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#Review

Jonas Alaska Younger Popup / Cargo

Spektakel

Kaytranada 99,9% XL / Beggars / Indigo / VÖ 06.05.16

Lässt sich das sprunghafte Schaffen eines kreativen Digital Natives wie Louis Kevin Celestin überhaupt in geordnete Bahnen bringen? Ein berechtigter Zweifel, der mit »99,9%« allerdings vollends widerlegt wird.

Es dürften inzwischen ganze Generationen von HipHopProduzenten sein, die sich an dem musikalischen Erbe von J Dilla abgearbeitet, die Formeln seines magischen Grooves studiert und sich die organische Imperfektion des Klangdesigns angeeignet haben. So viel Aufregendes aus dieser Quelle auch erwachsen sein mag, so ernüchternd ist die Erkenntnis, dass eben doch ein großer Teil davon bloßes Epigonentum bleibt. Kaytranada gelingt es dagegen nicht nur, diesen vielfach zitierten Vibe völlig unangestrengt zu transportieren, sondern ihn auch mit neuen Impulsen zu verknüpfen. Eine Ambition, die nicht ohne Fallhöhe auskommt, denn so sehr man Kaytranadas musikalische Wurzeln auch in klassischen Spielarten wie Soul, Funk oder Jazz verorten würde – die eigentliche Stoßrichtung seines Debütalbums dürfte niemandem so richtig klar gewesen sein. Zu divers schien das Schaffen dieses wandlungsfähigen Produzenten, als dass sich daraus ein roter Faden für die Langstrecke ableiten ließe. Im Nachhinein betrachtet lag die Antwort längst auf der Hand – der Eklektizismus wird hier nämlich schlichtweg zum Programm erhoben. Will heißen: Die stilistischen Grenzen zwischen HipHop, treibendem Disco und elektronischen Ornamenten werden derart elegant aufgelöst, dass am Ende nur noch die markante Handschrift eines außergewöhnlichen Künstlers stehen bleibt. Und die möchte man eben wie ein bildgewaltiges Graffiti aus allen erdenklichen Winkeln betrachten, bis man das kleinste Detail erschlossen hat. Philip Fassing

Aesop Rock The Impossible Kid Rhymesayers / ADA / Warner / VÖ 29.04.16

Dunkelt die Fenster ab und macht den Kopf auf: Aesop Rock verbindet auf »The Impossible Kid« Therapiestunden mit einer beatlastigen Bergpredigt. Ist es tatsächlich schon wieder vier Jahre her, dass Aesop Rock mit »Skelethon« endgültig zum Liebling des nachdenklichen Independent-HipHop wurde? Nun gut, immerhin hatte sich der MC auch damals schon mit einer neuen LP viel Zeit gelassen. Nach

Kollaborationen mit Kimya Dawson und Homeboy Sandman ist Aesop Rock auf »The Impossible Kid« wieder ganz auf sich gestellt und übernimmt neben dem Rappen und Texten auch direkt die Produktion in Eigenregie. Warum auch andere Menschen einbeziehen, wenn doch der Kern des Albums ein derart persönlicher ist. Hatte der Künstler schon früher Teile seiner Inspiration aus dem eigenen Seelenleben geschöpft, beschäftigt er sich auf »The Impossible Kid« mit introvertiertdepressiven Gedankenspielen und der nicht immer leichten Beziehung zu seiner Familie. Wie es sich für einen schlauen Einsiedler gehört, verließ Aesop Rock für die Aufnahmen seine sonnige Wahlheimat San Francisco und nistete sich in einer alten Scheune im Wald ein. Wer wissen möchte, wo geistreiche Grantler wie Audio 88 & Yassin oder Prezident ihre Ideen herbekommen, sollte dieses Album kaufen. Alle anderen aber auch. Bastian Küllenberg

Bisher wirkte Jonas Alaska wie ein schüchterner, Saiten zupfender Skandinavier, nun hat der Norweger sein drittes Album »Younger« aber lauter und rauer abgemischt als vermutet. Jonas Alaska heißt eigentlich Jonas Aslaksen und ist in seiner Heimat schon lange sehr erfolgreich, hierzulande eher weniger. Am Liverpool Institute of Performing Arts hat er seine Kunst erlernt, und auch wenn die hin und wieder auftauchenden Vergleiche zu Bob Dylan übertrieben sind, kann man ihm eine gewisse arrogante bis charmante Ausstrahlung und großes Talent nicht absprechen. Die elf Songs auf dem neuen Album sind energetischer Pop, fein komponiert und erst beim zweiten Hören wirklich einzuordnen. Besonders daran ist die Kombination von eher zynischen Texten mit einem positiv wirkenden Sound voller E-Gitarren. Am überzeugendsten ist das getriebene, fast verzweifelt klingende »Animal«. Nur bei »My Heart Was Leaving Me« kommt noch eine ruhigere Folk-Ebene hinzu, die ihm doch ziemlich gut steht. Das ebenfalls ruhige »Bucky« zeigt dagegen seine verschrobene Seite, eine Geschichte, in der er sich selbst ganz entspannt als »hideous and grim« bezeichnet. Dieser blonde Zottelkopf ist irgendwie nicht so richtig einzuordnen. Elisabeth Haefs

Anohni Hopelessness

Sam Beam & Jesca Hoop Love Letter For Fire Sub Pop / Cargo

Die nächste Runde im Kollabo-Reigen: Sam Beam ergänzt sich dieses Mal perfekt mit Jesca Hoop und bewegt sich zwischen Schwermut und Bonnie & Clyde. Er hat es erneut getan: Nachdem Sam Beam alias Iron And Wine sein letztes reguläres Album gemeinsam mit Band-OfHorses-Frontmann Ben Bridwell bestritt, veröffentlicht er diesmal unter Klarnamen zusammen mit Jesca Hoop. Vielleicht zuerst ein paar Sätze zu ihr, es könnte ja manchem genauso gehen wie mir und Sam Beam – wir haben sie beide bis vor Kurzem nicht gekannt. Nach der Trennung ihrer Mormonen-Eltern verließ Jesca Hoop als junges Mädchen Heim und Religion und ging in die Wildnis. Als 20-Jährige arbeitete sie als Survival-Guide, später als Nanny bei Tom Waits und Kathleen Brennan, von denen sie schließlich in eine musikalische Karriere mit bis dato fünf Alben und zwei EPs gehievt wurde. Diese Veröffentlichungen entdeckte wiederum Sam Beam eines schönen Nachmittags auf iTunes, nachdem er lange nach einer perfekten DuettPartnerin gesucht hatte. Während die letzte Kollaboration mit Bridwell ja in erster Linie ein Abfeiern beider Lieblingssongs war, ging es diesmal tatsächlich um Duette im engeren Sinn: Boy-Girl, gemeinsam geschrieben, rund ums Thema Liebe, oft dialogisch. Und das tut der Sache gut. Noch wichtiger als die schön harmonierenden Stimmen ist nämlich Hoops eigenwilligeres, längst nicht so klassisches Songverständnis. Das und ein gewisser Pop-Appeal ergänzen Beams Trademark-Skills (Melancholie, Melodie, Halbdunkel) nahezu kongenial. Nancy & Lee, John & Yoko, She & Him und nun Sam & Jesca als nächster Schritt. Eine rundum gelungene Unternehmung. Claudius Grigat

Rough Trade / Beggars / Indigo / VÖ 06.05.16

Die unglaubliche Stimme von Anohni passt perfekt in die kämpferische DanceSoul-Kulisse, die Oneohtrix Point Never und Hudson Mohawke für die Künstlerin entwarfen. Das musikalische und private Terrain mag sich für die Sängerin, vormals bekannt als Antony Hegarty, verschoben haben, doch auch ohne die operettenhafte Klaviermusik ihrer Ex-Formation Antony And The Johnsons kann die Künstlerin bestehen – nicht zuletzt wegen ihrer grandiosen, engelsgleichen Stimme. Der resignative Titel »Hopelessness« verrät es bereits: Ihre Anliegen sind ihr ernst. Es geht um den Überwachungsstaat, Kriege und wie schon auf Antony-Alben um Umweltzerstörung. Die Musik dazu ist flächig und tanzbar, meist jene Form des cineastischen Electro-Soul, die der neben Oneohtrix Point Never federführende schottische Produzent Hudson Mohawke bereits für sein eigenes Durchbruchsalbum »Wanted« aus dem Jahr 2015 entwarf. Doch ganz so hermetisch und dicht ist der Sound nicht: Nach einer furiosen ersten Hälfte mit wuchtigen Botschaften und einprägsamem Pop verlangsamt sich das Tempo. »Violent Men« ist fast ein SpokenWord-Track, im Closer »Marrow« muss man an Jamie xxs Vorliebe für karibische Sounds denken. Dennoch: Trotz der klaren Handschrift Mohawkes übertönt Anohni alles durch ihre Stimme, ihre Message und ihr Songwriting. Kai Wichelmann

Amanda Bergman Docks Ingrid / Cargo / VÖ 06.05.16

Die verträumte Leichtfüßigkeit von Amanda Bergmans Solodebüt weicht in zwei Richtungen aus: Mal packt ihre Sinnlichkeit, mal verläuft sie sich im Nichts. Amanda Bergman ist eine Frau mit vielen Namen. Unter den Pseudonymen Hajen, Jaw Lesson und Idiot Wind erlangte sie in den letzten Jahren in ihrer schwedischen Heimat bereits Bekanntheit, sie war Tour-Support für The Tallest Man On Earth und First Aid Kit. Mit »Docks« erscheint jetzt das erste Album unter ihrem Realnamen. Musikalisch erinnert die Platte stark an Amason, eine Supergroup aus vor allem in Schweden bekannten Musikern, bei der Bergman auch singt. Schon bei deren Album stand ein großes »Soft« vor der Genrebezeichnung Rock. Solo nimmt Bergman nun einen weiteren Gang raus und setzt auf einen zurückgenommenen, verträumten Sound. Im Mittelpunkt steht die dunkle Stimme der 28-Jährigen, die Instrumente sind dezent im Hintergrund gehalten. Das geht bei der Single »Falcons« besonders gut auf:


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