IPPNW-Report „Gesundheitliche Folgen von Abschiebung“

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DIE GESUNDHEITLICHEN FOLGEN VON ABSCHIEBUNGEN

6. Medizinische Versorgung im Zielland

Seit dem 17. März 2016 (Asylpaket II) können gesundheitliche Gründe nur dann effektiv als Abschiebungshindernis geltend gemacht werden, wenn die jeweilige Erkrankung bereits in Deutschland als lebensbedrohlich oder schwerwiegend eingestuft wird. Jedoch ist selbst bei schwerwiegenden Erkrankungen eine Abschiebung legal, wenn im Herkunftsland bzw. Zielstaat ausreichende Behandlungsmöglichkeiten bestehen. Wann jedoch wird die medizinische Versorgung als ausreichend klassifiziert? Gleichwertig mit den Behandlungsmöglichkeiten in Deutschland oder anderen europäischen Ländern, so viel lässt sich dem Gesetzestext entnehmen, braucht sie nicht zu sein. Darüber hinaus spielt es keine Rolle, ob sie nur in einem Teil des Landes gewährleistet ist. Stattdessen wird angenommen, dass es den Betroffenen grundsätzlich zuzumuten sei, „gegebenenfalls inländische Gesundheitsalternativen aufzusuchen“, also nötigenfalls in einen Landesteil mit entsprechender medizinischer Infrastruktur zu reisen. Diese gesetzliche Festlegung erscheint jedoch äußerst problematisch, da die bloße Existenz einer leidlichen, zumal regional begrenzten medizinischen Infrastruktur keinesfalls garantiert, dass medizinische Leistungen im Bedarfsfall tatsächlich genutzt werden können. Zwar erweist sich ein adäquates Angebot an qualifizierten, wirksamen Behandlungsmöglichkeiten hierfür fraglos als grundlegend. Darüber hinaus hängt der effektive Zugang zur Gesundheitsversorgung aber von weiteren sozioökonomischen und soziokulturellen Faktoren ab, darunter der Bezahlbarkeit medizinischer Leistungen, der realistischen Erreichbarkeit1 von Behandlungsmöglichkeiten, soziokultureller Akzeptanz medizinischer Prozeduren sowie verschiedenen For-

men sozialer Marginalisierung.2 Ob die entsprechenden finanziellen Mittel verfügbar, die Erreichbarkeit beispielsweise auch geographisch entfernter Gesundheitseinrichtungen realistisch ist, hängt dementsprechend vom Einzelfall und lokalen Gegebenheiten ab. Eine reguläre Einzelfallprüfung ist jedoch seit dem 17. März 2016 gesetzlich nicht mehr vorgesehen. Es bleibt den Betroffenen überlassen, nachzuweisen, wenn ihre Versorgung nicht gegeben ist. Vor diesem Hintergrund möchten wir in dieser Publikation den Zugang zur medizinischen Versorgung in Afghanistan und Kosovo untersuchen, die in den vergangenen Jahren vermehrt Ziel von Abschiebungen aus Deutschland geworden sind und denen eine ausreichende medizinische Versorgung bescheinigt wird.

6.1 Länderbeispiel Afghanistan Medizinische Versorgung in Afghanistan ist schon seit Langem durch extremen Mangel, unkontrollierbar schlechte Qualität und ökonomischen Ausschluss gekennzeichnet. Der seit Jahren eskalierende Bürgerkrieg verschlechtert die Lage in dramatischem Tempo, weil er nicht nur den Bedarf rapide steigert, sondern auch Angebote zerstört und die Zugangsmöglichkeiten immens einschränkt. Eine kürzlich erschienene Studie über abgeschobene Afghan*innen kam zu dem erschreckenden Ergebnis, dass eine überwiegende Mehrheit der untersuchten Personen, die sich länger als zwei Monate im Land aufhielten, massiver Gewalt ausgesetzt waren (Folter, Misshandlungen, Schlägen, 2 Für eine umfassende Konzeptionalisierung des Zugangs zu Gesundheit vgl. Levesque/Harris/Russell 2013: Patient-centred access to health care. Conceptualising access at the interface of health systems and

1 auch geographisch entfernter

populations, in: International Journal for Equity in Health (12), 18. 39


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