IPPNW forum 165/2021 – Die Zeitschrift der IPPNW

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G ELESEN

Chronik der Krise

Hiroshima ist überall

Ein Streitschrift für die Grundrechte in Zeiten von Corona: Wir müssen uns vor dem Virus schützen, aber auch vor Schäden an der Demokratie.

Die Aktualität des Philosophen Günther Anders – eines der bekanntesten Vertreter der Anti-Atomtod-Bewegung der 1950er und 60er Jahre

n seinem Buch hat Heribert Prantl seine Kolumnen der letzten Monate zusammengefasst, die zum Teil in der Süddeutschen Zeitung und zum Teil in seinem Newsletter „Prantls Blick“ erschienen sind. Entstanden ist eine „Chronik der Krise“, die die einschneidenden Ereignisse des vergangenen Jahres Revue passieren lässt und in oftmals drastischen Worten kommentiert.

er 6. August 1945 war der Tag Null. Dieser Tag, an dem bewiesen wurde, dass die Weltgeschichte vielleicht nicht mehr weitergeht – dass wir jedenfalls fähig sind, den Faden der Weltgeschichte durchzuschneiden – der hat ein neues Zeitalter der Weltgeschichte eingeleitet,“ schreibt Günther Anders.

Corona habe viele von uns entheimatet, nur dass diese Entheimatung von den Menschen sehr unterschiedlich erlebt werde. Als besorgniserregend empfindet Prantl die Selbstbeschneidung des Bundestages und die Auswirkungen des neuen Infektionsschutzgesetzes, auf dessen Grundlage die „schwersten Eingriffe seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland,“ stattgefunden haben, wie es eine wissenschaftliche Gruppe um den Juristen Prof. Sebastian Kluckert formuliert. Prantls Fazit: „Grundrechte sind nicht eine Art Konfetti für schöne Zeiten. Sie gelten immer – gerade und erst recht im Katastrophenfall.“ Nicht jede Freiheitseinschränkung sei eine Verletzung der Grundrechte – die Politik müsse aber in jedem Fall die Verhältnismäßigkeit wahren. In den Blick nimmt der Autor viele der Themen, die von Corona „aufgefressen“ und oftmals aus dem Blick der Öffentlichkeit verdrängt wurden: Die Klimakatastrophe, den bedrohlicher werdenden Rassismus und die Spaltung unserer Gesellschaft, die Militarisierung und digitale Überwachung, die im Schatten der Krise auf dem Vormarsch sind. Seine Aufmerksamkeit gilt zuerst den Verlierer*innen dieser Krise – etwa den Menschen in den Heimen, die während des Shutdowns oftmals alleingelassen wurden.

Das Entsetzen über die Atombombenabwürfe durchzieht Günter Anders‘ gesamtes philosophisches Werk. Im Zentrum steht die Frage nach der Verantwortung und nach den Schuldzusammenhängen, die vom einzelnen Individuum kaum bewältigt werden können. Unser Problem sei, dass wir der Perfektion unserer Produkte nicht mehr gewachsen seien, dass wir mehr herstellen, als wir uns vorstellen und verantworten können.

Wir müssen uns für ein Gesundheitssystem ohne Privatisierung und Sparzwänge einsetzen, fordert Prantl. Um eine neue Heimat in Corona-Zeiten zu finden, können wir daran arbeiten, „die Spaltung der Gesellschaft und die Schwarzweiß-Malerei zu überwinden“. Nicht zuletzt brauche es ein gutes Stück Optimismus, denn (mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen) „den Optmismus als Wille zur Zukunft soll niemand verächtlich machen, auch wenn er hundertmal irrt. Er ist die Gesundheit des Lebens.“

„Die Mitwirkung an der politischen und technischen nuklearen Teilhabe kann eine politische, moralische und ethische Mitverantwortung für einen künftigen Nuklearwaffeneinsatz durch die NATO-Länder zur Folge haben. Nichtnukleare Bündnismitglieder wären mitverantwortlich, würde die Allianz Nuklearwaffen einsetzen,“ schrieb Otfried Nassauer wenige Tage vor seinem plötzlichen Tod im Herbst 2020.

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Im Sommer 1961 beginnt Anders einen eineinhalbjährigen Briefwechsel mit dem am Hiroshima-Einsatz beteiligten Piloten Claude Eatherly. Eatherly flog an jenem Morgen das Wetteraufklärungsflugzeug. Obwohl nur mittelbar am Abwurf der Bombe beteiligt, war er der einzige, der öffentlich Reue zeigte und damit zunehmend zum Politikum wurde. Er litt unter schweren, nicht bewältigten Schuldgefühlen. In seinem ersten Brief an Eatherly schreibt Anders: „Die Technik hat es mit sich gebracht, dass wir auf eine Weise schuldlos schuldig werden können, die es früher, in der technisch noch nicht so fortgeschrittenen Zeit unserer Väter, noch nicht gegeben hatte.“ Wie aktuell dieses Thema immer noch ist, zeigt das Dilemma mit der deutschen nuklearen Teilhabe:

Heribert Prantl: Not und Gebot. Grundrechte in Quarantäne. München: C.H: Beck, 200 S., Broschur 18,- Euro, e-Book 12,99 Euro, ISBN 978-3-406-76895-8

Günther Anders: Hiroshima ist überall. Tagebuch aus Hiroshima und Nagasaki. Der Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly. Rede über die drei Weltkriege. München: C.H: Beck, 394 S., 12,50 Euro, ISBN 3-406-39212-1

Regine Ratke

Ute Rippel-Lau 32


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