BDK - Sichere Kindheit, verantwortungsvolle Gesellschaft

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Kripo- TIPPS

Ein Ratgeber des Bund Deutscher Kriminalbeamter

SICHERE KINDHEIT
VERANTWORTUNGSVOLLE GESELLSCHAFT

Liebe Leser!

Die im Jahr 2019 entdeckten schweren Missbrauchsfälle aus NRW zeigen mehr als deutlich, dass „Sichere Kindheit“ ein gesamtgesellschaftliches Thema ist. Diese verabscheuungswürdigen Straftaten lassen keinen anderen Schluss zu, als dass es notwendig und geboten ist, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen und über dieses Thema zu berichten. Nur so ist es möglich, zu sensibilisieren und Warnzeichen zu erkennen. Denn in einem sind wir uns einig: Die bis dato aufgedeckten Fälle sind leider nur ein Bruchteil der tatsächlich verübten Taten. Da ein Großteil der Missbräuche im familiären oder sozialen Umfeld der Opfer stattfinden, muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden – Straftaten, die nicht zur Anzeige gebracht werden, weil die Opfer zu klein sind oder die Scham zu groß. Die körperlichen und seelischen Schäden prägen diese Kinder oft ein Leben lang.

Kindesmisshandlung ist strafbar

Bereits seit dem Jahr 2000 ist das Recht auf gewaltfreie Erziehung auch deutsches Bundesrecht. Seit 2004 erinnert jedes Jahr der „Tag der gewaltfreien Erziehung“ am 30. April an diesen wichtigen Umstand. Dennoch muss nicht jede Gewalt zum Nachteil eines Kindes zwingend auch den Tatbestand der Kindesmisshandlung erfüllen. Wenn aber die Gewalt ein ständiges Mittel in der Erziehung ist, so handelt es sich um Kindesmisshandlung. Die Politik muss sich die Frage stellen lassen, ob die Bekämpfung von Kindesmisshandlung in allen Facetten nicht professionalisiert werden müsste – ob es nicht erforderlich ist, Netzwerke weiter auszubauen und gewisse Mindeststandards in allen beteiligten Ressorts vorzuschreiben. Sieht man sich zum Beispiel die Unterstützung des Projekts RISKID (Risikoinformationssystem Deutschland) an, bei dem es unter anderem um die verantwortungsvolle Zusammenarbeit von Kinderärzten zur Früherkennung von Missbrauch geht, so ist hier leider noch deutlich „Luft nach oben“. Die Folgen einer zerbrochenen Kinderseele sind beträchtlich und nicht hinnehmbar. Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass die Suizide bei Kindern und Jugendlichen oft der letzte Schritt eines bereits lange unerkannt leidenden Menschen sind.

Bei der Aufarbeitung dieser komplexen Themenvielfalt sind Experten gefragt, und genau aus diesem Grund hat der BDK für die vorliegende Broschüre ganz bewusst diese um Gastbeiträge gebeten und bedankt sich an dieser Stelle ausdrücklich für den fachlichen Input aus den unterschiedlichsten Professionen.

Herzlichst Ihr

Hans Hülsbeck

Redaktion Kripo-TIPPS

Sprecher Prävention und Opferschutz des BDK Landesverband NRW

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Vorwort
Sie in dieser Broschüre finden 1. Sexueller Missbrauch – Wer sind die Täter? .............................. 3 1.1 Übersicht über die verschiedenen Tätergruppen ............... 4 1.2 Weitere Motive................................................................................ 7 2. Kindesmisshandlung – ihre Symptome, ihre Schäden .......... 8 2.1 Kindeswohlgefährdung ............................................................... 9 2.2 Kindesmisshandlung .................................................................10 3. Ratschläge bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch 17 3.1 Indikatoren zur Verdachtsabklärung..................................... 18 3.2 Ratschläge zum Umgang mit dem   Verdacht auf ein Sexualdelikt ................................................. 19 3.3 Vorbeugung ................................................................................... 20 3.4 Statistiken ...................................................................................... 21 4. Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen .............................. 23 4.1 Risikofaktoren .............................................................................. 23 4.2 Warnhinweise .............................................................................. 23 5. Die Rechte der Kinder 26 6. Hilfe für Opfer ..................................................................................... 30 7. Impressum 31 2
Was

1. Sexueller Missbrauch – Wer sind die Täter?

Sexualdelikte an Kindern sind in erster Linie Machtdelikte, die Sexualität wird nur als Mittel benutzt, um diese Macht auszuüben. Täter sind von daher meist Menschen, die sich selbst machtlos fühlen und die versuchen, durch die Tat diese erlebte Machtlosigkeit zu kompensieren.

Menschen, die zu Tätern sexueller Übergriffe an Kindern werden, fehlt es an Einfühlungsvermögen und Rücksichtnahme, sie sehen im Kind nicht den Menschen, sondern betrachten es wie einen Gegenstand, den sie benutzen können, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. So ist der Exhibitionismus eine klare Demonstration der Männlichkeit, es geht darum, dem Opfer Angst einzujagen, während bei pädophilen Handlungen der Machtaspekt meist fehlt. Auch wenn im Folgenden fast

ausschließlich von männlichen Tätern die Rede ist, gibt es auch einen geringen Prozentsatz an Frauen, die Sexualdelikte an Kindern begehen.

Eberhard Schorsch* hat lange mit Sexualstraftätern gearbeitet und versucht, Tätertypen zu beschreiben. Es handelt sich dabei aber lediglich um Schematisierungen, nicht um Einzelfallbeschreibungen.

So gibt es Täter, die in keines dieser Schemata passen, und andere, die mehreren Typologien zugeordnet werden können.

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1.1 Übersicht über die verschiedenen Tätergruppen

Die erste Tätergruppe: Exhibitionisten

Die 1. Tätergruppe bilden Exhibitionisten, die sich bevorzugt Kinder als Opfer suchen. Hier findet man Täter aus allen Altersgruppen. Der familiäre und soziale Hintergrund ist ungünstiger als bei anderen Tätergruppen, so kommen viele dieser Täter aus einem problematischen Elternhaus, d. h. sie wurden selbst als Kinder vernachlässigt oder misshandelt. Als Folge davon bewegen sich dann auch einige dieser Täter im asozialen Milieu. Über die Hälfte dieser Täter weisen eine familiäre Belastung auf, d. h. in der Familie finden sich häufiger Angehörige mit Psychosen, hirnorganischen Erkrankungen oder geistiger Behinderung; auch Alkoholismus, Kriminalität und Selbstmorde treten in diesen Familien häufiger auf als im Bevölkerungsdurchschnitt. Durch die ungünstigen Bedingungen, unter denen sie aufwachsen, zeigen viele dieser Täter schon als Kinder Verhaltensauffälligkeiten, der Bildungsstand und die Intelligenz sind oft sehr niedrig. Häufig wurden diese Täter als Kinder selbst Opfer sexueller Über-

griffe. Exhibitionisten vor Kindern sind fast immer Rückfalltäter und es werden oft auch andere kriminelle Delikte begangen. Alkohol spielt hier bei der Tatausübung nur eine geringe Rolle. Als Opfer suchen sie sich oft Kinder, die ihnen flüchtig bekannt sind. Die Hälfte der Täter dieser Gruppe ging über das Vorzeigen der Genitalien hinaus, die Kinder wurden angesprochen oder aufgefordert, das Genital anzufassen, teilweise wurden die Kinder auch berührt oder attackiert

Die zweite Tätergruppe: Pädophile

Die 2. Tätergruppe sind die sogenannten Pädophilen, also Männer, die sich von Kindern sexuell angezogen fühlen bzw. ihre Sexualität bevorzugt bei Kindern ausleben. Hier unterscheidet man zwischen dem jugendlichen Täter und dem Täter mittleren Alters.

Jugendliche Pädophile sind in der Regel entweder kontaktarm und in ihrer Entwicklung zurückgeblieben oder sozial auffällig. Die kontaktarmen jugendlichen Täter kommen eher aus der geordneten sozialen Mittelschicht. Sie sind sexuell unerfahren und haben kaum

*Eberhard Schorsch

Eberhard Schorsch (1935 – 1991) war ein deutscher Arzt, Psychiater und Sexualforscher. Er war Direktor des Instituts für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). In Lehre und Forschung war Schorsch mit Menschen befasst, die wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung angeklagt oder verurteilt waren. Außerdem war er von 1982 bis 1985 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) sowie 1988 Mitbegründer und Herausgeber der „Zeitschrift für Sexualforschung“.

Quelle: Wikipedia

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Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen. Oft fühlen sie sich gegenüber anderen unterlegen und sind Einzelgänger. In Schule und Familie verhalten sie sich eher unauffällig und angepasst, haben aber Probleme, sich auszudrücken und durchzusetzen.

Die sexuelle Handlung an Kindern entspringt dem Wunsch, überhaupt sexuellen Kontakt zu haben, da sie mit Mädchen gleichen Alters nicht in Kontakt kommen.

Diese Täter gehen selten aggressiv vor und sie werden in der Regel nicht wieder rückfällig, wenn sie die Isolation im Jugendalter überwunden haben.

Sozial auffällige Jugendliche, die pädophile Handlungen begehen, sind oft auch minderbegabt, neigen zu aggressivem Verhalten und Alkoholexzessen und kommen oft aus unteren sozialen Schichten. Im Unterschied zu der ersten Gruppe fallen sie oft durch aufsässiges Verhalten auf, das sich durch die gesamte Kindheit und Jugend zieht. Viele dieser Täter wachsen im Heim auf. Auch hier wenden sich die Täter Kindern zu, weil sie zu Gleichaltrigen keinen Kontakt bekommen. Das Geschlecht der Kinder ist diesen Tätern oft nebensächlich, das Tatgeschehen ist oft sehr aggressiv und richtet sich eher gegen unbekannte Kinder. Der Machtaspekt spielt hier eine bedeutende Rolle.

Bei den Pädophilen mittleren Alters werden vier Gruppen unterschieden:

Gruppe 1: Unstete Kriminelle

„Unstete Kriminelle“ sind oft sozial verwahrlost und weisen eine unstete Lebensführung auf. Das heißt, dass sie häufig den Arbeitsplatz wechseln, kaum längere Beziehungen eingehen, vermehrten Alkoholkonsum aufweisen und oft auch andere Delikte begehen. In ihrem

Milieu sind diese Täter durchaus gesellig, können aber keine stabilen zwischenmenschlichen Beziehungen aufbauen. Die Unstetheit zeigt sich auch in der Sexualität, so haben diese Täter extrem häufig wechselnde Sexualpartner. Als Opfer suchen sie sich meist verwahrloste Mädchen oder Jungen unter 14 Jahren, für die der sexuelle Umgang mit Erwachsenen keine Besonderheit mehr darstellt.

Gruppe 2: Pädophile Lehrer

Zu dieser Gruppe zählen aber nicht nur Lehrer, sondern auch Leiter von Jugendgruppen, Erzieher, Sportwarte, Priester, Musiker und Kinderärzte. Diese Täter suchen gezielt die Welt des Kindes und Jugendlichen und wählen daher auch einen Beruf, in dem sie zu Kindern Kontakt haben. In ihrer Persönlichkeit sind diese Täter oft sehr differenziert, intelligent, fantasiebegabt und emotional. Oft besitzen sie ein besonderes Interesse oder eine besondere Begabung, mit der sie Kinder und Jugendliche begeistern können. Sie genießen bei Kindern auch ein besonderes Vertrauen, da sie sich gut in andere einfühlen können, weder Zwang noch Autorität einsetzen, sondern eher mit Überzeugungskraft und Begeisterungsfähigkeit agieren. Durch das oft sehr enge Vertrauensverhältnis kommt es zu privaten Kontakten, die über den beruflichen Kontakt hinausgehen und die dann die sexuellen Handlungen einleiten. Diese Täter haben oft nur sehr wenig sexuelle Erfahrung und sind in ihrer Einstellung zur Sexualität eher prüde und unfrei. Bei verheirateten Tätern dieser Gruppe ist die sexuelle Aktivität in der Ehe eher gering und unbefriedigend. Die sexuelle Handlung zum Opfer entsteht aus der illusionären Umdeutung der Situation und

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der Rollen. Die Erzieherrolle wird mit der Partnerrolle verwechselt, die Zuneigung des Kindes als Verliebtheit gedeutet. Der Pädophile beutet Kinder aus, um sein Bedürfnis nach emotionaler Zuwendung und Bestätigung zu befriedigen.

Gruppe 3: Thema Sucht

Der dritte Tätertyp dieser Gruppe zeigt eine suchtartige und fortschreitende Verlaufsform. Diese Täter werden durch ihre pädophilen Handlungen schließlich so stark beherrscht, dass andere Belange des Lebens langsam den Bach runtergehen. Sie verfallen regelrecht ihrer sexuellen Neigung, liegen permanent auf der Lauer nach möglichen Opfern und nach möglichen Gelegenheiten zur Tatausübung. Die Opfer werden nicht mehr als Person wahrgenommen, sondern dienen nur noch als Objekt zur Triebbefriedigung.

Gruppe 4: Alterstäter

„Alterstäter“ üben Delikte erstmals im fortgeschrittenen Alter aus. Die untere Altersgrenze liegt hier bei 50 bis 60 Jahren. Oft findet man hier ein Nachlassen der Potenz bei erhaltener oder auch aufflammender Libido. Diese Täter nähern sich mit ihrem sexuellen Bedürfnis Kindern, weil sie bei Frauen Angst haben, sexuell zu versagen, und Frauen gleichen Alters ihnen oft nicht mehr sexuell attraktiv erscheinen. Diese Täter weisen meist eine unauffällige sexuelle Vorgeschichte auf und sind auch sonst psychologisch eher als unauffällig einzustufen. Oft spielen hirnorganische Abbauprozesse eine Rolle, die sowohl die Fähigkeit zur Selbstkritik als auch das Kontrollvermögen beinträchtigen. Ist die Schranke erst mal durchbrochen und ein erstes Delikt begangen worden, kommt es zu häufigen sexuellen Übergriffen an Kindern.

Die Kinder sind den Tätern häufig bekannt, zu zwei Drittel suchen sie sich jugendliche Opfer, ansonsten eher kleinere Kinder. Aggressive Handlungen kommen hier kaum vor, aber dafür häufiger mehrere Übergriffe an ein und demselben Opfer.

Inzest

Beim Inzest hat man es mit einer anderen Tätergruppe zu tun. Inzesttäter stammen aus allen sozialen Schichten und zeigen eine sozial angepasste Fassade. Alkohol spielt hier nur in der Situation des Übergriffs eine Rolle und dient zur Überwindung der Hemmungen. Ein auslösender Faktor für Inzesthandlungen ist oft die lange Abwesenheit der Väter von den Familien, so gab es nach den beiden Weltkriegen eine Häufung an Inzestfällen. Diese Täter sind ansonsten sexuell eher wenig aktiv. Meist besteht wenig Einsicht in die eigene Schuld, sondern sie betrachten sich eher als Opfer der Umstände. Die Ehefrau sei frigide, die Tochter habe sie verführt etc. Auffällig häufig haben diese Täter in der Kindheit Verlassenheitserfahrungen gemacht, ihre Lebensgeschichte ist von Trennungen und

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Verlusten oder Zurückweisung durch die Eltern geprägt. Die Väter dieser Täter waren oft gewalttätig und gefürchtet oder haben die Familie früh verlassen. Die eigene Familie wird von diesen Tätern oft nach außen abgeschottet, am deutlichsten wird dies, wenn die Töchter eigene Wege gehen wollen und der Täter darauf mit extremer Eifersucht reagiert, wie ein betrogener Liebhaber. Inzestväter suchen bei der Tochter bedingungslose Bestätigung. Hier brauchen sie nicht zu fürchten, abgelehnt oder kritisiert zu werden. Auch hier spielt der Machtaspekt eine wesentliche Rolle, über die Tochter haben sie die Macht und Stärke, die ihnen ansonsten abhandengekommen ist.

1.2 Weitere Motive

Kinderpornographie

Ein weiteres Motiv bei Sexualdelikten an Kindern ist rein finanzieller Art. Mit Kinderpornographie lässt sich viel Geld verdienen, die Anonymität im Internet hat dieser Form von Kriminalität ein weites Feld geboten, das Kind wird zur „Ware“.

Täter, die kinderpornographisches Material herstellen, handeln meist nur aus kommerziellen Motiven, das Schicksal der Opfer ist diesen Tätern völlig gleichgültig. Auch Eltern, die ihre Kinder für solche Zwecke zur Verfügung stellen bzw. „verkaufen“, teilweise das Material selbst herstellen, sind allein auf den materiellen Gewinn aus, eine emotionale Beziehung zum Kind haben sie nicht.

Auch der passive Konsument von Kinderpornographie, der selbst keine sexuellen Handlungen an Kindern vornimmt, ist ein Täter, da er den sexuellen Missbrauch der Kinder billigend in Kauf nimmt.

Ein Beitrag von Dr. Maria Mensching

Diplom-Psychologin

GFO Kliniken Bonn

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2. Kindsmisshandlung –ihre Symptome, ihre Schäden

Kinder brauchen unsere Fürsorge, weil sie noch nicht in der Lage sind, ihre existenziellen Bedürfnisse selbst zu erfüllen. Sie sind von unserem Schutz und unserer Hilfe abhängig. Aber Fürsorge bedeutet nicht nur, dass ihre Grundbedürfnisse gestillt werden müssen.

Zur Fürsorge gehört auch eine alltägliche, liebevolle Zuwendung und die Sorge um ihr geistiges, leibliches und seelisches Wohlergehen. Darauf haben Kinder ein Anrecht! 2018 erfasste die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) 4.180 Fälle von Kindesmisshandlung. 1.735 der kleinen Opfer waren jünger als sechs Jahre.

14.410 Kinder wurden 2018 Opfer eines sexuellen Missbrauchs. Davon waren 1.826 Opfer jünger als sechs Jahre (Quel-

le: Polizeiliche Kriminalstatistik 2018 BRD, Bundeskriminalamt). Diese Statistiken basieren nur auf den angezeigten Straftaten, dem so genannten Hellfeld. Das Dunkelfeld ist wesentlich größer. Auch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch in der Regel chronisch einzustufen sind. Viele der betroffenen Kinder werden mehr als einmal misshandelt oder missbraucht. Sie sind danach schwer geschädigt und können oft kein

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normales Leben mehr führen. Wir brauchen eine Kultur der Verantwortung und des Hinsehens. Wenn Nachbarn, Erzieher oder Kinderärzte etwas Auffälliges (Gewalt gegen Kinder) bemerken, sollte die Polizei oder das Jugendamt davon erfahren.

Gewalt an Kindern ist keine Marginalität, die man wahlweise gesellschaftlich oder politisch aussitzen kann. Sie steht nicht unter dem Motto „Familienschutz vor Kinderschutz“ und ist erst recht nicht einem staatsfreien Schonraum „Familie“ zuzuordnen. Diese sensible Thematik bedarf besonderer Aufmerksamkeit von uns allen.

Kinder haben einen Anspruch auf multiprofessionelle Hilfe, von jedem Bürger, jedem Arzt und vor allem von jeder staatlichen Institution und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

2.1 Kindeswohlgefährdung

Der Begriff “Kindeswohl” ist ein Rechtsbegriff aus dem Familienrecht und umfasst das gesamte Wohlergehen eines Kindes oder Jugendlichen einschließlich seiner gesundheitlichen und seelischen Entwicklung. Unter Kindeswohlgefährdung versteht man eine gegenwärtige, in einem solchen Maß vorhandene Gefahr, die mit ziemlicher Sicherheit zu einer erheblichen Schädigung des Kindes im Laufe seiner weiteren Entwicklung führen wird. Damit bezieht sich dieser Begriff nicht auf eine bestimmte Tathandlung, sondern stellt eine im Einzelfall zu bewertende Konsequenz aus einer Summe von Taten, Umständen, pflichtwidrigen Unterlassungen, Einflussfaktoren oder Kompetenzdefiziten dar. Bei

der Kindeswohlgefährdung geht es somit um eine erhebliche seelische, geistige oder körperliche Gefährdung eines Minderjährigen. Sei es durch Vernachlässigung oder durch schädliches Verhalten von Sorgeberechtigten oder anderen Betreuungspersonen.

Die Gefährdung des Kindeswohls ist die rechtliche Grundlage für einen Eingriff in das Erziehungsrecht der Sorgeberechtigten. Liegen gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung vor, hat das Jugendamt das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mit anderen Fachkräften einzuschätzen und Maßnahmen zu einem wirksamen Schutz des Minderjährigen einzuleiten. Die letzte Voraussetzung für familiengerichtliche Eingriffe ist, dass die Eltern nicht bereit oder nicht in der Lage sind, die Gefährdung abzuwenden. Liegt dieser begründete Verdacht vor, wird die Handlungsverpflichtung des Familiengerichts wirksam. Dies setzt allerdings voraus, dass dem Gericht entsprechende Informationen bekannt werden.

Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen haben generelle Ursachen der Kindeswohlgefährdung identifiziert, die in Kumulation gefahrenerhöhend für Kinder sein können. Allgemeine Risikofaktoren:

» Schwierige soziale Lebenslage (wirtschaftliche Krisensituation), oft verbunden mit desolaten Wohnbedingungen

» Problematische Vorgeschichte der Eltern mit eigener Misshandlung, Vernachlässigung, Heimaufenthalten, Scheidung

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» Lang anhaltende Spannungen und Konflikte zwischen den Eltern z. B. als Folge von Trennung und Scheidung

» Sehr junge, allein erziehende Mutter mit einem Lebenspartner, der nicht der Kindesvater ist und das Kind ablehnt

» Unfähigkeit der Sorgeberechtigten, Haushalt und Erziehung zu organisieren

» Interesselosigkeit der Eltern durch Voranstellung eigener Interessen

» Kurz aufeinander folgende, meist ungewollte Schwangerschaften

» Soziale Isolation der Familie gegenüber Verwandtschaft und Nachbarschaft

» Chronische Partnergewalt

» Drogenmissbrauch bei den Eltern

» Psychische Labilität der Eltern

» Psychische Störungen (schwere Persönlichkeitsstörung, Psychosen)

» Multimediale und allgegenwärtige Präsenz von Sex, Gewalt und Leid in der Familie

» Fehlende Problemeinsicht und Kooperationsbereitschaft

2.2 Kindesmisshandlung

Nach einer Definition des deutschen Bundestages ist Kindesmisshandlung eine nicht zufällige (bewusste oder unbewusste) gewaltsame körperliche und/ oder seelische Schädigung, die in Familien oder Institutionen (z. B. Kindergärten, Schulen, Heimen) geschieht und die zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum Tode führt und die somit das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht. Hier-

zu zählen Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung und sexueller Missbrauch.

In der Realität kommen die verschiedenen Formen nicht alleine vor, sondern werden vielmehr in komplexen Mischformen beobachtet. Aus diesem Grund gelten die beschriebenen Symptome für viele Formen der Kindesmisshandlung. Auch hinsichtlich ihrer Folgen greifen alle Arten ineinander; denn eine körperliche Misshandlung ist ohne einen seelischen oder emotionalen Schaden kaum denkbar.

Vernachlässigung

Die Vernachlässigung stellt eine Besonderheit sowohl der körperlichen als auch der psychischen Misshandlung dar. Insofern unterscheidet man auch zwischen der körperlichen und der emotionalen Vernachlässigung. Hauptbetroffene sind Kinder zwischen null und drei Jahren.

Körperliche Vernachlässigung

Eine körperliche Vernachlässigung besteht aus mangelnder Ernährung, unzureichender körperlicher Pflege und gesundheitlicher Fürsorge bis hin zur völligen Verwahrlosung. Den Kindern fehlt es vor allem an ausgewogener Ernährung, an witterungsgerechter Kleidung, an Körperpflege, an einem intakten Rhythmus des Schlafens und Aufstehens, sowie ausreichender Versorgung bei der Behandlung von Krankheiten und das schützende Verhalten von Erwachsenen gegenüber dem Kind bei Gefahrensituationen. Symptome:

» Gedeihstörung (z. B. Minderwuchs)

» Unzureichende medizinische Versorgung (Vorsorge- und Zahnvorsorgeuntersuchungen)

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» Verweigerung oder Verzögerung medizinischer Behandlung bei akuten Erkrankungen

» Mangelnde altersentsprechende Beaufsichtigung

» Unterernährung/Untergewicht/ fehlende Flüssigkeitszufuhr

» Hygienemängel

» Verfilzung der Haare/Lausbefall

» Eine dem Alter und Entwicklungsstand überhöhte Anforderung an die Selbstständigkeit z.B. Sauberkeitsentwicklung des Kindes, keine realistischen Erwartungen an das Kind

Emotionale Vernachlässigung

Entwicklungsbedürfnisse eines Kindes können nur in einem sozialen Kontakt verwirklicht werden, der ein Mindestmaß an ausreichendem Schutz, Ernährung, Sicherheit und menschliche Zuwendung garantiert. Die emotionale Vernachlässigung ist geprägt von der unzureichenden Beachtung und Erfüllung der Entwicklungsbedürfnisse eines Kindes nach sozialer Bindung und Verbundenheit. Sie beinhaltet dauerhaft feindliche, abweisende oder ignorierende Verhaltensweisen von Eltern oder Erziehenden gegenüber ihrem Kind.

Der Entwicklungsprozess eines Kindes wird nicht gefördert, die kindgerechten Interessen werden ignoriert und nicht berücksichtigt. Oft fehlt es an altersgerechtem Spielzeug und einem „sich Zeit nehmen“ für das Kind. Die körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes führt dadurch zu erheblichen Schäden.

Die Folge einer emotionalen Vernachlässigung ist, dass das Kind sich selbst als wenig liebenswert und von anderen nicht

akzeptiert empfindet. Vernachlässigte Kinder haben oft große Schwierigkeiten, anderen Menschen mit Vertrauen zu begegnen und neigen dazu, sich sozial zu isolieren.

Die emotionale Vernachlässigung bewirkt eine chronische Unterversorgung des Kindes durch nachhaltige Nichtberücksichtigung, Missachtung oder Versagung seiner Lebensbedürfnisse. Sie beeinträchtigt oder schädigt seine körperliche, geistige und seelische Entwicklung und kann zu gravierenden bleibenden Schäden bis hin zum Tode des Kindes führen.

Symptome

» Fehlende Liebe, Zuwendung

» Ein dem Alter nicht angemessenes Sich-selbst-Überlassen

» Mangelnde Anregung und Förderung

» Keine schulische Unterstützung

» Keine elterliche Reaktion bei Schulschwänzen, Alkohol, Drogen, Delinquenz etc.

» Eltern erwarten von ihren Kindern Fürsorge und Trost statt umgekehrt – die elterlichen Bedürfnisse haben gegenüber denen des Kindes Vorrang

» Das Kind wird gedemütigt und herabgesetzt oder öffentlich lächerlich gemacht, beschämt oder bestraft

» Weigerung der Eltern, trotz Hilfebedarf psychologische, soziale oder erzieherische Hilfe in Anspruch zu nehmen

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Körperliche Misshandlung

Die körperliche Misshandlung ist eine gezielte Gewaltausübung, die dem Kind körperliche Verletzungen oder Schäden zufügt. Sie stellt eine Form impulsiver sowie reaktiver Gewalttätigkeiten dar, die von den Elternteilen in Stress-Situationen nicht mehr kontrolliert werden können. So kommt es zum Kontrollverlust als Folge einer affektiven Krise oder eines emotionalen Ausnahmezustandes. Die Formen der körperlichen Misshandlung sind dabei sehr vielfältig.

Erkennen von Kindesmisshandlungen / Verdachtsmomente

Auffällige Hämatome, Bisswunden, Striemen, Verbrennungen, Knochenbrüche und Vergiftungen können Hinweise auf körperliche Misshandlungen sein. Werden solche Merkmale gehäuft festgestellt oder sind nicht normal verheilte Verletzungen erkennbar, bedarf es der erhöhten Aufmerksamkeit. Extreme Unterernährung, ein ungepflegtes Erscheinungsbild des Kindes sowie Verhaltensauffälligkeiten sind weitere Fakten, um einen Verdacht auszulösen. Oft stimmen die Angaben der Eltern über die Ursache der Verletzungen nicht mit dem objektiven Befund eines Gutachters überein. Anlass zur Aufmerksamkeit kann gegeben sein, wenn der Arzt öfter gewechselt wird. Hierdurch soll gegebenenfalls versucht werden, die Feststellung einer Häufigkeit von Verletzungen zu erschweren (Doktor-hopping). Wird ein Kind geschlagen oder auf andere Weise körperlich misshandelt, so deuten fast immer sichtbare Verletzungen (blaue Flecken, Abschürfung, Brand- und andere Wunden, Knochenbrüche) auf eine Gewaltanwendung hin. Auch Vernachlässigungen können erkannt werden,

zumindest dann, wenn das Kind den Kindergarten oder die Schule besucht. Ungepflegtes, verwahrlostes Äußeres, unregelmäßiger Kindergarten- und Schulbesuch, betteln um etwas Essen, kann auf eine Vernachlässigung hindeuten. Psychische Gewalt ist dagegen sehr schwer erkennbar. Allerdings können Verhaltensänderungen Hinweise darauf sein, dass das Kind psychisch oder sexuell misshandelt beziehungsweise missbraucht wurde. Symptome:

» Diskrepanz zwischen dem Verletzungsbefund und der Hergangsschilderung (fehlende Plausibilität)

» Schwere Verletzungen, angeblich selbst zugefügt, durch andere Kinder oder Geschwisterkinder

» Vage, fehlende, unterschiedliche oder sich widersprechende Erklärungen zum Verletzungshergang (z. B. gegenüber mehreren Personen oder bei verschiedenen Anlässen)

» Auffälligkeiten im Verhalten der Betreuungspersonen (z. B. durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch), verzögerter Arztbesuch (Aufsuchen mehrerer Ärzte), kurz nach der Verletzungsentstehung

» Besondere Verhaltensauffälligkeiten beim Kind: z. B. überangepasst oder überhöflich, klaglos, ängstlich

» Fehlende Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen

» Verletzungen an untypischen Stellen (z. B. Gesäß, Rücken)

» Auffällige Verletzungsmuster (z. B. kreisrunde Zigarettennarben)

» Auffälliges Verhalten in der Interaktion mit anderen Menschen

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Psychische Misshandlung

Die wohl am schwersten fassbare Form von Kindesmisshandlung wird durch Begriffe wie psychische Misshandlung, seelische Grausamkeit oder auch emotionale Misshandlung bezeichnet und zeigt damit ihre Nähe zur emotionalen Vernachlässigung. Unter psychischer Misshandlung werden alle Handlungen oder Unterlassungen von Eltern oder Betreuungspersonen erfasst, die Kinder ängstigen, überfordern, herabsetzen, ihnen das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit vermitteln und sie in ihrer psychischen und/oder körperlichen Entwicklung beeinträchtigen können. Die psychische Misshandlung kann sich ebenso facettenreich darstellen, wie der Bereich der körperlichen Misshandlung. Alle Äußerungen oder Verhaltensweisen, die Kinder und Jugendliche ängstigen, sie herabsetzen oder überfordern und ihnen das Gefühl eigener Wertlosigkeit vermitteln, gehören mit in den Bereich der psychischen Misshandlung. Auch das Einsperren des Kindes, Drohungen, die das Kind in Todesangst versetzen, sind psychische Misshandlung. Insbesondere Drohungen können geeignet sein, dem Kind seelische Gewalt anzutun, da es nicht in der Lage ist, sie realistisch einzuordnen.

Überzogene Bestrafungen, Beschimpfungen, elterliche Streitigkeiten oder partnerschaftliche Konflikte im Beisein der Kinder, aber auch überbehütetes oder überversorgliches Verhalten sind ebenfalls dem Bereich der seelischen Misshandlung zuzurechnen. Während bei der körperlichen Misshandlung oftmals Spuren zu erkennen sind, kann die psychische Misshandlung in der Regel nur durch Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert werden. Eine psychische Miss-

handlung führt, soweit kompensatorische Erfahrungen nicht gemacht werden, in der Regel zu erheblichen Verhaltens-, Persönlichkeits- und Entwicklungsstörungen des Kindes. Daneben sind immer wieder ein schwaches Selbstwertgefühl, eine irritierte Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie eine Einschränkung sozialer und kognitiver Kompetenzen und kreativer Potenziale festzustellen.

Das Münchhausen by Proxy Syndrom

Eine besondere subtile und seltene Form der Kindesmisshandlung stellt das Münchhausen by Proxy Syndrom (MbPS), auch Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom genannt, dar. MbPS stellt nach dem heutigen Stand der Kinderheilkunde eine gesicherte Form der Kindesmisshandlung dar und enthält Elemente körperlicher und emotionaler Misshandlung sowie medizinischer Vernachlässigung. Es handelt sich um eine Misshandlung, indem eine Bezugsperson Anzeichen einer Krankheit vortäuscht oder aktiv erzeugt, um den Minderjährigen wiederholt zur medizinischen Abklärung bei einem Arzt oder in einer Klinik vorzustellen. Das Kind wird bei dem MbPS durch ein und dieselbe Person zunächst verletzt und anschließend intensiv und fürsorglich weiter betreut (Bindungsverhalten-Trauma). Bei dieser besonderen Form der Kindesmisshandlung handeln die überwiegend weiblichen „Täter“, um Aufmerksamkeit zu erregen.

Gleichzeitig sind sie auffällig intensiv sorgend um ihre Kinder bemüht. Tatverdächtige sind zumeist Mütter mit medizinischer Vorbildung, die in ihrem sonstigen Erziehungsverhalten mehr als sehr fürsorglich erscheinen. Da bei dem Kind keine tatsächliche Erkrankung vorliegt, entsteht die psychische oder physische

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Belastung des Kindes durch notwendig erscheinende ärztliche Eingriffe bis hin zu stationären Aufenthalten. Leitsymptome:

» Ungewöhnliche Gelassenheit bei Krisenzuständen des Kindes

» Schilderung von Krampfanfällen oder Apathie bis zu Komazuständen ohne Zeugen im familiären Bereich

» Unerklärlich lang andauernde bzw. außergewöhnliche Heilungsprozesse

» Unklare Symptome, die nur in Gegenwart der Bezugsperson auftreten

» Mütter, die symbiotisch (nahezu pausenlos) beim Kind sind

» Mütter, die oft enge Beziehungen zu dem Pflegepersonal oder anderen Eltern aufbauen; sie übernehmen Pflegetätigkeiten und bestimmte diagnostische Maßnahmen

» Vorliegen ähnlicher medizinischer Auffälligkeiten bei der Bezugsperson

» Unerklärliche Blutungen, Blut im Stuhl oder Urin

» Wiederkehrende Durchfälle/Erbrechen

» Hautausschläge, z. B. unerklärbare Wundinfektionen

Körperliche Verletzungen nach Misshandlungen

Hautbefunde sind ein Indikator für die Beurteilung, ob eine Kindesmisshandlung vorliegt oder nicht. Hierbei spielen Verteilungsmuster, das Erscheinungsbild und – mit Einschränkungen – die zeitliche Zuordnung eine wichtige Rolle. Fast immer zeigt ein körperlich misshandeltes Kind Verletzungen verschiedenen Alters. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die körperlichen Misshandlungen

über einen längeren Zeitraum erfolgen. Da es sich bei der Kindesmisshandlung um ein typisches Wiederholungsdelikt handelt, ist diese Symptomatik sehr häufig anzutreffen. Besonders häufig sind Hämatome (blaue Flecken) feststellbar. Natürlich ist nicht jeder blaue Fleck ein Hinweis für eine Kindesmisshandlung, insbesondere weil Kinder, gerade wenn sie laufen lernen, oft hinfallen. Als Anhaltspunkt sollte daher die Lage der Verletzungen dienen. Ebenso kann die Farbgebung unterschiedlicher Hämatome ein Anhaltspunkt für ihr Alter und somit ein Indiz für immer wiederkehrende Misshandlungen sein.

Verbrennungen machen bis zu 10% aller Misshandlungen aus. Sie werden häufig durch Zigaretten zugefügt und befinden sich an den verschiedensten Körperstellen des Kindes, meist jedoch im bekleideten Bereich. Pressen des Kindes gegen einen Heizkörper oder auf glühende Herdplatten sind auch bekannte Misshandlungsformen. Die Fantasie der Täter kennt hier keine Grenzen.

Schläge auf den Kopf eines Kindes können massive Schädel-, Kopf- und Gehirnverletzungen verursachen. Nach neueren Untersuchungen sind Hirnverletzungen durch Misshandlungen von großer Bedeutung. Sie umfassen 10 bis 20 % der Misshandlung und ereignen sich bis zu 80 % im ersten Lebensjahr. Kleinere Kinder werden nicht selten gepackt und mit roher Gewalt, oft mit dem Kopfe voran, gegen harte Gegenstände gestoßen oder geschleudert, wodurch es zu Brüchen des Schädels kommt. Aber auch kräftige Schläge können Schädelbrüche verursachen. Als Schutzbehauptung werden dann Unfälle, wie Herunterfallen vom Wickeltisch oder dem Kinderbett angege-

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ben. Hierbei kommt es allerdings kaum zu Schädelbrüchen.

Beim Schüttel-Trauma wird ein Kind üblicherweise an den Armen oder am Brustkorb, selten auch an den Beinen oder am Kopf gefasst und kräftig geschüttelt. Durch die noch schwach ausgebildete Nackenmuskulatur des Kindes kann der Kopf nicht richtig gehalten werden und schlägt beim Schütteln kräftig von vorne nach hinten. Das Gehirn folgt, jeweils etwas verzögert, diesen Schüttelbewegungen. Dadurch kommt es häufig durch das Abreißen von Blutgefäßen zu Blutungen innerhalb der Schädelhöhle und des Gehirns. Diese Schädigungen und Blutungen können für das Kind innerhalb kürzester Zeit akut lebensbedrohlich sein, da sie häufig auch mit einer Hirnschwellung einhergehen. Nach neueren Untersuchungen sterben etwa ein Viertel der Kinder trotz medizinischer Behandlungen. Von den überlebenden Kindern trägt ein großer Teil Langzeitschäden davon, die körperliche Behinderungen, Lernbehinderungen, Sehbehinderungen bis hin zu Blindheit, Krampfanfälle und geistige Behinderungen umfassen können und oft erst viele Jahre später offensichtlich werden. Einen Säugling zu schütteln ist immer lebensgefährlich!

Skelettverletzungen/Knochenbrüche sind meist Folge einer massiven stumpfen Gewalteinwirkung mit Überschreiten der Biegungselastizität der Knochenstruktur. Insbesondere bei Kleinkindern sind sie Zeichen besonders gewalttätiger Misshandlungen, da sie einen erheblichen Kraftaufwand (Kompressionskraft) erfordern. Rippenfrakturen bei einem Kind sind aufgrund der hohen Elastizität der Knochen nur bei schweren Verkehrsunfällen oder auch bei einem Sturz aus sehr großer Höhe denkbar. Verletzungen

des Skeletts finden sich häufig in Kombination mit anderen Misshandlungsspuren. Brüche verschiedenen Alters mit unterschiedlichen Heilungsstadien deuten sehr oft auf Misshandlungen hin. Das Auftreten von Knochenbrüchen bei Kindern von einem Lebensalter unter drei Jahren muss generell als hoch verdächtig angesehen werden. Innere Verletzungen im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung stellen die zweithäufigste Todesursache dar. Sie entstehen durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Körper. Sehr oft sind äußerlich gut sichtbare Hämatome vorhanden. Hierbei kann es zu Zerreißungen der inneren Organe z. B. infolge von Faustschlägen oder Fußtritten kommen. Innere Verletzungen sind schwer zu erkennen, insbesondere dann, wenn keinerlei Hautbefunde festgestellt werden können. An Vergiftungen ist bei Symptomen wie Müdigkeit, Apathie, Gangunsicherheit und Bewusstlosigkeit zu denken. Vergiftungen können bei Säuglingen und Kleinkindern aus folgenden Gründen vorkommen:

» Überdosierung eines Schlaf- oder Beruhigungsmittels. Eventuell wurden Beruhigungsmittel verabreicht, um das Kind ruhig zu stellen, damit die Betreuungsperson ungestört ist, bzw. anderen Aktivitäten nachgehen kann.

» Einnahme von Alkohol

» Einnahme eines ungesicherten Medikamentes durch Kleinkinder

» Medikamentenabgabe als Tötungsversuch beim erweiterten Selbstmordversuch oder im Rahmen eines Münchhausen by Proxy Syndroms

Beim Kinderschutz gibt es gemeinsame Verantwortungen. Eltern, Geschwister,

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Verwandte, Lehrkräfte und andere Betreuungspersonen, Ärzte, Sozial- und Jugendämter, Polizeibeamte und Juristen haben hier besondere Verantwortungen und Zuständigkeiten. Die vielen Aufgaben und Probleme, die sich dabei ergeben, können nur interdisziplinär bewältigt werden. An dieser interdisziplinären Zusammenarbeit hapert es bislang ganz gewaltig. Hier ist dringend der Blick über den Tellerrand der eigenen Verantwortung und Organisation vonnöten.

Das Projekt “RISKID” (Risikoinformationssystem Deutschland) möchte hier ein deutliches und nachhaltiges Zeichen setzen. RISKID fordert ein innerärztliches Informationssystem, das durch den rechtzeitigen Austausch von ärztlichen

Befunden einem behandelnden Arzt hilft, die Diagnose einer Kindesmisshandlung sicher und frühzeitig zu stellen. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn Erziehungsberechtigte, die ihre Kinder misshandeln, häufiger den Arzt wechseln, um ihre Misshandlungen zu vertuschen (Doktor-hopping).

Ein Beitrag von Heinz Sprenger († 2019)

Erster Kriminalhauptkommissar a. D. Stellv. Vorsitzender und Mitbegründer von RISKID e. V..

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3. Ratschläge bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch

Ratschläge für den besonnenen Umgang mit dem Verdacht des sexuellen Missbrauchs oder anderer Sexualdelikte.

Die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen ist ein hohes Rechtsgut. Besonders Kinder und Jugendliche müssen vor Übergriffen geschützt werden, weil solche Handlungen sich schädlich auf die weitere Persönlichkeitsentwicklung auswirken können. Dennoch ist Panikmache nicht angebracht. Für das wiedervereinigte Deutschland werden von der Kriminologischen Forschungsstelle des Landes Niedersachsen aufgrund einer Befragung von 1.166 Frauen und 1.580 Männern folgende Verbreitungszahlen angegeben: Von den befragten Frauen gaben 9,6 % an, dass sie vor dem Alter von 18 Jahren sexuellen Missbrauch

mit Körperkontakt erfahren haben, von den befragten Männern berichteten 3,2 % von entsprechenden Erfahrungen. Diese Art von Straftaten gegen die Person stellt also ein ernst zu nehmendes Problem dar.

Die Abklärung des Verdachts bei Sexualdelikten, zumal bei solchen, die an Kindern begangen werden, weist besondere Schwierigkeiten auf: Es gibt so gut wie nie unbeteiligte Tatzeugen, da die unerlaubten Sexualhandlungen in der Regel im Verborgenen stattfinden. Das Anschauen von pornographischen Videobändern, das Zeigen der Genitalien, sexueller Handlungen vor den Augen

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von Kindern und Jugendlichen und dergleichen hinterlassen keinerlei materielle Spuren. Selbst wenn sexualbezogene Berührungen und Handlungen stattgefunden haben, lassen sich – wenn überhaupt – nur kurze Zeit nach dem Geschehen Spuren nachweisen.

Häufig steht beim Verdacht auf ein Sexualdelikt daher „Aussage gegen Aussage“. Die dadurch gegebene Problematik verschärft sich noch, wenn ein kleines Kind betroffen ist, dessen Aussagetüchtigkeit entwicklungsbedingt noch gering ist. Bei solch schwieriger Beweislage stellt sich die Frage, ob es außer der Aussage des möglichen Opfers andere zuverlässige Indikatoren zur Verdachtsabklärung gibt.

3.1 Indikatoren zur Verdachtsabklärung

Medizinische Befunde

Anders als gemeinhin vermutet, kommt es bei Missbrauchshandlungen, die an Kindern vorgenommen werden, nur selten zu Verletzungen. Zumeist gehen Täter gewaltlos vor. Sie erschleichen sich das Vertrauen eines Kindes und nehmen unter irgendwelchen Vorwänden sexuelle Handlungen an oder mit dem Kind vor. Aber auch wenn medizinische Befunde vorliegen (z. B. in Form von Rötungen, Rissen, Einkerbungen, Narben oder Anomalien im Genital- oder Analbereich), ist zu beachten, dass es nur selten möglich ist, andere Ursachen als sexuellen Missbrauch mit Sicherheit auszuschließen. Auch Entzündungen, Durchfall, Wundsein, kindliche Spielereien oder kindliches Masturbieren etc. können als Ursache infrage kommen. Leider bleibt in ärztlichen Attesten die geringe Spezifität (Eindeutigkeit) körperlicher Befunde

häufig unberücksichtigt, obwohl diese bei unvoreingenommener Interpretation oftmals viele andere Ursachen haben können, die sogar näherliegend und daher auch wahrscheinlicher sind als sexueller Missbrauch. Liegt ausnahmsweise ein Befund vor, der eindeutig auf einen stattgefundenen Missbrauch hinweist, so ist der Befund nur äußerst selten so beschaffen, dass er auch noch eine Identifizierung des Täters erlaubt.

Verhaltensauffälligkeiten

Was für die körperlichen Befunde gilt, gilt gleichermaßen auch für Verhaltensauffälligkeiten. Unter Fachleuten herrscht international Einigkeit darüber, dass es keine einzige Verhaltensauffälligkeit gibt, die nur oder fast nur als Folge sexuellen Missbrauchs aufträte. Es ist deshalb irreführend, wenn Verhaltensstörungen wie Schlafstörungen, Albträume, Essstörungen, Einnässen etc. als „Signale“ für sexuellen Missbrauch bezeichnet werden. Solche Verhaltensweisen erlauben lediglich den Schluss, dass das Kind irgendwie gearteten psychischen Belastungen ausgesetzt ist, die vielerlei Ursachen haben können: z. B. Streit oder Trennung der Eltern, Auszug eines Elternteiles aus dem Haushalt, Krankheit oder Suchtabhängigkeit eines Elternteils, Schulschwierigkeiten, Ablehnung durch Altersgenossen oder Schulkameraden, unglückliches Verliebtsein, psychische oder körperliche Krankheiten des Kindes etc.

Sogenannte „Aufdeckungstechniken“ Es ist richtig, dass Kinder über erlebte Sexualhandlungen häufig Stillschweigen bewahren. Das hängt einerseits damit zusammen, dass sie befürchten, dass ihnen aus ihrer Beteiligung an einem sozial nachdrücklich missbilligten

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Verhalten ein Vorwurf und Nachteile erwachsen könnten, andererseits damit, dass der erwachsene Täter es zu seinem Schutz selten versäumt, dem Kind ein Schweigegebot aufzuerlegen und dessen Einhaltung mitunter auch durch Drohungen sicherzustellen versucht. Infolgedessen fühlen sich nicht wenige Vertreter der psychologischen Berufe veranlasst, den Kindern, bei denen sie – aus mehr oder minder guten Gründen – Missbrauch vermuten, Hilfe für die Offenbarung des –vermuteten – Missbrauchs zu bieten.

Nicht selten werden dabei Versuche unternommen, aufgrund des Spielverhaltens eines Kindes (z. B. mit vermeintlich anatomisch korrekten Puppen oder anderen Materialien) oder aufgrund von Kinderzeichnungen Informationen über den vermuteten Missbrauch zu gewinnen. Oftmals werden dem Kind Fragen gestellt, beispielsweise ob es ein (gutes oder schlechtes) Geheimnis habe, oder sogenannte hypothetische Fragen danach, was der Verdächtige getan haben könnte. Aufgrund ihres starken Suggestionspotenzials sind solche „Aufdeckungstechniken“ zur Abklärung eines Verdachtes und erst recht in einem Strafverfahren oder als Grundlage für familienrechtliche Entscheidungen völlig unangebracht und ungeeignet – was den Anwendern solcher Techniken in der Regel allerdings nicht bewusst ist.

3.2 Ratschläge zum Umgang mit dem Verdacht auf ein Sexualdelikt

Hat ein Kind etwas erzählt, was Anlass gibt anzunehmen, dass es Missbrauchshandlungen erlebt hat, sollten sich seine Bezugspersonen bemühen, in sachlich ruhiger Atmosphäre mit dem Kind zu sprechen. Insbesondere jüngeren Kindern sollte deutlich gemacht werden, dass es sich nicht um eine Spielsituation handelt, sondern dass ernst gemeinte Auskünfte erwartet werden. Geht aus den Auskünften des Kindes hervor, dass es elterliche Verbote nicht beachtet hat, sollten ihm deshalb keine Vorwürfe gemacht werden. Andererseits sollte das Kind aber auch nicht die Erfahrung machen, dass es durch die Erzählung sexualbezogener Inhalte besondere Aufmerksamkeit erregen oder beispielsweise das Zubettgehen hinausschieben kann.

Unabhängig davon, welche Angaben das Kind macht, sollten mehrfache Befragungen vermieden werden, da diese – von Laien durchgeführt – ein hohes Suggestionsrisiko bergen können. Aus demselben Grund sollte ein Kind auch nicht von weiteren Personen z. B. aus der Verwandtschaft oder dem Freundeskreis der Mutter nach möglichen Missbrauchserlebnissen befragt werden.

Geht es um die Aufklärung eines möglichen Sexualdeliktes, ist eine Aussage als ein Beweismittel zu betrachten, das ebenso wie andere Beweismittel mit äußerster Vorsicht und Behutsamkeit zu handhaben ist. Das bedeutet, dass Laien, die vermuten, dass ein Sexualdelikt stattgefunden hat, die Aufklärung des Verdachts möglichst schnell in professio-

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nelle Hände legen sollten, das heißt in diesem Falle: zuerst in die Hände der Polizei. Beratungsstellen sind erst dann geeignete Anlaufstellen, nachdem ein Verdacht abgeklärt worden ist. Nachdem die polizeilichen Ermittlungen durchgeführt worden sind, können Beratungsstellen betroffenen Personen und ihren Angehörigen, die dies wünschen, Hilfe und Unterstützung bieten, um mit dem Erlebten umzugehen.

Sollte eine Therapie des möglichen Opfers gewünscht werden, ist zu beachten, dass diese erst beginnt, nachdem die Tatsächlichkeit des vermuteten Sexualdelikts festgestellt worden ist, durch dafür ausgebildete und berechtigte Personen und Stellen (Polizei, psychologische und in manchen Fällen auch psychiatrische Sachverständige und spezielle Gerichte). Andernfalls kann der Beweiswert der Aussage des möglichen Opfers beeinträchtigt oder sogar stark gemindert werden, sodass die Straftat möglicherweise nicht mehr nachgewiesen werden kann.

Hat sich ein Sexualdelikt ereignet, ist weiterhin zu bedenken, dass die Reaktionen der Bezugspersonen des Opfers starken Einfluss darauf haben, wie dieses seine Missbrauchserlebnisse bewertet. Dabei können Befragungen, die im Rahmen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens von Fachleuten durchgeführt werden, einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung und damit zur Verarbeitung des Erlebten leisten.

3.3 Vorbeugung

Die Gefahr, dass ein Kind Opfer eines Sexualdeliktes wird, kann niemals vollkommen ausgeschlossen werden. Diese Gefahr kann aber dadurch verringert werden, dass die Bezugspersonen des Kindes dessen Tagesablauf genau kennen und wissen, wo und mit wem es seine Zeit verbringt, dass sie Gespräche mit dem Kind führen, in denen sie erfahren, mit wem es Umgang pflegt, wie es seinen Tag verbracht hat, was es Schönes erlebt hat, ob es Sorgen, Probleme, Kummer hat etc. Solche Gespräche sind wichtig und sollten im Tagesablauf einen festen Platz haben z. B. beim Essen oder beim Zubettbringen.

Ein Beitrag von Gisela Klein

Fachpsychologin für Rechtspsychologie und Lehrbeauftragte für Rechtspsychologie an der Universität zu Köln

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4. Suizidalität bei Kindern und Jugendlichen

Fast jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens mit „Selbstmord“ oder einem „Selbstmordversuch“ konfrontiert, in der eigenen Familie, im Bekannten- oder Freundeskreis, durch Zeitungsmeldungen, Filme oder Literatur.

Das Thema „Selbsttötung“ hat die Menschheit zu allen Zeiten begleitet und bewegt. Insbesondere Jugendliche beginnen intensiv über den Sinn des eigenen Lebens nachzudenken. Vor diesem Hintergrund spielen auch Gedanken zum eigenen Tod in diesem Prozess eine Rolle. Die Beschäftigung mit Selbsttötungsabsichten dagegen kann nicht als Teil der normalen jugendlichen Entwicklung angesehen werden. Im Kindesalter kommen Suizide hingegen nur in Einzelfällen vor.

Obwohl Identitätskrisen bei ca. 80 % der Jugendlichen nur wenig ausgeprägt sind und auch bei den restlichen 20 % im Regelfall keine existenziellen Krisen auftreten, passieren immer wieder Suizide und Suizidversuche bei Jugendlichen. Nach dem Tod bei einem Verkehrsunfall ist der Suizid die zweithäufigste Todesursache bei deutschen Jugendlichen. Ca. 30 % der Jugendlichen haben Selbstmordgedanken.

Suizidversuche sind wesentlich häufiger als vollzogene Suizide. Bei 25 % der Jugendlichen, die einen Suizidversuch unternommen haben, kommt es zu einer Wiederholung. Bei 4 % der Jugendlichen, die bereits einen Suizidversuch unternommen haben, kommt es zum tatsächlichen Suizid. Die meisten Suizidversuche finden zwischen dem 15. und dem 35. Le-

bensjahr statt. Am häufigsten wird die Selbsttötung bei Jugendlichen durch Medikamente und Erhängen versucht oder vollzogen.

Motive

Als wichtigste Motive, nicht mehr leben zu wollen, gelten: Konflikte mit den Eltern, Liebeskummer und Partnerprobleme, der Wunsch nach Beachtung, aktuelle Konflikte und das Erleben persönlicher Überforderung.

4.1 Risikofaktoren

Jugendliche, bei denen es in der Vergangenheit zu autoaggressiven Handlungen, Alkohol- und/oder Drogenmissbrauch gekommen ist, gelten als Risikogruppe. Weiterhin weisen Jugendliche, deren suizidales Verhalten mit einer negativen Selbstwerteinschätzung, Freudlosigkeit und insbesondere dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit einhergeht, ein hohes Suizidrisiko auf.

4.2 Warnhinweise

Viele der Symptome bei Selbstmordgedanken und -wünschen ähneln denen einer Depression. Eltern sollten bei ihren Kindern auf die nachfolgenden Hinweise achten, die auf Selbstmordgedanken hindeuten können. Aus psychologischer Sicht ist es bei dem Auftreten eines oder

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mehrerer Anzeichen wichtig, dass die Eltern mit ihrem Kind über deren Sorgen sprechen. Hier kann es sehr hilfreich für Eltern sein, professionelle Hilfe (durch einen Psychologen oder einen Kinder- und Jugendpsychiater) in Anspruch zu nehmen, falls die Sorgen anhalten. Dies bedeutet nicht, dass bei dem Auftreten eines der nachfolgenden Aufzählungsgründe in jedem Fall Selbstmordabsichten bei einem Kind bestehen müssen. Wahrscheinlich ist aber bei dem Auftreten mehrerer Kriterien, dass sich das betroffene Kind in einer emotionalen oder seelischen Notlage befindet.

Hinweise auf emotionale und seelische Notlagen bei Kindern und Jugendlichen

Nachfolgende Einzelfaktoren können auf eine emotionale und seelische Notlage bei einem Kind oder Jugendlichen hinweisen. Je mehr Faktoren zutreffen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit:

» Die plötzliche Änderung von Ess- und Schlafgewohnheiten

» Traurigkeit

» Antriebslosigkeit

» Einsamkeit

» Rückzugsverhalten

» Gewalttätigkeit

» Rebellisches Verhalten

» Schule schwänzen

» Weglaufen

» Konsum von Drogen und Alkohol

» Ungewohnte Vernachlässigung der äußeren Erscheinung

» Abrupte Veränderungen der Persönlichkeit

» Andauernde Langeweile

» Konzentrationsschwierigkeiten

» Selbstverletzende Verhaltensweisen

» Neigung zu Unfällen

» Unvorsichtigkeit

» Nachlassen der schulischen Leistungsfähigkeit

» Häufiges Klagen über körperliche Beschwerden (Kopf- oder Bauchschmerzen, extreme Müdigkeit)

» Kein Interesse mehr an Aktivitäten, die zuvor Vergnügen bereitet haben

» Unwillen bzw. Unfähigkeit zu kommunizieren, Lob oder Geschenke anzunehmen

Hinweise auf eine mögliche akute Suizidgefährdung

Die nachfolgenden Kriterien deuten über eine emotionale und seelische Notlage eines Kindes oder Jugendlichen hinaus auf eine mögliche akute Suizidgefährdung hin. Daher sollten Eltern bei Auftreten dieser Kriterien sehr wachsam werden und sich unbedingt professionelle Unterstützung holen:

» Verhaltensänderung nach einer deprimierten, antriebslosen Phase ohne ersichtlichen Grund und plötzliches fröhliches und antriebsgesteigertes Verhalten

» Verschenken von geliebten Gegenständen und In-Ordnung-Bringen von Sachen, Begleichen von Schulden

» Aussagen wie: „Es hat alles keinen Sinn“, „Ich mache euch nicht mehr lange Schwierigkeiten“ oder „Ich werde euch nicht mehr sehen“

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In diesen Fällen sollte dringend professionelle Hilfe in Form eines Kinder- und Jugendpsychiaters gesucht werden. Dieser Facharzt kann gemeinsam mit den Eltern und ihrem Kind die nächsten Schritte planen und gegebenenfalls entscheiden, ob eine stationäre Behandlung notwendig und unmittelbar einzuleiten ist. In Notfallsituationen (bei einer vermuteten, geäußerten oder bereits geplanten Selbstmordabsicht, also bei einer sogenannten „akuten Selbstgefährdung“ eines Kindes oder Jugendlichen) können Eltern sich auch an die zuständige Kinder- und Jugendpsychiatrie vor Ort wenden, die auch zu Zeiten, in denen ambulante Arztpraxen geschlossen sind, durch Notfalldienste besetzt ist. Hilfreich ist es in diesem Fall, zuvor telefonisch zum diensthabenden Arzt Kontakt aufzunehmen und die Vorstellung anzukündigen.

Auch wenn an dieser Stelle häufig eine starke Hemmschwelle seitens der Eltern besteht und die Befürchtung, dass das

eigene Kind in eine Klinik eingewiesen werden könnte, oft sehr groß ist, sollte hier die Verhältnismäßigkeit die Grundlage der Entscheidung sein. Erkennen von Suizidalität setzt Kontakt voraus. Dies bedeutet, dass Eltern an dieser Stelle zunächst den Kontakt zu ihrem Kind herstellen müssen. Bei dem weiteren Vorgehen ist es legitim und dringend notwendig, sich professionelle Unterstützung zu suchen.

In Anbetracht der eigenen emotionalen Betroffenheit und aufgrund der Nähe und der Liebe zum eigenen Kind wird es häufig auch von Eltern als entlastend erlebt, wenn das Entscheiden über das weitere Vorgehen nicht alleine getroffen werden muss.

Ein Beitrag von Simone Dunkel

Diplom-Psychologin Leitung Schulpsychologische Beratungsstelle Dortmund

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Es ist, alleine auf Grund der Entwicklung in den letzten Jahren unabdingbar, dass wir als gesamtgesellschaftliche Aufgabe die heutigen Bedürfnisse von Kindern auf der Grundlage der UN- Kinderrechtskonvention stützen und forcieren.

Das Recht aller Kinder und Jugendlichen auf ein gewaltfreies Aufwachsen muss ein fundamentales Bedürfnis unserer Gesellschaft werden und sein.

Die UN-Kinderrechtskonvention

Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, was genau verbirgt sich dahinter?

Diese Rechte der Kinder wurden erstmals offiziell im Jahr 1989 in der UNKinderrechtskonvention niedergeschrieben. Diese setzt sich insgesamt aus 54 Artikeln zusammen. Einer der wichtigsten Aspekte der Kinderrechtskonvention besteht darin, dass sich die Vertragsstaaten mit ihr dazu verpflichten, bei Staatshandlungen stets die Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Kinder zu berücksichtigen. Ihre Aufgabe besteht ganz allgemein in der Achtung, dem Schutz und der Gewährleistung der Kinderrechte im jeweiligen Staatsgebiet.

Die Situation in Deutschland

Es ist unbestritten, dass es leider immer noch im Gegensatz zu anderen Nationen den meisten Kindern in Deutschland verhältnismäßig gut geht. Aber auch in Deutschland gibt es zahlreiche Fälle von Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch.

Ganz grundlegend werden als Kinderrechte diejenigen Rechte bezeichnet, auf die jedes Kind und jeder Jugendliche einen uneingeschränkten Anspruch hat. Auch Kinderarbeit, stellt eine weit verbreitete Verletzung der Kinderrechte dar, die viel zu selten strafrechtlich verfolgt wird.

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Die Rechte der Kinder

Zu den wichtigsten und bekanntesten Rechten der UN-Kinderrechtskonvention zählen:

Das Recht auf Leben.

Das Recht auf Gleichbehandlung und Schutz vor Diskriminierung.

Das Recht auf Familie, ein sicheres Zuhause und elterliche Fürsorge.

Das Recht auf Bildung und Berufsausbildung.

Das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung.

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit und psychische Gesundheit.

Das Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit.

Das Recht auf den Schutz der Privatsphäre des Kindes.

Zahlreiche Organisationen verfolgen das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe, und entwickeln und sichern fachliche Qualität. Immer wieder genannte Ziele sind:

» Sicherung des Aufwachsens der Kinder in Gewaltfreiheit.

» Bildung und Erziehung in einem kinderfreundlichen Umfeld.

» Beteiligung der Kinder und Jugendlichen bei allen Planungen und Entscheidungen, die sie betreffen.

» Die Berücksichtigung der Interessen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen bei allen gesellschaftlichen Entscheidungen.

» Altersentsprechende Kommunikation durch Verwaltung, Politik und Medien.

» Sicherung der Kinderrechte für alle Kinder, Mädchen und Jungen, unabhängig von ihrer ethnischen, nationalen und sozialen Herkunft, ihrer Religion oder einer Behinderung.

» Der Anspruch von Familien auf staatliche Förderung, Beratung und finanzielle Absicherung publik machen und darüber zu informieren.

» Gute, finanziell abgesicherte Rahmenbedingungen für die Bildung und Ausbildung unserer Kinder und Jugendlichen als staatliche Pflicht.

» Kinder und Jugendliche als Partner anzuerkennen mit Recht auf Würde und Anerkennung ihrer Persönlichkeit.

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Die Rechte der Kinder

Zusammenfassend sind die Rechte der Kinder wie folgt zu definieren:

Das Recht auf Gleichheit, unabhängig von Rasse, Religion, Herkommen und Geschlecht.

Das Recht auf eine gesunde, geistige und körperliche Entwicklung.

Das Recht auf einen Namen und eine Staatsangehörigkeit.

Das Recht auf genügende Ernährung, Wohnung und ärztliche Betreuung.

Das Recht auf besondere Betreuung, wenn es behindert ist.

Das Recht auf Liebe, Verständnis und Fürsorge.

Das Recht auf unentgeltlichen Unterricht, auf Spiel und Erholung.

Das Recht auf sofortige Hilfe bei Katastrophen und Notlagen.

Das Recht auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung und Ausnutzung.

Das Recht auf Schutz vor Verfolgung und auf eine Erziehung im Geiste weltumspannender Brüderlichkeit und des Friedens.

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Hilfe für Opfer

Opferhilfeeinrichtungen vor Ort finden Sie bundesweit in der OnlineDatenbank für Betroffene von Straftaten www.ODABS.org, sowie in allen Zweigstellen des Weissen Ring e.V. www.weisser-ring.de, der auch das bundesweite Opfer Telefon kostenfrei, anonym und 7 Tage die Woche von 07 bis 22 Uhr betreibt.

Daneben informiert die Polizei auf Ihrer Webpräsenz www.polizeiberatung.de/opferinformationen ausführlich über alle Themenbereiche, wenn Sie Opfer einer Straftat geworden sind.

Bundesweit haben alle Polizeidienststellen sogenannte Opferschutzbeauftragte, die Ihnen in jedem Fall weitere anlass- und ortsabhängige Hilfeeinrichtungen nennen können.

» Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes, Zentrale Geschäftsstelle Taubenheimstraße 85, 70372 Stuttgart, www.polizei-beratung.de

» Polizeipräsidium München, Beauftragte für Frauen und Kinder im Kommissariat 105 Bayerstraße 35–37, 80335 München Tel.: 089 29104444

» Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Integration Winzererstraße 9, 80797 München, Tel.: 089 1261-01, Fax: 089 1261-1122

» Sicheres Leben e. V. mit Bürgerinitiative Vanessa gegen Gewalt und für Opferschutz Notruf-Telefon: 0800 6522265

» Hannah-Stiftung Volker Wiedeck Kantstraße 2, 53639 Königswinter, E-Mail: info@hannah-stiftung.de

» Weißer Ring München

Postfach 150906, 80046 München, Tel.: 0151 55164687

» RISKID e. V.

Hinter dem Rathaus 4, 47166 Duisburg, Tel.: 0203 548213

Fax: 0203 548212, E-Mail: info@riskid.de, www.riskid.de

Links für weitere Informationen

www.dksb.de

www.polizei-beratung.de

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Sollten zu den hier vorliegenden Themen noch Fragen offengeblieben sein, dann wenden Sie sich an die folgende E-Mail-Adresse: kripo.tipps@bdk.de

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern das generische Maskulinum verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter (die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung).

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