Suh Jeong Min 2010-2015

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Seiner künstlerischen Herkunft nach steht Suh in der Tradition der Tuschemalerei seines Heimatlandes. Er malte anfänglich mit Tusche auf Reispapier und wählte dabei bevorzugt Landschaften, in denen der optische Eindruck der Natur durch die geometrischen Strukturen der in traditioneller Bauweise errichteten Häuser unterbrochen erschien. Die abstrakt wirkenden Lineaturen der Landschaftsansichten lenkten Suh dann allerdings darauf, den abstrakten Formgesetzen selbst und unabhängig von realen Gegenständen zu folgen, um mittels konstruktiver Abstraktion autonome Bildwelten zu schaffen. Das Material dafür fand er im Medium Papier, das ihm bis dahin als Malgrund gedient hatte. Er formte es um und nutzte es fortan nicht länger als Fläche, sondern entwickelte daraus die Bausteine seiner geschichteten Agglomerate. Er verwendet dabei das aus dem Splint des Maulbeerbaums hergestellte koreanische Hanji-Papier, das eine besondere Festigkeit und Haltbarkeit besitzt und deswegen auch zur Fertigung von Möbeln und als Füllmaterial von Trennwänden und Fenstern herangezogen wird. Indem Suh den traditionellen Gebrauchswert des Materials Papier in den Grundstoff seiner künstlerischen Produktion transponiert, bewahrt er es als althergebrachtes Kulturgut und schenkt ihm zugleich eine neue Wertigkeit und einen höheren Bedeutungsgehalt. Seine widerstandsfähige Konsistenz wird zum symbolischen Ausdruck für die Zähigkeit und Nachhaltigkeit, mit der die elementaren Daseinsfaktoren und die karmischen Existenzialien den Malstrom des Samsara und den Kreislauf der Wiedergeburten in Gang halten. Suh verwandelt auf diese Weise das stoffliche Material des Hanji-Papiers in eine inhaltliche Gegebenheit. Ähnlich wie die abstrakte Moderne des Westens Material und verwendete „Fundstücke“ (objet trouvé) in einen erweiterten Sinnzusammenhang stellt und zum Inhalt erklärt, sieht auch Suh im Papier

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einen Bedeutungsträger, der die bloße Stofflichkeit transzendiert. Suh verweist auf diese Transzendenz, indem er das Papier nicht als „unbeschriebenes Blatt“ verwendet. Analog zum Verständnis karmischer Gesetzmäßigkeiten, wonach das Dasein als lebende Existenz stets seine Ursache in der leidvollen und schuldhaften Verstrickung des Daseienden und seiner vorangegangenen Leben hat, zieht Suh für seine Arbeiten Papier heran, das mit Schriftzeichen und Piktogrammen beschrieben ist, also Spuren und Zeichen vorhandener Existenzen in bestimmten Daseinsbezügen trägt. In den Kalligraphien wird die Gemütslage des Schreibenden transparent, wodurch sein Seelenzustand und damit seine karmische Situation sichtbar wird. Die „Seelenzeichen“ verwendet Suh nun aber nicht in aller Deutlichkeit und Deutbarkeit, sondern sie erscheinen in der Form eines Palimpsests, worin das Geschriebene völlig anonymisiert ist und seinem Inhalt nach nicht mehr vollständig rekonstruiert werden kann. Dies entspricht wiederum der Vorstellung vom Karma, das seiner Entstehung nach nur schwer einer eindeutigen Ursache und damit einer konkreten Konstellation zuzuweisen ist. Um die Verknüpfung des karmischen Trägermaterials mit den verundeutlichten „Seelenzeichen“ zu bewerkstelligen und daraus ein konstruktives Kunstobjekt zu schaffen, rollt Suh das beschriebene Papier unter starkem Druck zusammen, so dass die Zeichen lediglich als Pigmentspuren durch die Transparenz der gerollten Schichten hindurchscheinen. Zusätzlich zerschneidet Suh dann noch die Papierrollen in zwei Hälften oder in Viertelstücke und zerteilt sie in einheitlich lange Stäbchen. Dadurch wird der Sinngehalt der vormals kalligraphierten Piktogramme ein weiteres Mal zerschnitten und unkenntlich gemacht. Die


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