. Eine kurze Modifikation des häufigsten Passwortes „Neocorus“ und wir waren drin. Fast so wie die gestreuten Brotkrümel bei Hänsel und Gretel. Reusentreu unterbrach ihn: „Du willst sagen, man hatte fast so etwas wie eine Fährte gelegt, damit man diese Daten möglichst zuerst finden sollte?“ “Genau das !“ Reusentreu und Rosenfeldt machten sich Notizen und das Trüffelschwein fuhr fort. 44


Im Schnelldurchgang folgten die sattsam bekannten Unsäglichkeiten mit nackten Kindern unterschiedlichsten Alters, alle durchweg unter geschätzten zehn Jahren. Einige im Säuglingsalter, in sexuell offenen, für Perverse sicherlich aufreizenden Posen. Auf einigen Fotos erschienen haarige Männerhände, sondierende fette Finger und einige wenige sichtbare Tattoos. Dann ecklige , fast riesig wirkende männliche Geschlechtsteile. Blut. Hilal ging, um allen Kaffee zu holen. Als Dieter „Anonymus“ Müller die ersten Videos im Schnelldurchlauf vorführte, unterbrach ihn Rosenfeldt an einer bestimmten Stelle: „Bitte noch einmal zurück und im Normaltempo“. Im Video war ein Männergesicht undeutlich aber durchaus erkennbar aufgetaucht. Der Mann stand mit heruntergelassener Hose hinter einem etwa achtjährigen Jungen mit schmerzverzerrtem Gesicht. Der Ton war durch stampfende Disco-Musik überspielt worden, die wohl die Bewegungen akustisch unterstreichen sollte. “Können wir bitte mal auf meine mitgebrachten Videos umschalten?“ Rosenfeldt wünschte sich in diesem Moment den zweiten Beamer, über den in seiner eigenen Dienststelle verfügte. Sie mussten eine Weile suchen. Die Dateinamen waren dabei keine grosse Hilfe. Doch dann fanden sie ein Video, das genau die gleiche Szene zeigte. Das gleiche, schmerzverzerrte Gesicht des kleinen Jungen. Auch das Ambiente, ein Allerwelts-Hotelzimmer, war identisch. Nur der Mann, der sich auf dem kleinen Junge austobte, war ein völlig anderer. Rosenfeldt kannte dieses Gesicht: „Der Mann, den Ihr dort seht, ist Mordechai Ernst Rosenbaum, den Ihr unter Ernst Baum in Euren Akten findet.“ 45


14 Pathologische Identifikation

Vierter Ermittlungstag

Reusentreu hatte Rosenfeldt gebeten, ihm in sein „Aquarium“ zu folgen. So nannte er den abgegrenzten Glaskasten innerhalb des Großraumbüros: “Wie lief das bei Ihren Hildesheimer Ermittlungen ab, gab es eine pathologische Gegenüberstellung zur Identifikation? Nach allem was ich weiß, war der Suizident was für ein komischer Fachbegriff, aber so steht es in Ihrem Bericht ähnlich entstellt. Kann man das einer Witwe nach dem bereits erlittenen Schock eigentlich zumuten?“ “Nein, kann man nicht und muss man auch nicht. Für eine Identifikation müsste eine zweifelsfreie Ähnlichkeit mit Vergleichsdaten vorhanden sein. Also mindestens ein Passfoto oder ähnliches. Wir können also eine solche pathologische Identifikation auf gar keinen Fall anordnen. Rechtlich wird es allerdings etwas knifflig, wenn Hinterbliebene darauf bestehen. Dann kommt es auf unser Feingefühl an, sie von diesem Wunsch abzudrängen.“ “Bleibt uns also lediglich eine genetische Bestimmung um auszuschließen, dass wir jemand Anderes als Peter Blume dort am Bahndamm zusammengekratzt haben? Wollte Reusentreu wissen. “Habe ich unter den Karten im Köfferchen nicht einen Spenderausweis der DKMS gesehen“. “Stimmt, er war anscheinend in der Deutschen Knochenmarkspenderkartei als möglicher StammzellenSpender registriert. Denen reicht eine Speichelprobe für eine sehr präzise Typisierung völlig aus. Dann fordern wir diese Daten dort mal ab und lassen unseren Pathologen einen DNS-Vergleich anstellen. Der Witwe können wir dann ja nötigenfalls diese Methode als heute übliches Vorgehen darstellen. Das denke ich, sollte in ihrem Sinne sein.“ Möglicherweise hat er sich bis in die Schlußszene am Suizid Ernst Baums in Hildesheim orientiert. 46


Das würde die sorgsame Bereitstellung seiner IdentifikationUnterlagen im Köfferchen am Bahndamm erklären. „ “Ja, und womöglich wollte er durch diese Möglichkeit einer zweifelsfreien Identifikation seine Frau vor einer grausamen Gegenüberstellung bewahren.“ Reusentreu kramte in seinen Ordnern in der halbhohen Regalwand seines Glaskastens: “Die Nähe der beiden Suizide hat für mich etwas Krankhaftes. Entweder beide wurden durch vergleichbare Umstände in den Tod getrieben, oder wir müssen uns über den altbekannten Werther-Effekt unterhalten.“ “Der heißt heute nicht mehr so“, warf Rosenfeldt ein. „Seit dem Schienensuizid des prominenten Fußballers spricht man heute nur noch vom Robert Enke-Effekt. Wer kennt denn heute noch Goethes „Die Leiden des jungen Werther? Da ist ein Torhüter der deutschen Nationalmannschaft schon griffiger.“ “Gut, von mir aus, aber in jedem Fall geht es um die genaue Nachahmung von Folge-Suiziden. Wir sprachen ja schon darüber, dass der deutsche Presserat aus diesem Grund eine klar definierte Zurückhaltung verfasst hat.“ Reusentreu schien die Idee innerlich bereits zu verwerfen. „ Nach Enkes Schienensuizid stieg die Selbstmordrate nachweislich um das sechsfache. Jedenfalls nach den statistischen Angaben der deutschen Bahn. Ich glaube aber nicht, dass es sich hier um bloße Nachahmung handelt.“ Rosenfeldt schüttelte sich: „Das Maxim Gorki-Theater in Berlin hat aus dem Schienensuizid Enkes sogar ein Theaterstück gebastelt. Man fasst es nicht.“ „Wie bitte?“ „Doch , wirklich. Es hieß, soweit ich mich erinnere „Demenz, Depression und Revolution“. Gab aber auch außerhalb der Bühne reichlich Theater, weil die Witwe auf Verwertungsrechte pochte.“ Unvermittelt reichte Reusentreu dem neuen Kollegen die Hand: „Lass´ uns mal „Du“ zueinander sagen.

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Dann muss ich mir nicht soviel merken und kann mich besser auf unsere Aufgabe konzentrieren.“ Er machte so was immer, wie er sagte „aus dem Bauch heraus.“ Bislang hatte sich dieses Konzept seiner Auffassung nach bewährt.

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15 Galerie-Interview

Vierter Ermittlungstag

Hilal Abdulhamid hörte sich während der Fahrt in die Galerie die Sprachaufzeichnung des Vorgespräches auf ihrem Smartphone an. Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, das tägliche Breafing auf diese Weise abzuspeichern, auch weil es das unerlässliche Protokollieren leichter machte. Nun hoffte sie, dass Susanne Blume den ersten Schock soweit überwunden hatte, um ihr weitere Hinweise geben zu können. Rosentreu hielt es für besser, wenn dieses Gespräch „von Frau zu Frau“ stattfand. Besondere Aufmerksamkeit erregte beim Anhören die Erwähnung der Gruppierung unter der Bezeichnung „Myosotis“. Darauf wollte sie das bevorstehende Gespräch unbedingt lenken. In der Hamburger Galerie wurde sie jedoch nicht von der Witwe des Suizid-Opfers, sondern von der Galeristin selbst begrüsst. Naheliegenderweise hatte Susanne Blume sich für einige Tage beurlauben lassen. Frau von Hohenfels fragte nach einer Terminvereinbahrung. “Wenn es eine Ermittlung erfordert, kommen wir schon mal unangemeldet“ wagte die Kriminalassistentin die Flucht nach vorne. „Darum geht es mir nicht, aber ich habe in einer Stunde ein wichtiges Kundengespräch. Dieser hat sehr wohl eine Terminvereinbahrung mit mir getroffen. Bitte fassen Sie das nicht als mangelnde Unterstützungsbereitschaft auf, aber es wäre wirklich von Vorteil, wenn wir künftige Termine, soweit sie erforderlich sein sollten, etwas besser koordinieren.“ Hilal willigte ein und beide einigten sich darauf, ohne Umschweife auf den Punkt zu kommen. „Sie vertreten eine Gruppierung in den USA, die sich „Myosotis“ nennt. Wie darf ich mir die Zusammensetzung und die Interessen dieser Gruppe vorstellen ?“ “Nun, diese „Gruppe“, wie Sie es nennen, besteht überwiegend aus jüdischen Emigranten, denen nach ihrer Flucht in die USA zunächst kaum Möglichkeiten zur Verfügung standen, ihre Anrechte auf verlorenes Vermögen geltend zu machen.

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. Es ging primär um erheblichen Immobilienbesitz, aber auch um verlorene Kapitalanlagen. Dazu gehörten natürlich auch Kunstgegenstände aller Art. Es gab zwar ein sogenanntes „Wiedergutmachungsabkommen“, das bekannte „Reparations Agreement“, das war aber sehr pauschal abgefasst und berücksichtigte kaum Einzelinteressen emigrierter Juden.“ Frau von Hohenfels zog einen Ordner aus dem Regal. “Aus deutscher Sicht, genau genommen aus westdeutscher Sicht handelte es sich damals noch nicht um tatsächliche Reparationen, sondern eher um eine Entsprechung der völkerrechtlichen Ansprüche des jungen Staates Israel. Auch sah man darin wohl so eine Art Aufbauhilfe, die in einem Zeitraum von vereinbarten 14 Jahren abzuwickeln war. Ein großer Teil dieser „moralischen Verpflichtung des gesamten deutschen Volkes“ wie es der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nannte, bestand demzufolge auch in der Lieferung von Waren und Rohstoffen. Dagegen regte sich schon früh der Protest der Überlebenden die überwiegend erhebliche Einzelansprüche geltend machen wollten. In Israel wurden die Pauschalabfindungen als „Schilumin“ bekannt. Dieses Wort aus der Thora wurde zum Begriff für eine sogenannte Vergeltungs- oder Rachezahlung. Der israelische Außenminister Mosche Scharet wies darauf hin, dass der Statt Israel aufgrund der hohen Zuwanderunszahlen praktisch vor dem Ruin stand. Man hatte also ganz andere Sorgen, als sich um Einzelansprüche überlebender „Hitleropfer“ zu bemühen. Bereits in dieser Zeit schlossen sich die ersten Mitglieder der Gruppe zusammen, die wir heute im Interessensegment „Kunst“ vertreten. Sie nannten sich „Myosotis“, was soviel wie „Vergißmeinicht“ bedeutet.“

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“Sind denn die damals beschlossenen Abkommen heute noch in Kraft ?“ wollte Abdulhamid wissen, die wieder ihre Smartphone-Tonaufnahme eingeschaltet hatte. “In dieser Form keineswegs. Das Luxemburger Abkommen galt ja lediglich für 14 Jahre. Es gab praktisch permanent schwierige und überwiegend auch geheime diplomatische Verhandlungen, um diese Verträge zu modifizieren. Der junge Staat Israel lehnte zunächst auch Verhandlungen mit Deutschland pauschal ab. Die Auseinandersetzung um diese Frage führte in Israel sogar zu erbitterten Straßenschlachten. Menachim Begin warf den Befürwortern eines Dialoges vor, man böte den „deutschen Mördern“ so die Möglichkeit sich mit Blutgeld von ihrer Schuld freizukaufen.“ “Sie sagten, man lehnte Verhandlungen mit Deutschland ab. Wie verhielt sich den die damalige DDR ? „ wollte Hilal wissen. “ Genau das ist ja der Punkt, der nach dem Mauerfall die Rechtslage völlig auf den Kopf stellen sollte. Damals reagierte die DDR überhaupt nicht auf das RestitutionsAnsinnen Israels.“ “Also fanden nachweisbar berechtigte Einzelansprüche bis zum Mauerfall keinerlei Berücksichtigung, wenn ich Sie richtig verstanden habe“ ? “Nein. Die Auseinandersetzung um Ansprüche und Rückführungen fanden bis zu diesem Zeitpunkt überwiegend bis ausschließlich auf juristischem Gebiet statt. Erbschaftsansprüche nachzuweisen war überaus schwierig. Viele der überlebenden Juden hatten auf der Flucht andere Prioritäten setzen müssen, als behördliche Unterlagen mitzuführen. Auch mussten die Ansprüche von Erben berücksichtigt werden, die in andere Teile der Welt geflüchtet waren und neue Namen angenommen hatten. Große Konvolute konnten keinem einzigen Überlebenden mehr zugeordnet werden, weil die Familien komplett ermordet worden waren.“ 51


“Ein schwer überschaubarer Kosmos. Was änderte sich nach dem Mauerfall. Traten sofort neu definierte Ansprüche in Kraft ?“ “Das wäre durchaus möglich gewesen, denn in den vielen Jahren dazwischen hatten die Mitglieder der Gruppe Myosotis sehr konkrete juristische Ansprüche erarbeiten lassen. Leider lebten aber viele der HolocaustÜberlebenden inzwischen nicht mehr und die Ansprüche jüngerer Erbfolger mussten neu erfasst werden. Der Begriff „Raubkunst“ erhielt auch erst 1998 ein internationales Reglement, als sich 44 Staaten in der sogenannten Washingtoner Erklärung verpflichteten, Gemälde und Kunstobjekte an jüdische Eigentümer oder Erben zu restituieren.“ “Ein beschämend langer Zeitrahmen. Von welchen Dimensionen reden wir ?“ wollte Hilal wissen. “Es gibt grobe Schätzungen, aber der Wert von Gemälden und anderen Kunstwerken ist einer enormen Steigerung unterworfen. Jedenfalls, wenn es sich um Hauptwerke handelt, die inzwischen auch von kunstgeschichtlicher Bedeutung sind. Es gibt eine verbindliche Stellungnahme die im Rahmen der Washingtoner Erklärung vom sogenannten House Banking Committee im Februar 2000 aufgestellt wurde. Demnach geht man davon aus, dass etwa 600 000 Kunstwerke zwischen 1933 und 1945 enteignet, beschlagnahmt oder gestohlen wurden. Ein großer Teil dürfte sich längst in Privatsammlungen befinden oder gelangte in den Kunsthandel und sogar in öffentliche Sammlungen und Museen. Für geflüchtete NSGrößen gehörte Raubkunst oft auch zum Fluchtkapital.“ Die Galeristin schaute auf die Uhr. „Bitte haben Sie Verständnis, aber ich muss mich jetzt um einen wichtigen Kunden kümmern.“ 52


Abdulhamid hatte den seriös gekleideten Herrn bereits bemerkt, der sich interessiert die ausgestellten Exponate anschaute. Da er der einzige Besucher war, nahm sie an, dass dieser den berechtigten Anspruch auf den genannten Termin hatte. “Sie können unser Gespräch gern mit Frau Blume weiterführen. Sie betreut die Gruppe Myosotis, wie Sie ja sicher bereits von ihr erfahren haben. Ich bitte Sie aber dringend um Rücksichtnahme. Sie hat sich heute auf meine Bitte hin zu einer Psychotherapeutin begeben“. “Puh. Was für ein komplexes Thema! Als sie auf der Rückfahrt nach Itzehoe ihre Aufzeichnung abspielte, beschloß sie, dieses auch beim nächsten Briefing so zu machen. Das war einfach zuviel Fachwissen. Wie passte das nur in ihren Fall ? Was hatten die beiden Suizide mit dieser komplizierten Entwicklung zu tun ?

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Hochsitz in der Schweiz

Das schnurlose Telefon war genauso kantig wie sein „Gropius-Bau“ auf der Pilatus-Höhe. Er liebte den Bauhausstil genau wie die herrliche Aussicht über den Vierwaldstädter See. Seine derzeitige Freundin sprach hingegen von ihrem gemeinsamen „Schuhkarton“. Aber auch sie liebte die Landschaft um Luzern. “Ja sicher, Mission acomplished, was hatten Sie denn erwartet“? Sie hörte zwar, dass am andern Ende der Leitung etwas gefragt wurde, aber interessierte sich nicht wirklich dafür. Sie musste bei ihrem Sonnenbad auf der großen Terasse neben dem Pool darauf achten, dass die Nähte unter ihren neuen Brüsten nicht zuviel Sonne abbekamen und trug etwas mehr Schutzcreme auf. „Ja, wie immer auf das Konto im eigenen Haus. Das hat ja bisher sehr zuverlässig funktioniert. Die Kameras haben meine Leute mitgebracht, wie vereinbart. Es ist eine Frage der Zeit, dann wird man die alten Bohrlöcher entdecken und Fragen stellen. Genau wie geplant. Sicher, wenn die deutschen Ermittler Nachtsichtgeräte benutzt hätten, oder wie bei uns auch infrarot-sensibles Kameramaterial, würden sie die zugegipsten Bohrlöcher viel früher entdeckt haben, weil Gips bei der Abbindung nun mal Wärme entwickelt. Es ist nun einmal Deutschland- da dauert so etwas eben länger. Deshalb haben wir ja auch das Aufzeichnungsgerät dort gelassen, sonst würden die womöglich überhaupt nicht auf diese Spur kommen. Dabei gibt es längst infrarottaugliche Smartphones.“ Am anderen Ende des kantigen Telefons im Gropius-Design wurde eine Frage gestellt. „Ja, in zwei Fällen hat das sehr gut geklappt und am dritten Auftrag arbeite ich bereits. Nein, beim tatsächlichen Tod ist niemand von uns mehr beteiligt.

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Das ist ja das geniale an meinem Konzept. Die alte Witzformel „Lassen Sie es wie einen Unfall oder Selbstmord aussehen“ wird damit zur Geschichte. Hier liegen konkrete, handfeste Suizide vor und die Suizidenten haben allergrößtes Interesse daran, dieses höchstselbst unter Beweis zu stellen. Juristisch sozusagen hieb- und stichfest.“ Er musste selbstgefällig lachen. Er hatte lange an der Entwicklung dieser „Geschäftsidee“ gearbeitet. Sein angeborenes Talent, andere Menschen in den Wahnsinn zu treiben, hatte ihm im Internat zunächst nur eine Aussenseiterrolle als ein kleiner Oscar Wilde in Kinderkleidern gebracht. Irgendwann war er stolz darauf, eine Seite des Schulhofes für sich allein zu haben. Dann folgte eine Phase, in der er Gefallen daran fand, die neuen Medien für subtiles Cyber-Mobbing zu nutzen und kurz darauf auch, durch Erpressung erstes Geld zu verdienen. Er suchte sich Clubs und Gemeinschaften, die für eine gesellschaftliche Selektion standen. Erfolgreiche und Wohlhabende fühlen sich am wohlsten unter Ihresgleichen. Der Wettbewerb ist einfach effektiver und wirkt sich auf den Testosteronhaushalt aus, wenn man nicht von vornherein als Sieger in den Ring steigt. So wurde er an seinem damaligen Wohnort Bonn in rascher Folge Mitglied im dortigen Golfclub, dann bei den Rotariern und wenig später in Berlin auch bei den Freimaurern. Danach trat er einem guten dutzend weiterer, ähnlicher Vereinigungen bei, die für ihn in erster Linie der Erprobung von falschen Identifikationen dienten. Immer dreister wurden seine Namens-Erfindungen. Am wenigsten lief er Gefahr, dabei entdeckt zu werden, als er sich in Deutschland und in der Schweiz zwei ansich befeindeten Templer-Organisationen anschloß. Dort gehörten absurde Phantasienamen und Titel geradezu zum Pflichtprogramm. Das habituelle Aneignen von Adelstiteln entpuppte sich dabei aber als überaus dienlich und er entwickelte eine kindische Freude daran, prunkvolle Visitenkarten zu entwerfen.

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Sein Spektrum an Menschenkenntnis erweiterte er fortwährend, wenn er auf den Gesichtsausdruck seines gegenübers achtete, wenn er diese Karten überreichte. Im Bruchteil von Sekunden stellte er sich auf diese Reaktion ein, wurde vom aristokratischen Beau zum kumpelhaften Geschäftspartner. Oder auch umgekehrt, ganz wie die Situation es erforderte. Seine Ziele formulierte er ständig neu, entwickelte einen subtilen Sportsinn, ganz gleich, ob er eine schöne Aristokratentochter ins Hotelbett dirigierte oder sich vom Elternhaus der Dame hohe Geldsummen erschlich. Zunächst erfand er immer neue Szenarien ferner Katastrophen, nutze jeden Tornado, jeden Tsunami, damit seine neuen Freunde riesige Hilfssummen auf Konten in den Hilfsregionen transferierten. Zu diesen hatte nur er selbst unter Alias-Namen in der Landessprache Zugang, meist mit dem Titel einer dort aktiven Hilfsorganisation im Briefkopf. In dieser Zeit entstanden auch seine Kontakte zu Programmieren und Hackern, die ihm in wenigen Stunden eine komplette Website in Landessprache erstellten. Übersäht mit den Signets seriöser, weltweit bekannter, honoriger Hilfsorganisationen.Er lernte das Darknet schätzen und die labyrinthische Verschleierung von Webadressen und Mail-Accounts. Schon vor dem Frühstück schaute er sich die globale Wetterlage an, hatte Shortcuts aller seismographischen Institute rund um die Erde auf seinem Laptop und glich diese mit anderen „Desaster-Hoppern“ ab. Wie diese folgte er dann im Ernstfall einer eingefahrenen Routine. Wie beim Märchen vom Wettlauf zwischen Hase und Igel war er dann bereits vor Ort, wenn die ersten Hilfsorganisation sich konstituiert hatten.In der jeweiligen Katastrophenregion wurde in kürzester Zeit ein Büro eingerichtet, das eigentlich nur aus einer Internetverbindung und einer Bankverbindung bestand. In aller Regel wurde dann über eine Personalagentur ein Dolmetscher für kurze Zeit eingestellt, größer war der Personalaufwand nicht.

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Seine verbleibende Aufgabe bestand dann abermals lediglich aus der eingefahrenen Routine, bestehende Kontakte zur Unicef und anderen Hilfsorganisationen zu instrumentalisieren. Deutsche und schweizer Kontakte zu Fernsehsendern und Nachrichtenagenturen hatte er lange selbst gepflegt. Irgendwann verlor er aber das Interesse und wandte sich neuen Aufgaben zu. Es war ihm zu leicht geworden, das Geld anderer Leute zu erlangen, er musste sich auf seine ursprünglichen Intensionen besinnen. Die Bauhaus-Villa am Pilatus verdankte er der TsunamiKatastrophe in Thailand und Sri Lanka. Der Lamborghini, der Bentley und der von ihm gehätschelte Ford A war ihm von einem besonders schicken Tornado vor der californischen Küste geblieben. Er zündete sich eine Cohiba an und setzte sich zu seiner Lebensgefährtin an den Pool: “Möchtest Du ein Gläschen Champagner, meine liebe Felicitas ? Das neue Konzept scheint bestens zu funktionieren. Bürli will sich morgen in einem persönlichen Gespräch mit mir austauschen “ Natürlich hieß sie nicht wirklich Felicitas und er auch nicht Hjalmar Hagen Schacht, aber sie hatten sich bereits so sehr an das Spiel mit den Pseudonamen gewöhnt, dass sie daraus ein tägliches Namens-Training entwickelten. Sanft drehte er ihren Rücken in die Sonne und tiefer Seufzer entfuhr ihm. Kaum etwas erregte ihn in diesem Augenblick mehr als diese neue Figur zwischen den vielenTattoos auf ihrem schönen Rücken. Es zeigte einen schwarz gekleideten Mann mit erhobenen Händen. Er trug einen Zylinder. Hjalmar Hagen Schacht begann, seine Hose aufzuknöpfen.

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17 Pathologie und trojanischer Pferdefloh Während Dieter „Anonymus“ Müller seinen Beamer aufbaute, begann Kommissar Göpfert das tägliche Breafing mit einem kurzen Rapport zu den bisherigen pathologischen Erkenntnissen: “Also, als wir die forensische Pathologie im Universitätsklinikum SH in Kiel betraten, schlug uns ein Geruch entgegen, der mich an die Hausschlachtungen erinnerte, die ich in meiner Kindheit auf dem Lande erlebte. Definitiv unschön, wenn man sich vergegenwärtigt, dass man es hier mit einem Menschen zu tun hat, den wohl eine noch näher zu definierende Verzweiflung in den Tod getrieben hat. Ein halber Kopf, Teile einer Schulter, eine Hand. Ein Bein war relativ komplett bis zur Hüfte geblieben, ein Unterschenkel alles vom Pathologen einigermaßen anatomisch angeordnet und durch Fleischfetzen und einem undefinierbaren blutigen Brei halbwegs plausibel angeordnet und miteinander in Beziehung gestellt. Nichts, was einen Erkennungswert für die Witwe oder andere Hinterbliebene haben könnte. Die Mitarbeiter der Pathologie verhielten sich ungewohnt schweigsam. Der gewohnte Zynismus, mit dem sie nicht selten solche Situationen überspielen, blieb völlig aus. Dr. Bergmann, um sachliche Kürze bemüht, machte mich sofort auf den teilweise komplett gebliebenen Teil eines künstlichen Hüfgelenkes aufmerksam, auf dem sich die Seriennummer fragmentarisch entziffern ließ. Ein Teil der Nummer war an der Trennstelle der Hüfte abgeschliffen, wohl weil dieses Teil mitgeschleift worden war. Aber da uns ja der Name des Suizidenten bekannt ist, konnten wir unschwer rekonstruieren, wo dieses Teil implantiert worden war. Die Operation hatte vier Jahre vorher in der Uni-Klinik in Eppendorf stattgefunden, wie wir über das telemedizinische Netzwerk der Schleswig-Holsteinischen Uni-Klinik noch vor Ort abrufen konnten.“

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Reusentreu fasste zusammen: „Wir kennen also jetzt eindeutig den Namen des Suizidenten, die Umstände seines Ablebens, seinen Wohnort und die familiären Verhältnisse. Nun geht es uns also primär darum, die Ursachen für sein Verhalten zu ermitteln. Hilal hat uns das Protokoll ihres gestrigen Gespräches mit der Galeristin Frau von Hohenfels wie üblich auf Band gesprochen und spielt uns das jetzt bitte vor.“ Er benutzte tatsächlich den veralteten Ausdruck „Auf Band“, was alle ein wenig schmunzeln ließ. Ein kleiner Lichtblick, während Göpfert die Fotos an die Wand pinnte, die er in der Pathologie aufgenommen hatte. Während sie den Ausführungen der Galeristin in diesem „Interview“ zuhörten, entstand langsam ein komplexer Eindruck der ungewöhnlichen Aufgabenstellung des Kunsthandels und insbesondere der Funktion der Witwe Susanne Blume. Völlig rätselhaft blieb hingegen die Rolle der beiden Suizidenten, wie Reusentreu anmerkte: “Was haben unser Daten-Trüffelschweine mit ihren digitalen Wünschelruten herausgefunden?“ Er richtete sich an Dieter „Anonymus“ Müller. “Ihr wisst doch alle, was ein Trojaner ist?“ begann dieser. Als alle nickten, fuhr er fort: “Dann stellt Euch bitte einmal vor, ein normaler Trojaner hätte die Größe eines tatsächlichen Pferdes. Dann sprechen wir in diesem Fall zunächst einmal von der Größe eines Pferdeflohs. Und dann, damit ihr Euch das noch besser vorstellen könnt, von der Größe eines Flohauges. So etwa hat sich die Verhältnismäßigkeit in den letzten Jahren entwickelt.“ Das liebten die Mitarbeiter an ihrem „Anonymus“, er trug seine kleinen oft schwer verständlichen Fachvorträge immer in einem Vortragsmodus vor, als hätte er Kita- Kleinkinder vor sich. Wie das Sandmännchen trug er dann vor: “Und nun liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab´ Euch etwas mitgebracht …. „

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“Vielleicht erinnert Ihr Euch noch an den Riesenwirbel, den 2013 das ARD - Politmagazin FAKT verursachte, als der amerikanische Whistleblower Mark Klein herausfand, dass der Telefonkonzern AT&T in seinem Datenknoten ein Abhörsystem namens „Narusinsight“ einsetzte. Hier entstand dann eine brisante Schnittmenge mit der Enthüllung Edward Snowdons, dass die NSA sich auf diese Weise in die Netzwerke allgegenwärtiger Telefonanbieter eingeschleust hatte. Für uns wurde das erst interessant, als man feststellte, dass auch unser BND diese Software einsetzte. Diese wurde weiterentwickelt und wird heute in modifizierter Form beispielsweise von der US-Army in Afghanistan eingesetzt. Nach einer kleinen Anfrage der Linksfraktion bejahte die Bundesregierung 2012, dass das BKA schon im Jahre 2003 die Narus-Software „Netwitness“ gekauft hatte. Jeder kann heute bei Heise nachlesen, dass die Bundesregierung versicherte, diese würde ausschließlich zur forensischen Untersuchung bereits erhobener Netzwerkdaten, nicht aber zur Speicherung solcher Daten eingesetzt.“ “Wie kann man sich das denn bitteschön vorstellen? „fragte Gershon Rosenfeldt. „Eine Auswertung umfangreichster Datenmengen ist doch für das menschliche Hirn ohne Datenspeicherung und Analyse-Systeme überhaupt nicht vorstellbar.“ “Eine typische Pressenachricht, um Kritiker zu beschwichtigen“ räumte das Trüffelschwein ein. “Aber das soll hier gar nicht unser Problem sein. Wir fanden im Darknet heraus, dass diese Software von verschiedenen „Anbietern“ weiter entwickelt wurde. Die sitzen in der Ukraine, in irgendeiner mongolischen Ecke oder auf Ivo Shima, was weiss ich. Jedenfalls kann man die unmöglich verorten. Die versenden und verkaufen ihre Leistung über „Bande“, wie bei einem Billardspiel rund um den Globus. Ihre Adressen und Absender wechseln die praktisch im Minutentakt, auch dafür gibt es Software, die für jedermann erschwinglich ist. 60


Und mit einer dieser sehr speziell weiterentwickelten Spielarten haben wir es hier zu tun. Das Spielzeug für Hacker nennt sich „Spektral“ und ist durch keine noch so gut entwickelte Firewall aufzuhalten. Was für Euch zunächst einmal entscheidend ist: Wenn Ihr mit Euren blootooth-fähigen Smartphones auch nur in die Nähe eines auf diese Weise infizierten Computers kommt, womöglich auch in ein privates W.Lan-Netz, dann bohrt sich ein Ableger dieser verfluchten Schadsoftware sofort und von Euch völlig unbemerkt in Eure Smartphones. Glücklicherweise haben wir den von Euch mitgebrachten Computer von Peter Blume in unserem abgeschirmten Sicherheitsbereich auseinandergenommen.“ Er öffnete einen mitgebrachten Karton mit sechs sandfarbenen Handys, die er den Mitarbeitern des Dezernates überreichte: “Bitte benutzt im Zusammenhang der Ermittlungen in diesem Fall ab sofort ausschließlich diese Smartphones und nehmt die Akkus solange aus Euren eigenen Geräten, bis wir sie für Euch gesäubert haben.“ “Um Gottes willen, dann haben die Verursacher wer immer das sein mag- auch mein Protokoll mithören können?“ wollte Hilal wissen. “Mit absoluter Sicherheit, wenn Du Dein Smartphone in der Wohnung Blumes in Rellingen eingeschaltet hattest“. “Bitte sofort alle unsicheren Handys einsammeln und in die Quarantäne!“ ordnete Reisentreu an.

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18 Video-Manipulation

Vierter Ermittlungstag

“Habt Ihr denn etwas über die offensichtlich manipulierten Videos herausfinden können? Mir geht diese perverse Szenerie nicht aus dem Kopf. Ganz offensichtlich zweimal der gleiche misshandelte kleine Junge bis ins Detail identisch. Aber zwei völlig unterschiedliche Männer, jedenfalls den Gesichtern nach zu urteilen. Also, ich kenne natürlich meisterhaft ausgeführte PhotoManipulationen. Das lernt man ja selbst heute bereits auf der Polizeischule. Jeder Laie kann das heute kinderleicht mit Photoshop und wenigen Grundkenntnissen ausführen. Deshalb hat ja unsere Abteilung für Cyber-Kriminalität in Karlsruhe dafür auch ihre Spezialisten. Habt ihr die denn um Rat gefragt?“ wollte Reusentreu wissen. „Haben wir zwar, aber das war auch für uns nicht schwer zu realisieren. Wir verwenden ja ebenfalls ein biometrisches Identifizierungsprogramm in Verbindung mit unserer Datenerfassung. Dabei wird ein Gesicht per „Tagging“ in bislang 60 markanten Punkten analysefähig markiert und kann dann mit anderen so erfassten Gesichtern verglichen werden. Neuer Programme haben das verfeinert und heute ist ein 100 Punkte-Tagging schon so etwas wie ein forensischer Standard.“ Er zeigte mit seinem Beamer einige Beispiele. Dafür benutzte er Portraits von Wladimir Putin und Barak Obama. “Diese revolutionäre Neuerung verdanken wir ausgerechnet George Lucas und Steven Spielberg. Die Familie Spielberg lehnte es übrigens ab, ihren bildhaften Namen zu amerikanisieren weil wir das Thema ja gerade hatten.“ Mit wenigen Mausklicks überzog er das Gesicht Putins mit einer Reptilienhaut, spielte am Gitterwerk der biometrischen Punkte herum, machte ihn mal dicker und mal dünner. Am Ende sah er aus wie Karl Valentin, war aber immer noch als Putin zu erkennen.

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Dann versah er Barak Obamas Kopf mit flüssigem Gold und ließ ihn einige Sätze sprechen. Der Goldüberzug vollzog die Mundbewegungen, das Blinzeln der Augen und sogar die Drehungen des Kopfes mit, als wäre er tatsächlich aus flüssigem Gold. “Erinnert Ihr Euch an den Quecksilberkiller in Terminator 2 ? Mit genau diesem Halunken begann die perfekte biometrische Manipulation. Und von da an waren sowohl Foto, wie auch Film als Indizien nicht mehr juristisch verwertbar.“ Als er nun die biometrischen Daten von Putin und Obama austauschte und der schwarze Präsident eine Rede in perfektem Russisch hielt, war allen im Raum klar, wie die pornografischen Szenen entstanden sein mussten. “Wir haben hier also eindeutig zwei perfekt manipulierte Videos mit pädophilem Inhalt.Bleibt die Frage: „was will man damit bezwecken, wenn der eigentliche Pädophilie-Vorwurf so doch eindeutig zu wiederlegen ist. Und es bleibt die Frage: haben das die Suizidenten gewusst ? Ganz sicher standen den möglicherweise Erpressten unsere analytischen Möglichkeiten ja nicht zur Verfügung.“ fragte nun Gershon Rosenfeldt in die Runde. “Und was will der Hacker bewirken, der uns den Zugang zu diesen Daten ja relativ einfach gemacht hat?“ merkte Müller an und erinnerte an seinen „Hänsel und Gretel-Effekt“. “Gershon, Du bist doch Freimaurer. Kannst Du nicht mal vorsichtig in den Logen der beiden Opfer nachfragen, ob seinen Kollegen etwas aufgefallen ist ?“ “Das kann ich nur unter äußerstem Vorbehalt zusagen. Für uns gilt unumstößlich die Regel, dass etwas, was innerhalb des Bruderkreises geäußert wird, auch dort zu verbleiben hat. Aber mir ist auch schon der Gedanke gekommen, dass seine Brüder natürlich auch ein Interesse an der Aufklärung haben müssten. Ich werde das mal ergebnisoffen angehen, wenn ihr einverstanden seid.

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Es würde uns ja schon weiterbringen, wenn mich geringste Hinweise auf die richtige Spur bringen würden. Aber bitte zwingt mich dann nicht, jeden einzelnen Hinweis zu protokollieren. Dann müsste den Job wirklich jemand anderes übernehmen.“ Man sah ihm an, dass er hier einen sehr persönlichen Konfliktbereich betrat.

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Aquariumsgespräch über B´nai B´rith

Nach dieser ausführlichen Instruktion musste Müller erst einmal im Innenhof eine rauchen. Reusentreu bat Göpfert und Rosenfeldt noch kurz in sein „Aquarium“: “Gershon, ich weiss ja, wie wenig mitteilsam Ihr Freimaurer seid, aber ich habe wie bereits angedeutet, einige Informationen erhalten, die es nicht zulassen, diesen Bereich völlig auszuklammern. Sowohl Blume, wie auch Baum waren, so heißt es hier „Doppelmitglieder“ in einer Loge in Friedrichstadt, die den seltsamen Namen „B´nai B´rith an der Eider“ trägt. Damit kann ich nun schier gar nichts anfangen, Otto auch nicht. Deshalb muss ich Dich schon bitten, uns darüber etwas zu erzählen.“ “Aber das ist doch kein Geheimnis, das hättest Du auch googeln können.B´na B´rith ist hebräisch und bedeutet nichts weiter, als „Söhne des Bundes“. Einzige Besonderheit ist, dass dieser Bund ausschließlich jüdische Mitglieder aufnimmt. Er hatte namhafte Mitglieder, wie etwa Siegmund Freud oder Walter Rathenau. In Deutschland ist er kaum aktiv, in den USA und Israel wo stärker. Soweit ich weiss, trifft sich die Friedrichstädter Loge auch nur noch einmal pro Jahr in der dortigen Synagoge. Die ist heute aber eher ein Museum.“ “Mag ja sein, aber über diese Loge hatten die beiden wohl auch Kontakt zu dieser merkwürdigen amerikanischen Gruppierung „Myosotis“, das konnten wir von den Hildesheimer Kollegen erfahren. Es gibt also durchaus eine Schnittmenge zwischen dieser jüdischen Loge und der ebenfalls ausschließlich jüdischen Interessengemeinschaft für Restitutions-Ansprüche und Sammelklagen für Raubkunst. Kannst Du bitte mit dem Vorstand der Loge in Friedrichstadt Kontakt aufnehmen?“

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“Ja, mache ich. Und zum Stuhlmeister der Loge „Neocorus“, der Mutterloge von Peter Blume habe ich auch bereits Kontakt und werde ihn morgen im Logenhaus in Elmshorn aufsuchen. Die kennen mich dort schon, habe sie einige Male zu ihrem jährlichen Stiftungsfest besucht.“ “Siehste“, warf Göpfert ein. „Stiftungsfest“ und „Mutterloge“ sagt mir schon mal gar nichts. Bringt da jeder Freimaurer seine Mutter mit, oder was will uns das sagen?“ Die drei mussten lachen. „ Der Sprachgebrauch bei uns Freimaurern ist wirklich gewöhnungsbedürftig, das muss ich zugeben. Aber man gewöhnt sich schnell daran und empfindet ihn irgendwann als sinnvoll und logisch. Wir lieben es, uns so auszudrücken wie unsere Gründer vor 300 Jahren. Das gibt uns das Gefühl, Mitglieder in einer zeitlosen Kette zu sein. Das Wort „Mutterloge“ bedeutet einfach, dass man hier aufgenommen wurde und das Stiftungsfest erinnert an die Gründung der Loge. Hat auch viel mit „Lichtsymbolik“ zu tun, aber das würde Euch nur langweilen.“ “Es sei denn, dass es der Wahrheitsfindung dient“, meine Reusentreu. „So wie ich es bisher beurteilen kann, haben die beiden Suizidenten lediglich das bestehende freimaurerische Netzwerk genutzt, um die Interessen der Sammelkläger zu wahren. Vermutlich auch, weil sie sich innerhalb dieses Netzwerkes am sichersten fühlten. Da stellt sich mir nun aber vorrangig die Frage, was sie außerhalb dieses geschützten Netzwerkes zu befürchten gehabt hätten. Und das führt uns zu dem, was uns unser Trüffelschweinchen gerade erzählt hat. Wer um alles in der Welt hat ein Interesse daran, Menschen derart manipulativ in die Enge zu treiben, dass sie sich selbst vor einen Zug werfen oder stellen?“

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“Vielleicht jemand, der die Interessen derer vertritt, die sich gegen die genannten Restitutionsansprüche schützen wollen? Diese Vermutung hatten wir bereits bei der Sache mit Ernst Baum beim Hildesheimer Suizid. Das scheint sich nun zu verdichten.“ “Da macht mich aber stutzig, dass er anscheinend einen pervertierten Sportsgeist erkennen lässt, indem er die Opfer dazu bringt, selbst in den Tod zu gehen“, empörte sich Göpfert, der mehr und mehr Zusammenhänge zu erkennen glaubte. “Und mich beunruhigt, dass er anscheinend Wert darauf legt, dass wir dieses auch tatsächlich erkennen. Müller benutzte doch diesen bildhaften Hänsel und Gretel Vergleich mit der Fährte aus Brotkrümeln. Das kann dann doch nur eines bedeuten.“ Reusentreu schaute seine beiden Kollegen an, als würde er auf deren Antwort warten. “Du meinst, er hätte mit diesen beiden Fällen nachdrücklichst ein Exempel statuiert, um weitere Unterstützer der Interessengemeinschaft einzuschüchtern?“ grübelte Göpfert. “Einzuschüchtern? Die wären paralysiert. Wer lässt sich denn noch auf ein solches Unterfangen ein, wenn er nahezu schutzlos einer solch perfiden psychologischen Strategie ausgesetzt sein würde?“ Reusentreu bat Göpfert, diese vorläufigen Rückschlüsse in seinem Tagesprotokoll zusammenzufassen und den Kollegen nach Hildesheim eine Kopie zu senden.

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20 Gespräch mit Susanne Blume Hilal Abdulhamid hätte Verständnis gehabt, wenn die Witwe Blumes noch weitere Tage um Zurückhaltung und Schonung gebeten hätte. Als sie in die Wohnung im dritten Stock in der Hamburger Stresemann-Straße eintrat, hatte sie den Eindruck eines Übergangslagers, eines Provisoriums. In einem Zimmer standen unausgepackte Umzugkartons und an keiner Wand hing ein Bild. Susanne Blume trug noch einen Morgenmantel, entschuldigte sich für die Unordnung, hatte aber einen duftenden Tee eingeschenkt. Hilal hatte nicht den Eindruck unwillkommen zu sein. Vermutlich überwog das Bedürfnis überhaupt mit jemandem über dieses Drama zu reden. Entsetzt sah sie Hilal an, als diese ihr von den manipulierten Kinderpornos erzählte. “Genau das war aber der Anlass, weshalb ich in Rellingen ausgezogen bin“. Tränen flossen aus ihren weit aufgerissenen Augen. Hilal nahm das wie in Zeitlupe und mit eigenartiger Schärfe wahr. „Manchmal bewirkt der Schock etwas dokumentarisches“, dachte sie und wunderte sich über diesen Gedanken. „Wir ermitteln in verschiedene Richtungen, aber eine unserer Vermutungen ist, dass genau dieses auch beabsichtigt wurde. In unserem Vergleichsfall in Hildesheim hielt zwar die Ehe diesen Anfechtungen gegenüber stand, aber die ehelichen Dispute dürften recht ähnlich abgelaufen sein.“ “Er hat immer und immer wieder beteuert, dass diese Aufnahmen nie und nimmer in irgendeinem Zusammenhang mit seinen Neigungen stehen könnten. Er verachtete Kinderpornografie zutiefst, schrie er mir ins Gesicht. Ich müsse das doch wissen. Wenn nicht ich ihm glauben würde, an wen solle er sich dann noch wenden können? Anfangs habe ich mich auch darauf eingelassen und versucht, ihm zu glauben.

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Gemeinsam dachten wir darüber nach, wie er sich schützen könne, falls die Daten auf seinem Computer entdeckt würden.“ “Haben Sie denn versucht, die Daten zu löschen?“ “Und wie. Aber das war unmöglich, fragen Sie mich nicht, wieso. Dann erwog er, ein neues Motherboard einbauen zu lassen, ließ es aber, weil er Angst davor hatte, der Techniker könne die Kinderpornos entdecken und missdeuten. Dann hatte er vor, den kompletten Computer zu zerstören und zu verbrennen. Aber genau an diesem Tag erhielt ich das Video.“ “Wir kennen dieses Video. Sie meinen sicher jenes, auf dem er selbst hinter diesem misshandelten Knaben zu erkennen ist?“ Wieder verbarg sie ihr Gesicht in den Händen, so als würde sie sich neben ihren Tränen auch noch für die Schande ihres Mannes schämen. “Aber genau dieses Video haben wir eindeutig als manipuliert identifizieren können. Unser Techniker meinte, das wäre gar nicht so kompliziert. Allerdings hatten wir da bereits das Pendant aus Hildesheim zum Vergleich erhalten.“ “Es sah doch so verdammt echt aus. Egal, wie er den Kopf bewegte, er war immer zu erkennen. Und die Lippenbewegungen, völlig synchron mit dem perversen Gestöhne des Vergewaltigers. Ein abartiges Grunzen. Das hatte ich allerdings von ihm noch niemals so gehört. Wie auch? Ich hatte ihn ja auch noch niemals so gesehen. Deshalb kam ich gar nicht auf den Gedanken, dass er das nicht sein könnte. Dieses Video hat meinem Vertrauen den Todesstoß versetzt. Am gleichen Tag bin ich dann ausgezogen.“ Hilal hatte wie gewohnt das Gespräch aufgezeichnet, dieses Mal allerdings mit dem neuen, abgeschirmten Smartphone. Als sie nach Fakten über die Restitutionsverträge und um Beispiele bat, einigten sich die beiden Frauen auf einen Gesprächstermin im Büro der Galerie.

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21 Erste Übersetzungen

Fünfter Ermittlungstag

Am Spätnachmittag rief Reusentreu die Mitarbeiter noch ein zweites Mal zu einem Breafing zusammen, weil die ITAbteilung erste Erkenntnisse vermelden konnte: “Wir haben bei der Zuteilung einer Übersetzerin großes Glück gehabt. Frau Buchheimer, die ich Euch hier gerne vorstellen möchte, ist erst seit zwei Jahren im wohlverdienten Ruhestand, war zuvor aber in Berlin bei der Kripo tätig.“ Ilona Buchheimer wurde von den Koleginnen und Kollegen reihum nett begrüsst und ergriff dann das Wort: “Wir können bei den vorgefundenen Mailwechseln auf Blumes Rechner zwei große Gruppen grob unterscheiden, allerdings gibt es oft auch Überschneidungen. Eine Gruppe, die Herr Blume auch so in einer eigenen Datei geordnet hatte, beschäftigt sich wie vermutet mit Restitutionsansprüchen, die zweite mit juristischen Argumenten für Anklagen als Basis für VergehensNachweise zu juristischen Gunsten der jüdischen Eigentümer. Und hier finden wir dann auch eine Unterabteilung für Anklageschriften gegen damalige Freimaurer. Darunter fanden wir dann amerikanische Übersetzungen der Original-Dokumente der Schriften, die in einem freimaurerischen Schreib-Code verfasst wurden.“ “Dann können wir uns das ja schon mal sparen“ atmete Göpfert auf. “Dadurch kommen wir dann sicher etwas schneller voran.“ “Sprachlich ist das manchmal etwas diffus, denn das amerikanische Englisch mit jiddischem Einschlag ist schon manchmal recht verwirrend. Aber ich kenne das, weil ich in Berlin einmal an einem Mordfall zu Ungunsten eines Mitgliedes der jüdischen Gemeinde mitgearbeitet habe, dessen Erben in Ohio lebten.“

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“Sie erwähnten Anklageschriften gegen damalige Freimaurer“. Das, so denke ich, sollte zunächst einmal unsere größte Aufmerksamkeit erfordern, weil hier vermutlich die Schnittstelle zu unseren beiden Suizidenten zu finden sein wird,“ meldete sich jetzt Gershon Rosenfeldt. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn sie diesen Dokumenten eine Priorität zubilligen würden und mir bitte gleich die ausgedruckten Übersetzungen zukommen lassen könnten.“ Er wies auf einen Schreibtisch, den man ihm inzwischen eingerichtet hatte.

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22 Merkwürdige Kongruenz

Fünfter Ermittlungstag

Inzwischen war das gesamte Kommissariat zum vertrauten „Du“ übergegangen, eine Akzeptanz über die Gershon Rosenfeldt nicht sonderlich erstaunt war. Sein burschikoses Wesen hatte ihm auch in anderen Fällen schnell eine persönliche Nähe zu den Kollegen ermöglicht. Seiner Auffassung nach kam das den Ermittlungen durchaus zugute. “Mir ist bei der ersten Durchsicht der freigeschaufelten Mails etwas aufgefallen“ eröffnete Göpfert das späte AquariumsGespräch: “In einer der Mails mit dem merkwürdigen Absender „Stresemandarin“ ist die Rede von zwei jüdischen Ärzten, die allein durch massive Nazi-Verleumdungskampagnen in den Selbstmord getrieben wurden. Der eine hieß Cäsar Wolf und er war Arzt in Hamburg. Der Andere hieß Felix Blumenfeld und der war Kinderarzt in Kassel. Beide waren hochangesehen und nicht nur bei ihren Patienten beliebt. Beide waren Freimaurer und hatten in ihren jeweiligen Logen hohe Ämter inne. Was das Ganze für mich so makaber macht, ist die Tatsache, dass sie sich weit über ein gewöhnliches Maß gesellschaftlich und sozial engagierten. Blumenfeldt in einer ersten Deutschen Schule für Kinderkrankenpflege und Cäsar Wolf gründete das Hamburger Elisabeth Alten- und Pflegeheim. Beide investierten selbstlos große Teile ihres Privatvermögen. Beide fühlten sich ihrem Vaterland auf besondere Weise verpflichtet und betonten das nicht nur in ihren Texten und Reden, sonder auch in ihrem Handeln. Wolf begleitete während des ersten Weltkrieges einen Lazarettzug mit Schwerstverwundeten in die Heimat und unterstützte Kriegsveteranen. Ganz ähnlich wie auch Blumenfeld.

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Genützt hat ihnen das wenig. Wolf wurde von einem Hitlerjungen der Zugang zu seiner eigenen Klinik mit den Worten verwehrt „Juden sind hier unerwünscht“. Blumenfeld musste, den gelben Davidsstern am Revers, in Kassel die Straßen kehren und mit einer Zahnbürste einen Bürgersteig reinigen. Cäsar Wolf verabschiedete sich am 12 Mai 1933 von seiner Faru mit den Worten „ich habe immer geglaubt, ein guter Deutscher zu sein. Jetzt bin ich nur noch ein Jude.“ Er erschoss sich wenige Stunden später vor seiner Klinik. Blumenfeld verabschiedete sich mit den in Sütterlin verfassten Worten „Ich gehe deshalb aus dieser Welt der Gemeinheit, Niedertracht und Unmenschlichkeit, um einzuziehen in den ewigen Frieden“. Göpfert legte seine Notizen sichtlich bewegt in den Korb, den Reusentreu für die Mailabschriften und Übersetzungen auf seinen Schreibtisch gestellt hatte. “Wie nennt man das noch, wenn Menschen in den Tod getrieben werden, ohne das irgendjemand Hand angelegt hätte“, wollte Hilal wissen. „Das ist doch ein uraltes Konzept, wennauch ein wenig aus der Mode gekommen“. “Ich habe mal danach gegoogelt“ begann Göpfert zu erläutern. „Man spricht dabei von „Demagogie“. Und dabei ist jedes Mittel recht, um Menschen zu diffamieren. Nicht auszudenken, was die Nazis mit unseren heutigen Mitteln vom Shitstorm bis zu Fakenews und Mobbing angerichtet hätten“. “Geschmackvoll abgerundet durch einen bunten Strauß von Verschwörungstheorien und Lügengeschichten. Ganze Verlage haben in diesem Genre ihre Existenz und Millioneneinahmen entwickelt.“ Hilal klang fast ein wenig resignierend. “Das hat bei Nazis lediglich ein wenig länger gedauert“ warf Gershon ein. „Ihre Ziele haben sie ja auch so in hoher Perfektion erreicht. Über 6 Millionen Juden vielen dieser „Demagogie“ zum Opfer.

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Und wenn wir uns anschauen, wie diese alten Konzepte von einer Partei, die es geschafft hat, in den Bundestag vorzudringen, mit modernsten Mittel perfektioniert werden, darf es einem schon Angst und Bange werden.“ “Ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken, wo Du da eine Übereinstimmung mit unseren beiden Suiziden siehst?“ wandte sich Reusentreu an Göpfert. “Nun, einmal, weil diese beiden Fälle als Beispiel in einem der Mails an Peter Blume aufgeführt werden. Zwar nicht als Drohung oder so, aber geschickt und unübersehbar in einen Text eingeflochten, der sonst kaum einen Sinn ergeben würde. Jedenfalls bei erster Durchsicht. Der Text enthält eine Unmenge an freimaurerischen Ausdrücken und ich würde Dich bitten, Dir den noch einmal genauer anzusehen“, wandte sich Göpfert an Rosenfeldt. “Und dann wäre da noch das Datum. Diese Nachricht erreichte unseren Suizidenten wenige Tage, bevor er sich auf die Gleise stellte.“ “Noch etwas könnte für uns interessant ein“, merkte Reusentreu an: Blumenfeld hatte zwei Söhne, die in Frankfurt am Main lebten. Beide wurden als Lehrlinge seiner Kasseler Loge „Zur Einigkeit und Treue“ als Lehrlinge geführt. Ihnen gelang auf unterschiedlichen Wegen im Jahre 1938 die Ausreise in die Vereinigten Staaten. Dort wurden ihre Namen in Bloomfield amerikanisiert.“ “Was uns wieder zur Gruppe Myosotis führt“ schloß Hilal Abdulhamid den Kreis.

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23 Raubkunst

Sechster Ermittlungstag

Hilal hatte es begrüßt, daß Gershon sie in die Galerie begleitete. Seine Vorkenntnisse in Bezug auf die freimaurerischen Aspekte der Gruppe Myosotis schienen an Bedeutung zu gewinnen. Sie wurden von der Galeristin begrüßt. Melania von Hohenfels führte sie selbst ins Büro von Susanne Blume. „Bitte zögere nicht, mich zu rufen, wenn es Dir zuviel werden sollte“, sie schien wirklich besorgt um ihre Mitarbeiterin. Ein vielsagender, fast vorwurfsvoller Blick sagte auch den ermittelnden Beamten, sie mögen rücksichtsvoll mit ihrer besten Mitarbeiterin umgehen. “Welche Rolle spielte Ihr Mann bei der Klärung von Restitionsansprüchen?“ wollte Gershon als Erstes wissen. “Die Rekonstruktion der Vorfälle, die überhaupt dazu führen konnten, dass wir heute von „Raubkunst“ sprechen, war und ist von entscheidender Bedeutung. Hierbei spielte die Hermetik der Freimaurerlogen eine wichtige Rolle. Ohne Peter wären wir gar nicht an die sogenannten MatrikelDaten vor 1933 herangekommen. Auch die Position im Beamtenrat in der jeweiligen Logen-Hierarchie spielte eine wichtige Rolle“. Susanne Blume nahm erleichtert zur Kenntnis, dass sie Rosenfeldt die freimaurerischen Ausdrücke wie „Matrikel“ und „Beamtenrat“ nicht erst erläutern musste. Hilal nahm sich vor, ihn auf der Rückfahrt danach zu fragen. Wieder nahm sie das Gespräch mit einem der neuen Geräte auf. “Unsere Auftraggeber hatten es übernommen, vorbereitende, vertrauenschaffende „Letters of Goodstanding“ an die heutigen Logenmeister zu versenden. Jedenfalls an die der Logen, die heute noch existieren. Danach war es für Peter leichter, die Kontakte aufzunehmen. Auch vertraute man auf seine Verschwiegenheit. Dieser Vorgang wäre ansonsten wesentlich zähflüssiger und in den meisten Fällen wohl auch ziemlich aussichtslos. „

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“Existieren denn heute noch alle damaligen Logen“ wollte Hilal wissen. Diese Frage konnte Rosenfeldt selbst beantworten: “Beileibe nicht. Kaum eine Loge erreichte nach 1945 wieder die alten Mitgliederzahlen. Deshalb gab es neue Zusammenschlüsse und demzufolge auch neue Logennamen. Sehr oft wurden aus zwei oder drei kleineren Logen neue und arbeitsfähige Bruderschaften.“ “Ja genau, und das machte es so schwierig für uns, hier überhaupt einen Überblick zu bekommen. Der Faktor Zeit hatte aber auch auf amerikanischer Seite zu kompliziertesten Veränderungen geführt, auch unter den juristischen Vertretern der Sammelklage. Immer wieder mussten sich jüngere Mitarbeiter in die Aktenberge ihrer verstorbenen Vorgänger einarbeiten,“ erläuterte Susanne Blume die Komplexität ihres Aufgabenbereiches. “Wissen Sie etwas darüber, ob Ernst Baum in Hildesheim eine ähnliche Rolle für die amerikanischen Rechtsvertreter übernommen hatte?“ wollte Gershon wissen. “Ja sicher. Die Beiden tauschten sich doch ständig aus. Oft verbanden sie damit ihre Logenarbeiten in Hamburg und Lüneburg. Dort trafen sie auch auf einen weiteren Bruder, der mehrere Bücher über NS-Größen in den Logen verfasst hat. In Hannover trafen sie sich auch manchmal zu Logenarbeiten und trafen einen anderen Bruder, der sich in ein Spezialgebiet um die Person Hjalmar Schacht eingearbeitet hatte und zur Zeit wohl ebenfalls an einer entsprechenden Publikation arbeitet. Alle vier sind in der Forschungsloge „Quatuor Coronati“ als aktive Mitglieder tätig.“ Sie musste schlucken. „Waren als aktive Mitglieder tätig“ korrigierte sie sich und schien ihren Blick nach innen zu richten. “Konnten so konkrete Rechtsansprüche verifiziert werden? Gibt es bereits Auswirkungen auf den Kunsthandel ?“ wollte Gershon wissen.

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“Auswirkungen gibt es jede Menge, aber bislang keinen einzigen einwandfrei darzustellenden Rechtszustand. Sie kennen sicher den Fall Cornelius Gurlitt ? Der steht geradezu exemplarisch dafür, dass es den heutigen Besitzern von Raubkunst in Deutschland unglaublich leicht gemacht wurde und wird, ihre Besitzansprüche zu verschleiern. Kunst ist eine Handelsware, so sehen wir das jedenfalls. In aller Regel ist ein Besitzerwechsel mit einer Wertsteigerung verbunden. Stellen Sie sich einfach vor, Sie haben ein einzelnes Objekt, aber ein gutes Dutzend Interessenten möchte dieses haben.“ “Ich nehme an, deshalb gibt es Auktionen“, warf Hilal ein. “Ja sicher, das ist unser wichtigstes Steuerinstrument. Aber auch Expertisen und Berichte in Fachzeitschriften. Die Nachfrage nach der heute so genannten „Raubkunst“ setzte bereits während der Besatzungszeit ein. Die Wertsteigerungsmaschinerie trat fast von selbst in Kraft. Viele Kunsthändler aus aller Welt nutzten sofort bestehende Netzwerke und das waren auch in diesem Fall nicht selten die Militärlogen in den verschiedenen Zonen. Ich will damit nicht sagen, dass die Mitglieder dieser Logen sich direkt an der Verteilung von Raubkunst beteiligten. Aber es war für sie leicht, Informationen zu erhalten und weiterzugeben.“ Die Kunsthändlerin hatte sich mit Hilfe ihres Mannes offensichtlich gut in das Thema eingearbeitet. “Ist denn der heutige Eigentumsanspruch nicht hinfällig, wenn sich beweisen lässt, dass ein Gemälde ursprünglich einem Juden geraubt wurde? Ganz gleich, wie oft es in der Zwischenzeit weiter veräußert wurde und welche Wertsteigerung sich dadurch einstellte?“ fragte Hilal fast empört. “Hier wird es noch komplizierter. Es wurde zwar ein sogenanntes „Plünderungsverbot“ im Vökerrecht verankert, aber dieses hat nur eine Relevanz im Umgang der Staaten miteinander.

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Das Rechtsverhältnis einzelner Personen und deren Ansprüche sind hiervon ausdrücklich ausgenommen. Staaten können hier lediglich treuhänderisch so eine Art Lagerverwaltung übernehmen.“ “Unglaublich“ ereiferte sich Hilal. „Ich sehe an der Wand eines reichen Bankers das Bild, das früher bei meinem Rabbi-Opa über dem Sofa hing, der in Auschwitz vergast wurde und habe keine Chance, das Bild abzuhängen und unter dem Arm nach Hause zu tragen?“ “Dein Opa war Rabbi? Du bist doch Türkin?“ Gershon musste schmunzeln und war ein wenig froh, dass sie die ernste Situation durch ihren Ausbruch ein wenig gelockert hatte. “Unsinn , ich versuche ja nur, mir das mal aus der Sicht der betroffenen Juden vorzustellen.“ „Von welchen Mengen geraubter Kunst reden wir?“ wollte nun Gershon wissen. “Der größte Teil befand sich in Bayern und fiel somit in die Zuständigkeit der amerikanischen Besatzungszone. Man richtete sogenannte „Collecting Points“, also Sammelstellen im ehemaligen Verwaltungsbau der NSDAP und im Führerbau am Königsplatz in München ein. Dort hatte man Kunsttransporte für das geplante „Führermuseum“ in Linz vorbereitet. Ein großer Teil befand sich auch in der „Sammlung Hermann Göring. Es gab aber noch 600 weitere Auslagerungsdepots. Auch in den anderen Zonen gab es solche Sammelpunkte. Warten Sie, ich habe hier eine Aufstellung“, eine Aufstellung erschien auf ihrem Laptop. “Man sprach damals von 5 Millionen „Kulturgütern“, also auch von Bronzen und Marmor-Skulpturen und so weiter. Das fand sich in über 1500 Depots in Deutschland und Österreich.

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Der Verteilungsschlüssel hier sagt, dass davon 2,5 Millionen auf die amerikanisch besetzte Zone, 2 Millionen auf die sowjetische Zone und rund 500.000 Objekte auf die übrigen Gebiete fielen“. “Können Sie uns das bitte ausdrucken?“ bat Gershon Rosenfeldt: “Und davon befand sich dann ein gehöriger Batzen im „Schwabinger Kunstfund“?“ Hilal schaute deutlich erstaunter, als die Kunsthändlerin. Diese referierte etwas schulmeisterlich weiter. Aber wie sonst sollte man dieses komplexe Thema auch Laien vermitteln? “Ja, etwas über 1500 Werke. Die hatte Cornelius Gurlitt aber von seinem Vater geerbt und er selbst hatte keinerlei rechtliche Bedenken, weil er sich mit den Ursprüngen des vermuteten Kunstraubes nicht verbunden fühlte. Fraglich ist auch, ob der Vater die Werke nicht möglicherweise rechtmäßig erworben hatte. Die Bilder wurden beschlagnahmt unter dem Vorwand eines Verdachtes der Steuerhinterziehung, eine rechtliche Handhabe wegen eines vermuteten Falles von Raubkunst hatte man nicht. Ein weiterer juristischer Trick nannte sich dann „Provenienzforschung“. Ein schönes neues Wort, das dann auch endlich unseren Beruf ins Spiel brachte. Genau das machen wir nämlich hier ebenfalls. Die „Gurlitt-Sammlung“ wenn man sie denn so nennen möchte, ging übrigens nach seinem Tod im Frühjahr 2014 an die Stiftung des Kunstmuseums Bern. Dort war man alles andere als froh darüber, jetzt die Alleinerbin eines äußerst umstrittenen Vermächtnisses zu sein. Nun hatte man dort eben neben dem Tagesschäft auch noch die sogenannte Provenienzforschung und die Restitutionsansprüche der überwiegend jüdischen Erben im Nacken, die wir ja hier ebenfalls zur Genüge kennen.“

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Rosenfeldt bat darum, dass ihr nächstes Treffen im Atelier Peter Blumes in Rellingen stattfinden möge. Gemeinsam hörten sich Hilal und er auf der Rückfahrt die Bandaufzeichnung an. Das neue Smartphone hatte einen eigenen, leistungsfähigen Lautsprecher, damit sie es nicht an ihre unsichere Anlage im Fahrzeug anschließen musste.

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Swyss-Silence

Sechster Ermittlungstag

Bürli hatte empfohlen die frische Luft und den grandiosen Ausblick auf den Vierwaldstedter See während ihres Gespräches zu nutzen. In Wahrheit traute er Schacht nicht über den Weg. Vor Abhöranlagen war man zwar auch auf der Terrasse nicht ganz sicher, aber wollte die Möglichkeiten so weit es ging reduzieren. Schacht stimmte zu und gab vor, diese Gelegenheit auf willkommene Weise für den Genuss einer dicken Cohiba nutzen zu wollen: “Felicitas hasst den erkalteten Rauch meiner Lieblinge“. “Das Honorar für Swyss-Silence wurde umgehend auf Ihre Konten transferiert. Sie können uns also versichern, dass wir aus den Reihen Ihrer Bruderschaft nichts mehr zu befürchten haben?“ “Genau, wie ich es Ihnen am Telefon ja bereits andeutete“. “Eben , wie Sie es andeuteten. Genau deshalb bin ich heute hier. Wir schweizer Bankiers ziehen das persönliche Gespräch generell jeder anderen Form von Nachrichtenübermittlung vor und das nicht nur aus Tradition.“ Beide sahen sich vielsagend an. Jeder kannte die speziellen Aufgaben und Fähigkeiten seines Gegenübers. Nachdem Schacht dem Vorstandsmitglied der Unterabteilung „National-Treasures“ der Schweizer Nationalbank noch einmal ausführlich von den beiden Schienen-Suiziden berichtet hatte, drängte er seinerseits auf einige Antworten: “Wie wir hörten, sind nun auch die offenen Restitutionen aus Bern in Ihrem „Bundesratsbunker“ im Berg von Kandersteg eingelagert?“ Er liebte es, seine Gesprächspartner mit Informationen zu konfrontieren, die er eigentlich gar nicht haben konnte.Fast beiläufig zog er an seiner Zigarre und deutete in einem weiten Bogen auf die schöne Luzerner Landschaft: “Wie vorteilhaft doch die Schweiz ihre schönen Berge zu nutzen versteht“.

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“Ja, und demnächst werden wir dort auch die Kunstbestände von „Swiss Gold Safe“ aus Amsteg im Kanton Uri aufnehmen. Dort will man sich auf die Einlagerung hochsensibler elektronischer Daten spezialisieren. Die umgebaute ehemalige Militäranlage ist dafür bestens geeignet. Einige hochversierte Sprengungen in den Gotthard-Granit und das Hochsicherheitslager im Berg konnte als Alpensafe gegen jede militärische wie auch zivile Bedrohung ausgebaut werden. Nach neuester Firmeninformation soll dieser gigantische Bergbunker auch gegen atomare Schläge und elektromagnetische Strahlung absolut resistent sein.“ “Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihre Bank auch an diesem Projekt beteiligt sein wird?“ “Aber ja. Glauben Sie, es würde dort eine Landebahn für Business-Jets und den Helicopter-landeplatz geben, wenn wir uns nicht dafür stark gemacht hätten?“ lächelte Bürli stolz. “Das habe ich mir schon gedacht. Und die eigene Zollstation mit ihren staatlich kontrollierten Sonderrechten ist doch sicher auch eine Ihrer Ideen?“ Schacht wusste genau, dass Leute wie Bürli gerne mit Partnern zusammen arbeiteten, denen man nicht jede Kleinigkeit erst erklären musste. “Für uns Schweizer ist Vertrauen wie Ihr Deutschen es nennen würdet eine „sichere Bank.“ Bürli lehnte sich lässig auf das Terrassengitter. Hinter ihnen stieg Felicitas leise plätschernd in den Pool. Aus dem Augenwinkel bemerkte der Bankier ihre neuen Silikonbrüste, ließ sich seine Verwunderung aber nicht anmerken: „Wissen Sie, wir waren schließlich die ersten, die gemeinsam mit dem Militärdepartement die Pläne für unsere Bergdepots entwickelte. Als Großbank waren und sind wir der Inbegriff Schweizer Zuverlässigkeit. Und wir haben das noch unterstrichen indem wir einen äußerst prominent besetzten Aufsichtsrat zusammenstellten. Darunter war der Botschafter von Lichtenstein genau so vertreten wie Ihr damaliger deutscher Postminister Schwarz-Schilling“.

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“Ich habe einmal einen Film über die Bunkerverliebtheit der Schweizer gesehen“ Schacht musste lachen. Der Film begann mit einer Szene mit Murmeltieren. Darin wird den Schweizer Zuschauern klargemacht, dass eine Taktik die Murmeltierchen, die blitzschnell im Erdboden oder Berglöchern verschwinden, seit Jahrtausenden vor Steinadlern schützte. Da haben sich die Schweizer sicherlich gedacht: „Aha, das hilft dann ganz sicher auch gegen Atombomben und russische Raketen“. Irgend solch eine Assoziation muss es jedenfalls gewesen sein, die dazu geführt hat, dass es heute in der Schweiz über 300 000 Bunker gibt. Kleinere in privaten Gärten und Berghängen und riesige wie die der Nationalbank.“ “Das hängt aber damit zusammen, dass wir ein Gesetz haben, dass jedes Haus ab einer bestimmten Größe einen Schutzraum haben muss. Und nach Fukushima wurde der Bau staatlich auch noch gefördert. In den meisten Schutzbunkern werden Fahrräder abgestellt oder Kaninchen gezüchtet.“ Bürli wirkte fast ein wenig beleidigt. “Anders als in Ihren Alpenbunkern“. Schacht trat sehr nahe an den Banker heran: “Und genau das bewundere ich an Euch Eidgenossen. Ihr habt die Bunkeranlagen aus dem ersten Weltkrieg genutzt, um Eure Kunstschätze vor den Nazis in Sicherheit zu bringen. Dann öffnetet Ihr die gleichen Bunker um die Raubkunst von ebendiesen Nazi-Größen dort in Sicherheit zu bringen. Ihr unterstütztet gemeinsam mit dem Vatikan die Fluchtroute der gleichen Nazi-Größen nach Südamerika. Das nennt man heute die „Rat-Line“, also die Ratten-Route. Ihre geraubten Schätze waren bei Euch sicher verwahrt, darauf konnten sie vertrauen. Als dann die DDR kein einziges Restitutions-Abkommen unterstützte, wurde dort daraus der Devisen-Handel der sogenannten „Kommerziellen Koordinierung“ unter Schalck-Golodkowski . Auch für seine Abteilung „Kunst-und Antiquitäten Gmbh“ und den daraus resultierenden Valuta-Millionen wurdet Ihr ein sicherer Hafen.“

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“Wird das jetzt eine Diskussion über ethische Grundlagen ?“ lenkte Bürli ein, dem die Diskussion immer weniger gefiel. Auch missfiel ihm, daß der Tonfall bereits so respektlos geworden war, dass Schacht ihn mehrfach ohne Übergang geduzt hatte. „Dann sollten wir uns auch über Ihre moralischen Arbeitsgrundlagen in dieser offenen Form unterhalten. Immerhin treiben Sie und Ihre Leute bestimmte Menschen systematisch in den Selbstmord. Da sollten Sie die moralische Messlatte bitte nicht allzu hoch legen.“ “Das sagt der Auftraggeber“, wollte Schacht entgegnen, fing sich aber und fasste den erregten Banker stattdessen an der Schulter, um ihn ins Haus zu lotsen und zu einem uralten Cognac einzuladen. So konnte sich auch Felicitas ungestörter abtrocknen, denn sie stieg gerade aus dem Pool. Leutseelig sprach er nun betont moderater: „Wir wollen doch ganz ähnliche Dinge bewegen, da sollten wir uns nicht über unsere Methoden erregen. Sie erzählten mir, dass Ihnen die nach der so genannten „Washingtoner Erklärung“ vorgeschriebene ProvenienzForschung große Sorgen bereiten würde. Wie können wir Ihnen denn dabei helfen ?“

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Atelier Rellingen

Sechster Tag

Ursprünglich hatten Hilal und Gershon den Atelier-Termin in Rellingen gemeinsam wahrnehmen sollen, aber irgendwie hatte Reusentreu mitbekommen, dass Freimaurer die Ehefrauen ihrer Brüder „Schwester“ nennen. Deshalb setzte er ein besonders Vertrauensverhältnis voraus, als er Gershon Rosenfeldt bat, alleine zu dem alten Gutshof nach Rellingen im Hamburger „Speckgürtel“ zu fahren. Die Tür stand offen und er traf Susanne Blume verweint über einem Stapel verstreuter Handzeichnungen und Skizzen sitzend an. “Cäsar Wolf“, sagte sie. „Das sollte seine dritte lebensgroße Bronzeplastik werden. Du kennst seine Geschichte ?“ Natürlich hatte sie bereits beim Treffen in der Galerie die kleine Anstecknadel mit dem Zirkel und Winkel-Symbol bemerkt. “Ja sicher, wer kennt dessen leidvolle Geschichte nicht ? Sein Portrait hängt ja in unserem Logenhaus. Ich bin beeindruckt, wie intensiv Bruder Peter sich dem Thema unserer kaum verarbeiteten jüngeren Geschichte gewidmet hat. Irgendwie haben sich seine Recherchen unmittelbar in seiner Arbeit niedergeschlagen.“ “Das wurde leider irgendwann zu einer Obsession. Er weigerte sich, darüber nachzudenken, ob seine ja oft sehr zeitaufwändige Arbeit außer ihm noch irgendjemand sonst interessieren würde. Künstler müssen wohl so sein. Nur kann man aber leider von Obsessionen schlecht leben. Hätte ich meinen Job bei Frau von Hohenfels nicht gehabt ….“. Sie brach ab und ihr Blick richtete sich wieder nach innen, wie Gershon es bereits einmal beobachtet hatte. “Also verstärkte sich seine wirtschaftliche Bedrängnis, als Du ihm Eure Trennung in Aussicht stelltest?“ “Sicher, aber das allein war es nicht. Er erhielt ja für seine Recherchen für die Gruppe Myosotis ein kleines Honorar.

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Viel schlimmer war für ihn, dass man ihm eine Kostenerstattung seiner Auslagen für die Erstellung der Schröder-Statue versprochen hatte.“ Sie zeigte auf die patinierte lebensgroße Figur in der Mitte des lichtdurchfluteten Ateliers. Als er dann seine gesammelten Belege für seine Auslagen vorlegte, waren einige der Brüder, die ihm zuvor ständig auf die Schultern klopften, nicht mehr im Amt. Zwei hatten sogar gedeckt.“ “Aber er hat doch sicher einen schriftlichen Auftrag erhalten, bevor er mit der Arbeit begann?“ “Eben nicht. Wenn ich ihn daran erinnerte, winkte er immer ab und meinte, er könne sich auf seine Brüder verlassen. Abmachungen „auf Maurerwort“ seien wertvoller als jeder hanseatische Handschlag und jeder Vertrag. Ein tragischer Irrtum.“ Etwas Erbostes trat in ihren Blick. “Also hatte seine Enttäuschung ausschließlich etwas mit den nicht erstatteten Kosten zu tun?“ wollte Gershon wissen. “Nein, das war nur die Spitze des Eisberges, der Auslöser sozusagen. Durch seine Recherchen für Myosotis kannte er ja eine Fülle von nicht aufgearbeiteten Vorgängen, in denen sich Freimaurer völlig entgegen aller humanistischen Grundsätze und Schwüre verhalten hatten. Einige Logenbrüder hatten sich nach 1933 der NSDAP angeschlossen. Peter stieß auf Fälle, in denen jüdische Mitglieder von ihren eigenen Logenbrüdern denunziert worden waren.“ “Unvorstellbar !“ entfuhr es Rosenfeldt. “Entsetzlich, ja. Und besonders empörte es ihn, dass diese Vorgänge nach 1945 nie richtig aufgearbeitet wurden. Während die sogenannte „Entnazifizierung“ nach 1945 zu einer nationalen Farce geriet, bei der man in Nürnberg nur einige bekannte NS-Größen in einem internationalen Schauprozess verurteilte, wurde eine „Entnazifizierung“ in den Großlogen geradezu einem bis heute andauernden Verdrängungsprozess geopfert.“

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“Aber es hat doch einige Dokumentationen darüber gegeben ?“ “Das schon, aber für die Großlogen war der Prozess weitgehend dadurch abgeschlossen, dass nach der Wiederlichteinbringung die bekanntesten ehemaligen Brüder, denen Untaten unschwer nachzuweisen gewesen wären, einfach nicht wieder aufgenommen wurden. Damit war für die allermeisten Brüder diese Sache erledigt.“ “Oh, ich kenne die großen Reden über die Rückkehr zu den humanistischen Grundsätzen, wie wir sie aus den „Alten Pflichten“ kennen. Hervorragende Texte, in deren Schlagschatten das Blut langsam aber unaufhörlich im musivischen Fußboden versickerte.“ Gershon nahm sich vor, einige dieser Reden noch einmal in Ruhe zu lesen. “Als Peter dann durch seine zweite große Arbeit, die Modellierung der Müffelman-Statue, unerträglich ergreifende Berichte aus Tel Aviv erhielt, wurde die Schnittmenge zwischen seiner selbstgestellten Aufgabe einer Aufarbeitung der Vergehen in den eigenen Reihen für ihn immer greifbarer. Sehr, sehr häufig erwachte die Erinnerung an ein himmelschreiendes Unrecht gerade durch die RestitutionsAnsprüche der heutigen jüdischen Erbengeneration.“ “War Peter denn der einzige, der diese besondere Art der Provenienzforschung für Myosotis betrieb? “Nein, er musste natürlich bei seinen Recherchen unzählige Kontakte knüpfen. Ernst Baum war ihm dabei ein wichtiger Bruder geworden, der auch seine Empörung teilte. Beider Recherchen gestalteten sich überaus schwierig. Archive blieben ihnen oft zunächst verschlossen. Wenn sie dort dann endlich Zugang erhielten, fehlten Unterlagen oder sie fanden ausschließlich die Berichte von Brüdern, die sich als Widerstandkämpfer heroisierten.“ “Nun wird mir langsam klar, weshalb die RestitutionsExperten der amerikanischen Interessengemeinschaft auf diese Recherchen in freimaurerischen Netzwerken neben ihrer allgemeinen Forschung überhaupt nicht verzichten konnten,“ verstand Gershon langsam.

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„Gab es denn konkrete Fälle von Raubkunst in diesem Zusammenhang? Ich meine Fälle, in denen sich Brüder an Kunstsammlungen denunzierter jüdischer Brüder nachweisbar bereichert hätten“ , wollte Gershon nun wissen. “Nachweisbar ist das Zauberwort“, Susanne Blume klappte ihr Notizbuch auf. „Ich habe hier ein Beispiel von Vielen. Peter erzählte mir bei einem seiner seltenen Besuche in meinem Büro vor drei Wochen davon. In einer Rechtfertigungs-Schrift, mit der ein Bruder versuchte, in seine Mutterloge in Lübeck zurückkehren zu dürfen, erklärte dieser Folgendes: “Natürlich wollten meine Frau und ich dem Bruder Mosche helfen. Ich habe ihm einen großen Teil seiner Kunstsammlung abgekauft, damit er ein wenig Fluchtgeld in der Hand hatte.“ Als man ihm den geradezu lächerlichen Kaufpreis vorhielt, rechtfertigte dieser Bruder das mit dem Hinweis darauf, dass ja damals alle nicht viel Geld zur Verfügung gehabt hätten. Inflation und Krieg ist überhaupt das Generalargument für unzählige ähnlicher Vorgänge. Dass ein großer Teil dieser in einer extremen Notsituation „erworbenen“ Gemälde nach Kriegsende exorbitante Gewinne erzielten, wird in kaum einem Fall erwähnt. Mir ist auch kein einziger Fall bekannt, in dem einer der jüdischen Erben an diesen Gewinnen beteiligt worden wäre,“ merkte Susanne Blume verbittert an. “Es gibt also viele Formen von Raubkunst „ sprach Gershon vor sich hin. „Mir wird langsam klar, dass eigentlich alle, die sich auf diese Weise bereichert haben, ein vitales Interesse daran haben müssen, dass ihre Vergehen auch 70 Jahre danach nicht ans Tageslicht kommen.“ In seinem Kopf fügten sich langsam die beiden Suizide und diese neuen Informationen zu einer fatalen Schnittmenge. Auch die eigenartigen Dokumente in den Computern der beiden Suizidenten ergänzten seine Vorstellungen.

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Sie sprachen noch eine Weile über die vor ihnen liegenden Skizzen zur Cäsar Wolf-Statue und verabschiedeten sich mit einer „brüderlichen“ Umarmung. “Glaubst Du, Peter würde heute noch leben, wenn ich ihm und nicht diesem verdammten Video geglaubt hätte?“ Wieder traten Tränen in ihre Augen, als sie Gershon ansah.

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